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Die Reise in die Bretagne mit seinem Freund Maxime Du Camp im Sommer 1847 muss für Flaubert ein Befreiungsschlag in einer bedrückenden Zeit gewesen sein. Im Jahr zuvor hatte er den Vater und die geliebte Schwester verloren und fand sich nun, bedroht von den wiederholten Nervenanfällen, allein mit der Mutter und der verwaisten kleinen Nichte in dem Landhaus der Familie in Croisset. Heute berühmte Jugendwerke lagen unveröffentlicht in der Schub- lade und die Beziehung zu Louise Colet war mehr als krisenhaft. Freiheit ist das wichtigste Element in diesem Reisebericht, den die beiden Gefährten gemeinsam verfassen: die innere Freiheit, die aus dem ungebundenen Umherstreifen folgt und in einem farbigen Mosaik von Betrachtungen und Assoziationen ihren Ausdruck findet. Geschichte und Kultur, Mensch und Natur, denkwürdige Orte und armseligste Behausungen, alles ist hier gleichermaßen bedeutungsvoll und mit der gleichen Hingabe beschrieben.
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Seitenzahl: 615
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und
Eine Reise in die Bretagne
Aus dem Französischen übersetztund mit Anmerkungen versehenvon Cornelia Hasting
DÖRLEMANN
Die Übersetzung folgt der Ausgabe Gustave Flaubert:Œuvres complètes II. Par les champs et par les grèves.Bibliothèque de la Pléiade, Éditions Gallimard, Paris 2013.eBook Ausgabe 2016Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten© 2016 Dörlemann Verlag AG, ZürichUmschlaggestaltung: Mike Bierwolf, unter Verwendungdes Gemäldes von James McNeill Whistler, The Coast of BrittanySatz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, LemfördeISBN 978-3-03820-925-6www.doerlemann.com
Gustave Flaubert und Maxime Du Camp
Am 1. Mai 1847, morgens um halb neun, haben die beiden Monaden, deren Verbindung dazu dienen wird, die folgenden Bögen zu schwärzen, Paris mit dem Ziel verlassen, zwischen Farnkraut und Ginster oder auf den weiten Sandstränden am Meeressaum unbeschwert Atem zu schöpfen. Sie hatten keinen anderen Ehrgeiz, als nach einem von Wattewolken geflockten, klaren Stück Himmel zu suchen oder auf der Rückseite einer weißen Klippe, versteckt unter Stechpalmen und Eichen, zwischen Fluss und Hügel, eines jener armen kleinen Dörfer zu entdecken, wie sie noch zu finden sind, mit Holzhäusern, Wein, der die Wände hochrankt, Wäsche, die auf der Hecke trocknet, und Kühen an der Tränke.
Auf ein andermal, auf später die großen Reisen um die Welt, auf dem Rücken von Kamelen, auf türkischen Sätteln oder unterm Baldachin auf Elefanten; auf ein andermal, wenn es denn je dazu kommt, das Schellengeläut andalusischer Maultiere, die verträumten Wanderungen in der Maremma und die Melancholien der Geschichte, die mit dem Dunst der Morgendämmerung aus der Tiefe jener Horizonte aufsteigen, wo sich die Dinge zugetragen haben, die man sich aus alten Büchern zusammenspinnt.
Heute ziehen wir los, ohne ihn allzu sehr aufzugeben, den Platz am Kamin, wo man seine Pfeife und seine Träumereien zurücklässt, um sie fast warm noch wiederzufinden, und, ohne die geringste Qual von Abschiedsschmerz, mit Rucksack, Nagelschuhen an den Füßen, Knotenstock in der Hand, Rauch auf den Lippen und Grillen im Kopf querfeldein zu laufen, um in Herbergen in großen Himmelbetten zu schlafen, wenn es geregnet hat unter den Bäumen die Vögel singen zu hören und sonntags die Bäuerinnen mit ihren hohen weißen Hauben und ihren dicken roten Röcken unter der Kirchentür aus der Messe kommen zu sehen, und was noch? gewiss, um sich das Fell zu verbrennen und vielleicht, um sich Flöhe einzufangen?
So kam es denn, dass zwei vernunftbegabte Wesen (Definition des Menschen in Büchern) sieben Monate lang über Muster, Farbe, Form, Ausführung und passende Zusammenstellung folgender Dinge nachgedacht haben, als da sind:
Ein Hut aus grauem Filz;
Ein Stock für Pferdehändler (eigens aus Lisieux gekommen)
Ein Paar derbe Schuhe (weißes Leder, Nägel in Form von Krokodilzähnen)
dito aus Lackleder (Stadtkostüm für diplomatische Besuche, wenn sich welche ergeben, oder für Fahrten nach Paphos, falls uns zufällig die Gänse jener göttlichen Schönheit im Wagen der Göttin entführen sollten)
Ein Paar Ledergamaschen (passend zu den derben Schuhen); dito aus Tuch (um an Lackschuhtagen unsere Socken vor Staub zu schützen);
Eine Leinenjacke (Stallburschenschick)
Eine Leinenhose (ordentlich weit, um in die Gamaschen gesteckt zu werden)
Eine Leinenweste (deren eleganter Schnitt die Gewöhnlichkeit des Stoffes ausgleicht)
Dazu füge man den gleichen Anzug noch einmal aus Tuch, außerdem ein vorzügliches Messer, zwei Feldflaschen, eine Pfeife aus Holz, drei seidene Hemden, was ein Europäer so für seine Tagespflege braucht, und dann hat man das Drum und Dran, in dem wir in der Bretagne aufgetaucht sind, in dem wir ein paar Wochen lang bei Sonne und Regen gelebt haben: über einen Anzug für den Ball wurde nie liebevoller nachgedacht, und ganz sicher wurde er nie mit so wenig Bedenken getragen.
Die Kanone donnerte, um den König zu feiern, die Nationalgarden schickten sich an, in ihrer Uniform das Kinn zu recken, und die Zündmeister der fürstlichen Verwaltung bereiteten ihren Talg für die abendliche Feierlichkeit vor, als wir nach dem Abschied von unseren beiden Freunden Fritz und Luigi in unseren Eisenbahnwagon stiegen; der Schlag wurde geschlossen; das eiserne Biest schnaubte wie ein ungeduldig stampfendes Pferd, und wir fuhren ab.
Wenn man sich früher vom einen Ort zum anderen begab, sei es im Wagen oder mit dem Schiff, hatte man Zeit, etwas zu sehen und Abenteuer zu erleben: eine Reise von Paris nach Rouen konnte ein Buch ergeben. Ich kannte Leute, die in ihrer Jugend drei Tage dafür brauchten: am ersten übernachtete man in Pont-de-l’arche, am zweiten in Meulan, und man schätzte sich glücklich, wenn man am dritten rechtzeitig zum Souper in Paris angelangt war. In einem alten Reiseführer für Frankreich, erschienen gegen Ende der Herrschaft von Henri IV, lese ich: »Um von Rouen nach Dieppe zu fahren, geht die Post dreimal die Woche: man ist einen Tag unterwegs; zu Mittag speist man in Totes, wo man drei Stunden Aufenthalt hat.« Die Männer, die jetzt Räuber und Gendarm spielen, und die Frauen, die im Garten ihren Puppen das Diner servieren, werden nur vom Hörensagen wissen, dass dies die Postkutsche war, mit ihrem Kondukteur in pelzbesetzter Jacke und mit den Postillons im Kittelhemd, die von ihrem hohen Bock ihren lauten Ruf erschallen ließen. Sie werden an die Rotunde und die Plätze unterm Verdeck denken, an die Poststationen, wo die schmutzigen, dampfenden Pferde bei ihrer Ankunft an Ringen in der Wand angebunden werden, so wie wir von einstigen Herbergsnächten träumen, mit der Verwechslung der Betten, den auf den Fluren ausgeblasenen Kerzen, dem Lärmen der Dienstboten, dem fluchenden Wirt, der schimpfenden Wirtin. Wo sind sie nun, die schlammbespritzten Karrossen und die Damen in großem Staat, die auf dem Rückweg zu ihren Schlössern in den Schlamm stürzten? Denkt man nicht allein bei dem Wort Postschiff von Auxerre an Monsieur de Pourceaugnac, der mit seinen zu kurzen Kniehosen, seinem Anzug der vergangenen Regimes und seinem Akzent aus dem Limousin nach Paris aufbrach? Hätten wir die zauberhaften Seiten von Chapelle oder Bachaumont, wenn die Herren Gouverneure und Bauern, statt in den behäbigen Wagen ihrer Freunde von Provinz zu Provinz zu ziehen, von Eisenbahn oder Dampfschiff befördert worden wären?
Alles, was wir also von Paris bis Blois gemerkt haben, war, dass die Strecke, so kurz sie währte, immer noch zu lange dauerte, gereizt wie wir stets von dieser sterilen Art der Fortbewegung sind, und im Übrigen äußerst gelangweilt durch die Gesellschaft zweier Getreidehändler, großer Schwätzer, großer Spötter, wahrscheinlich neureicher und sehr selbstzufriedener Leute. Der eine, mit Orden behängt, jovial, fett, dicklippig, mit beachtlicher Kragenweite und grober Stimme, repräsentierte den unerschrockenen Wucherer, den Spekulanten großen Stils, der Bürgermeister seiner Gemeinde ist, Abgeordneter seiner Stadt sein wird und später, ganz wie andere auch, Minister, während sein Nachbar, ein kleiner, dünner Mann mit faltigem Gesicht, verkniffenem Mund und vorspringender Nase, der mit einem zufriedenen und tückischen unsäglichen Lächeln Weizenproben in der hohlen Hand hüpfen ließ, eher wie der räuberische und heimliche Händler aussah, der hartnäckige Arbeiter, der noch den Sack flöht, aus dem er die Taler genommen hat, der unersättliche Mensch, der das Geld um des Geldes willen liebt und um des Handels willen vom Handel besessen ist: eine menschliche Spezies, die heute sehr verbreitet ist und nach Weinbergen trachtet, ohne deren Wein trinken zu wollen! Neben uns gab es noch einen armen Engländer, krank und hinkend, der mir von einem anderen Metall als dem von Silberlingen zerfressen schien: seine Enkelin mit hässlichem Gesicht, das jedoch einen bereits reifen Ausdruck besaß, wie im Allgemeinen bei Kindern, die keine Mutter haben, las Vaudevilles vom Palais-Royal und vom Gymnase, um sich mit Sprache, Sitten und französischer Lebensart vertraut zu machen.
In Orléans bekamen wir Monsieur Berryer zu Gesicht, der im Büffet saß und sich die breite Brust füllte, und wir nahmen zwei liebenswürdige junge Leute auf, die wohl zu irgendeinem Verwaltungszweig gehörten. Der eine unterschied sich vom anderen wie der Dummkopf vom Blödian und wie die Null vom Hohlkopf.
Die Erinnerung an die Dichterjugend, die in Blois verlief, überfiel uns gleich beim Hineinkommen. Als wir durch diese von Stille erfüllten, verwinkelten Gassen gingen, dachten wir daran, dass auch er dort vor ungefähr zwanzig Jahren umherwanderte und wie wir eines dieser Häuser betrachtete, um seine Marion de Lorme dort anzusiedeln, und wir fragten die Luft, die Bäume, die Mauern, dieses irgendwie Dauerhafte und Unverwechselbare, das an einem Ort herrscht und sein Kolorit und seine Seele bildet, nach dem Geheimnis der ersten Blüte des großen Mannes, als seine Dichtkunst in den unbetitelten Versen seiner ersten Sammlungen von üppigen, wie Lianen schwebenden Strophen überquoll, ihre Metaphern aufgehen ließ wie Sonnen und in vielfältigen Rhythmen und unaufhörlichen Harmonien erbebte. Wie viele zu Werken gewordene Ideen sind an dieser Ecke, an diesem Fluss, unter diesem Baum, bei Morgentau im Grünen oder an Sommerabenden entstanden, an jenen schönen Abenden, die glühend und traurig sind wie die erste Liebe, wenn der Himmel von langen Streifen überzogen ist und Fliegenschwärme in der Luft kreisen wie goldene Räder.
War es das, was uns an Blois entzückt hat? Gibt es nicht außerdem neben der Bahnstation eine Ulmenallee mit prächtigem, dichtem Blätterdach, mit dicken Ästen, die sich eigens unten verzweigen, als sollte dort der Futtersack aufgehängt werden: richtige Ulmen des XVIII. Jahrhunderts; breit gewachsen, damit man darunter tanzt zum Geigenklang des Spielmanns, der auf ein Fass steigt und laut den Takt stampft, während die Röcke im Wind fliegen, die gepuderten Locken sich lösen und die Burschen die Mädchen um die Taille fassen, die vor Schreck auflachen und vor Freude außer sich sind.
Die Straßen von Blois sind leer; zwischen den Pflastersteinen wächst Gras: zu beiden Seiten ziehen sich lange graue Mauern hin, die große Gärten einfrieden, durchbrochen von irgendeiner versteckten kleinen Tür, die sich dem geheimnisvollen Besucher nur nachts zu öffnen scheint; man spürt, dass hier alle Tage gleich verlaufen müssen, dass sie in der stillen Eintönigkeit der Kirchturmuhren voll köstlicher Melancholien und erregender Sehnsüchte sein müssen. Nur zu gern ersinnt man für diese friedlichen Wohnsitze irgendeine bedeutsame, große Herzensgeschichte, eine krankhafte Leidenschaft, die bis zum Tode anhält: die bezwungene Liebe einer frommen alten Jungfer oder sittsamen Frau; unwillkürlich bringt man dort, wie an der für sie richtigen Stelle, irgendeine bleiche Schönheit unter, mit langen Nägeln und zarten Händen, eine sich kühl gebende Aristokratin, verheiratet mit einem Dummkopf, einem Geizkragen, einem Neidhammel, der an der Schwindsucht stirbt.
Diese Gedanken, die uns später in Amboise, Chinon und in den anderen Städten der Touraine wieder kamen, haben uns darauf gebracht, uns zu fragen, ob Monsieur Balzac, der aus dieser Gegend stammt, hier seine Heldinnen aufgetan hat; ob er am Ende hier seine Frau von dreißig Jahren entdeckt hat, diese unsterbliche Schöpfung! der Antike fremd wie das Christentum, auf dem sie fußt, und eine, die ich mehr schätze als die meisten Kreationen moderner Machart (Streichhölzer und das kalte Hühnerfrikassee von Tortoni nehme ich allerdings davon aus). Aus dem, was man als nicht mehr brauchbar weggeworfen hat, neue Schätze an Darstellung und Gefühl ausgraben, im Universum der Liebe einen neuen Kontinent entdecken und Tausende von Menschen, die sich daraus verstoßen sahen, zu seiner Nutzung auffordern, ist das nicht geistreich und erhaben? Die Ausübung eines Geschlechtstriebs verlängern, bedeutet das nicht beinahe, einen weiteren zu erfinden? Und welche Begeisterung wir sahen! das war wie die Entdeckung Amerikas: statt entlassener Routiers und bankrotter Juden, die herbeieilen, um dort ihr Glück zu machen, hat sich eine Menge auswegloser Gefühle und immer noch robuster Dekadenzen mit Inbrunst auf diesen großen Fund der Frau von dreißig Jahren gestürzt. Erst wurde geschwärmt, dann kam die entgegengesetzte Reaktion; doch später wird man dazu zurückkehren, wie zu allem, was gut ist, wie zum System von Galilei und zu langen Westen. Man wird sehen, was man nur flüchtig wahrgenommen hat; man wird ergründen, was man nur gestreift hat: die Mine ist noch neu, die Ader tief: vorbereitet durch diese Frage ergeben sich weitere daraus folgende, die nur noch einen großen Moralisten und großen Künstler brauchen, um ans Licht gebracht zu werden, und deren ganze Wichtigkeit und Bedeutung mir so gut von meinem berühmten Freund Pradier erklärt worden sind, so zum Beispiel die Frage des lyrischen Busens.
Was unser Rätsel von eben angeht, so ist es mit dem Einfluss der Orte auf die Bücher und dem der Bücher auf die Orte wie mit dem Rätsel von Henne und Ei: Hat die Henne das Ei gelegt oder das Ei die Henne geschaffen? Sind es die Bücher von Balzac, die mich in den Straßen von Blois darüber nachsinnen ließen, was dort geschieht, oder war, was dort geschieht, der Anlass für die Bücher? Hat Gott oder hat der Mensch die Dinge so gefügt, wie wir sie sehen?
Aufs Geratewohl durch eine dieser verlassenen Gassen schlendernd, in der am Ende ironischerweise zufällig das rot gestrichene Schild einer Modistin prangte, stießen wir auf einen schmalen Gang, der in eine Art Sackgasse führte, in der die Apsis der Kirche Saint-Nicolas liegt. Ein finsterer und durch seine Asphaltierung übelriechender Ort. Alles ist schwarz: der Stein, der Boden, selbst das Kolorit der Luft: er hat den strengen und unfreundlichen Aspekt eines Priestergewandes. Schön ist er in seiner Nacktheit, Rohheit und Brutalität. Auf dem Platz, im hellen Sonnenschein vor dem Portal, waren Maurer beim Steineklopfen. Große Levkojen klammerten sich an die romanischen Kapitelle und stachen mit ihren fröhlichen Gelbtönen von der dunklen Farbe des alten Gebäudes ab. Wild in freier Luft wehend, waren sie nur da, um zu zeigen, wie hübsch sie waren.
Auf der Nordseite des über gewaltigen Mauern aufragenden Château de Blois hat eine Galerie mit doppelten Arkaden eine zauberhafte Wirkung. Dort war das Schlafzimmer von Henri III; daneben liegt sein Betzimmer, ein Zufall, der an sich nichts Seltenes hat, hier aber beeindruckt, bei dieser Seele, wo die Wollust sich durch Religion schärfte und die Neugier sich an der Angst entfachte. Als wir durch ein gewundenes Gewölbe gegangen waren und den Platz überquert hatten, traten wir in den Innenhof des Schlosses. Dort herrschte große Freude: die Garnison hatte für jeden Mann eine Flasche Wein erhalten, die Soldaten trugen Krüge, die mit einer blauen Flüssigkeit gefüllt waren, und schickten sich an, sie auf die Gesundheit des Monarchen zu trinken, dessen Geburtstag ihnen dieses Vergnügen bescherte. Der Schlosshof ist ein Quadrat. Die Torseite aus der Zeit von Louis XII hat nur ein einziges Stockwerk mit einer von kurzen Säulen getragenen Galerie, überzogen mit Rauten und überall mit der Cordelière von Königin Anne und dem Wappen der Bretagne geschmückt. Die linke Seite (Süden), aus etwas früherer Zeit, wurde nicht fertiggestellt; sie ist schlichter in ihren Ornamenten, strenger, weiter in ihr Mittelalter zurückgezogen. Gegenüber sticht davon auf scheußliche Weise ein unglaublich geistloser Haupttrakt ab, ein Bau von Louis XIV mit seinem Klassizismus und dessen nüchternem Stil, der schlechter Stil ist; doch neben ihm glänzt und leuchtet groß aufgemacht die schöne Architektur des XVI. Jahrhunderts, die der guten Epoche, bevor der attische Pilaster überhandnahm und die Renaissance in Maria de Medicis griechischer Unart verflachen sollte. Über diesem Haupttrakt sind die beiden köstlichsten Treppen der Welt angebracht, durchbrochen wie Spitze, ziseliert mit einem kräftigen Meißel und ganz filigran, wie die hohen Halskrausen der großen Damen, die vor dreihundert Jahren ihre Stufen hinaufstiegen. Im Erdgeschoss sahen wir den Saal, wo 1588 die drei Stände tagten. Darunter war ein Edelmann aus der Gascogne, gesandt vom Adel von Bordeaux. Ich denke, er wird sich nicht besonders beteiligt haben an den Auseinandersetzungen, die unter diesen Holzgewölben ertönten. Abseits sitzend in seinem eleganten schwarzen Gewand und mit einer Reitgerte spielend, die er immer bei sich trug, meditierte er gewiss über irgendeiner Passage von Sallust oder irgendeinem Gedicht von Lukan, an die ihn die gegenwärtigen Umstände erinnerten. Leidenschaftslos unter all diesen lautstarken Leidenschaften, ohne jeden Glauben neben so vielen unerschütterlichen Überzeugungen, war er dort gleichsam das Symbol für das Bleibende neben dem Vergänglichen. Sein Name war Michel de Montaigne.
Außerhalb des Schlosses sah ich auf einer Plattform, auf der man die ganze Stadt, die von Pappeln gesäumte Loire sowie das in weiten Schwüngen unmerklich gen Himmel steigende umliegende Land vor sich hat, einen Geschützturm, der der Garnison zur Aufbewahrung des Pulvers dient. Dort wohnte Ruggieri, der Astrologe von Henri III. Auf dem Vorplatz hing Wäsche. Die Leinen, an denen die Hemden des Hausmeisters trockneten, liefen im Zickzack in alle Richtungen. Der Wachposten am Tor des Pulverturms hatte sein Gewehr darauf gelegt; schaukelnd balancierte er es darauf und ließ spielerisch die Feder der Trommel schnalzen, während er auf Ablösung wartete.
Berühmte Gäste haben hinter diesen Mauern geschlafen: Valentina de Milano, Elisabeth von Bayern, Anne de Bretagne, Charles VIII, Louis XII, François I, Claude de France, Henri III, Caterina und Maria de Medici, und die Guise, die dort ihr Blut ließen. An dieser Stelle ist es geflossen – vergeblich sucht es das Auge immer noch auf diesen Brettern, samt den Pflaumen aus Damaskus, die Balafré mit den Worten: »wer möchte welche?« in den Gardesaal warf. Die Treppe, auf der er ins Schlafzimmer des Königs hinunterstieg, hat man zugemauert. Es ist nichts mehr zu sehen, und doch schaut man hin.
Nachdem es der Hochzeit des Duc d’Alencon mit Marguerite d’Anjou, der von Henri IV mit Marguerite de Valois und den blutigen Tragödien der Guises Raum geboten hatte, stand das Château de Blois anderen Schicksalen offen. Maria de Medici wurde dort gefangen genommen und floh durch das Fenster, das einem gezeigt wird. 1716 wohnte hier Marie-Casimir von Polen; 1814, nach der Eroberung von Paris, suchte Marie-Louise hier Zuflucht, und heute rauchen hier die Infanteristen ihre Pfeife und reißen lose Witze. Das Blut ist weggewaschen, der Klang der Sarabanden und Menuette ist zusammen mit dem Lachen der Pagen und dem Rauschen der Schleppkleider verflogen. Was bleibt von dem, was die Geschichte davon weiß? und von allem, was sie nicht weiß! Was noch spannender zu erfahren wäre und was man die alten Täfelungen, die stummen Porträts, die einen anblicken, und die gähnend leeren Gräber fragt: ein Geheimnis, das sie für sich behalten und sich in ihrer Einsamkeit zuflüstern. Wie das Meer ist die Geschichte schön, weil sie ausradiert, die kommende Welle löscht auf dem Sand die Spur der verebbten: man sagt sich nur, dass es welche gab und dass es weitere geben wird: vielleicht ist das ihre ganze Poesie und ihre Lehre?
Am nächsten Tag besichtigten wir eine noch ruinösere Ruine: ich spreche von Chambord. Nachdem wir uns in dem umliegenden öden Landstrich verlaufen hatten, langten wir schließlich über einen langen, sandigen Weg inmitten eines dürftigen Waldes dort an: Besitz eines Rentiers in Geldnöten, der vorzeitig die Bäume fällt. Das Schloss hat weder Garten noch Park, nicht den kleinsten Strauch, rundum keine einzige Blume. Es präsentiert seine Fassade vor einem großen Platz mit schütterem Gras, unter dem ein kleiner Fluss fließt. Als wir hineingingen, begann ein Hund zu bellen. Der Regen rauschte herab, das Wasser rann über die Dächer und lief in die zerbrochenen Fenster. Man bat uns in die Wohnung des Wächters, und während wir darauf warteten, dass sein Hausmädchen, das die Pförtnerin ersetzt, aus der Messe zurückkehrte, gingen wir die Gästeliste durch. Sie ist voller legitimistischer Klagen: Jeremiaden über den Herrn des Hauses; Wünsche nach der Rückkehr des erhabenen Exilierten etc. Ein gewisser Abbé Sam … Geistlicher der Pfarrei von ***, hat folgenden großartigen Vers geschrieben:
On peut être boiteux sans cesser d’être droit.
Ein kühnerer Namenloser hat diese Variante hinzugefügt:
On peut être exilé sans cesser d’être roi.
Jemand, der offenbar verärgert war, hat mitten ins Buch geschrieben: »O Mania!« Doch was uns am meisten beeindruckt hat, sind die beiden bloßen Namen: Louise und Alfred! die verloren zwischen den Marquis, den Grafen, den Chevaliers de Saint Louis, den Söhnen der Opfer von Quiberon, den Pilgern vom Belgrave Square, und diesem ganzen Pack falschen Adels stehen, der wie der Romantismus von Monsieur de Marchangy von der ewigen Poesie der Türmchen, der Damoisellen, der Zelter, der Lilien, des Lilienbanners von Saint Louis, des weißen Federbuschs, des göttlichen Rechts und eines Haufens anderer Dummheiten lebt. Zwischen so vielen weinerlichen, heuchlerischen, arroganten Eitelkeiten schienen uns diese schlichten Namen von Unbekannten etwas Naives und Gutes zu haben, stilvoller als alles Übrige.
Wir wanderten durch leere Galerien und verlassene Räume, wo die Spinne ihr Netz über den Salamandern von François I spannt. Dies ist nicht die übliche Ruine mit der Pracht ihrer schwarzen und grünlichen Trümmer, der Stickerei ihrer hübschen Blumen und mit ihren Draperien von Grün, das wie zerfetzter Damast im Winde wogt, es ist im Gegenteil eine schändliche Armut, die ihren abgetragenen Frack bürstet und fein tut. In dem einen Raum wird das Parkett erneuert, in dem anderen lässt man es verrotten: überall spürt man ein fruchtloses Bemühen, das Sterbende zu konservieren, um an das Entflohene zu erinnern; merkwürdig: es ist traurig! und nicht groß!
Und dann möchte man meinen, dass alles dazu beitragen wollte, es zu verhöhnen, dieses arme Chambord! das Primaticcio gezeichnet hatte, das Germain Pilon und Jean Cousin gemeißelt und in Stein gehauen hatten. Erbaut von François I, als er nach dem demütigenden Abkommen von Madrid (1526) aus Spanien zurückkehrte: ein Monument des Stolzes, der sich betäuben möchte, um sich für seine Niederlagen zu entschädigen, wird dort zunächst Gaston d’Orléans, ein besiegter Thronanwärter, ins Exil geschickt; dann kommt Louis XIV, der aus einem einzigen Stockwerk drei macht: so verdirbt er die wunderbare Doppeltreppe, die in einem einzigen wie eine Spirale aufschießenden Schwung vom Boden bis zum First reichte; und schließlich Molière, der unter dieser schönen Decke voller Salamander und gemalter Ornamente, deren Farben verblassen, zum ersten Mal den Bourgeois-Gentilhomme spielt. Danach gab man es dem Marschall von Sachsen, man gab es Polignac, man gab es Berthier, einem einfachen Soldaten; durch Subskription wurde es zurückgekauft, und man gab es dem Duc de Bordeaux; man gab es jedermann, als wolle niemand es haben, es war nicht zu halten. Es scheint nie zu irgendetwas nütze, scheint stets zu groß gewesen zu sein: es gleicht einem heruntergekommenen Gasthof, wo die Reisenden noch nicht einmal ihre Namen an den Wänden hinterlassen haben.
Ich sah dort nur ein einziges Möbelstück: das Modell eines Geschützparks, ein Geschenk des Colonel Langlois für den Duc de Bordeaux, das unter Leinwandhüllen vollständig erhalten geblieben ist.
Als wir über eine äußere Galerie zur Treppe der Orléans gingen, um uns die Karyatiden genauer anzusehen, die François I, Madame de Châteaubriant und Madame Étampes darstellen sollen, und die berühmte Laterne umrundeten, die oben den Abschluss der großen Treppe bildet, haben wir immer wieder den Kopf über die Balustrade gestreckt und uns unten im Hof ein kleines Eselchen angeschaut, das bei seiner Mutter trank, sich an ihr rieb, mit den Ohren wackelte, die Nase reckte und bockte. Das war es, was sich im Ehrenhof des Château de Chambord befand, das sind jetzt seine Gäste: ein Hund, der im Gras spielt, und ein Esel, der auf der Türschwelle der Könige saugt, schnaubt, schreit, kotet und Bocksprünge macht.
Das Wetter war wieder schöner geworden; der Regen hatte sich verflüchtigt und die milde Abendsonne glänzte, als wir nach Amboise kamen. Hier gibt es immer noch die schönen Straßen der Provinz wie in Blois: man plaudert vor den Türen, man arbeitet im Freien; die nahezu allesamt brünetten Frauen mit sanftem und bemerkenswert hübschem Gesicht haben köstlich weibliche Umgangsformen voll sinnlicher Güte. In der Tat, man ist dort in der blühenden und lieblichen Touraine, der Gegend des guten kleinen Weißen und der schönen alten Schlösser, durchströmt von der Loire, dem französischsten der französischen Flüsse. Haltung und Umgang haben noch etwas von der Ruhe des Nordens, während die Lebhaftigkeit des Südens den Ausdruck, das Lächeln beseelt; und doch scheint mir die Touraine, trotz des Zwitterwesens, das für gewöhnlich aus der Verbindung zweier entgegengesetzter Nuancen entsteht, eine besondere Originalität zu haben, keine sehr ausgeprägte, gewiss, aber eine feine, heimliche, die weder Prosa noch Poesie ist und sich, glaube ich, nur mit einer Bezeichnung beschreiben ließe, wenn ich nicht fürchtete, dass man sie zu bedeutungsvoll auffassen könnte: es wäre die der gesungenen Prosa.
Als wir über die Brücke von Amboise kamen (es gibt zwei: da die Stadt auf beiden Ufern gebaut ist und mitten in ihrem Fluss eine Insel hat) – wie gesagt gibt es zwei Brücken, aber die zweite ist die schöne! eine dieser ehrwürdigen Brücken, eine dieser alten, holprigen, schmalen, grauen, in Sonne und Wasser gehärteten Brücken, wo es so aussieht, als würde sich ein mit klirrenden Rüstungen und Pferdegetrappel im Schritt hinüberziehender Reiterzug gut darauf ausnehmen, und wo man bedauert, nicht einen auf dem Grenzstein sitzenden Bettler singen zu hören, während er seine Leier dreht, oder eine Zigeunerin, barfuß im Staub, die ihr Tambourin schüttelt, dessen knapper und scharfer Klang vom großen Rauschen des durch die Brückenbögen fließenden Wassers entführt wird. Nun ja, als wir auf der Brücke waren, sahen wir aus der Promenade am Fuße des Schlosses die örtliche Nationalgarde auftauchen, die vom Appell zurückkehrte. Von den ungefähr dreißig Mann, die sie waren, trugen vielleicht fünf oder sechs Uniform, nur die Offiziere, der Rest war bloß Zivilgarde, aber eine wahrhaft seltene Zivilgarde, in großem Aufzug, mit glänzenden Fräcken, gelben Westen und schwarzen Handschuhen. Das örtliche Dandytum besteht, glaube ich, in diesem Bemühen, die bürgerliche Kleidung zu ächten. Zu Ehren von Amboise muss ich zugeben, dass ich in den Reihen oder in der Truppe (und ich hatte damit gerechnet) kein einziges als Kanonier gekleidetes Kind gesehen habe, das seinen Papa an der Hand hielt. Sollte diese Ungeheuerlichkeit dieser glücklichen Stadt unbekannt sein? oder ist sie aus der Mode gekommen? oder sind die Vermögen der Einzelnen nicht ansehnlich genug, um diesen verrückten Aufwand zu treiben? Wie auch immer, es ehrt Amboise: denn das als Kanonier gekleidete Kind, das auch noch Fabeln hersagt, ist der letzte Grad menschlicher Schande.
Das Château d’Amboise liegt hoch über der Stadt, die ihm unterhalb eines Felsens wie ein Haufen Kieselsteine vor die Füße geworfen scheint, und hat das noble und imposante Gesicht einer Festung mit seinen von langen, schmalen Rundbogenfenstern durchbrochenen hohen, dicken Türmen, seiner vom einen zum anderen Ende reichenden Arkadengalerie und dem Fahlrot seiner Mauern, das noch düsterer wird durch die Blumen, die von oben herabhängen wie ein lustiger Federbusch über die gebräunte Stirn eines alten Haudegens. Wir haben eine gute Viertelstunde damit verbracht, den linken Turm zu bewundern und lieb zu gewinnen, der rußbraun ist, an manchen Stellen gelb, an anderen schwarz, an seinen Zinnen den Schmuck wunderbarer Levkojen trägt und kurz gesagt eines jener sprechenden Bauwerke ist, die zu leben scheinen und einen mit offenem Mund zu sich aufblicken lassen, wie jene Porträts, deren Originale man nicht kannte und die man zu lieben beginnt, ohne zu wissen warum.
Lacht nur darüber, gute Leute: für euch wurde dieser Satz nicht geschrieben.
Zum Schloss hinauf steigt man über einen sanften Hang, der in einen als Terrasse angelegten Garten führt, von wo der Blick sich am umliegenden Land ergötzt. Es hatte ein zartes Grün. Pappelreihen zogen sich am Fluss entlang. Am Ufer erstreckten sich Wiesen und ließen in der Ferne ihre grauen Grenzen in einem bläulich, dunstigen Horizont verschwimmen, undeutlich eingefasst von den Umrissen der Hügel. In der Mitte floss die Loire und umspülte ihre Inseln, benetzte den Wiesensaum, strömte unter den Brücken hindurch, drehte die Mühlen und ließ auf ihren silbernen Windungen die großen, miteinander vertäuten Boote dahingleiten, die Seite an Seite friedlich ihre Bahn ziehen, eingelullt vom trägen Knarren des Ruders, das sie treibt; und ganz hinten waren zwei in der Sonne weiß leuchtende Segel.
Von der Spitze der Türme, vom Vorsprung der Pechnasen schwangen sich Vögel auf, um sich anderswo niederzulassen, zogen ihre Kreise, stießen in der Luft ihre kurzen Schreie aus und verschwanden. Hundert Schritt unter uns sah man die spitzen Dächer der Stadt, die verlassenen Innenhöfe der alten Patrizierhäuser und das dunkle Loch qualmender Kamine. In die Nische einer Schießscharte gelehnt ließen wir den Blick schweifen, lauschten, freuten uns an der Sonne, die schön war, und an der Luft, die mild und ganz erfüllt war vom Duft der Pflanzen auf den Ruinen; und dort träumte ich, ohne über irgendetwas nachzudenken, sogar ohne innerlich was auch immer zu formulieren, von handschuhweichen Panzerhemden, von schweißgetränkten Degengehängen aus Büffelleder, von geschlossenen Visieren, hinter denen feurige Blicke glänzten, von lärmenden, verzweifelten nächtlichen Sturmangriffen mit Fackeln, welche die Wände in Brand setzten, von Streitäxten, welche die Leiber in Stücke hieben, und von Louis XI, vom Krieg der Amoureux, von d’Aubigné und von Levkojen, von Vögeln, von glänzendem, schönem Efeu und ganz kahlem Brombeergesträuch, und kostete so in meinem träumerischen und sorglosen Genuss, was an den Menschen am größten ist, ihr Angedenken, und was an der Natur am schönsten ist, ihre ironischen Vereinnahmungen und ihr ewiges Lächeln.
Im Garten erhebt sich inmitten von Flieder und dichtem Buschwerk die Kapelle, ein Schmuckstück der Steinmetzkunst des XVI. Jahrhunderts, innen noch feiner gearbeitet als außen und ziseliert wie die Krücke eines chinesischen Schirms. Über der Tür zeigt ein sehr unterhaltsames Basrelief die Begegnung von Saint Hubert mit dem mystischen Hirsch, der ein Kruzifix zwischen seinen Hörnern trägt. Der Heilige liegt auf den Knien; darüber schwebt ein Engel, der ihm eine Krone auf seine Kappe setzen wird. Daneben schaut sein Pferd mit seinem freundlichen Tiergesicht zu, seine Hunde kläffen, und auf dem Gebirge, dessen Teile und Facetten Kristalle darstellen, reckt die herangleitende Schlange ihren flachen Kopf unter Bäumen, die wie Blumenkohl aussehen. Es ist der Baum, den man in alten Bibeln findet, blattlos und dick in Zweigen und Stamm, ein Baum, der Holz und Früchte hat, aber kein Grün, der symbolische Baum, der theologische und fromme Baum, nahezu phantastisch in seiner verbotenen Hässlichkeit. Nicht weit davon trägt Saint Christophe das Jesuskind auf den Schultern, und Saint Antoine hockt in seiner auf einen Felsen gebauten Zelle. Das Schwein kehrt in sein Erdloch zurück; man sieht von ihm nur den Hintern mit seinem Ringelschwanz, während neben ihm ein Hase die Ohren aus seinem Bau reckt.
Zweifellos ist dieses Basrelief etwas plump und künstlerisch nicht einwandfrei; doch es steckt so viel Leben und Atem in diesem guten Mann und diesen Tieren, so viel Witz und Aufrichtigkeit in den Details, dass man viel dafür geben würde, es mitzunehmen und im Hause zu haben: das hätte mehr Wert als die Figuren im Mittelalterstil, die man bei Friseuren findet, die Reiterszenen von Alfred de Dreux, die man bei ausgehaltenen Mädchen findet, und die Putiphar von Monsieur Steuben, die man, Gott sei Dank, nirgends findet.
Im Inneren des Schlosses wiederholt sich in jedem Raum die langweilige Möblierung des Empire mit seinen mythologischen oder historisierenden Stutzuhren und seinen samtenen Sesseln mit vergoldeten Nägeln. Fast alle sind mit Büsten von Louis-Philippe und Madame Adélaide geschmückt. Die herrschende Familie ist darauf versessen, sich in Porträts zu vervielfältigen; sie bevölkert alle Wände, alle Konsolen und alle Kamine mit ihrem Gesicht, wo immer sie es unterbringen kann: der schlechte Geschmack des Emporkömmlings, der Wahn des mit Geschäften zu Geld gekommenen Kolonialwarenhändlers, der es liebt, sich in Rot, Weiß und Gelb zu betrachten, mit seinen Uhrgehängen auf dem Bauch, seinen Koteletten am Kinn und seinen Kindern an seiner Seite.
Auf einem der Türme hat man gegen jeden gesunden Menschenverstand eine verglaste Rotunde gebaut, um einen Speisesaal zu schaffen. Die Aussicht, die man dort hat, ist herrlich; doch das Bauwerk wirkt so schockierend, dass man, glaube ich, lieber nichts sehen oder zum Essen in die Küche gehen würde.
Zurück in die Stadt gelangten wir in einem Turm, in dem die Kutschen bis auf den Platz hinauffahren konnten. Die sandbestreute, leicht abschüssige Bahn windet sich wie die Stufen einer Treppe um eine steinerne Achse, und das Gewölbe wird hier und da durch die wenigen Löcher der Schießscharten erhellt. Die Tragsteine, auf die sich das innere Bogenende stützt, haben groteske oder obszöne Motive. Ihre Anordnung scheint von einer dogmatischen Absicht geleitet worden zu sein. Man müsste das Werk von unten her verstehen, wo es mit Aristoteles equitatus beginnt (ein Thema, das bereits an einem der Chorstühle in der Kathedrale von Rouen behandelt wurde), und man gelangte allen Übergängen folgend zu einem Herrn, der sich mit einer Dame in der perfiden Stellung amüsiert, welche von Lukretius und von L’Amour conjugal empfohlen wird. Die meisten dazwischenliegenden Motive sind im Übrigen zur großen Verzweiflung derer, die nach spaßigen Einfällen suchen, entfernt worden, kaltblütig entfernt, absichtlich, aus Anstand und, wie uns der Diener Seiner Majestät im Brustton der Überzeugung erklärte, »weil es viele gab, die unschicklich für die Damen waren«.
Niemand kann mir vorwerfen, mich über irgendeine Zerstörung, ob Ruine oder Trümmerhaufen, stöhnen gehört zu haben. Nie habe ich geseufzt über die Verwüstung der Revolution oder die Verheerung der Zeit; ich wäre nicht einmal böse, wenn Paris durch ein Erdbeben von unterst zu oberst gekehrt würde oder eines Morgens mit einem Vulkan just inmitten seiner Häuser erwachte, eine riesige Stummelpfeife, die ihm im Bart qualmte; vielleicht entstünden daraus großartige Aquarelle im Stil von Martin; aber ich hege einen heftigen und anhaltenden Hass gegen jedweden, der einen Baum beschneidet, um ihn zu verschönen, ein Pferd kastriert, um es zu schwächen, gegen diejenigen, die die Ohren oder den Schwanz von Hunden beschneiden, gegen alle, die aus Buchsbaum Pfauen, Kugeln oder Pyramiden machen, gegen alle, die restaurieren, tünchen und verbessern, gegen Verleger von Expurgata, gegen die sittsamen Verschleierer profaner Nacktheit, gegen die Arrangeure von Auszügen und Kurzfassungen, gegen alle, die was auch immer rasieren, um ihm eine Perücke aufzusetzen und, unbarmherzig in ihrer Pedanterie, unerbittlich in ihrer Dummheit, die Natur amputieren, diese schöne Kunst des lieben Gottes, und auf die Kunst spucken, auf diese zweite Natur, die der Mensch in sich trägt, wie Jehova die andere, und die ihre jüngere oder ältere Schwester ist – wer weiß? Das ist zumindest Hegels Idee, welche die empirische Schule immer äußerst lächerlich gefunden hat; und ich? … ich mache mir Vorwürfe, nicht mit meinen zehn Fingern den Mann erwürgt zu haben, der eine Molière-Ausgabe herausgebracht hat, »die ehrbare Familien gefahrlos ihren Kindern in die Hand geben können«. Ich bedauere, dass es mir nicht vergönnt ist, den Schuft, der mit dem gleichen Tugenddreck Gil Blas besudelt hat, in Jauchegruben und schreckliche Todespein zu stürzen, und dass ich, was den braven Idioten angeht, der Rabelais bereinigt hat, den entschlafenen Riesen nicht in meiner Rachsucht wecken kann, um ihn sein gigantisches Gebrüll ausstoßen zu hören.
Was für ein wirklich schönes Übel, wenn man diese armen Tragsteine unversehrt gelassen hätte, wo so hübsche Dinge zu sehen gewesen wären: das brachte also die Stirn der Reisenden einigermaßen zum Erröten; das versetzte also die alten Engländerinnen in Boa mit Frostbeulen an den Fingern und Tretern an den Füßen ordentlich in Angst und Schrecken oder empörte in seiner Moral den einen oder anderen ehrbaren Notar, den einen oder anderen mit Orden behängten Herrn, der eine rosarote Brille trägt und ein betrogener Ehemann ist. Man hätte das zumindest mit den Sitten des Altertums vergleichen können, mit den Vorstellungen der Renaissance und den heutigen Gepflogenheiten, die man an den guten Traditionen aufgefrischt hätte, welche, seitdem sie gepflegt werden, gewaltig nachgelassen haben, nicht wahr, Monsieur? Was meint Madame dazu?
Doch es gibt Stunden, in denen man bester Laune ist, verglichen mit anderen. Das ausgezeichnete Diner, das wir in Amboise verspeisten und das uns nottat (da wir den ganzen Tag lang eher die Muse als die Kreatur genährt hatten), besänftigte uns wieder ein wenig, und abends, als wir gemächlich die Landstraße nach Chenonceaux entlangtrotteten, rauchten wir unsere Pfeifen und atmeten in einem sehr zufriedenstellenden Zustand den Duft des Waldes.
Bevor wir zu Bett gingen, widmeten wir uns unter den Bäumen, die das Schloss umgeben, demselben Zeitvertreib. Der Regen rauschte auf die grünen Blätter. Unter ihrem Schutzdach, den Rücken an den Stamm der dicken Hainbuchen gelehnt und das Leder unserer Schuhe am nassen Moos polierend, freuten wir uns am Geräusch der Tropfen, die uns auf die Hüte fielen.
Vom Château de Chenonceaux geht ich weiß nicht was für eine besondere Anmut und aristokratische Heiterkeit aus. Ans Ende einer großen Baumallee gesetzt, in einigem Abstand vom Dorf, das sich respektvoll fernhält, auf dem Wasser erbaut, umgeben von Wald inmitten eines Parks mit schönen Rasenflächen, reckt es seine Türmchen und quadratischen Schlote in die Luft. Der Cher fließt murmelnd durch seine Bögen, deren spitze Kanten die Strömung brechen. Seine Eleganz ist gesund und lieblich und seine Ruhe melancholisch, ohne Gram noch Bitterkeit. Man kommt durch eine Halle mit Spitzbögen herein, die früher der Waffensaal war und wo, trotz der Problematik solchen Schmucks, ein paar Rüstungen, die man dort aufgestellt hat, keinerlei Anstoß erregen und an ihrem Platz zu sein scheinen. Überall sonst hat man klug die Tapeten und die Möblierung der Zeit beibehalten. Die ehrfurchtgebietenden Kamine des XVI. Jahrhunderts verstecken hinter ihrem Mantelstein nicht die schändlichen und sparsamen preußischen Kamine, die sich unter weniger großen zu verbergen wissen. In den Küchenräumen, die in einem Brückenbogen des Schlosses liegen und die wir sogar besichtigten, war eine Magd beim Gemüseschälen; ein Küchenjunge wusch Teller, und am Herdfeuer stand der Koch und ließ fürs Déjeuner eine ordentliche Anzahl blinkender Kessel brodeln. All das ist schön, wirkt gut, verrät sein redliches Schlossleben, seine müßige und kluge Existenz des wohlgeborenen Mannes: ich mag die Besitzer von Chenonceaux.
Gibt es nicht außerdem überall schöne alte Porträts, die einen lange Stunden damit verbringen lassen, sich die Zeit vorzustellen, in der ihre Modelle lebten, und die Schautänze, in denen sich die Hüftpolster dieser schönen rosigen Damen im Kreise drehten, und die gut sitzenden Degenhiebe, die sich diese Edelmänner mit ihren Rapieren verpassten? Das ist eine der Verlockungen der Geschichte. Man wüsste gern, ob diese Leute geliebt haben wie wir und wie sich ihre Leidenschaften von den unseren unterschieden; man wünschte, ihre Lippen öffneten sich für uns, um uns ihr Herz auszuschütten und zu erzählen, was sie einst, selbst an Unbedeutendem, getrieben haben; was ihre Ängste, ihre Wonnen waren: eine aufregende und verführerische Neugier, wie man sie für die unbekannte Vergangenheit einer Geliebten empfindet, damit man in alle Tage eingeweiht wird, die sie ohne einen gelebt hat, und daran teilhaben kann; und wenn dann die Motten ihre Leinwand durchlöchert haben, wenn ihr Rahmen verfault ist und sie zu Staub zerfallen sind, wird man vor unseren eigenen Bildern von uns träumen und sich fragen, was man in jenen Zeiten tat, welche Farbe das Leben hatte und ob es nicht inbrünstiger war.
Es gibt unter anderem zwei große Porträts der Herren de Beauvillier zu Pferde: der eine Admiral, der andere Oberst der Kavallerie. Sie stecken bis zu den Schenkeln in Stiefeln, in einem grünen, großen Rock, an den Schultern weiß überdeckt durch die gepuderten Korkenzieherlocken ihrer Perücken; mit Handschuhen à la Crispin, auf dem Kopf den kleinen Dreispitz, sind sie kerzengerade auf ihre dicken Mecklenburger gepflanzt, die sich mit eng stehenden Hinterbeinen gehörig aufbäumen, um die Feurigen zu mimen. Da fallen einem die Ringstechen von Louis XIV ein und die großen Hetzjagden mit weißgefleckten gelben Windhunden, einem Haufen von Vorreitern in Livree, bellenden Meuten und den um den Hals gehängten großen Jagdhörnern, die auf den Lichtungen ausgiebige Halali erschallen lassen.
Auf dem Gesims über einer Tür zeigt einem ein Ölgemälde von vorn, nackt bis zum Gürtel, die schöne Gabrielle d’Estrées. Ein dickes Perlencollier so hell wie ihre Haut hängt über der Brust; ihr hochfrisiertes und gekräuseltes blondes Haar verleiht ihrem Gesicht einen erstaunten Ausdruck, voller naiver Schäkerei. Ihre von hinten dargestellte, ebenfalls bis zu den Hüften nackte Schwester neben ihr dreht sich um und schaut einen mit ihren braunen Augen neugierig an, während im Hintergrund eine Bäuerin mit rotem Haarband und weißem Umhang Monsieur le Duc de Vendôme die Brust reicht, einem fest in seine Windeln gewickelten reizenden Balg, das die Augen aufsperrt, die Arme ausbreitet und mit seinem rosigen Mündchen über die Neckereien seiner Amme lacht.
Im selben Raum, der als Salon dient und in dem auf einem Tisch die gesamten Waffen von François I liegen, fiel uns ein schönes Porträt von Rabelais auf: gebräuntes Gesicht, ausgelassen, sanguinisch, kraftstrotzend, kleine und lebhafte Augen, schütteres Haar, Bart und Kinn eines Fauns: offensichtlich das Modell, nach dem alle Porträts des großen Mannes gemalt wurden. Das von Elisabeth von Bayern leicht links darunter ist besonders ausdrucksvoll. Sie trägt nicht die hohe spitze Haube, mit der ich sie andernorts gesehen hatte, und es ist nicht mehr die blasse und leidende Miene aus dem Museum von Versailles. Eine Art glatte Frisur nach italienischer Art liegt über den halb offenen langen, blonden Seitensträhnen, die ihr weißes, zugleich träges und lebhaftes Gesicht voll schwankender Entschlüsse und sich widersprechender Regungen umrahmen: sie hat vorspringende Lippen, ein kurzes Kinn und große grüne Augen, deren weinerlicher Ausdruck durch die roten Ränder ihrer Unterlider unterstrichen wird.
An all diesen Wänden hängen noch viele andere Gemälde, die man gern länger betrachten würde, in aller Ruhe – ohne dass einem ein Pförtner auf den Hacken ist, der den Haustürschlüssel in der Hand hat und einem mit seinen Gesten auffordert, möglichst schnell zum Schluss zu kommen. Ich erinnere mich an ein Porträt in voller Statur von Louis XIII als Apoll, mit seinem spitzen Kinn, seinem kleinen geraden Schnauzbart und seiner großen schwarzen Perücke, die ihm auf die Schultern fällt und seine traurige Miene verdunkelt. Ich habe nie ohne einen gewissen Schmerz an Louis XIII gedacht: mir scheint, er ist der Mensch, der sich am meisten auf Erden gegrämt hat.
Wir konnten in den Theatersaal gehen, wo Le Devin du village gespielt worden ist: er wurde restauriert; aber wir sahen ein schönes Porträt von Madame Dupin von Nattier. Das Gesicht ist braun, wach, kokett, Stupsnase, rosige Lippen, dunkler und fester Blick, freimütig, freundschaftlich, schelmisch und gutmütig, viel geistreicher als das von Madame d’Humières, zum Beispiel, mit ihrem so sinnlichen und ganz feuchten Herzmund. Madame Deshoulière, stehend, im großen weißen Negligé (ansonsten ein nobles Antlitz und, wie das so verrufene und so wenig bekannte Talent dieser Dichterin, vielleicht auf den zweiten Blick besser als auf den ersten), hat mich mit ihrem Mund, der groß, vorspringend, fleischig und sinnlich ist, an die Brutalität des Gérard’schen Porträts von Madame de Staël erinnert. Als ich es vor zwei Jahren in Coppet sah (das Fenster stand offen, die Sonne fiel direkt darauf), konnte ich nicht anders als bestürzt sein von diesen roten und nach Weingenuss aussehenden Lippen, von diesen witternden und schnüffelnden großen Nüstern. Der Kopf von Georges Sand bietet etwas Ähnliches. Bei all diesen Frauen, die zur Hälfte Männer sind, beginnt der Geist erst auf Höhe der Augen: der Rest ist in den Geschlechtsinstinkten stecken geblieben. Fast alle sind fett und haben männliche Taillen: Madame Deshoulières, Madame de Sévigné, Madame de Stael, Georges Sand und Madame Colet. Als dünne Frau kenne ich nur Madame Anais Ségalas.
Im Schlafgemach von Diane de Poitiers sahen wir das große Baldachinbett der königlichen Konkubine, ganz in blauem und kirschrotem Damast. Wenn es mir gehörte, könnte ich schwerlich umhin, mich ab und an hineinzulegen! Im Bett von Diane de Poitiers schlafen! selbst wenn es leer ist, taugt das mehr, als mit vielen greifbareren Realitäten zu schlafen. Heißt es nicht, dass das Vergnügen in diesen Dingen nur Einbildung ist? Alle, die ein wenig die besondere historische Wollust des XVI. Jahrhunderts besitzen, mögen sich also vorstellen, den Kopf auf das Kissen der Geliebten von François I zu legen und sich auf ihrer Matratze zu wälzen (oh! gern schenkte ich sämtliche Frauen der Welt für die Mumie von Kleopatra her!); doch allein aus Angst, es zu zerbrechen, würde ich es nicht wagen, das Porzellan von Caterina de Medici zu berühren, das im Speisesaal steht, noch meinen Fuß in den Steigbügel von François I zu stellen, aus Angst, er könne darin steckenbleiben, noch die Lippen an das Mundstück des gewaltigen Jagdhorns zu setzen, das im Waffensaal hängt, aus Angst, dass mir die Lunge platzt.
Und doch haben wir ihm Adieu gesagt, dem lieben Chenonceaux; wir haben es verlassen mit seinen schönen Erinnerungen, seinen schönen Porträts, seinen schönen Waffen und seinen alten Möbeln, schlummernd beim Plätschern seines gurrenden Stroms im Schatten dieser hohen Bäume auf seinem grünen Gras; und in bester Laune und mit gut gefüllten Flaschen haben wir unsere Rucksäcke eingeweiht und uns zu Fuß auf den Weg nach Bléré gemacht, um uns von dort nach Tours zu begeben.
Dieser Ausflug hat nichts Ergötzliches: es ist ein ziemlich ödes ausgedehntes Wiesenland mit vereinzelten bleichen Pappeln. Während man in Bléré dem Pferd Hafer gab und den Einspänner aus der Remise holte, der dort wie ein im Schrank vergessener alte Roquefort von den Würmern zerfressen wurde, haben wir uns die Kirche angesehen, wo der Sinn für Rokokoverzierungen beginnt: künstliche Blumen, Bänder, Pompons, Papiergirlanden, der ein paar Meilen weiter, in den Städten des Anjou, so auffällt, in einer Provinz, die von ihren alten Meistern die Vorliebe fürs Italienische behalten zu haben scheint.
Bis Tours ist die Strecke wirklich schön. Das Land ist weit und üppig, herrlich für das Auge und ganz gesund, ohne den fast schwermütigen Überschwang der Normandie noch das blendende Licht des Südens. Man wandert unter Bäumen dahin, die sich wie Wiegenhimmel über den Weg spannen, oder durch hier und da mit Dörfern und Kirchtürmen belebte große Wiesen, und von Montlouis an geht es die Loire entlang, wo man unentwegt einem nach dem anderen, reihenweise und immer wiederkehrend, Schlössern auf Hügeln begegnet, Weinbergen neben Weizenfeldern, länglichen Inseln mit Pappelkrone und Schilfsaum. Der Wind ist lau ohne Wollust; die Sonne mild ohne Feuer; kurz, das ganze Land hübsch, abwechslungsreich in seiner Monotonie, leicht, anmutig, doch von einer Schönheit, die schmeichelt, ohne zu gewinnen, die bezaubert, ohne zu verführen, und die mit einem Wort mehr gesunden Menschenverstand als Größe besitzt und mehr Geist als Poesie: das ist Frankreich.
Tours ist das, was man eine hübsche Provinzstadt nennt. Die Häuser dort sind sauber. Seine breiten Straßen werden, wenn es Nacht wird, vom Gaslicht erhellt, und die Rue Royale ist der Gegenstand der Bewunderung für die Bürger, die des Abends vor dem Zapfenstreich über die große Steinbrücke spazieren, welche die Loire überquert. Die neuen Bauwerke von Tours, Rathaus, Landungsbrücken und anderes, geben sich den Anschein antiker Gestalt, der mindestens lächerlich ist; die Arkaden stehen unbeholfen da; die Giebelfelder erröten über ihre Skulpturen, und die Säulen entrüsten sich über ihre schlecht gestalteten Kapitelle. Ich weiß nicht, warum die modernen Architekten die Leidenschaft haben, überall die Antike hinzusetzen: das Korinthische, das Dorische braucht Sonne, blauen Himmel und die warme Ausstrahlung des Orients: unter unseren Wolken sind die schönsten Tempel albern, ich denke da zum Beispiel nur an die Madeleine. Sie ist trotzdem grandios und hat schöne Proportionen; aber was für ein trauriges Bild gibt sie unter dem Regen ab, der sie unentwegt überschüttet, zur einen Seite begleitet von einem Wachposten, zur anderen von einem Droschkenplatz. Ach! Selbst Paestum und das Parthenon ertrügen keine derartige Nachbarschaft, vor allem wenn dort die Messe, wie in der Madeleine, als Dudelsackmusik gesungen würde.
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