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Dieses eBook: "Erinnerungen eines Verrückten (Autobiografischer Roman)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Gustave Flaubert (1821 - 1880) war ein französischer Schriftsteller, der vor allem als Romancier bekannt ist. Er gilt als einer der besten Stilisten der französischen Literatur und als ein Klassiker des Romans. Zusammen mit Stendhal und Balzac bildet er das Dreigestirn der großen realistischen Erzähler Frankreichs. Aus dem Buch: "Meiner Meinung nach ist die Eitelkeit der Grund aller menschlichen Handlungen. Wenn ich etwas geredet, etwas vollbracht, irgend etwas in meinem Leben getan hatte und meine Worte oder Taten genau untersuchte, fand ich immer diese alte Närrin, eingenistet in meinem Herzen oder, in meinem Hirne. Viele Menschen sind mir gleich; wenige haben den gleichen Freimut."
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Seitenzahl: 80
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Gedanken eines Zweiflers - Die Grüblereien der Gegenwart und die Erinnerungen der Vergangenheit
Übersetzer: Arthur Schurig
Im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen, überall, wo ihr geht, könnt ihr nicht einen Schritt tun, ohne daß Zwangsherrschaft, Ungerechtigkeit, Geiz, Habgier euch voller Selbstsucht zurückstoßen. Überall, sage ich euch, werdet ihr auf Leute geraten, die euch zurufen: »Geh mir aus der Sonne!« – »Hebe dich weg! Du betrittst den Sand, den ich mir auf die Erde gestreut!« – »Kehr um! Du bist auf meinem Grund und Boden!« – »Zurück! Du atmest Luft, die mir gehört!«
Ja, ja! Der Mensch ist ein durstiger Wanderer; er bittet um Trinkwasser; man verweigert es ihm, und er geht zugrunde.
Die Gewalt lastet schwer auf den Völkern, und ich fühle, es ist schön, sie von ihr zu befreien. Ich fühle, wie mein Herz bei dem Worte Freiheit vor Freude lauter klopft, wie ein Kinderherz vor dem Worte Gespenst. – Und doch ist eins wie das andere Wahn. Ein Trugbild, das verwehen, eine Blume, die verwelken muß. Mehr nicht.
So manche werden es versuchen, sie zu erringen, die herrliche Freiheit, die Fürstin aller Träume, den Abgott der Völker. Viele werden es wagen, aber sie werden unter der Last ihrer Bürde zusammenbrechen.
Es war einmal ein Pilger, der durch die große Wüste Afrikas wanderte. Er hatte die Kühnheit,
einen Weg einzuschlagen, der seine Reise um sieben Meilen verkürzte, dafür aber gefahrvoll war, reich an Schlangen, wilden Tieren und mühseligen Felsenstiegen.
Die Nacht brach an. Der Mann bekam Hunger. Er ward müde und matt. Er beschleunigte seinen Gang, um endlich sein Ziel zu erreichen. Doch auf Schritt und Tritt traf er Hemmnisse. Trotzdem verlor er seinen Mut nicht und ging herzhaft weiter.
Da sah er plötzlich vor sich einen ungeheuren Felsblock mitten auf seinem Wege, einem schmalen Saumpfade, der sich steil emporzog, überwachsen von Gestrüpp und Dornen. Er war also genötigt, den Stein bis zum Gipfel hinaufzuwälzen oder ihn zu überklettern oder zu warten bis zum Morgen, wo vielleicht andere Pilger kommen und ihm helfen könnten!
Aber er hatte solchen Hunger, und der Durst quälte ihn so gräßlich, daß er sich ermannte, alle seine Kräfte aufzubieten, um weiter zu kommen, bis zur nächsten Hütte, die noch vier Wegstunden fern war. Er begann mit Händen und Füßen am Felsblock in die Höhe zu klimmen.
Der Schweiß rann ihm in großen Tropfen von der Stirn, seine Arme stemmten sich mühevoll empor, und krampfhaft griffen seine Hände nach jedem Halm, der sich ihm bot; aber das Gras hielt ihn nicht, und er fiel enttäuscht zurück. Wieder und wieder erneute er seine Anstrengungen. Es war vergeblich.
Und immer schwächer wurde er von Fall zu Fall, immer kraftloser, immer verzweifelter. Er verfluchte Gott und lästerte ihn. Schließlich machte er einen letzten Versuch. Diesmal nahm er alle Kraft zusammen, die er noch hatte, und vor dem Aufstieg betete er zu Gott.
Ach, wie demütig, wie hehr, wie innig war dieses kurze Gebet! Weit entfernt, irgend etwas nachzuplärren, was ihn die Amme als kleines Kind gelehrt, waren Tränen seine Worte und Kreuzeszeichen seine Seufzer. Dann kletterte er hinan, fest entschlossen, Hungers zu sterben, wenn es ihm mißglückte.
Nun ist er am Werke. Er klimmt aufwärts; er kommt höher. Es sieht aus, als ziehe ihn eine helfende Hand empor zum Gipfel. Es ist ihm, als schaue er einem ihn rufenden Engel in das lächelnde Angesicht. Da mit einem Schlage ändert sich alles. Eine schreckliche Erscheinung übermannt seine Sinne. Er hört das Zischen einer Schlange, die am Gestein herabkriecht, auf ihn zu. Die Knie wanken ihm, seine Fingernägel, die sich um Felsenspitzen gekrallt hatten, verlieren ihren Halt …. Kopfüber fällt er in die Tiefe.
Was nun?
Er hat Hunger, ihn friert, er ist durstig. Der Wind pfeift über die endlose rote Wüste, und den Mond verdüstern Wolken.
Er fängt an zu weinen und sich zu ängstigen wie ein Kind. Er weint um seine Eltern, die vor Gram sterben werden, und er fürchtet sich vor den Raubtieren.
»Es ist Nacht,« jammert er. »Ich bin schwach und matt. Die Tiger werden kommen und mich zerreißen!« Lange wartet er, daß ihm irgendwer zu Hilfe käme. Aber es kamen die Tiger, zerfleischten ihn und schlurften sein Blut…..
Und wahrlich, ich sage euch, ebenso ergeht es euch, die ihr die Freiheit erobern wollt! Mutlos geworden in euren Anstrengungen, werdet ihr auf irgend jemanden warten, der euch helfen soll.
Und dieser Jemand wird nicht kommen! Nein!
Aber die Tiger werden kommen, euch zerfleischen und euer Blut trinken wie das des armen Wanderers.
Es ist so! Die Not herrscht über dem Menschen.
Ach, die Not, die Not! Ihr habt sie wohl nie verspürt, ihr, die ihr von den Lastern der Armen sprecht? Not ist ein Ding, das’ den Menschen packt, ihn auszehrt, ihn erdrosselt, ihm die Glieder abreißt und dann seine Knochen auf den Schindanger wirft. Not ist ein Ding, häßlich, fahl, stinkig, verkrochen in schmutzige Winkel und Löcher, hinter die Lumpen der Bettler, hinter die Röcke der Dichter. Die Not? Das ist der Mann mit den langen gelben Zähnen an Winterabenden an der Straßenecke, der euch im Grabeston zuflüstert: »Herr! Brot!« und dabei eine Pistole zieht… Die Not? Das ist der Spion, der euch umschleicht, eure Worte erjagt und dann zum Gewalthaber geht und ihm sagt: »Man macht eine Verschwörung! Man hat Gewehre…« Die Not? Das ist das Frauenzimmer, das euch unter den Bäumen der Promenade zupfeift. Ihr tretet heran. Die Frau trägt einen schäbigen alten Mantel. Sie öffnet den Mantel. Ein weißes Kleid schimmert darunter; aber dieses weiße Kleid ist voller Löcher. Und sie öffnet ihr Kleid und zeigt euch ihren Busen; aber dieser Busen ist schlaff, und drinnen wütet der Hunger! Ja, der Hunger, der Hunger! Überall der Hunger: in ihrem Mantel, dessen silberne Schließen versetzt, in ihrem Kleid, dessen Spitzen verschachert sind, in ihren Worten, die euch unter Weh und Leid zurufen: »Komm, komm!« Ja, Überall der Hunger, selbst in ihrem Busen, den sie eurer Lust verkaufen will! – Der Hunger, der Hunger!
Dieses Wort, oder vielmehr das Ding dahinter, hat die Revolutionen gemacht, und noch manche Revolution wird es bringen!
Das Unglück mit seinen tiefeingesunkenen Augen schreitet weiter und weiter. Es greift mit seinen Eisenkrallen nach Königshäuptern, und indem es ihre Kronen zerbricht, zertrümmert es ihnen die Hirnschale. Das Unglück schlägt die Machthaber tot. Es lauert am Bette der Großen; es hockt bei dem Kinde, verbrennt es, verschlingt es. Es bleicht aller Locken, höhlt aller Wangen, tötet alle. Es windet sich und kriecht wie eine Natter, und es zwingt die anderen, daß auch sie kriechen. Das Unglück ist unbarmherzig, unersättlich; sein Durst unlöschbar. Wie das Faß der Danaïden hat es keinen Boden. Seine Habsucht ist grenzenlos. Kein Mensch kann sich rühmen, seinen Fängen entgangen zu sein. Es hängt sich an die Jugend, umarmt sie, liebkost sie; aber seine Zärtlichkeiten sind wie die des Löwen; sie hinterlassen blutige Male. Es taucht plötzlich auf, mitten beim Feste, im vollen Lachen, bei Lust und Becherklang.
Mit besonderer Vorliebe trifft es gekrönte Häupter. Einst lebte in einem Keller des Louvre ein Mann, nein, ein Narr, und dieser Narr preßte sein bleigraues Antlitz in die Gitter des Fensters, durch dessen zerbrochene Scheiben die Nachtvögel flatterten. Er war in vergoldete Lumpen gehüllt. Goldene Lumpen! Stellt euch das vor und ihr werdet lachen! Seine Hände ballten sich vor Wut, sein Mund schäumte, seine ganz nackten Füße stampften auf die nassen Fliesen. Seht, das tat er, der Mann mit den goldenen Lumpen, weil er über sich Ballgetümmel, Gläsergeklirr und Orgelgebraus hörte. Dann starb der arme Narr. Man begrub ihn ohne Ehren, ohne Leichenreden, ohne Tränen, ohne Prunk, ohne Musik. Nichts von alledem! Es war König Karl VI.
Lange Zeit nach ihm lebte ein anderer Fürst, der ein noch gräßlicheres und grausameres Schicksal erlitt. Wer hätte in den heiteren Tagen seiner Kindheit gedacht oder gar gesagt, daß der schöne Kopf dieses jungen Mannes fallen werde vor der Zeit und von Henkershand? Eines Tages saß in einem Saale des Temple eine Familie, trostlos und heiße Zehren weinend, weil einer ihrer Zugehörigen sterben sollte, der Vater der Familie. Er umarmte seine Kinder und seine Frau, und als sie sich ausgeweint hatten und ihre Verzweiflungsschreie im Kerker verhallt waren, öffnete sich die Tür und ein Mann trat ein, der Gefängniswärter, und hinter ihm der Scharfrichter, der mit einem Schlage seiner Guillotine das ganze alte Königtum köpfte. Das Volk heulte vor Jubel um das Blutgerüst herum und rächte an diesem einen Haupte die Hinrichtungen von Jahrhunderten. Dieser Mann war Ludwig XVI.
Nicht viel später sank ein dritter König dahin. Aber unter dem Falle dieses Riesen erzitterte die ganze Welt. Armer großer Mann, gemordet von Nadelstichen wie ein Leu von Mücken! Wie erhaben war seine Wundergestalt bis zuletzt! Wie großartig noch auf dem Totenbette! Wie groß einst auf seinem Throne! Wie groß in der Seele seines Volkes!
Und was ist das alles? Ein Totenbett, ein Grab, ein Kaiserthron, ein Volk? Etwas, was den Teufel lachen macht! Nichts, nichts, dreimal nichts! Und doch war das Napoleon Bonaparte, der größte aller Herrscher, der größte aller Menschen!
Wahrlich, so muß es sein! Jedem das Seine! Die Not den Völkern, den Königen das Unglück!
Das Unglück, das Unglück! Das ist ein Wort, das über dem Menschen waltet wie das Verhängnis über den Jahrhunderten und die Revolution über der Kultur!
»Und was ist eine Revolution?« Ein Windeshauch, der über das Weltmeer streicht. Er verweht, und das Meer rauscht weiter.
»Und was ist ein Jahrhundert?« Ein Husch in der ewigen Nacht.