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Witzig, warmherzig und einfach wunderbar - eine Busreise zum Verlieben!
Zu ihrem vierzigsten Geburtstag bekommt Janne von ihren Freundinnen eine Busreise nach Schottland geschenkt. Der absolute Albtraum! Denn obwohl Janne Schottland liebt, findet sie, dass eine Busreise höchstens etwas für Senioren und Langweiler ist. Und spätestens als sie eingeklemmt zwischen dem überkorrekten Reiseleiter und lauthals singenden
Outlander-Fans sitzt, ist sie sich sicher: NIE WIEDER Busreise! Doch dann schaut Janne beim Whisky-Tasting etwas zu tief ins Glas und landet prompt im falschen Bus: neben dem unglaublich netten Schotten Alex. Und plötzlich findet Janne Busfahren gar nicht mehr so furchtbar ...
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Seitenzahl: 537
Karin Müller arbeitete nach dem Studium und einer journalistischen Ausbildung beim Hörfunk jahrelang als Redakteurin. Obwohl sie die schottische Landschaft, die Serie Outlander und die Gastfreundlichkeit der Schotten liebt, ist sie kein Fan von Busreisen. Ausprobiert hat sie es natürlich trotzdem und schrieb danach ihr wunderbares Romandebüt Ein Schotte kommt selten allein. Die Autorin lebt mit ihrer Familie bei Hannover.
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Karin Müller
Ein Schotte kommt selten allein
Roman
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Redaktion: Angela Kuepper
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ISBN 978-3-641-24019-6 V002
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Katzenjammer und Katerstimmung
Mit einem Knall ziehe ich die Autotür hinter mir zu und schreie los. Es ist mir schnurzkackpiepegal, ob mich irgendjemand hört, während ich mit ausgeschaltetem Motor im Parkhaus stehe.
Ich hatte einen wirklich miesen Tag, und jetzt sehe ich auch noch, dass mein schickes Kostüm vorhin Wasserflecken auf die Polster des Fahrersitzes gestempelt hat. Nie wieder werde ich einen Wagen leasen, was für eine stumpfsinnige Idee! Dieses Gefühl, bloß nichts schmutzig zu machen und keinen Kratzer mitnehmen zu dürfen, bringt mich noch um.
Ich greife hinter die Sonnenblende, ziehe einen Schokoriegel aus der Schachtel mit meinem Geheimvorrat und schiebe ihn mir komplett in den Mund. Sofort geht es mir besser, und ich atme auf. Ganz ruhig, Janne. Ein Auto ist ein Gebrauchsgegenstand, und es gibt mehr im Leben, als … Stimmt. Jetzt ist Feierabend, und alle können mich mal!
Dieser Arbeitstag hatte es wirklich in sich. Auf dem Rückweg vom Außentermin heute Mittag geriet ich in einen Wolkenbruch, daher das nasse Kostüm. Zurück in der Redaktion schnauzte mich der Ressortleiter an, weil mein Text über die Ortsratssitzung vom Vorabend dreizehn Zeilen zu kurz für sein verändertes Layout war. Also setzte ich mich dran und schrieb etwas dazu. Eine halbe Stunde später kriegte ich gleich noch einmal die volle Ladung seiner sanguinischen Persönlichkeit zu spüren, weil ich (seinetwegen!) zu spät in die Konferenz kam. Mir klingeln immer noch die Ohren.
Zu guter Letzt hat der Chef vom Dienst meinen ganzen Artikel in die nächste Ausgabe geschoben, weil der dynamische Kollege aus der Unterhaltungsredaktion unseren Bürgermeister beim Tennisspielen mit einer B-Prominenten ertappt hatte. So was hat natürlich Vorrang vor vierundzwanzig Paar neuen Gummistiefeln für die freiwillige Feuerwehr! Ich sehe das alles ein, aber dass unser aalglatter Starreporter dann auch noch die Dreistigkeit besaß, mir zum Trost vierzig Zeilen Platz für einen Einspalter auf seiner Seite anzubieten – das war das Sahnehäubchen auf meiner nicht vorhandenen Torte.
Vierzig. Vier! Null! Nachdem ich bereits sechsundachtzig Zeilen ausgeschwitzt hatte!
Über Gummistiefel!
An meinem Geburtstag!
Meinem vierzigsten!
Vier! Null!
Und in der Kantine war der Nachtisch alle.
Ich schnippe das Alupapierchen in den frisch gesaugten Fußraum meines Autos und gönne mir noch einen Schokoriegel. Dann stecke ich kauend den Schlüssel ins Schloss und funkele mein vierzigjähriges Gesicht im Rückspiegel an. Meine schulterlangen Haare sehen aus, wie kraftlose dunkelblonde Schnittlauchlocken nun einmal aussehen, wenn sie in der zugigen Heizungsluft eines Großraumbüros getrocknet sind: strähnig, glatt und platt. Meine Wimperntusche ist verlaufen, und darunter sehe ich aus wie ein Pandabär.
Es ist so typisch, dass mich niemand darauf aufmerksam gemacht hat. Nicht mal die Redaktionsassistentin, als ich ihr die Fahrtkostenaufstellung brachte. Dabei heißt es doch immer, dass Frauen zusammenhalten. Humbug.
Ich schiebe mir die Brille auf den Scheitel, streiche mit dem Zeigefinger unter meinen Lidern entlang und wische wie immer die schwarze Farbe an meinem Bein ab.
»Shit!«, rutscht es mir noch in der Bewegung heraus. Ich habe heute ja gar nicht die dunklen Jeans an, sondern diesen sündhaft teuren cremefarbenen Rock, wegen des Interviews mit dem Vorstandsvorsitzenden der Bank, das für die Samstagsausgabe geplant ist. Dass er eine ordentliche Spende für den Tierschutzverein lockergemacht hat, interessiert unsere Leser – mehr als Gummistiefel, aber nicht so sehr wie das, was der Bürgermeister und die B-Prominente noch so spielen außer Tennis.
Ich hasse diesen Job.
Ich hasse diesen Tag.
Ich hasse mein Leben.
Nein. Stopp. Das stimmt ja überhaupt nicht. Ich mag mein Leben. Sehr sogar.
Ich liebe meine Unabhängigkeit, und ich entdecke immer neue Vorteile am Singledasein. Heute an meinem Geburtstag ganz besonders. Ich lasse mich nicht länger verbiegen. Wenn ich Schokolade will, dann nehme ich sie mir! Apropos, ein Riegel geht noch, über die Wasserflecke kommen morgen wieder die karierten Schonbezüge, und das blöde Kostüm muss sowieso in die Reinigung. Außerdem kneift es am Bauch.
Ich mache mir nicht viel aus Äußerlichkeiten, und wenn mich erst mal ein Headhunter für ein großes Reisemagazin oder eine angesagte Kinozeitschrift abgeworben hat, dann werde ich sowieso überwiegend im Homeoffice arbeiten und nur noch bequeme, schräge Klamotten tragen. Das wird dann mein Markenzeichen.
Seufzend öffne ich den Reißverschluss, atme befreit aus, setze die Brille wieder auf und starte den Motor. Viel besser!
Vielleicht packe ich das Kostüm auch in die Altkleidersammlung. Das unbequeme Ding habe ich ohnehin nur deshalb gekauft, weil es mein Ex so sexy an mir fand. Es wird höchste Zeit, mich und mein eigenes Leben wiederzufinden, meine Träume zu leben! Schottland zum Beispiel: Eines Tages werde ich mit dem Rucksack durch die Highlands trampen, meinen Prince Charming an der Seite, der mich auch in Jogginghosen liebt, und mit ihm die stille Einsamkeit der Berge, die grandiose Natur, Sonnenuntergänge und Whisky genießen. Und guten Sex in einem romantischen Bed & Breakfast haben. Guter Sex ist nämlich schon ein Weilchen her, aber jedes Mal, wenn mich meine Schwester Imme oder eine meiner Freundinnen übers Internet verkuppeln wollen, mündet das in einem Fiasko. Das letzte Fiasko hieß Holger und hat mich in eine Identitätskrise gestürzt.
Ich will jetzt nicht daran denken, heute nicht. Ich will einfach nur aufs Sofa und diesen Tag mithilfe von Netflix-Serien und einem Schälchen Tiramisu verdrängen. Einem großen Schälchen Tiramisu. Das schwöre ich mir im Angesicht der Wasserränder auf den Polstern.
Versöhnlich lege ich den Arm um die Nachbarlehne und mache mich fahrbereit. Mein Blick schweift über den Beifahrersitz. Da entdecke ich auch welche … Wasserränder – von meiner Messengertasche. Moment mal, hat die etwa abgefärbt? Ich beuge mich hinüber und rubbele mit dem Zeigefinger über den grauen Schatten. Natürlich hat die abgefärbt! So kriege ich den Wagen niemals ohne Nachzahlung los!
»Kacke!«, brülle ich aus voller Kehle und atme dann tief durch Nase und Mund aus, so wie ich es im Volkshochschulkurs Burnout-Prävention durch Stressabbau und Entspannungstraining gelernt habe. Einatmen … ausatmen. Etwas gemäßigter knurre ich noch mal »Kacke«, bevor ich den Rückwärtsgang einlege. Vielleicht hat meine Freundin Mareike ja recht, und ich brauche wirklich ganz dringend Urlaub. Mareike, die gute Seele! Vorgestern habe ich sie und ihren Freund unter Androhung drastischer Maßnahmen ins Kino und zum Essen geschickt. Die beiden sind frischgebackene Eltern, haben seit Monaten keine Zeit mehr allein zu zweit verbracht, und Klein Elsa hat gerade ständig Blähungen. Mit Kindern kann ich prima, eine meiner leichtesten Übungen. Die beiden haben mir das abgekauft. Sie müssen ja nicht wissen, dass ich drei Stunden wie eine Irre durch den Park gejoggt bin, weil das Gerumpel das Einzige war, was Elsa beruhigt hat. Immerhin kann ich die Nächte durchschlafen. Ich schiele noch einmal auf meinen ruinierten Sitz. Mareike würde die Polsterflecken vor lauter Babystress nicht mal sehen.
Ach, was soll’s.
Zufrieden nicke ich meinem Pandabären-Ich im Rückspiegel zu. Seit diesem Psychokurs bin ich viel ruhiger geworden. Es wird Zeit, mein Leben wieder zu genießen. Nur weil man zum wiederholten Mal unverhofft Single wurde, muss man nicht allein für die Arbeit leben. Und schon gar nicht für Zeilenschlachten um Feuerwehrgummistiefel und Ortsratssitzungen. Filmkritiken, Autorenporträts oder Reiseberichte hingegen – das wäre etwas anderes! Aber das wird kommen, nicht aufgeben, Janne!
Von roter Ampel zu roter Ampel plane ich auf dem Nachhauseweg alles richtig schön durch: Badewanne, Tiramisu und dann mit George und Lucas aufs Sofa, mir die Seele und den Bauch von meinen beiden schnurrenden Samtpfötchen massieren lassen.
Während ich im Zeitlupentempo die Treppen von der Tiefgarage hinauf ins Erdgeschoss bezwinge – ich habe immer noch Muskelkater vom Babysitten, stelle ich grinsend fest –, gehe ich im Geist meine Watchlist durch. Wahrscheinlich wird es mal wieder auf ein paar meiner Lieblingsfolgen Outlander oder Big Bang Theory hinauslaufen. Ich liebe Serien. Und Filme. Und Bücher. Damit kenne ich mich aus, das ist meine Berufung. Ich bin ein romantischer Filmnerd. Sobald Mareike aus der Elternzeit zurück ist, wechsele ich sofort wieder in meine geliebte Kulturredaktion. Nur ihr zuliebe bin ich im Lokalen eingesprungen. Ich kann nicht verstehen, wie man freiwillig sein Leben lang Jahreshauptversammlungen von Schützenvereinen, Feuerwehren und neunzigste Geburtstage besucht.
Stöhnend schiebe ich die schwere Brandschutztür zum Hausflur auf und lege einen Zwischenstopp am Briefkasten ein. Wieso bekommst du Werbung für einen Treppenlift, Janne? Dann sind da noch zwei Rechnungen und vier Glückwunschkarten mit der furchtbaren Vierzig vorne drauf. Spontan erhöhe ich meine geplante Tiramisu-Ration auf die ganze verdammte Packung.
Ich will nur noch raus aus dem faltenreich an mir getrockneten Kostüm, rein in meine Schlabberhose und das Lieblingsgammelshirt und den Abend mit Katzen und Kalorienbomben genießen. Summend stecke ich den Schlüssel ins Schloss – und dann kippe ich fast hintenüber.
»Überraschung!!!«
Ein Freund, ein guter Freund …
Zehn Minuten später sitze ich eingequetscht zwischen meinen Lieblingsmenschen, Luftballons und Papierschlangen, mit zusammengepressten Knien und hängenden Schultern auf meinem Lieblingssofa. Dafür, dass ich allein sein wollte, ist es ganz schön eng hier.
Imme hat wirklich alle zusammengetrommelt. Alle außer Susa. Die Glückliche liegt mit Grippe und vierzig Grad Fieber im Bett, und ich würde auf der Stelle mit ihr tauschen. Meine Freundinnen sehen mich an und erwarten, dass ich mich freue. Und das tue ich natürlich auch. Ehrlich! Aber ich bin noch immer in diesen Klamotten gefangen. Ich konnte gerade noch den blöden Reißverschluss wieder hochziehen. Nicht mal ein klitzekleines Löffelchen Tiramisu konnte ich mir stibitzen. Aus meinem eigenen Kühlschrank!
»Ach, Süße, sag mal, weinst du etwa?« Imme steht vor mir, beugt sich gerührt zu mir herunter und hält mir ein Sektglas hin.
»Deine Augen sind ganz rot«, bestätigt Mareike, die neben mir sitzt und ein zerknittertes Taschentuch zückt, um mir damit den Augenwinkel zu betupfen. Fehlt nur noch, dass sie reinspuckt wie bei Klein Elsa.
»Nein«, widerspreche ich heiser. Meine Augen brennen verdächtig. Aber die Ursache dafür ist nicht meine Rührung über diese Überraschungsparty zu meinem Vierzigsten, nicht einmal die Erschöpfung nach vierzehn, teils sehr nassen Stunden im Job. Ich fühle mich gerade einfach nur komplett überfordert von so viel … Liebe.
Sieben Augenpaare kleben an mir: die energischen meiner künstlerisch hochbegabten Freundin Dana, die leicht glasigen von Merle, meiner immer gut gelaunten Haustierärztin. Die grünen Augen gehören meiner Ex-Kollegin Saida, dem Technik-All-Star mit dem beneidenswert sportlichen Traumbody. Mareikes braune Augen mustern mich jungmütterlich müde und besorgt. Marie fixiert mich nachbarschaftlich liebevoll in Eisblau. Die Luchsaugen mit den Falten drum herum gehören der Hundebesitzerin Leonie, die meine Filmleidenschaft und mein Faible für funktionsorientierte Klamotten teilt. Und dann sind da noch die stark geschminkten Augen mit Rändern darunter, die noch dunkler sind als die von Mareike – die gehören Imme. Moment mal, Schwesterchen, hast du dich schon wieder mit diesem verheirateten Typen getroffen? Inquisitorisch scanne ich ihr sommersprossiges Gesicht. Imme bläht nur kurz die Nasenflügel und trötet gut gelaunt in eine dieser aufgerollten Papierpfeifen, die einem eine lange Nase machen und dabei klingen wie ein Alleinunterhalter auf Klebstoff.
Ich hebe mahnend die Augenbrauen, aber sie weicht meinem Blick einfach aus und wühlt so konzentriert in der Schale mit den Kartoffelchips, als ob auf deren Grund ein Diamant versteckt wäre. Imme ist definitiv die Leichtlebigere von uns beiden. Ich vermute, dass sie das mit ihrem notorischen Putzfimmel zu kompensieren versucht. Oder andersherum. Bevor sie meine gerahmten Landschaftsfotos und Schnappschüsse auf dem antiken Büffett mit Girlanden umrankt hat, hat sie erst mal überall Staub gewischt – darauf wette ich. Sie hasst meine Flohmarkteinrichtung. Ihre Wohnung sieht aus wie am Einzugstag, und zwar, bevor die Kartons mit der persönlichen Habe ausgepackt wurden. Bei mir wirkt es genau umgekehrt – wobei ich nicht besonders viel besitze, auch weil meine Ex-Freunde bei ihrem jeweiligen Auszug schleichend mein Inventar verschlankt haben. Imme hätte das längst hochwertig ersetzt, ich bummele lieber über einen Trödelmarkt, wenn ich etwas brauche, oder improvisiere. Mein Blick streift das ein oder andere in Umlauf befindliche Sektglas. Alle sind verschieden, und eins ist – oh – das Saftglas mit dem Pinguin. Wo hat sie das denn gefunden?
Eigentlich haben Imme und ich nur die dunkelblauen Augen und die schlanke Figur gemeinsam. Wir können futtern wie die Scheunendrescher und nehmen nie ein Gramm zu, leider auch nicht an den richtigen Stellen. Imme behauptet, ich hätte einen pathologischen Hang zum Grübeln, zu bildhaften Fantasien, Gedankensprüngen und Übertreibungen. Aber das brauche ich alles für meinen Job. Umgekehrt hätte Imme ohne mich wahrscheinlich schon vierzehn uneheliche Kinder und dazu fünf Hunde aus dem Tierschutz. Mit anderen Worten: Wir ergänzen uns prima und wissen, was wir aneinander haben.
Na warte!, funkele ich sie an. Wir sprechen uns noch! Jetzt gerade geht es allerdings schlecht, und das weiß sie genau.
Saida, Dana, Mareike und Leonie hat Imme mit ihrem Zweitschlüssel hereingeschleust. Marie hat einen eigenen Schlüssel. Als Nachbarinnen sind wir bestens vertraut mit den Gießgewohnheiten und der Post der anderen. Wir helfen einander, leihen uns gegenseitig Gläser, Eier und ein Ohr. Und in gemeinsamen Singlezeiten kochen wir mindestens dreimal wöchentlich zusammen. Meist kaufe ich ein, weil Marie chronisch klamm ist. Dafür putzt sie heimlich meine Fenster oder staubsaugt und glaubt, ich merke das nicht.
Merle, die Perle, trinkt aus dem zweiten Pinguinglas. Sie hat einen Riesentopf veganes Curry mitgebracht. Aber das ist für später, hat Imme bestimmt. Erst soll ich mein Geschenk auspacken. Und da wären wir also, genau jetzt, in diesem Moment, in dem ich in aufsteigender Verzweiflung versuche, mich in Luft aufzulösen. Zu viele Menschen auf zu engem Raum schauen mir zu und verströmen einen Erwartungsdruck, der noch dichter ist als ihre kumulierte Parfümwolke. Ich bin gefangen in den Tiefen meines durchgesessenen Lieblingssofas, und auch das Patchworkkissen vor meinem Bauch schützt mich nicht annähernd vor alldem.
Man könnte eine Katze atmen hören, so still ist es, als ich das überdimensionale Kuvert öffne, einen Blick auf die Karte werfe und verzweifelt versuche, cool zu bleiben. Ich habe ein ganz mieses Gefühl. Du hast da was falsch verstanden, Janne. Es ist bestimmt nicht das, wonach es aussieht. Oder es ist ein Scherz. Es muss ein Scherz sein!
Zunehmend verzweifelt drehe ich diesen riesigen, wattierten Umschlag in den Händen. Darauf prangt eine Vierzig. Vier. Null. Gibt es denn keine anderen Zahlen mehr auf dieser Welt? Anscheinend nicht. Damit ich mein stolzes Alter auch bloß nicht vergesse, hat Imme meine komplette Wohnung damit zugebastelt. Auf Luftschlangen, Ballons, Servietten, Untersetzern, der Torte, selbst auf dem Toilettenpapier schreit mich meine persönliche Schreckenszahl an. Aber das sind alles Nebenkriegsschauplätze.
Mein Problem ist dieses wirklich wahnsinnige Geschenk!
Mir ist schlecht. Ich sehe die Bilder auf der aufwendig gestalteten Karte, betrachte die Buchstaben, setze das alles im Kopf zu einer unmissverständlichen Botschaft zusammen – und möchte dringender denn je auf einen anderen Planeten.
Imme ignoriert meinen flatternden Augenaufschlag, und zwar sehr genüsslich, wie ich finde. Sie legt die Kindertröte beiseite, um sich eine Handvoll Kartoffelchips in den Mund zu schieben.
»Jetzt sag doch was!«, fordert sie mit vollem Mund.
Es dauert einen Moment, bis ich begreife. Ach, verdammt. Die warten immer noch alle.
Sieben Augenpaare sind nach wie vor auf mich gerichtet, die Lippen dicht über den Sektgläsern, aber niemand trinkt.
»Das ist nicht euer Ernst, oder?«, piepse ich.
Doch, ist es.
Die dazugehörigen Köpfe nicken.
»Wow!«, presse ich heraus und lächle nervös. »Ja, also … das ist äh … Hammer!«
Ich lasse meine Hand mit dem geöffneten Umschlag sinken und flüchte mich noch einmal ins intensive Studium der Geburtstagskarte mit dem selbst gebastelten Gutschein. Meine Freundin Dana ist Grafikdesignerin. Wir haben uns in der Redaktion kennengelernt, bevor sie sich selbstständig gemacht hat. Ihre Bastelleidenschaft ist legendär, und mit der Karte hat sie sich selbst übertroffen. Im aufgeklappten Zustand poppt eine hügelige Landschaft auf. Wie die Kulisse vom Schlaraffenland wird sie durchzogen von Schienen, Straßen und einem See. Nicht eins, sondern gleich drei Springteufelchen federn mir entgegen: eine Dampflokomotive, ein Seeungeheuer und ein Reisebus. Und alle drei lachen zuckersüß buntstiftig.
Sie haben sich so viel Mühe gemacht. Verreisen soll ich. Nach Schottland, Nessie finden und sogar den berühmten Harry-Potter-Zug sehen. Das wäre eigentlich verlockend. Aber dieser Reisebus macht mir Angst. Vielleicht gibt es eine ganz harmlose Erklärung, und sie wollen einfach nur alle mitkommen? Dann passen wir natürlich nicht in ein Auto, aber … Nein, ich fürchte, das ist es nicht: Saida hasst Wind und Kälte, Imme hat eine Outdoor-Allergie, und Mareike würde weder mit noch ohne Klein Elsa in einen Flieger steigen. Ich ahne Schreckliches. Da stehen außerdem Worte in blau-weißer Schönschrift, und auf die Rückseite ist ein Flyer geklebt, aber ich will und will es nicht wahrhaben.
Ich nehme die Brille ab und fange an, die Gläser mit einem Zipfel meiner Bluse zu putzen. Das tue ich immer, wenn ich nervös bin. Oder mir Zeit verschaffen muss, um nachzudenken. Ich habe eine schnelle Auffassungsgabe und kein Pokerface, und ich ringe panisch um Fassung. Ja. Ich will seit Jahren unbedingt nach Schottland. Das ist mein Traum, und natürlich wissen sie das. Aber doch nicht im Schleuderprogramm einer Vollbespaßungszwangsanimationspauschaltour!
In den unendlichen Nanosekunden, bis mein Blick sich wieder heben muss, bastele ich selige Überraschung in den Faltenwurf meiner Mimik. Zumindest hoffe ich, dass es so rüberkommt. Vielleicht noch ein entwaffnend nervöses Lächeln dazu? Tu so, als ob, Janne! Du kannst das!Sie haben sich so angestrengt, und billig war dieses Geschenk ganz sicher nicht! Nee, ganz und gar nicht, irre teuer war das. Irre! Sind! Die!
»Yay!«, presse ich heraus, setze mir die Brille wieder auf die Nase und lächle tapfer. Der Knoten in meinen Stimmbändern ist echt. Wieso, um Himmels willen, eine Pauschalreise? Per Bus! Und auch noch komplett durchorganisiert? Ich mag keine fremden Menschen! Mir ist es Therapie genug, wenn ich mich beruflich mit den seltsamsten Vertretern des Homo sapiens auseinandersetze. Und was sind das überhaupt für Leute, die so was buchen, eine Busrundreise? Mir fallen nur Nerds und Ruheständler ein. Werden da Rheumadecken mit Schottenkaros verkauft? Oder Kaffeemaschinen? Unsere Eltern haben so was vielleicht gemacht – aber ich doch nicht! Ich meine, ich bin vierzig geworden, nicht achtzig! Warum schicken sie mich nicht gleich auf eine Moselkreuzfahrt mit Dosenwurstverkauf?
Alle quasseln gleichzeitig durcheinander. Schon schließen sich Arme um mich. Siebenmal hintereinander quetschen sie die Luft aus mir wie aus einem alten Akkordeon. Und alle sind glücklich. Alle außer mir. Aber das dürfen sie nie erfahren. Nie!
»Oh, Gott, ich hab schon befürchtet, es wäre too much.«
»Das wird super!«
»Ich bin so neidisch!«
»Mach dir bloß keine Sorgen um Lucas und George. Wir kümmern uns um die beiden!«
Zum Beweis streckt sich Leonie, zieht Lucas mit beiden Händen von seinem heiligen Schlafplatz auf dem Kratzbaum und drückt die Nase in sein Fell.
Ich höre ein untertouriges Protestmurren und beobachte hilflos, wie mein stattlicher Tiger die Krallen ausfährt. Leonie und Susa habe ich beim Joggen kennengelernt, die beiden sind Hundefrauen. Sie haben keine Ahnung, wie Katzen ticken. Ich bin noch immer in der siebten Umarmung gefangen. Dabei müsste ich jetzt dringend einschreiten. Aber kurz bevor Lucas die Klauen in Leonies Haare schlagen kann, setzt die Ahnungslose ihn auf dem Teppich neben seinem Bruder ab. Prompt bekommt George Lucas’ Unmut zu spüren. Fauchend und raufend verschwindet das ineinander verhakte Katzenknäuel in der Küche.
Man sagt ja, dass Tiere ihre Menschen spiegeln. Nun, ich gestehe: Zumindest ein kleiner, unerzogener Teil in mir würde jetzt sehr gern die Krallen in meine jüngere Schwester schlagen.
Irgendetwas klirrt und lenkt mich ab. Was haben die beiden Berserker jetzt schon wieder vom Tresen geschubst? Nicht das gute Curry, oder? Als ich mein Sektglas abstelle und aufspringen will, um nachzusehen, zieht mich Leonie aufs Sofa zurück. Imme schenkt mir eilig nach.
»Hiergeblieben!«
Mir ist jetzt schon ganz schön duselig. Aber vielleicht ist das in dieser Situation gar nicht schlecht.
»Wir haben beschlossen, dass du jetzt mal dran bist, Schätzchen – und wir sorgen für die Kätzchen. Haha! Das reimt sich! Also hoch die Tassen! Man wird nur einmal vierzig!« Marie strahlt.
Die hat leicht reden! Sie hat das Drama ja auch erst in drei Jahren vor sich.
In der Küche scheppert es noch einmal. Ich sehe George aus der Tür schießen, Lucas rast hinterher. Beide verschwinden durch die Katzenklappe. Ich ziehe den Kopf ein. Meine Gedanken fliegen mit den sich jagenden Tieren nach draußen. Bitte nicht meine Tomaten abknicken!, flehe ich im Geist. Sie haben doch im letzten Gewitter schon so gelitten.
Entsetzt höre ich meinen eigenen Gedanken zu und stelle fest, dass ich womöglich tatsächlich spießig werde. O Himmel! Meine Freundinnen haben recht. Ich muss wirklich mal raus … Im letzten Jahr ist ganz schön viel auf mich eingeprasselt. Erst die Versetzung auf Zeit ins Lokale, dann die Trennung von Holger, der Rosenkrieg um unsere Blu-Ray-Sammlung, Mareike wurde Mama, Susa musste mit Burnout zur Reha, Saidas bester Freund starb bei einem Autounfall … Gefühlt bin ich von Freundin zu Freundin gefahren und habe getröstet, abgelenkt, babygesittet, Kinder gefüttert, Popos abgewischt – und dann kam noch die Zahn-OP von Lucas obendrauf. Oh, wie der arme Kerl herumgetorkelt ist, nachdem er aus der Narkose erwachte …
Dana schiebt sich augenzwinkernd in mein verschwommenes Blickfeld. »Die Karte ist wirklich zauberhaft«, lobe ich schachmatt gesetzt und sehe zu ihr auf. »Wessen Idee war das denn?«
Sie zeigt strahlend in die Runde. »Wir alle waren das. Wir haben zusammengelegt. Es sollte etwas ganz Besonderes für dich sein!«
»Du hast das wirklich verdient!«, ergänzt Marie. »Wir wissen doch, wie sehr du Schottland liebst – und Filme!«
»Eine Buspauschalreise mit Vollprogramm für Kinofans. Für dich allein!«, haut Imme noch mal brutal in dieselbe Kerbe. »Du musst dich um überhaupt nichts kümmern, es ist alles inklusive und bis ins Detail durchorganisiert – und der Veranstalter sagt, es wird eine ganz kleine Gruppe. Oh, ich bin so aufgeregt, als ob ich selbst fahren dürfte!«
»Du musst uns jeden Tag schreiben, was du erlebst!«, ruft Leonie.
»Das ist die Idee! Saida, kannst du ihr nicht einen Reiseblog bauen?« Dana sieht mit rosigen Wangen zu meiner Ex-Kollegin hinüber.
»Klar«, sagt die auch noch und ignoriert meinen abwehrenden Blick. »Das ist ganz einfach. Wartet, ich mach das mal eben. Gibst du mir kurz dein Handy?«
»Ich, äh …«
Niemand hört auf mich. Mein Smartphone wird enteignet und weitergereicht, und Saida zieht sich damit an den Esstisch zurück.
»Ich habe noch einen Adapter für Großbritannien. Den brauchst du bestimmt.« Mein Kopf fliegt zurück zu Imme, deren Augen vor Tatendrang sprühen. »Soll ich dir packen helfen?«
»Wieso? Wann geht’s denn los?«, frage ich alarmiert.
»In zehn Tagen!«, ruft Leonie und hüpft auf dem altersschwach knarzenden Sofa auf und ab. »Dein Urlaubsantrag ist bereits genehmigt. Das hat Mareike organisiert.« Sie nickt stolz.
»Oh«, rutscht es mir heraus. Meine letzte Hoffnung schwindet. Der Sekt in meinem Kelch schwappt gefährlich. Ich stürze ihn in mich hinein und halte Imme das Glas zum Nachfüllen hin.
Ich bin verloren. Ich werde sterben. Die Katzen werden sterben. Die Blumen werden vertrocknen. Die Tomaten … Ich …
»So, jetzt lasst uns noch mal anstoßen!«, fordert Imme, nachdem sie allen nachgeschenkt hat. »Auf dich!«
Muss ich jetzt wirklich auf eine Buspauschaltour? Ich blicke in lauter strahlende Gesichter. Meins glüht ein bisschen, genau wie meine Füße, ich habe ein flaues Gefühl im Magen, und mein Herz wummert so schnell, dass mir schwindelig wird. Sie sind schon toll, meine Freundinnen, auch wenn sie mich in den sicheren Tod treiben.
»So, fertig. Da ist es. Guckst du?!« Saida reicht mir mein Handy. »Ich hab dir einen Titel angelegt, passwortgeschützt. Aber das kannst du natürlich alles ändern.«
Ich werfe einen Blick auf mein Handy.
Jannes Reiseblog
Datum: 5. September, 19.43 Uhr
Ort: Jannes Lieblingscouch, überfülltes Wohnzimmer, zu Hause
Hier fängt dein Abenteuer an. Mit einem Wahnsinnsgeschenk und einer mordsmäßigen Überraschungsparty! Damit du dein altes Ich wiederfindest, musst du ganz dringend raus hier, und zwar ohne uns. Wir lieben dich, Janne!
Darunter ist ein Foto von der geöffneten Geburtstagskarte mit dem Gutschein und meinem verdutzten Gesicht zu sehen. Natürlich wieder mit verlaufener Schminke. Warum erzählt mir das nie jemand?
»Mädels, da habt ihr mir wirklich ein Mords-Ei gelegt«, sage ich aus vollem Herzen und mit einem dicken Kloß im Hals. Plötzlich habe ich Whisky im Sektglas – und in mir das Wissen, dass auch der andere Kelch, der mit der Reise, nicht an mir vorübergehen wird. Vierzig.
Schottland.
Allein.
Auweia.
»Tja dann, prost, alle zusammen!« Wir stoßen an. Die Gläser klirren. Der Whisky brennt sich seinen Weg bis in meine Zehenspitzen.
Marie legt mir die Hand aufs Knie. »Freust du dich, Janne? Du freust dich doch, oder?«
Ich ringe mir ein tapferes Nicken ab. »Ja, klar … riesig … Ich wollte schon immer mal nach Schottland, das wisst ihr ja …« Bis hierhin ist das noch nicht einmal gelogen. Ein Glück, dass die anderen nicht hören können, was ich denke. Meine innere Stimme kreischt den Satz in stummer Hysterie zu Ende: Aber doch nicht auf eine Rundreise! Mit lauter Rheumadeckenkäufern oder Bekloppten! Oder schlimmer noch: Mit total bekloppten Rheumadeckenkäufern!
Karosessel und andere Schreckmomente
Zehn Tage später
Anscheinend sehe ich aus, wie eine Gruppenreisende aussehen muss. Denn während ich den Zoll hinter mir lasse und in der Ankunftshalle kurz stehen bleibe, um meine Papiere zu sortieren, bin ich bereits identifiziert. Der Reiseleiter ist ein übergewichtiger, fröhlicher Fünfziger, Typ Fossiliensammler. Er winkt mir mit einem blaugesichtigen Funko-Pop-Puppenmaskottchen zu. Der übergroße, wild bemalte Plastikkopf mit dem Mini-Vinylkörper sticht mir ins Auge, noch bevor ich das Pappschild vor der Brust seines Besitzers entziffern kann.
»Brave Hart Tours?!«, schmettert er mir gut gelaunt und ein klein wenig kurzatmig entgegen. Es klingt nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung. Oder eine Urteilsverkündung. Dabei komme ich mir vor wie mein getigerter Mopskater George, wenn ich ihn zum Krallenschneiden zwischen meine Oberschenkel klemme.
Ich nicke kläglich und bin inständig dankbar, dass mich am Flughafen von Edinburgh niemand kennt. Schlimm genug, dass zu Hause sieben sogenannte Freundinnen auf meinen täglichen Bericht im virtuellen Reisetagebuch für die Daheimgebliebenen warten. Damit ich im Urlaub das Schreiben nicht vermisse, ohne könne ich ja nicht, meinte Saida, har, har. Vielleicht hat sie damit sogar recht, die Gute, aber ich bin mir jetzt schon sicher, dass ich einiges werde beschönigen müssen. Alles Bisherige zum Beispiel und wahrscheinlich auch das meiste von dem, was noch kommt.
Mir eilt ein gewisser Ruf voraus. Dabei bin ich gar nicht so zynisch, wie meine Freunde mir unterstellen – das ist nur meine konstruktiv-kreative Art, gewisse Menschen zu ertragen. Etwa, wenn sie mir wasserköpfige Reisemaskottchen drei Zentimeter vors Gesicht halten, wie Gregory es gerade tut. Ich kann auch anders.
»Niedlich, die Puppe«, schwindele ich. Einfach so. Tadah! Es ist gar nicht so schwer, die Bemerkung aufrichtig klingen zu lassen. Vielleicht hätte ich Schauspielerin werden sollen und keine Journalistin.
»Oh, aber das ist doch keine Puppe!« Gregory steigt sofort darauf ein und lächelt großherzig. »Das ist unser Braveheart junior. Er ist dem historischen Freiheitskämpfer William Wallace nachempfunden, wie er von Mel Gibson im Film Braveheart gespielt wurde. Du darfst Melly zu ihm sagen, aye? Er wird uns auf der Fahrt begleiten.« Er zupft an der gestrickten Bekleidung des Plastikpüppchens herum und tut, als würde Melly sich vor mir verbeugen. »Toll, oder?«
Ich versuche herauszufinden, was mich an dem, was er gerade gesagt hat, am meisten verwundert. Irgendetwas war da seltsam. Dann hab ich’s: Das schottische Aye. Es passt nicht zu Gregorys österreichischem Akzent. Ich lächle beruhigt. Mein Verstand ist ein scharfes Messer und meine Feder die Scheide. Oder so ähnlich.
Erwartungsvoll sehen Gregory und Melly mich an.
Los, Janne, sag was, schnell!Zur Braveheart-Puppe. Darum geht’s. »Äh … Aber hatte Mel Gibson die Haare im Film nicht irgendwie anders?« Ich kann wohl doch nicht aus meiner Haut. Es tut mir gleich wieder leid, aber Gregory kollert professionell amüsiert. Er klingt nicht nur wie ein Truthahn, er hat auch optisch eine latente Ähnlichkeit mit … Nein, Janne. Aus! Pfui! Das ist böse.
Ich verleihe mir ein Sternchen fürs Mühegeben und schweige. Denn klug bin ich auch. Ein kluges, sarkastisches Miststück … Und Menschen mit blaugesichtigen Wasserkopfpuppen soll man sicher nicht reizen.
»Darf ich Melly fotografieren?«, frage ich freundlich.
Gregory kollert wieder. Diesmal klingt es ehrlich erfreut. »Es ist ihm eine Ehre.«
Mit diesem Foto beginne ich mein virtuelles Reisetagebuch.
Jannes Schreckmomente-Reiseblog
Datum: 15. September
Tag eins
Ort: Edinburgh Airport
Der Chronologie halber: Schreckmoment Nummer eins war mein Geburtstag und die Überreichung des Gutscheins. Check.
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Schreckmoment Nummer zwei: Ankunft am Flughafen in Edinburgh. 15.40 Uhr.
(Eintrag gelöscht)
Besser nicht. Nicht so. Ich muss mir später in Ruhe überlegen, was ich überhaupt losschicken kann bei der Menge, die ich zensieren muss.
Fürs Erste sollte wohl eine Bildunterschrift genügen:
Das ist Melly, unser Reisemaskottchen. Ich bin gut gelandet.
In der Zwischenzeit hat Gregory das M wie Michelsen auf seiner Teilnehmerliste gefunden. Plappernd notiert er meine Handynummer und hakt mich ab, vermutlich nicht nur auf seinem Zettel.
Er hat einen Zahlendreher drin, also bei meiner Nummer. Mit diabolischer Genugtuung versäume ich es, ihn darauf aufmerksam zu machen. Der soll mich gar nicht anrufen können. Pah!
Gregory schickt mich wie ein Kindergärtner noch eine Runde spielen: Die gemeinsame Abfahrt wird erst in anderthalb Stunden sein, wenn er alle seine Schäfchen eingesammelt hat.
»Treffpunkt wieder hier«, mahnt er und zeigt mit Melly auf die Säule mit der Topfpalme, der jemand einen umgekippten Caffè Latte zu trinken gegeben hat. So einen in frisch aufgebrüht könnte ich jetzt auch gebrauchen.
»Alles klar«, will ich mich verabschieden. Da erhasche ich einen Blick auf eine zweite Seite eng mit Namen und Adressen beschriebenen Papiers und bekomme den nächsten Schreck. So viele Teilnehmer?
Nummer drei auf der Liste schrecklicher Momente:
Zwei Seiten!
(Eintrag gelöscht)
Ich werde eines Besseren belehrt: Gregorys Liste hat sogar drei Seiten, und sie sind einzeilig bedruckt!
Auf meinem Geburtstagsgutschein hat sich Brave Hart Tours als Veranstalter für individuelle Kleingruppen präsentiert … Da stimmt was nicht.
»Wie viele sind wir denn?«, frage ich alarmiert. Das hätte ich besser nicht tun sollen.
»Wir sind vierundvierzig. Also mit Melly und mir sogar sechsundvierzig.«
Mir bricht klebriger, kalter, klaustrophobischer Angstschweiß aus. Vierundvierzig fremde Menschen, eine Vinylpuppe und dazu ich, eingepfercht in einem Reisebus …
Ich gehe in einer kleinen Bar Kaffee trinken, um den Schock unserer sogenannten Kleingruppe zu verdauen, und warte. Dabei beobachte ich die Ankommenden und versuche sie insgeheim ebenso schnell zu kategorisieren wie Gregory, der fröhlich mit seinem Klemmbrett unterm Arm alle anspringt, die wie filmaffine Pauschalreisende aussehen. Meine Trefferquote ist nicht halb so gut wie seine, aber meine Gruppe wäre dafür sicher die interessantere geworden. Leider muss ich meine ersten Vorurteile gleich über Bord werfen. Es scheint ein illustres Völkchen zu sein, das solche Reisen bucht und freiwillig mitmacht. Längst nicht alle sehen aus wie Nerds, Rentner oder Rheumadeckenkäufer. Sogar eine Teenagerin ist dabei. Sie schleppt deutlich benutzte Reitstiefel in einer Plastiktüte und wird von ihrer Mutter nicht von der Hand gelassen. Wie hat das Mädchen wohl außerhalb der Ferien schulfrei bekommen? Ich zwinkere ihm zu, und es lächelt schüchtern, bevor es energisch weitergezogen wird.
Dann sind da noch zwei Freundinnen, die genauso irritiert auf Melly reagieren wie ich vorhin. Die eine wirkt zehn Jahre älter als ich, die andere zehn Jahre jünger. Sie haben identische Schultertaschen voll kleiner Pins und Schottlandsticker. Sobald Gregory sich wegdreht, um die nächsten Opfer abzufangen, tauschen sie Blicke und kichern auf eine hilflos humorvolle Art. Was soll man auch anderes tun!
Dieses Duo würde ich doch wunderbar ergänzen, sehr sympathisch. Aber während ich noch überlege, mit welchem lockeren Spruch ich mich bemerkbar machen könnte, steuern sie die Toiletten an, und dahin folge ich ihnen jetzt nicht.
Leider gehören die Punks mit den pink-blau-grün gefärbten Haarbergen nicht zu uns. Die haben ein total süßes Hündchen dabei, das allerdings auch eine Ratte sein könnte. Ich putze mir die Brille, aber da sind sie schon weitergezogen. Das wäre ein Spaß geworden. Menno.
Anderthalb Stunden später ist es dann so weit. Abmarsch der vollständigen Horde!
Im Geist notiere ich meinen Schreckmoment Nummer drei b. Der Augenblick, oder vielmehr der Klang, als die Kofferrollen auf dem Asphalt das Getrappel und Gekicher von fünfundvierzig Reisenden noch übertönen, brennt sich mir tief ein.
Reflexartig drücke ich auf Record, als wir über den Flughafenparkplatz auf unseren Bus zustürmen. Diese Aufnahme wird in meinem kleinen Horrorarchiv gespeichert. Kommentarlos.
Fünfundvierzig.
Wir sind fünfundvierzig Reisende, mit fünfundvierzig Koffern und mindestens doppelt so vielen Rollen. Ich zähle Melly bewusst nicht mit, Wasserkopf-Blaugesicht reist mit sehr kleinem Gepäck. Wenn er überhaupt einen eigenen Koffer hat. Er könnte aber. Ich glaube, ich will es nicht wissen.
Die anderen sind laut. Wir sind laut. Sehr laut. Und ich bin jetzt eine von ihnen.
Plötzlich muss ich an den zweiten historischen Aufstand der Jakobiten denken. Unser drohendes Donnergrummeln hätte selbst die hartgesottene Highlandarmee von Bonnie Prince Charles Reißaus nehmen lassen. Dann wäre es nie zu der verheerenden Schlacht von Culloden Moor im Frühling 1746 gekommen. Oder wenn die Schotten im achtzehnten Jahrhundert Kofferrollen gehabt hätten? Ich male mir aus, dass die Geschichte Schottlands wesentlich unblutiger verlaufen wäre. Jedenfalls schade, dass es Brave Hart Tours nicht bereits damals gab. Obwohl – da bin ich mir jetzt doch nicht ganz so sicher …
Schon der Beginn unserer gemeinsamen Reise erinnert mich sehr an eine Klassenfahrt. Obwohl hier zumindest äußerlich alle bis auf den Teenie erwachsen sind, gibt es das gleiche Hauen und Stechen, Schieben und Meckern an der Kofferluke des Reisebusses wie schon vor dreißig Jahren. Nur dass Gregory nicht mit Schulverweisen und Extraaufgaben drohen kann. Er hält sich dezent zurück. Vielleicht hat Braveheart junior ihm das geraten. Ich verkneife mir ein Augenrollen und beschließe, mir ein ruhiges Plätzchen im vorderen Drittel des Busses zu suchen. Mein Hirn spuckt alte Klassenfahrtweisheiten aus: Keinen Sitz zu dicht bei den Lehrern und Strebern auswählen, aber auch nicht ganz nach hinten zu den Chaoten. Und wie schon damals in der Schule bin ich nicht schnell genug.
Vorn ist alles besetzt, mir bleibt also nichts übrig, als im hinteren Drittel den einzigen noch freien Fensterplatz zu belegen. Dort, wo jetzt schon gegrölt und gepfiffen wird.
Fällt Fremdschämen eigentlich unter Zynismus? Kann ich mir das durchgehen lassen, ohne als arrogante Zicke zu gelten? Ich spüre in mich hinein und beschließe: Ja, ich kann.
Mein Schreckmoment Nummer vier stellt sich ein, kurz bevor wir losfahren. Ein Sechsergrüppchen älterer Kölnerinnen beweist erheblich mehr Talent im Partymachen als ich. Noch ehe der Busfahrer den Motor gestartet hat, stoßen sie mit pinkfarbenen Piccolo-to-go-Dosen an. In der Folge kreischen, winken und klopfen sie jedes Mal an die Scheibe, wenn sie einen Kilttragenden Schotten sehen, werfen ihm Kussmünder zu und malen Herzchen aus feuchtem Atem an die Scheibe.
»Ich war mal Miss Köln«, stellt sich Sag-Susi-zu-mir kurz vor und winkt schon wieder zum Fenster hinaus. »Und wie heißt du?«
»Janne«, antworte ich und will gerade noch etwas ergänzen, da unterbricht mich Susi.
»Oh, das klingt beinahe wie Jenny. Die Schwester von unserem Helden Jamie.«
»Jamieeeee!«, echot es aus den Reihen um Susi herum. Offenbar stehen die Kölnerinnen nicht nur auf Kilts, sondern auch auf Outlander.
»Kinder, wir haben hier eine richtige Jenny. Sie sieht auch ein bisschen so aus, oder? Guckt doch mal. Sie hat die gleiche Stupsnase und die hohen, hübsch geschwungenen Augenbrauen. Die Haarfarbe ist ein bisschen heller. Aber die tiefblauen Augen und die stolze Fraser’sche Körperhaltung kommen hin. Willkommen in der Fanmily!« Susi legt den Kopf schief, versucht verschiedene Blickwinkel, und die anderen taxieren auch schon, ob man mit mir womöglich einen Blumentopf gewinnen könnte.
»Danke. Ich … äh, ich heiße wirklich einfach nur Janne«, beharre ich, setze mir zum Beweis die Brille auf die angebliche Frasernase und lasse das Etui zuschnappen, bevor ich es neben eine Packung Nüsse und meine Wasserflasche ins Netz meines Vordersitzes stopfe.
Susi verliert das Interesse. Ihre Freundinnen lenken ihre Aufmerksamkeit nach draußen. Dort ist wieder einer mit Kilt zu bewerten.
Ich würde so gern aus meiner Haut können. Nichts gegen Outlander. Ich liebe die Bücher von Diana Gabaldon, und ich folge begeistert der gleichnamigen Fernsehserie. Manche Folgen gleich mehrfach, gern in der nichtsynchronisierten Originalfassung, und ich unterhalte mich mit meinen Freundinnen über die Episoden. Aber meine innere Stimme sagt mir nachdrücklich, dass ich das in dieser Gruppenkonstellation für mich behalten sollte, wenn ich nicht völlig vereinnahmt werden will. Ich bin nicht der Typ, der laut loskreischt, bloß weil er einen Schauspieler sieht. Ich würde ihm eher Asyl anbieten vor so einer Meute, die mich gerade verblüffend an die wilde Clique bei Mareikes Junggesellinnenabschied erinnert. Ganz bestimmt würde ich niemals solche peinlichen T-Shirts tragen wie … Mein Blick bleibt an Susis wogendem Busen hängen. Quer darüber steht in fetten Buchstaben das Wort Knieporno! Der klein gedruckte Text besagt, dass es für sie nichts gäbe, was besser sei als ein Schotte im Rock – abgesehen von einem ohne Rock. Darunter prangt das Foto eines dreiviertel nackten Jamies im kunstvoll verwehten Kilt. Wenn das keine Aussage ist. Ist der deutsche Feminismus so weit gekommen, dass wir jetzt Männer zu Sexobjekten degradieren?
Ach, Janne! Das ist doch witzig. Knieporno! Seit wann bist du so spießig? Spaßbremsig? Steif?
Bin ich gar nicht! Aber das ist niveaulos! Basta.
Sehnsüchtig versuche ich einen Blick auf die zwei Freundinnen mit den Schottlandtaschen zu erhaschen, die sechs Reihen weiter vorn miteinander in ein fröhliches Gespräch versunken sind.
Ich ernenne Fremdschämen zu meiner höchsten Tugend und rutsche mit einem missbilligenden Grunzen tief in meinen Sitz. Dafür ernte ich sofort ebensolche Blicke. Frei übersetzt: Aha, eine Spaßbremse. Vielleicht ist mein Verhalten nicht der direkteste Weg in die Herzen der Kölner Gang. Da will ich zwar nicht wirklich hin, aber einen Schluck von ihrem Sekt würde ich nehmen, den könnte ich jetzt wirklich gut gebrauchen. Dabei trinke ich zu Hause eigentlich nur, wenn es etwas zu feiern gibt, oder an runden Geburtstagen mit unverhofften Reisegeschenken.
Ich schüttele den Kopf über mich selbst. Keine zwei Stunden in dieser Gesellschaft, wir haben noch nicht mal Edinburgh verlassen, und ich bin bereits extrem suchtgefährdet.
Es ist kurz nach 19 Uhr. Wir sind längst raus aus der Stadt. Die Sonne geht gerade unter, und wir rollen in die Dämmerung, von Kreisverkehr zu Kreisverkehr, den Highlands entgegen. Ich werde angenehm dösig. Irgendwann beruhigen sich auch meine Mitreisenden und verfallen angesichts der immer überwältigender werdenden Landschaft in ehrfürchtiges Schweigen.
Genau wie ich. Keine Frage, wir sind nicht mehr in Deutschland. In dieser Gegend hat offenbar nie eine Flurbereinigung stattgefunden. Zumindest hat sich hier keiner die Mühe gemacht, mit Winkelmaß und Zollstock symmetrische Rechtecke in die Natur zu schneiden.
Wild und urwüchsig trotzen die hügeligen Felder dem schottischen Wetter. Ihre Kurven wechseln sich mit ebenso organisch wirkenden Schafweiden in allen Größen und Formen ab. Unterbrochen werden das satte Grün und leuchtende Gelb nur durch dunkle Hecken, in denen sich der Wind fängt, durch einsam wachende Bäume, gesellige Baumgruppen und tiefe Wälder.
Bäche und Flüsse durchziehen die Landschaft wie Adern. Ein lebendiges, pulsierendes Gemälde. Als hätte ein temperamentvoller Maler Farbenspiele in Grün, Braun und Gelb einfach so in die Weite gekleckst, da hinein weiße Schaftupfen gesetzt und dann beschlossen, im Himmel Kontraste zu modellieren. Ich bin fasziniert von sonnenuntergangsroten Wolkenschlössern, kobaltblau-schwarzen Gewittertürmen und lieblichen Schleiern in Königsblau und Weiß, den schottischen Nationalfarben.
Je weiter sich der Bus in den Norden vorarbeitet, desto hügeliger, violetter und wilder wird die Aussicht aus unseren Fenstern. Die Felder weichen einem moosigen Meer aus blühender Erika. Dazwischen leuchten gelbe Inseln. Ist das Johanniskraut oder Jakobskreuzkraut? Ich kann es im Dämmerlicht nicht erkennen. Wir rauschen zu schnell vorbei … Vorbei an Rinnsalen und Wasserfällen, die sich steile Berghänge und Felsschluchten hinabstürzen.
So oft schon habe ich diese Landschaft im Fernsehen gesehen und mich danach gesehnt, den Fuß hineinzusetzen, die Natur zu spüren. Nun bin ich immer noch durch eine spiegelnde Scheibe davon getrennt, aber ich habe Panoramarundblick. Die Highlands sind zum Greifen nah! Mein Herz pocht. Mein Magen knurrt. Ihn blende ich genauso aus wie meine plappernden Mitreisenden. Ich kann mich kaum sattsehen und versöhne mich schwelgend mit meinem Schicksal.
Leider wird es recht bald dunkel. Gregory lullt uns über die schnarrende Bordanlage mit Reisedetails, Fakten und Geschichten ein. Irgendwo zwischen Maria Stuart und die jakobitischen Aufstände mogelt er die Ankündigung, dass sich unsere Ankunft im Highland Rose Hotel verzögern wird. Das führt zu Schreckmoment Nummer drölf, den ich wie alle anderen nicht in meinem Reisetagebuch, sondern nur gedanklich abspeichere. (Vor lauter wunderschöner Landschaftseuphorie habe ich doch glatt vergessen zu zählen.)
Die Hotelküche hat zu, gesteht Gregory. Ein Raunen geht durch die Reihen. Er verspricht, sich zu kümmern. Schließlich habe er einen blaugesichtigen Highlandhelden an seiner Seite, und Melly würde unseren halb verhungerten Mägen schon zu Gerechtigkeit verhelfen.
Ich fühle mich für einen winzigen Moment solidarisch mit den Kölnerinnen: Einhellig verdrehen wir die Augen.
Dann wird es wieder ruhig im Bus. Alles schläft, einer wacht. Gregory. Ich vermute, er kann Stille nicht gut ertragen.
Viel zu kurze Zeit später klopft er über den Lautsprecher auf sein Mikrofon und macht damit zumindest die Kölnerinnen wieder wach.
»Ich lege uns mal eine schöne CD ein, ja? Die passt so grandios zur Abendstimmung der Landschaft.«
Abendstimmung? Draußen ist es so schwarz wie im Inneren einer Druckerpatrone! Ich bin ehrlich neugierig, was jetzt kommt und die wunderbare Stille toppen könnte. Klassik? Dudelsack? Folk Songs?
Nein.
Es folgt mein nächster Schreckmoment, der drölfhundertste. Aus purer Gewohnheit und damit wenigstens meine Finger etwas Sinnvolles tun, tippe ich Einträge in den Reiseblog, die ich dann gleich wieder streiche.
Jannes Schreckmomente-Reiseblog
Datum: 15. September
Immer noch Tag eins, noch zehn Tage bis zum Heimflug
Ort: Unterwegs im Bus der Schrecken
Oh Himmel, was soll ich jemals in dieses blöde Logbuch schreiben, das ich dann auch senden kann? (Eintrag gelöscht)
Ich habe nichts gegen Filmmusik, aber diese Scheibe muss ihm jemand geschenkt haben, der absolut unmusikalisch ist oder ihn nicht leiden kann: Ein halbwegs tonsicherer Schulchor mit einer leider nicht ganz so talentierten Sopranistin trällert alte Soundtracks nach. Bei Spiel mir das Lied vom Tod ist meine Schmerzgrenze überschritten. In meiner Not knülle ich mir Haargummis in die Ohren. Etwas anderes finde ich so schnell nicht.
Irgendwann – ich muss zwischendurch tatsächlich eingeschlafen sein – ist auch das überstanden. Die Reifen rumpeln über einen Bordstein. Davon werde ich wach. Wir halten in einer Kieseinfahrt. Die Türen öffnen sich, und vierundvierzig kleine deutsche Brave Harts, alle mit blauen Aufklebern auf der Brust, strömen ins Freie, reißen ihr Gepäck aus den Ladeluken und zerren ihre Koffer über knirschende Kieselsteine dem verlockenden Licht entgegen, das warm und einladend aus den Sprossenfenstern des Hotels fällt.
»Slàinte mhath!« Unser Reiseleiter Gregory hebt sein knisterndes Probierbecherchen, und zweiundvierzig aufgedrehte Busreisende antworten vielstimmig: »Ssslllandschewahhh«, und tun es ihm nach. Der Teenager darf nicht und verzieht schmollend das Gesicht. Auch ich presse die Lippen zusammen.
Oh. Mein. Gott. Da bin ich also: erster Abend, erstes Hotel, erste Gruppenerfahrung in meiner Pauschaltouristengruppe. Die Zimmer sind aufgeteilt und besichtigt, nun folgt der obligatorische Willkommensschluck in der Lobby.
Unauffällig lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Die Lobby hat den Charme eines in die Jahre gekommenen Antiquitätencafés. Mein karierter Ohrensessel steht in einer Ecke, perfekt abgeschirmt durch eine Zimmerpalme in einem gigantischen weißen Keramikblumentopf mit glasierten Putten, die sich gegenseitig ringsherum jagen.
Die übrigen Polstermöbel sind aus mehreren Epochen wild durcheinandergewürfelt. Alles wirkt sauber, aber der Zahn der Zeit hat deutliche Kratz-, Sitz- und Nagespuren hinterlassen. Es ist total heimelig, und vielleicht stimmt mich deswegen das Ambiente traurig. Ich komme mir so allein und deplatziert vor wie die kleine Porzellanballerina mit dem angeklebten Fuß, die auf dem Fensterbrett neben mir steht und mit blindem, sehnsuchtsvollem Blick in die schottische Nacht stiert. Da sind wir schon zwei. Ich vermisse meine Mädels daheim – und meine Jungs, also George und Lucas. Männer können mir bis in ferne Zukunft gestohlen bleiben.
Ich nippe an dem scharf riechenden Getränk in dem mir zugeteilten Plastikfingerhut und schlucke zaghaft. Das Brennen treibt mir Tränen in die Augen. Mit Todesverachtung stürze ich den Rest hinterher. Jetzt ist es gar nicht mehr so schlimm. Kehle, Speiseröhre, Magen. Die goldene Flüssigkeit kribbelt sich abwärts und wärmt mich auf ihrem Weg durch mein Inneres von innen nach außen. Wärme tut mir jetzt richtig gut. Ich fühle mich schrecklich. Auch wenn ich wirklich, wirklich, wirklich keine Sozialphobie habe, wie Imme steif und fest behauptet. Ich kann jederzeit neue Kontakte knüpfen, wenn ich das will. Es sind einzig die äußeren Umstände, die mir die Lust darauf vergällen: Mein größter Traum ist zu meinem ärgsten Albtraum geworden. Schottland im Reisebus statt allein mit Rucksack. Das ist eine Kampfansage.
Ich betrachte mein geleertes Becherchen und lasse den Tag noch einmal Revue passieren: Fünfeinhalb Stunden sind seit der Ankunft in meinem Traumland vergangen. Sie teilen sich auf in anderthalb Stunden Zeit totschlagen am Flughafen, bis wir komplett waren, plus vier Stunden Busfahrt in meinem neuen Rudel. Unter Aufbietung all meiner Kräfte (und weil ich bisher kein sicheres WLAN gefunden habe) habe ich noch immer nicht zu Hause angerufen. Wenn ich zurückrechne bis zu dem Moment, in dem ich heute Morgen die Wohnung verlassen habe und Imme meinen Koffer in ihr Auto gewuchtet hat, um mich zum Flughafen zu kutschieren, dann bin ich inzwischen dreizehneinviertel Stunden ohne Nabelschnur und ohne Nachricht von meinen Katzen. Ich vermisse sie! Auch wenn ich weiß, dass es den beiden hervorragend geht. Die werden womöglich erst bei meiner Rückkehr merken, dass ich nicht nur zur Arbeit weg war, weil Marie jeden Abend stundenlang mit ihnen auf dem Schoß Blu-Rays guckt und dabei George und Lucas mit sündhaft teuren Leckerlis vollstopft, die sie bei mir nie kriegen würden, und Imme Futternäpfe und Katzenklos bestimmt fünfmal täglich schrubbt und neu auffüllt.
Ich schlage mich tapfer, finde ich. Zur Belohnung hole ich mein Smartphone aus der Jackentasche. Das Handy schweigt, das Display ist so dunkel wie meine Stimmung. Das ist der Nachteil von so einem Reiseblog, da kommentiert niemand etwas. Man bekommt keine Herzchen oder Daumenhochs als anerkennende Bestätigung oder kurze Updates über den Heimwehstatus zweier Katzen nach ihrem zwangsverschickten Frauchen. Nicht, dass ich das bräuchte, aber …
Nein. Ich habe mir fest vorgenommen, keine Nachrichten zu schicken und zu fragen, wie es meinen heiß geliebten Samtpfötchen geht und ob Lucas seine Medizin genommen hat. Ich weiß, dass Imme und Marie gut klarkommen mit der Pflege meiner Mäusejäger. Sie machen das nicht zum ersten Mal, erst letzten Herbst war ich für drei Tage zur Fortbildung. An meinem Kühlschrank hängt außerdem eine dreiseitige Liste mit Fütterungs- und Streichelgewohnheiten sowie Notfallnummern, die ich ihnen auch abfotografiert und aufs Handy gesendet habe. Und wie heißt es so schön: Keine Nachrichten sind gute Nachrichten.
Ich ziehe das jetzt durch. Nabelschnur durchtrennen. Alleine atmen. Kann ich. Einatmen … ausatmen. Locker!
In Todesverachtung und einem Anfall von Wahnsinn lösche ich meine Facebook-App, den Instagram-Account und sogar WhatsApp von meinem Handy. Es wird nur diesen aberwitzigen, einseitigen Reiseblog geben! Keine darüber hinausgehende Kommunikation mit Daheimgebliebenen. Nur im äußersten Notfall. Schließlich will ich das Hiersein genießen und meinen Urlaub nicht online verplempern.
Statt aufs Display zu tippen und darüber zu wischen, bohre ich meine nervösen Zappelfinger in die Füllung des leicht verschlissenen karierten Sessels, damit sie irgendetwas zu tun bekommen. Ich kann das. Cut! Und durchtrennt ist die Nabelschnur!
Schließlich bin ich weder abhängig von sozialen Medien noch eine dieser einsamen Katzenfrauen über vierzig, die mit ihren Haustieren verborgene Kinderwünsche oder das Singledasein kompensieren. Ich habe meine Katzen schon viel länger, als ich allein lebend bin.
George und Lucas sind bei mir, seit ich Mitte zwanzig mein Studium abgeschlossen und in der Zeitungsredaktion angefangen habe. Ben hat sie mir damals geschenkt, meine heiße Affäre, mein Kollege aus der Sportredaktion, der mit mir sesshaft werden wollte. Die Katzen, seine Zahnbürste und seine Gitarre sind zum Beweis dafür als Erste bei mir eingezogen, quasi als Vorhut, wie er mir lachend versichert hat, bevor er für drei Tage als Reporter ins Trainingslager irgend so einer Fußballmannschaft verschwunden ist.
Kurz danach habe ich herausgefunden, dass Saida aus der Buchhaltung einen Hundewelpen von ihm bekommen hat. Etwa zur gleichen Zeit. Und dass er die Statusmeldungen aus dem Trainingslager in Wirklichkeit aus den Agenturen bedient hat und mit einer Tennisspielerin … äh … trainiert hat. Saida und ich haben ihn beide vor die Tür gesetzt – also Ben, natürlich nicht die Haustiere – und sind bis heute beste Freundinnen.
Inzwischen ist Saidas ehemaliger Welpe nach einem langen Leben im Hundehimmel angekommen. George und Lucas sind mehr oder weniger in Würde gealtert. Sie haben Männer ein- und wieder ausziehen sehen, manch nackten Rücken zerkratzt und auch mal in einen Herrenschuh gepinkelt. Ich weiß bis heute nicht, wer von beiden das war, aber hätte ich das Zeichen erkannt, wäre Holger schon viel früher Geschichte gewesen als erst vor drei Monaten.
Katzen haben Menschenkenntnis. Ich frage mich nur, warum sie mich nicht vor meinen Freundinnen gewarnt haben. Oder vor meiner Schwester. Apropos Schwester. Hoffentlich vergisst Imme nicht, die Tomaten zu gießen. Die stehen windgeschützt auf meinem Südbalkon – wenn das Wetter hält, tragen sie dieses Jahr sicher noch bis in den Oktober hinein Früchte.
Seufzend setze ich das Plastikgläschen an meine Lippen und klopfe den allerletzten Tropfen heraus. Ich habe Heimweh. Ein bisschen. Das ist ganz normal, wenn man schon länger nicht mehr allein verreist ist. Aber ich bin eine starke, mutige Frau! Auch wenn ich unbedeutende Berührungsängste mit fremden Menschen habe. Dazu stehe ich! Nur was zum Henker schreibe ich den Mädels zu Hause? Ich starte einen neuen Versuch, schließlich kann ich es ja schlecht bei dem Foto von Melly belassen.
Jannes virtuelles ZwangsReisetagebuch Reiseblog
15. September
Tag eins
23.17 Uhr, Hotel Highland Rose, irgendwo im Norden von Schottland weit weg von zu Hause.
Wir sind gut angekommen. Ich sitze im Ohrensessel in einer überfüllten lebendigen Hotellobby und trinke Whisky aus einem Plastikfingerhut. Urlaub! Warum tu ich mir das an? Warum tut ihr mir das an?Yay! Ich danke euch, Mädels! Diese Reise wird bestimmt scheiße!großartig! unvergesslich!
Das muss genügen. Schon für solche Einträge komme ich garantiert in die Lügenpresse-Hölle. Entschlossen stopfe ich das Smartphone zurück in die Jackentasche und sehe mich um. Alle, die noch nicht ihre Zimmer aufgesucht haben, sind in Gespräche vertieft. Wahrscheinlich fachsimpeln sie über schottische Filme oder Serien und erzählen sich alberne Geschichten von Fan zu Fan. Ich will das nicht. Ich könnte. Ich weiß eine ganze Menge. Aber ich will nicht. Das ist ein Unterschied, Imme! Ich bin kein schlicht gestrickter Filmnerd, sondern Kulturredakteurin, ich kenne mich von Berufs wegen aus! Und wenn man mich hundert Jahre ins Lokale steckt, ich bleibe Kulturredakteurin! (Zum Glück verhindert der Gesetzgeber, dass Mareikes Erziehungsurlaub so lange dauert.) Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie Imme mir die Zunge herausstreckt und mich Besserwisser nennt. Das macht sie immer, wenn ihr nichts Konstruktives mehr in unseren Diskussionen einfällt.
Jedenfalls will ich jetzt ins Bett.
Diese ganze Fahrt ist ein Desaster. Da kann das Highland Rose Hotel so shabby-schnuckelig sein wie es will. Es hätte mir vom ersten Moment an klar sein müssen. Ach, was rede ich, es war mir ja vom ersten Moment an klar, ganz egal, wann und wo ich mit dem Zählen der Schreckmomente beginne. Aber wenn man aus purem Harmoniebedürfnis hoch sieben in eine durchgetaktete, rundum organisierte Busrundreise einwilligt und freiwillig ins Flugzeug nach Edinburgh steigt, dann verdient man es nicht anders, Janne Michelsen. Und jetzt sozialisiere dich, verdammt noch mal!
Maulig mit mir selbst, arrangiere ich mich zwischen den Sprungfedern des betagten Karosessels in der Hotellobby, die urgemütlich wäre, wenn da nicht all diese wildfremden Menschen herumsäßen, die derselbe Bus ausgespuckt hat wie mich, unverdauliches Gewölle. Reiß dich zusammen, Janne, du wirst schon wieder phobisch!
Ich ziehe einen Flunsch und gebe meiner inneren Stimme nach. Wider besseres Wissen beschließe ich, meine schöne Liste mit den Schreckmomenten einzustellen. Stattdessen starte ich einen neuen Anlauf.
Positiv denken, 2.0!
Was würde ich denken, wenn ich freiwillig hier wäre? Was fände ich gut? Ich hole die Brille aus dem Rucksack und sehe mich weiter in der Lobby um. Ich versuche wirklich mein Bestes, denn eigentlich setze ich meine Brille nur auf, wenn ich (etwas scharf sehen) muss. Okay. Fokus auf die Möbel, die Menschen erst mal ausblenden, das ist dann Stufe zwei. Selektive Wahrnehmung: An. Und dazu: Einatmen … ausatmen.
Das Hotel hätte ich mir allein wirklich nicht besser aussuchen können. Ich finde die Loungesessel im Schottenkaro niedlich. Die gestreiften Tapeten, dazu der barocke Stuck und die Kristallleuchter versprühen diesen typisch britischen Puppenhaus-Charme. Selbst der Geruch erinnert mich an alte Fernsehfilme – und das meine ich positiv. In diesem gemütlichen Ambiente sind Sprungfederherausforderungen und altehrwürdige Polster wunderbares Understatement und Edelvintage. Ich würde mich nicht wundern, wenn Miss Marple oder Agatha Christie herself am Nebentischchen unter dem Moorhuhnporträt Platz nähmen.
Es funktioniert! Nahezu fröhlich lasse ich den Blick durch den Raum schweifen und stöhne versehentlich laut auf. Nein, doch nicht. All diese fremden, hungrigen, müden Reisenden mit Plastikbecherchen haben so gar nichts mit Hercule Poirot oder Mister Stringer gemein. Außerdem kann ich die beiden Freundinnen mit den Schottlandtaschen nirgends entdecken. Mist, ich erinnere mich. Gregory hat ihnen einen ungnädigen Blick hinterhergeschickt, als sie sich gleich am Anfang unter tausend Entschuldigungen zurückgezogen haben. Das wollte ich eigentlich auch tun, aber nach Gregorys Vortrag über Gruppendynamik, Kennenlernen, Sozialisieren und Blabla habe ich mich nicht mehr getraut.
Meine Mitreisenden fläzen in zerschlissenen Sofas und Sesseln herum, haben Porzellantellerchen auf dem Schoß, kauen schmatzend Sandwiches, plaudern über langweilige Belanglosigkeiten oder drücken sich für einen Nachschlag Suppe am Büffett herum. Einer kratzt sich ungeniert im Schritt, ein anderer weiß nicht, wie er den Deckel vom Porzellanteekännchen herunterbekommt. Seine Begleitung kontert das mit einem Lachen, vor dem eine Hyäne Reißaus nehmen würde. Ich sinke immer tiefer in meinen karierten Sessel und wünsche mir die Punks vom Flughafen mit der niedlichen Hündchenratte her.
Wäre ich ein Misanthrop vom Kaliber eines Ebenezer Scrooge oder Oliver Kalkofe, dann würde ich feststellen, dass hier ganz schön viele menschelnde Menschen sind: dumm, geschmacklos, ohne Benimm und auch noch ungepflegt. Ganz schön gemein. Mich würde er zweifellos über denselben Kamm scheren. Ich müffele inzwischen selbst nach versagendem Deo und möchte dringend duschen.
In Wirklichkeit machen mir diese Menschen einfach Angst: weil ich sie nicht kenne, manche auch gar nicht kennenlernen will – und die mich vermutlich auch nicht –, aber wir alle gemeinsam nach einem strengen Zeitplan zwangsbespaßt werden. Ich sollte dringend solidarische Gemüter finden, es müssen ja nicht zwingend Punks sein. Meine kurze rebellische Phase mit Sicherheitsnadel im Ohr und blauen Strähnen unterm Deckhaar (das war ein Kompromiss mit Mama, ich war sechzehn und wollte mich für ein Praktikum bei der Lokalzeitung bewerben) ist zu lange her.
Ich ziehe meine Schmolllippe ein und gebe mir Mühe, sympathische Zeitgenossen zu entdecken. Muss ja. Und ehrlich gesagt sehen einige schon nett aus.
Ein leichter Anflug von Panik überfällt mich, als eine weitere Erinnerung aufflackert. Holger, mein Ex, hat mir im finalen Trennungsstreit an den Kopf geworfen, dass ich eine überspannte Bildungszicke wäre – nur, weil ich die Shakespeare-Verfilmungen behalten wollte und ihm per Excel-Datei nachweisen konnte, dass die mir gehören. Pedantisch wäre ich außerdem, hat er in diesem schneidenden, leisen Ton gekontert. Wie gesagt, ich gebe zähneknirschend zu, dass ich manchmal eine Neigung zu übertriebener Klugscheißerei habe, damit sollte ich mich in den kommenden Tagen dringend zurückhalten. Aber nur weil ich lieber Arte gucke als RTL, bin ich doch kein schlechter Mensch, oder? Und wenn er seinen heiligen Himbeerjoghurt in unserem Kühlschrank mit »Holger’s« beschriftet – ich meine, da musste ich doch was sagen. Holger’s – mit Deppenapostroph, als Lehrer! Was wollte er denn da auslassen, mit dem Auslassungszeichen? Holgerseins? Hätte er das in der Teeküche seines Instituts gebracht, wäre es megapeinlich für ihn geworden. Der Mann ist in der Erwachsenenbildung tätig, also ehrlich – Sprache ist unser beider Handwerkszeug.
Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und starre auf meine Füße. Ich könnte heulen, als mich die Selbsterkenntnis trifft wie ein Tischbein den kleinen Zeh. Im Journalismus habe ich meine Besserwisserei lediglich so kanalisiert, dass ich Geld dafür bekomme – wenn man es freundlich betrachten möchte. Ganz offensichtlich bin ich keinen Deut besser als meine Mitreisenden, nur ein bisschen eingebildeter obendrein. Und sehr müde. Dann werde ich immer unleidlich. Wie lange muss ich wohl hierbleiben, ohne als gruppenresistente Spaßbremse zu gelten? Wieso ist Margaret Rutherford schon tot? Vielleicht wäre mein Leben einfacher in Schwarz-Weiß.
Ich betrachte das Landschaftsbild mit dem Hirsch inmitten der schottischen Heide, das über dem elektrischen Kamin hängt, und seufze aus tiefster Seele. Imme, Merle, Mareike, Saida, Leonie, Dana, Marie – warum habt ihr mir das angetan?!
Da! Es passiert mir schon wieder! Ich drehe mich weg von den Grüppchen fröhlich plaudernder Menschen und ärgere mich in schmerzhafter Selbstmitleidserkenntnis über mich selbst. Hör endlich damit auf, Janne!Wenn deine Reisegefährten dich ebenso schnell abhaken wie Gregory, hast du im besten Fall Narrenfreiheit, aber vermutlich hält dir einfach niemand im Frühstückssaal einen Platz frei oder bemerkt überhaupt deine Abwesenheit, falls du dir beimRuinenklettern den Knöchel verrenkst oder eine Klippe runterfällst.
Oder sie lassen mich sogar mit Absicht liegen, brüte ich finster vor mich hin. Geschähe mir ganz recht. Dabei will ich wirklich nicht negativ sein. Ich bin nicht so. Das ist erst so seit … seit Holger. Darum: Schluss damit! Schluss mit dem Sarkasmus! Schluss mit der Verweigerungshaltung! Das ist so einfach wie Apps löschen.
Genau in diesem Moment macht Gregory noch einmal mit der Whiskyflasche die Runde. Wild entschlossen strecke ich ihm meinen Becher in den Weg. Gut gelaunt bleibt er vor mir stehen und schenkt mir nach.
»Möchtest du den Rest behalten? Ich muss ins Bett, und von den anderen will keiner mehr.« Seine Zunge klingt ein bisschen schwer, als er mit der Flasche vage hinter sich deutet. Die Hotellobby hat sich inzwischen geleert.
Ich bedanke mich mit einem ehrlichen Lächeln und nehme das als bestätigendes Zeichen des Himmels für meine beschlossene Offenheit. Der Mann macht auch nur seinen Job und gibt sich Mühe.
Mein neues Mantra lautet: Ich werde mich mit offenem Herzen auf diese Reise einlassen! Blaugesichtige Puppenmaskottchen in den schweißigen Händen eines engagierten Reiseleiters sind niedlich! Sechzigjährige mit anzüglichen Jamie-Fraser-T-Shirts sind es auch … Nein, stopp. Das ist nun doch gelogen. Ich gebe auf. Dann sollen sie mich eben in den Highlands liegen lassen. Vielleicht findet mich ja ein sympathischer einheimischer Schafbauer und schleppt mich in seine Kate, wo wir am Torffeuer sitzend über Gott, den Brexit und die schottische Welt philosophieren.
Viel wahrscheinlicher ist es allerdings, dass ich mich morgen früh mit den Kölnerinnen um Lachs und Rührei prügele. Am Ende werden sie gewinnen, und ich sitze einsam am Katzentisch der übrig gebliebenen, allein reisenden Spaßbremsen.
Grübelnd nippe ich an meinem halb leeren Whiskybecherchen. Oh nein! Ich werde mir diese sympathisch aussehenden Freundinnen schnappen, und dafür will ich in Form sein. Es wird wirklich Zeit, dass ich ins Bett komme.
Ich gebe mir einen Ruck und stemme mich aus den Tiefen des Sessels in die Vertikale zurück. Es ist kurz vor Mitternacht, und mir ist tatsächlich der Po eingeschlafen. So viel zu Tag eins. Wie soll ich das für meine erwartungsvollen Blogleserinnen aufbereiten? Außerdem habe ich einen kleinen Schwips, und obwohl ich noch niemanden wirklich kennengelernt habe, bin ich trotzdem eine der Letzten hier.
Erschöpft verlasse ich das Schlachtfeld der leeren Teller, zerknüllten Papierservietten und Schnapsbecher mit einer fast leeren Flasche Whisky im Arm.
Auf meinem Zimmer angekommen, nehme ich mit der Handykamera ein Foto davon auf und poste es für die Lieben zu Hause. Darunter schreibe ich:
Angekommen. Alles gut. Whisky schmeckt. Jetzt ab ins Bett.