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Zwei Freundinnen. Ein geheimnisvoller Mann. Und ein Urlaub voller Turbulenzen.
Merle, alleinerziehende Mutter einer rebellischen Zwölfjährigen, findet die Sache mit der Liebe ziemlich hoffnungslos. Auch wenn sie in letzter Zeit immer häufiger an ihre mysteriöse Internetbekanntschaft denken muss. Da ist eine Reise nach Island vielversprechender, und ihre beste Freundin Steffi nimmt sie gleich mit. Doch kaum haben die beiden Frauen einen Fuß auf das Schiff gesetzt, geht das Chaos auch schon los: Denn der Atlantik ist riesig und ausgesprochen stürmisch, ihre Fähre wiederum viel zu klein. Als Merle dann auch noch erfährt, dass ihre beste Freundin versucht, sie hinter ihrem Rücken zu verkuppeln, hat sie genug – Merle wird das alles plötzlich viel zu heiß! Doch aussteigen ist leider keine Option …
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Seitenzahl: 438
Karin Müller arbeitete nach dem Studium und einer journalistischen Ausbildung beim Hörfunk jahrelang als Redakteurin. Bereits mit ihrem ersten Roman Ein Schotte kommt selten allein weckte sie die Reiselust ihrer Leserinnen. Kein Isländer ist auch keine Lösung erzählt von der turbulenten Reise zweier Frauen nach Island. Die Autorin lebt mit ihrer Familie bei Hannover.
Ein Schotte kommt selten allein in der Presse:
»Lustig geschriebene, rasante Story, die so richtig Lust auf Schottland macht – Schotten inbegriffen.«
Neue Presse
»Fast genauso entspannend wie eine eigene Urlaubsromanze. Nur ohne nervigen Zeitplan!«
Express am Sonntag
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KARIN MÜLLER
ROMAN
ISBN 978-3-641-27294-4V003
Für Alice und Ingrid
Afsakið
Entschuldigung
Allt fínt
Alles fein (mir geht es gut)
Allt vel
Alles gut
Bless
Tschüss
Ég finn þig
Ich finde dich
Ég segi allt ágætt
Mir geht es sehr gut
En þú
Und du/und dir
Förum
Gehen wir/Fahren wir!
Frábært
Wunderbar!
Góðan daginn
Guten Tag! (auch: Guten Morgen!)
Góða nótt
Gute Nacht!
Hæ!
Hallo
Hú!
Hu! (Schlachtruf)
Hvað er að frétta?
Was gibt es Neues?
Hvað segir þú gott?
Wie geht es dir?
Já
Ja
Láttu þér batna
Gute Besserung!
Sjáumst
Bis bald
Skál
Prost
Sæl/Sæll
Grüß dich (w./m.)
Takk fyrir
Danke
Tuttugu
Zwanzig
»Wie bekloppt muss man eigentlich sein, um eine Seereise im November über den Nordatlantik zu buchen?«
Steffis Ehemann Thorben sieht uns an, als wären wir verrückt geworden. Wir, das sind meine beste Freundin Steffi, kinderlos, achtunddreißig, Karrierefrau, von Beruf Chefin eines florierenden Spielwarenladens, und ich, Merle, ebenso alt, aber ansonsten so ziemlich das Gegenteil: alleinerziehend, Single, unterbezahlt und überbeschäftigt. Beide sind wir chronisch urlaubsreif und Islandfans, nur waren wir leider noch nie dort. Wir tauschen uns ständig aus, was Romane und Sachbücher über unser Lieblingsland betrifft, verfolgen die Aurora-borealis-Vorhersagen per App und alles, was sonst so auf der Insel unserer Träume passiert. Und nun rückt dieser Traum endlich in Reichweite!
Darum grinsen wir jetzt auch nur selig und schwenken unsere Fährtickets. Die Reiseunterlagen sind da! Jetzt ist es quasi amtlich: Steffi und ich fahren eine Woche mit der Fähre in den Norden, mit einem bunt zusammengewürfelten Haufen pauschaler Krimifans – ganz egal, ob Thorben uns nun für bekloppt hält oder nicht.
Steffi kam bereits vor einem knappen Jahr mit der Idee an. Wir beide haben wahrscheinlich als Allererste überhaupt diese Gruppenreise gebucht und uns auch gleich noch zum Isländischkurs angemeldet, der urplötzlich im Programm der Volkshochschule stand – ein Omen! Und was für eins!
»Du bist nicht mal seefest, Steffi«, versucht Thorben es noch einmal, obwohl er doch einsehen müsste, dass es längst zu spät ist, uns von unserem Vorhaben abzubringen.
Steffi ignoriert ihn. Sie hat dem Anlass gebührend die guten Sektkelche und den teuren Schampus bereitgestellt und schenkt uns ein.
»Wenn wir in See stechen wollen, dann tun wir das!«, grinst sie, und wir stoßen an. »Auf Buckelwale unterm Nordlicht!«
»Und Dosenbier!«, ergänze ich ausgelassen.
»Aber was machst du mit deiner Tochter?«, wendet Thorben sich verzweifelt an mich.
»Himmel!« Ich schlage mir mit der flachen Hand vor die Stirn. »Stimmt ja. Ich habe ein Kind! Seit zwölf Jahren schon. Das hatte ich glatt vergessen! Lass mal überlegen … Keller? Tierheim? Oder nimmst du es? Also, wenn du dich so um Ennas Wohlergehen sorgst, schicke ich sie dir gern zwischendurch vorbei. Einmal täglich? Ins Büro?«
Steffi kichert, doch Thorben schüttelt missbilligend den Kopf.
»Musst du immer so sarkastisch sein, Merle?«
»Entspann dich, Thorben«, beruhige ich ihn seufzend. »Das Pubertierchen freut sich schon seit Wochen darauf, bei Oma einzuziehen und komplette Narrenfreiheit zu genießen. Eine Woche Urlaub von Mama. Das wird uns beiden guttun.« Ich schließe für einen Moment die Augen, und sofort meine ich den Lärm von zuschlagenden Türen und auf Anschlag hochgefahrenen Lautsprechern zu hören, garniert von diversen Stolperfallen in der ganzen Wohnung – von benutztem Geschirr über Wäsche und Schulkram bis hin zu Bastelsachen, Plüschbären und den traurigen Resten meiner schwer misshandelten Schminke. Enna wechselt derzeit die Stimmungen schneller, als ich staunen kann. In der einen Minute das zuckerschnutige Kuschelkind, das gerade erst das Trotzalter hinter sich gelassen hat – in der nächsten eine wilde Furie, die glaubt, sie wäre maximal einen halben Schritt vom Erwachsensein und der Sprengung aller Ketten entfernt.
»Mitten im Schuljahr?!« Er zieht die Augenbrauen hoch.
»Ganz genau«, flöte ich. »Während Enna in der Schule ist, kann meine arme alte Mutter verschnaufen. So wird es ihr und ihren Mitbewohnerinnen in der Senioren-WG nicht zu viel mit dem süßen, rebellischen Teenagerkind.«
Nicht, dass hier Missverständnisse entstehen: Ich liebe meine Tochter heiß und innig! Bis zum Mond und (meistens auch) wieder zurück. Mindestens! Aber auch der innigsten Mutter-Kind-Beziehung tut ab und zu ein kleiner Abstand gut. Damit man den Kopf wieder freibekommt und sich zwischendurch darauf besinnt, nicht nur eine 24/7/365-Rolle als Muttertier und Alleinverdienende zu erfüllen, sondern außerdem Frau und Mensch zu sein – sagt zumindest Steffi. Das stand in irgendeinem Hochglanzmagazin, direkt neben einer Fotoserie für den perfekten Wellnessnachmittag mit stumm geschaltetem Telefon. Ja, früher war ich auch mal so naiv. Da habe ich noch an die romantische Liebe auf den ersten Blick und für ein ganzes Leben geglaubt. Daran, dass man sich die Aufgaben, die der Nachwuchs nun mal mit sich bringt, teilt. Aber ich schweife ab.
Von meiner Auszeit verspreche ich mir ganz bescheiden, dass ich meine Batterien ein wenig aufladen kann, um hinterher wieder etwas entspannter weiterzumachen.
Zwischen meiner Arbeit als Verkäuferin in einem Bastelladen und nächtlichen Gelegenheitsjobs als Schaufensterdekorateurin – meinem eigentlichen Beruf – bleibt mir nämlich kaum Zeit zum Durchatmen, geschweige denn für Gurkenmasken und handgesprudelte Schaumbäder mit Bio-Rosenblüten.
Bloß nicht weitermachen wie bisher, sagt Steffi, sonst kommt der Burn-out. Ich müsse aufhören, mich zu verkriechen und mich alt zu fühlen, und sie müsse auch einfach mal raus – nicht wegen Thorben, nein. Einfach nur so. Und dass dafür eine Woche Schiff mit Schuss genau das Richtige sei – eine kleine Gruppenrundreise bis knapp unter den Polarkreis mit Vollpension und Bespaßungsprogramm auf der Eydna. Eydna ist Färöisch und bedeutet Glück oder Schicksal. Ich hab’s gegoogelt, und das ist schon das nächste gute Omen für unsere Mädelstour. Auch Hannes, mein Lernpartner aus dem Internet, sagt, dass eine Reise nach Island immer das Richtige sei. Und der muss es schließlich wissen, der wohnt nämlich da oben.
Also ziehen wir das durch. Aber nur zur Klarstellung: Seinetwegen haben wir die Route nicht gewählt, Hannes weiß nicht mal, dass wir gebucht haben. Ich erzähle ihm sowieso schon viel zu viel von mir. Diese Anonymität macht mich leichtsinnig. Nein, unser Schiffstrip in die Wikinger-Enklave ist ein reines Freundinnending.
»Untersteh dich, Enna bei mir abzuladen«, grummelt Thorben missbilligend-mürrisch und mit einem dezenten Seitenblick auf seine Frau. »Es hat schon einen guten Grund, warum wir keine Kinder haben.«
»Sag bloß, du magst Enna nicht?« Ich lege provozierend den Kopf schief und fixiere ihn.
Thorben verdreht die Augen zur Zimmerdecke. »Das habe ich doch gar nicht gesagt.« Nervös kratzt er sich am Hinterkopf.
»Aber du hast angedeutet, dass ich eine Rabenmutter bin, weil ich mein Kind für sieben Nächte in die Obhut der Großmutter gebe.« Ich drohe ihm spielerisch mit dem ausgestreckten Zeigefinger. Es macht einen Riesenspaß, ihn zu ärgern.
»Sag doch auch mal was«, wendet Thorben sich hilflos an seine giggelnde Ehefrau.
»Ich überlege gerade, ob ich mir Popcorn hole«, sagt Steffi und hält die Sektflasche in die Höhe. »Auch ’nen Schluck? Atmen, Schatz!« Sie haucht einen Kuss durch die Luft.
Thorben aber gibt nicht auf. »Ich dachte, ihr seid ach so öko, und dann bucht ihr eine Kreuzfahrt?«
»Das ist ein total umweltfreundliches Fährschiff!«, krähen wir unisono.
»Und für mich ist Schiff mit Schuss außerdem quasi eine Fortbildung«, ergänzt Steffi. »Wie ihr wisst, will ich selbst einen Krimi schreiben, bevor ich fünfzig bin, und nicht immer nur welche lesen. Diese Reise ist wie für Merle und mich gemacht, Thorben! Jede Menge Vorträge, Lesungen und Workshops, und das in Kombination mit der Schiffsreise über die Färöer nach Island. Endlich Island! Da wollten wir doch schon so lange hin. Dir ist es ja zu kalt da oben.«
Thorben reagiert mit einem verkniffenen Grunzen auf den Seitenhieb. Aber Steffi schwärmt schon weiter.
»Bei den Vortragenden an Bord ist sogar ein richtiger Kriminologe dabei. Den kann ich alles fragen. Leichenstarre, Schimmelgesichter, Totenflecken, all so was.«
Resigniert streckt Thorben die Waffen beziehungsweise die Hände in die Höhe und zieht sich schmollend in sein Arbeitszimmer zurück.
»Schimmelgesichter?«, frage ich.
Steffi nickt begeistert. »Du ahnst nicht, was Leichen so alles können, wenn man sie lange genug in Ruhe lässt.«
»Ich weiß nicht, ob ich das wirklich wissen möchte.« Nachdenklich starre ich auf die Arbeitszimmertür, die gerade mit einem Rums ins Schloss gefallen ist.
»Er hat nichts gegen Enna. Das weißt du hoffentlich«, sagt Steffi leise.
»Já!«, bestätige ich, sodass es möglichst Isländisch klingt, und nicke. Eine der wenigen Vokabeln, die ich spontan abrufen kann. Ich weiß nur allzu gut, dass meine herzallerliebste Rübennase zurzeit nicht gerade umgänglich ist. Pubertät ist nun mal kein Spaziergang – für keinen der Beteiligten. Vor allem dann nicht, wenn das Zwischenwesen von einem Elternteil allein aufgezogen wird und die Oma in einer Senioren-WG lebt. Wie soll man da noch Zeit für die eigenen Isländisch-Hausaufgaben haben? Aber es ist immer wieder eindrucksvoll, wenn kinderlose Yuppies meinen, sie wüssten am besten, was gut ist für cholerische Zeitbomben, die von einem Pickel am Kinn in eine Lebenskrise gestürzt werden können und sich bei ihren Kuscheltieren tränenreich entschuldigen, wenn sie sie vor dem Besuch von gleichaltrigen Freunden im Schrank verstecken.
»Er ist schon ein kleines bisschen konservativ, oder?«, stelle ich mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen in den Raum.
»Ach, wenn es nur das wäre …« Steffi seufzt und grinst schief. »Ich brauche einen neuen Mann. Mein alter wird spießig.«
Wird?, denke ich. »So schlimm?«, hake ich nach.
»Alles wie immer.« Sie schnaubt. »Es wird mir guttun, mal rauszukommen, ich sag’s dir.«
»Und darum: Skál!« Wir lassen die Gläser noch einmal klirren und strahlen uns an. »Auf unsere Woche Island!«
»Nordatlantik, wir kommen!«
»Du ahnst nicht, wie nötig ich das habe – einfach mal eine Woche raus aus all dem«, stöhne ich.
Steffi feixt. »Und ich erst!«
»Keine Termine!«
»Bekocht werden und nicht abwaschen müssen!«
»Wellness!«
»Kein Internet!«
»Keine Hausarbeit!«
»Krimilesungen, Workshops, ein Megaprogramm!«
»Keine Schreiereien!«
»Wir können endlich Isländisch üben!«
»Nordlichter ohne Ende!«
»Und Buckelwale!«
»Und Dosenbier …« Ich stocke. »Moment mal, hast du gesagt, es gibt kein Internet an Bord?«
Steffi sieht mich über den Rand ihres Sektglases an, als wollte sie eine psychologische Studie über meine Reaktion auf ihre Ansage anfertigen. »Doch, schon, aber das WLAN an Bord ist sauteuer. Und ich werde es so was von genießen, einmal richtig abzuschalten und nur bei den Landgängen kurz online zu gehen. Du nicht?«
»Äh. Ja klar«, schwindle ich und schiele zur Tür, hinter der Thorben durch das Klackern der Tastatur seinen Missmut in unsere Mädelswelt kundtut.
Das ist einerseits genau das, was ich Enna immer predige: Es gibt ein Leben ohne Snapchat, Instagram und Co.! Und das ist um Längen lebenswerter. Dieser Hype um Likes und das ständige Bedürfnis, erreichbar zu sein, die Überflutung mit grausigen Negativschlagzeilen über die aussichtslose Schlechtigkeit der Welt, das geht an die Gesundheit. Abschalten ist soooo wichtig! Deswegen machen wir ja die Reise. Auch. Aber so gar nicht greifbar zu sein für mein Kind und meine Mutter? Das muss ich sacken lassen. Ich atme langsam aus und spüre in mein Nabelchakra, so wie ich das im Yogakurs übe. Den mache ich ohne Steffi. Sie sagt, sie brauche das nicht, sie könne alleine atmen.
Nun sieht sie mich schräg von der Seite an, und ihre Mundwinkel zucken, weil sie meine Nervosität spürt. »Wie haben wir nur im Zeitalter von Handys überlebt, die einfach nur telefonieren konnten?« Sie grinst vieldeutig. »Oder gar nur mit Münzfernsprechern?«
Ich strecke meiner herzallerliebsten Freundin die Zunge heraus. Sie kennt mich einfach zu lange – seit dem Kindergarten. Und viel zu gut. »Ja, das frage ich mich auch manchmal.«
»Man munkelt, die Menschen hätten sich getroffen und miteinander geredet«, setzt sie noch einen drauf. »So haben sie sich früher kennengelernt. Und verliebt. Auf den ersten Blick mitunter.«
Ich weiß ganz genau, worauf sie anspielt: darauf, dass ich mich nicht traue, Hannes anzurufen und unsere virtuelle Was-auch-immer-Kiste auf das nächste Level zu heben – oder aber ihn sausen zu lassen.
»Hey!«, beschwere ich mich mit Seitenblick auf die geschlossene Bürotür, hinter der Thorben vorhin verschwunden ist. Ihren Mann geht das nämlich gar nichts an. »Ich habe noch nicht mal ein Foto von ihm«, zische ich leise.
»Eben«, kontert Steffi belustigt. »Das Auge isst aber mit! Also bitte ihn um eins!«
»Und was, wenn er hässlich ist? Mit einer dicken, haarigen Warze mitten auf der Nase?« Ich schüttle den Kopf. »Nein, nein. Hier zählen lediglich die inneren Werte. Wir lernen nur zusammen! Er bringt mir Isländisch bei und ich ihm Deutsch. Das ist sicheres Terrain. Und der Rest bleibt meiner Fantasie überlassen.«
»Genau!«, schimpft sie. »Elende Feiglingin! Fantasie hält dich nicht warm in arktischen Nächten.«
»Es wird von allein wärmer. Klimawandel«, knurre ich.
»Nicht witzig«, gibt Steffi zurück. »Dann melde dich endlich in einem Datingportal an. Du brauchst einen Mann! Geh raus und such dir einen – oder lass dich finden. Ich helfe dir, einen Steckbrief zu schreiben.«
»Igitt. Das ist eklige Fleischbeschau.« Leicht angewidert schüttle ich mich. »Ich kann mich nicht mit Ansage übers Internet verlieben. Wie soll das gehen? Das ist wie fröhlich sein auf Kommando … oder wie diese Hochzeitsspiele, bei denen sich immer jemand lächerlich macht. Wie ein Junggesellenabschied, bei dem man der Fahrer ist und nüchtern bleibt … oder wie Zwangsbespaßung durch Profianimateure – oh Gott! Bitte sag mir, dass es keine Animateure auf dem Schiff geben wird!« Entsetzt packe ich ihr Handgelenk.
»Nein!«, antwortet Steffi empört und versucht, das unvorhergesehene Schwappen in ihrem Sektkelch auszubalancieren, das ich mit meinem beherzten Griff ausgelöst habe. »Natürlich nicht. Das ist ja keine Kreuzfahrt!«
»Halleluja.« Ich lasse sie los und trinke einen Schluck. »Im Ernst, ich weiß, dass du es gut meinst. Aber das funktioniert für mich nicht mit diesen computerdefinierten Kompatibilitätschecks und Listen zum sprichwörtlichen Abhaken. Es muss funken! Spontan! Chemie und so. Niemand ist entspannt bei einem Blind Date.«
»Hmm«, brummt Steffi. »Kann sein. Aber da musst du durch, wenn du nicht ewig allein bleiben willst. Im Ernst, die Trennung von Steffen ist jetzt sechs Jahre her. Was machst du, wenn Enna aus der Nummer rausgewachsen ist und nicht länger dein Lebensmittelpunkt sein will?«
»Das sehe ich, wenn es so weit ist. Ich glaube nun einmal an Schicksal und Romantik und nicht an virtuelle Männerkataloge.«
»Und ich habe damals in der Schule in Wahrscheinlichkeitsrechnung aufgepasst. Mr. Right wird dir wohl kaum im Biomarkt mit dem Einkaufswagen in die Hacken fahren und dich als Entschuldigung zum Kaffee einladen.«
»Doch«, flehe ich. »Genau so will ich das haben. Wenn es so sein soll, dann wird mir der Richtige vor die Füße stolpern, zufällig, unbeabsichtigt, unvorhersehbar … Wir blicken uns in die Augen, und – kawumm.«
»Kawumm?«, wiederholt Steffi mit hochgezogener Braue.
»Oder von mir aus: Bäm! Liebe auf den ersten Blick eben! Daran haben wir beide doch mal geglaubt! Ganz fest! Und wenn schon nicht bäm!, was ist mit yay!? Oder hach?«
All meine Vorschläge werden von Steffi mit abwertenden Grimassen bedacht. Dabei bin ich nicht diejenige, die auf falschen Garagenstromzählerhumor reingefallen ist – und zack, Ring am Finger!
»Vielleicht musst du erwachsen werden, Merle. Ich bin mir nicht sicher, ob du dieses Ding mit dem Verlieben realistisch genug siehst«, sagt Steffi, das gebrannte Kind. »Mach wenigstens endlich einen Move mit deinem Hannes. Da hast du doch dein Unverhofft-kommt-oft.«
»Grmpf.« Sie hat ja leider recht. Irgendwie. Ich stagniere. Seit fast vier Monaten geht das nun schon mit ihm. Mit Hannes, meinem traumhaften Isländisch-Lernpartner, der nur einen Wisch in meiner internationalen Lern-App entfernt ist. Wir scherzen, wir flirten, und ich erzähle ihm Dinge. Ich kann mich nämlich noch öffnen. Ja, ich weiß, alles unverbindlich und folgenlos. Meganeutraler Boden, weil es eben keine Singlebörse ist, weil ich nicht mal sein Gesicht kenne, er nicht meines – und auch nicht meinen richtigen Namen, wenn ich es so bedenke. Doch genau so will ich das haben! Dafür ist das Internet super! Wir helfen uns gegenseitig beim Sprachenlernen, und manchmal schütte ich ihm mein Herz aus. Punkt. Das ist eine großartige Sache und die perfekte Ergänzung für den Volkshochschulkurs, den Steffi und ich zusammen besuchen. Oder nicht?
Mir steckt die unschöne Trennung von Ennas Vater Steffen einfach noch zu sehr in den Knochen, um irgendwas anderes anzuschieben. Und als berufstätige Mutter habe ich außerdem weder Zeit noch Energie, ernsthaft loszuziehen, um jemanden kennenzulernen und wieder enttäuscht zu werden.
Da plaudere ich doch lieber schriftlich und unverfänglich aus meinem Leben und lasse mir umgekehrt von Hannes vom isländischen Wetter, der Weihnachtskatze und dem Leid der Landwirte erzählen, die bei der Schneekatastrophe letzten Winter so viele Pferde verloren haben. Von seiner deutschen Großmutter, die an seinem unnordischen Vornamen schuld ist. Oder von den Hot Tubs, in denen Der-Isländer-an-sich gerne warmbadet und beim Entspannen den neuesten Dorfklatsch einsaugt. Das würde mir auch gefallen! Und wie! Dazu müsste ich natürlich runter vom Sofa, ich Couch-Potato – und eben das haben wir ja jetzt vor! Schiff mit Schuss – prost!
Es ist ja nicht so, dass ich keine Ahnung von Statistik hätte. Wenn ich Thorben fragen würde – tue ich aber nicht –, würde er mir bestimmt vorrechnen, dass die Zahl der Partnerschaften, die sich aus Lern-Apps entwickeln, so gering ist, dass sie in keiner Statistik auftaucht. Genau wie die von Leuten, die sich an der eigenen Türschwelle begegnet sind. Andererseits gehen hier auch die Trennungen und Scheidungen gegen null. Und was kann ich dafür, wenn bisher noch kein geeigneter Pizzabote dabei war? Ich seufze. Alles faule Ausreden, ich weiß.
»Vielleicht ist es wirklich Zeit, mich mal wieder in analoge Fanggründe vorzuwagen«, sage ich nachdenklich.
»Heureka! Darauf trinken wir!«, schlägt Steffi vor, und ihre Wangen glühen.
»Hannes ist großartig«, jammere ich. »Ich will gar nicht mit jemand anderem flirten. Das genügt mir völlig.«
»Weil er schön weit weg ist und gesichtslos dazu. Du hast Angst vor Nähe. Und davor, dass dir wieder jemand wehtun könnte.«
»Hab ich nicht!« Mist, voll erwischt.
»Er ist eine Illusion. Ein Phantom. Kein Mann aus Fleisch und Blut.«
»Ist er wohl!«
»Dann lern ihn kennen!«
»Tu ich doch!«
»Haha, Süße, wir drehen uns im Kreis!«
»Na, er wird wohl kaum mit einem Strauß Rosen am Hafen in Seyðisfjörður stehen und auf mich warten, oder?«
»Wie denn auch, wenn du ihm nicht signalisierst, dass du genau das gut finden würdest! Außerdem würdest du ja trotzdem weglaufen.«
»Gar nicht.«
»Ach nein? Na ja …« Steffis Wangen glühen auf einmal verdächtig übereifrig. »Vielleicht muss er nur wissen, dass du da sein wirst. Und wann! Los, gib mir dein Handy. Ich mache euer Blind Date klar.«
»Untersteh dich! Das wär’s noch!« Einen Moment lang habe ich wirklich Panik. Da hat sie mich ja geschickt in eine Falle gelotst. Meiner besten Freundin ist so ziemlich alles zuzutrauen, wenn es darum geht, mich unter die Haube zu bringen.
Sie grinst hinterhältig. »Ja, vielleicht wär’s das wirklich!«
»Wehe!«, betone ich noch einmal. »Ich erteile dir hiermit offizielles Verkupplungsverbot! Und damit eins klar ist: Du wirst auch keine Annoncen für mich schalten, keine Singlebörsen-Profile in meinem Namen irgendwo im Internet hochladen oder mir unbekannte Männer auf dieses Schiff lotsen, damit sie mich kennenlernen!«
»Menno.« Steffi schiebt gespielt beleidigt die Unterlippe vor. »Das wäre aber so praktisch. Ich meine, überleg doch mal. Es gibt rund 340.000 Isländer, etwa die Hälfte davon sind Frauen, die ziehen wir ab. Dann rechnen wir noch alle unter zwanzig und über sechzig raus – und die verheirateten natürlich auch, das geht nämlich nie gut. Wie viele mögen da übrig bleiben? Ich glaube, die passen alle mit uns zusammen auf die Eydna. Island ist ein Dorf! Zwei Singlepartys in einer Großraumdisko, und alle wären verkuppelt.«
»Du bist eindeutig zu lange mit Thorben verheiratet«, knurre ich. »Und überhaupt, ein Kaffee mit Hannes in Island, und dann müsste ich wieder an Bord? Ich brauche erheblich mehr Zeit, um aus meinem Schneckenhaus zu kriechen. Gerade du solltest das wissen.«
»Warte, wie lange kanntest du Steffen, bevor ihr zusammengezogen seid? Zwei Wochen?«
»Anderthalb«, sage ich zerknirscht. »Da war ich jung und naiv, und du weißt ja, was draus geworden ist.«
»Oh ja, und ich kenne dich lang genug. Wenn diese Tür wieder auffliegt, dann mit einem Knall.« Steffi grinst. »Es wäre ein Anfang. Ein unverbindlicher, mit Rückzugsmöglichkeit und Alibi. Schließlich seid ihr schon ein halbes Jahr zugange.«
»Pff. Hannes und ich sind aber keine Teenager mehr.« Ich verschränke die Arme. »Du müsstest dir auf der kompletten Rückfahrt mein Geheule anhören. Für den extrem unwahrscheinlichen Fall, dass es funkt, hätte ich dann nämlich Liebeskummer. Oder ich würde dir tagelang vorwerfen, dass ich es gleich gewusst habe. Nein. Wenn, dann müsste er schon die ganze Zeit mit dabei sein. Vergiss es.«
Sie legt den Kopf schief und die Stirn in Falten. »Da hast du natürlich recht, eine Kaffeelänge ist knapp«, sagt sie langsam, immer noch ganz in Gedanken. Dann wischt sie lachend weg, worüber auch immer sie gerade gegrübelt hat – wahrscheinlich rechnet sie tatsächlich aus, wie viele Isländer im passenden Alter nur auf mich warten.
»Wie du willst«, sagt sie schließlich. »Wir haben uns ja eh darauf geeinigt, dass er hässlich ist und eine Warze auf der Nase hat. Also keinen Kaffee mit Hannes, sondern doch lieber frischen Fisch mit mir und die volle Aufmerksamkeit auf Krimidinner, Lesungen und Workshops. Nimm dein Strickzeug mit! Das ist wieder in.«
Ich seufze resigniert. »Die Krimis und die Kerle überlasse ich dir. Ich komme mit, um mich zu erholen: zu lesen, Nordlichter zu sehen und springende Buckelwale – über Wolle und Stricknadeln können wir reden.«
»Okay.«
»Okay.«
Versunken prosten wir uns zu und schweigen. Ich habe das mal kurz überschlagen. Die männlichen isländischen Singles in meinem Beuteraster könnten tatsächlich alle auf die Eydna passen …
»Du wirst einsam im Kreis von geretteten Tierheimkatzen sterben, wenn Enna irgendwann ausgezogen ist«, malt Steffi mir nach einer Weile aus und kichert. »Aber ich werde jeden Tag gucken kommen und dein Schimmelgesicht dokumentieren, du wirst ganz sicher nicht wochenlang unentdeckt da rumliegen, keine Angst. Indianerehrenwort.«
Ich nicke. »Das ist wirklich beruhigend.«
»Was ganz anderes«, sagt Steffi gut gelaunt, aber mit gesenkter Stimme. »Meinst du, es werden gut aussehende Wikinger an Bord sein?«
»Für dich? Zum Gucken? Du meinst, in der entsprechenden Altersgruppe, Single und männlich? Der Personenkreis wird immer kleiner, oder? Na, lass es uns rausfinden! Was zahlst du mir für mein Schweigen?«
Wir grinsen uns an und heben die Gläser.
»Also auf die Insel und das Schiff!«
»Ohne Netz und doppelten Boden!« Wir stoßen ein letztes Mal an.
»Aber Reisetabletten nehmen wir schon auch mit?«, frage ich.
»Klar, und einen Sixpack Magenbitter von Muddi, falls wir nicht seekrank werden, sondern hungrig. Schließlich heißt die Tour Schiff mit Schuss. Seeluft soll sehr appetitanregend sein. Und ich kriege in letzter Zeit so leicht Sodbrennen.«
Steffi rülpst und hält sich den Bauch, aber ihre Augen funkeln abenteuerlustig. »Das wird die Reise unseres Lebens, merk dir meine Worte!«
Hannes: Hi! Wie geht es dich?
Icelandfan52:
Wie geht es *dir*?
Schon wieder falsch!? Dir – dich … Deutsch ist kompliziert!
Das sagt der Richtige! Eure Konjugationen sind viiiiiel schwieriger!
Okay, neuer Versuch: Wie geht es dir?
Geht so. Meine Freundin Steffi hat mir gerade ausgemalt, dass ich einsam sterben werde.
Oh. Wieso das?
Ach … Nicht vorhandene Männer. Halb so wild. Sie wird verhindern, dass ich unentdeckt in meiner Wohnung verwese.
Das ist beruhigend.
Sehr. Und sie sagt, dass du bestimmt hässlich bist und eine Warze auf der Nase hast, weil du mir kein Foto von dir schickst.
Und glaubst du das auch?
Vielleicht?
Kleine Erinnerung:
Gleich zu Beginn unserer Lerngemeinschaft hast du Folgendes klargestellt: »Ich habe einen Freund. Ich habe eine Tochter. Du brauchst mir keine Fotos von dir zu schicken. Ich verliebe mich grundsätzlich nicht übers Internet. Ich will nur mit dir lernen!«
Auweia. Du hast den Chatverlauf noch? Peinlich! Aber ich habe geschrieben »brauchst«! Nicht: »darfst«! Und das mit dem Freund ist lange vorbei. Das weißt du auch.
Hilfsverben hatten wir noch nicht.
Gelogen!
Also darf ich jetzt?
Was?
Dir ein Foto von mir schicken.
Nein. Brauchst du nicht.
??
Scherz!
Du willst mich nicht sehen … ich bin verzweifelt.
Seufz. Ja. Es ist ein Dilemma.
Was genau?
Wenn du hässlich bist, will ich nicht mehr mit dir lernen. Wenn du gut aussiehst, lenkt mich das ab.
Ich lenke dich gern ab.
Und genau das darfst du nicht! Ist gegen unsere Abmachung! Aber gut, um Hilfsverben zu lernen. Wie hoch sind eigentlich die Wellen im Nordatlantik im November?
Jetzt lenkst du vom Thema ab! Warum fragst du?
Ach, wir machen so eine Schiffsreise. Eine Woche lang.
Sehr gut! Sonne tanken? Karibik?
Ist das etwa auch noch Nordatlantik?
Grins. Ja. Nicht?
Nein. Ganz kalt. Rate.
Sag schon. Wohin fährst du?
Mit meiner Freundin auf der Fähre nach Island.
Oh, du kommst mich besuchen? Soll ich Blumen kaufen? Darf ich?
Netter Versuch.
Du bist doch auch neugierig, gib’s zu!
Niemals!
Ich bringe mein Vokabelheft mit.
Nein.
Und meine Grammatik?!
Nein!
Okay.
Vielleicht sollte ich die Reise sowieso besser wieder absagen.
Warum? Ist doch schön, dass ihr endlich fahrt. Ich dachte, das ist der Boden für all das Lernen?
Der Grund.
Ah, danke.
Ich bin alleinerziehende Mutter. Ich habe Verantwortung. Ich kann mein Kind doch nicht einfach eine Woche zu Oma geben. Oder?
Wie ich dich kenne, hast du das alles schon seit Wochen gereinigt?
Geklärt.
Danke.
Gern. Es würde meiner Freundin das Herz brechen, wenn ich absage. Und meiner Tochter auch …
Dann tu es nicht! Island ist wundervoll. Vielleicht seht ihr Nordlichter.
Und Wale?
Dazu braucht ihr noch mehr Glück um die Jahreszeit. Aber die Fähre hat Hot Tubs.
Woher weißt du das?
Es gibt nur eine, die von Dänemark nach Island fährt, die Eydna. Mit der sind wahrscheinlich alle Isländer schon irgendwann gependelt. Wie lange bleibt ihr?
Wir fahren nur hin und gleich wieder zurück. Mit einer Reisegruppe und Bordunterhaltung rund um Krimis und ein paar Ausflügen.
Das klingt frábært!!
Haha, großartig, ja. Das stimmt.
Magst du Krimis?
Nicht besonders. Aber ich mag Island. *grins
Dann mach das auf jeden Fall.
Okay. Aber du bist schuld, wenn meine Tochter mich später Rabenmutter nennt.
Rabenmutter?
Google es!
Also, fährst du?
Denke schon. Gebucht ist schließlich gebucht. Was ist jetzt mit den Wellen?
Es kann ganz schön stürmisch sein, vor allem ab den Färöern. Nimm dir auf jeden Fall Pflaster mit!
Du meinst Tabletten!
Nein. Tabletten klebt man sich nicht auf die Haut, oder?
Echt, so was gibt’s? Pflaster gegen Seekrankheit? Großartig! Frábært!
Geheimtipp! Apotheke! Nicht weitersagen! Du brauchst ein Rezept vom Arzt, und sie wirken erst länger fünf Stunden.
*Nach* fünf Stunden.
Versprochen!
Danke! Heißt es: Ich denke an dich oder ich denke an dir?
Ich denke an *dich*!
Das freut mich! Ich denke auch an dich!
Schlingel!
Was heißt das?
Google es!
Haha! Ich möchte dich wirklich gern kennenlernen. Wollen wir uns treffen, wenn du in Island bist? An welchem Dienstag kommt ihr an?
Du kennst dich ja wirklich aus! Der erste im November.
Die Eydna ist wie ein Linienbus, nur im Wasser: Samstag Hirtshals, Montag Tórshavn, Dienstag Seyðisfjörður, Donnerstag Tórshavn, Samstag zurück in Dänemark.
Ich fürchte, wir werden zu viel Programm haben. Ich würde total gern. Wirklich! Aber ich glaube, das müssen wir verschieben …
Feigling!
Gar nicht!
Na warte, ich kriege dir!
*Dich*!
Ich setze mir eine Faschingsmaske auf und komme an Bord.
Haha. Einverstanden. Und wie erkenne ich dich dann?
An der Maske!
Soso. Na schön, dann komm halt.
Vorsicht! Ich kenne eure Route!
Wenn du dich das traust, geht der Kaffee auf mich.
Lieber ein Cocktail zur Happy Hour. In der Bar gibt es bis 20 Uhr zwei für den Preis von einem!
Okay, bin dabei.
Allerdings …
Was?
Wenn ich dort die Maske abnehme, willst du nicht mehr mit mir lernen! Ist das ein Dilemma?
Oh ja, ein großes! Ich muss jetzt in die Apotheke, ich habe da einen Geheimtipp bekommen von einem isländischen Arzt. Bless, bless!
Bless! Ég finn þig!
Was heißt das?
Google es!
Okay, wir scherzen aber nur, ja? Sonst kriege ich kalte Füße.
Was bedeutet das – kalte Füße?
Google es!
***
Vier Wochen später ist Thorben hinreichend mit Tiefkühlpizza und Schnellgerichten versorgt und nur noch ein klein wenig eingeschnappt. Enna ist mit (erstaunlich viel) Sack und Pack und (wirklich) ganz wenigen (lebensnotwendigen!) Telefonnummern und einer klitzekleinen Was-mache-ich-wenn-Gebrauchsanweisung-für-Teenager bei Oma eingezogen. Alle sind informiert, dass wir tagelang offline sein werden, weil wir zwischendurch schlicht kein Netz haben werden und das Telefonieren mitten auf dem Atlantik und am Ende noch über Satellit viel zu teuer ist. Ich finde das pädagogisch ziemlich wertvoll, aber natürlich melden wir uns, wenn wir bei unseren Landgängen ein Café mit freiem WLAN finden.
Meine Zwölfjährige freut sich auf abenteuerliche Nächte in der WG-Hängematte. Oma samt ihren drei Mitbewohnern freut sich auf lustige Brettspielmeisterschaften im Wintergarten. Und ich habe mir von zusammen immerhin zweihundertvierundachtzig Lebensjahren hoch und heilig versprechen lassen: grundsätzlich erst nach den Hausaufgaben.
Insgeheim sitzt in meinem Herzen trotzdem noch der Stachel, den Thorben mir eingepflanzt hat. Auch wenn Enna meine Nachteinsätze wegen der Schaufensterdekos und die Betreuung durch Babysitter und Oma von klein auf gewohnt ist – mir ist nach wie vor ein wenig mulmig, ob das wirklich alles so in Ordnung ist. Große Klappe, nichts dahinter – aber jetzt muss ich da durch. Und will auch!
Steffis Mutter hat uns in aller Herrgottsfrüh zur Sammelstelle am ZOB gebracht, wo bereits erstaunlich viel los ist. Während wir Stunden vor Sonnenaufgang auf dem Busbahnhof stehen, wird mir auf einmal klar, dass wir gleich in den Shuttlebus steigen, und dann sind wir eine Woche so richtig weg. Irgendwie fehlt mir mein Kind jetzt schon. Und falls sie Heimweh nach mir bekommen sollte, kann Oma ihr nicht so einfach den Mantel über den Pyjama ziehen, einen Schaufensterbummel durchs Städtchen machen und an die zugehängte Scheibe klopfen, hinter der Mama neuen Teppichboden verlegt oder Parfümflaschen auf pink eingefärbten Strohballen dekoriert. So wie wir das früher manchmal gemacht haben.
Thorben haben wir schlafen lassen. Während wir kaum die Augen aufbekommen und ich leidend vor mich hin friere, wuseln um uns herum hellwache Menschen mit Koffern und Taschen und dazwischen ein paar torkelnde, übrig gebliebene Nachtgestalten. Ich weiche allen aus, so gut ich kann. Steffis Mutter steckt uns tatsächlich kurz vorm Einsteigen ein Sixpack Kräuterbitter zu. »Den werdet ihr brauchen, Kinder. Es gibt nichts Schlimmeres, als auf so einer Reise Bauchgrummeln zu haben vom vielen guten Essen und langen Sitzen.« Ich bin zu verdutzt, um abzulehnen. Sind wir wirklich schon im Magenbitteralter? Waren wir nicht gestern erst zu jung für Alkohol? Wann bin ich eigentlich zum letzten Mal Bus gefahren? Oh Gott, wir sind alt!
Steffi gähnt. »Tschüss, Muddi!«
»Danke fürs Bringen«, schließe ich mich artig an und lasse mich ebenfalls noch einmal ordentlich knuddeln. Steffis Muddi ist so süß! Sogar Zauberäpfel hat sie uns geschnitzt, genau wie früher, wenn wir zur Klassenfahrt aufgebrochen sind. Von meinen Eltern gab’s Vollkornbrot, Gemüsesticks und eine Jumbotüte Gummibärchen – die eigentlich bis zur Rückfahrt reichen sollte – und von ihr liebevoll im Zickzackmuster halbierte, entkernte und wieder zusammengesetzte Äpfel und dazu eine Riesenpackung Prinzenrolle, die meist schon an der ersten Raststätte alle war, so wie die übrigen Süßigkeiten auch. Steffi und ich haben alles zusammen erlebt, vom Sandkasten aufwärts. Von aufgeschlagenen Knien beim Fahrradfahren-Lernen über den ersten Kopfsprung im Schwimmbad, den ersten Freund samt Liebeskummer bis hin zu einer Hochzeit und einer Geburt. Es ist überfällig, dass wir endlich wieder mehr Zeit miteinander verbringen. Und darum: Island!
Der Fahrer verstaut unsere Koffer, und wir klettern ins Wageninnere. Die meisten unserer schon früher zugestiegenen Mitreisenden schlafen noch. Wunderbare Idee! Es ist auch wirklich furchtbar früh, aber bis zum Hafen an der Nordspitze Dänemarks dauert es ja auch noch einige Stunden.
Nachdem ich mich gesetzt habe, stelle ich den Trackingmodus auf meinem Smartphone ein, so kann Enna unsere Strecke verfolgen, wenn sie aufwacht, und Oma zeigen, wo wir gerade sind. Endlich rolle ich mich zusammen, soweit das in einem Reisebus eben geht, und versuche zu schlafen. Wie gut, dass ich mein Kissen mitgenommen habe, das verhindert zumindest drohende Genickstarre. Steffi stöpselt sich ein Hörbuch in die Ohren und beißt in ihre erste von gefühlt fünfzig Stullen, die sie sich geschmiert hat. Sie ist unterwegs immer hungrig, immer!
Als ich wach werde, ist es immerhin hell. Norddeutscher Nieselpiff fegt ans Fenster – oder ist das schon dänischer? Verschlafen reibe ich mir die Augen.
»Wir sind gleich in Flensburg und sammeln die letzten Schischus ein.«
»Schischus?«, frage ich verwirrt.
»Schiff-mit-Schuss-Mitreisende«, erklärt Steffi. »Dann machen wir auch Pipipause. Wollen wir bei der Gelegenheit raus und Proviant einkaufen?«
»Noch mehr?«
Steffi hebt den Zeigefinger. »Mark me! Alkohol ist teuer in Skandinavien, und wir haben Urlaub.«
»Ich hab eine Flasche Wein im Koffer – und einen Öffner«, gähne ich. »Und wir haben doch den Kräuterbitter von deiner Muddi.«
»Das ist Medizin, das zählt nicht.« Ihre Augen funkeln abenteuerlustig. »Wir brauchen doch noch Dosenbier!«
Ruckartig setze ich mich auf. »Oh ja, das stimmt. Das ist Tradition!« Als wir jünger waren, haben wir halb Europa in Low-Budget-Urlauben kennengelernt, mit Dosenravioli und Dosenbier, mit Zelt und Zug und später mit billigen Mietwagen, bei denen im Regen das Wasser durch den Unterboden spritzte. Wir haben mit Dosenbier den Sonnenuntergang am Meer in Südschweden bewundert, in Griechenland dabei die Sterne gezählt, in Kiel die schmerzenden Füße in die Ostsee gesteckt und auf den Feierabend angestoßen und das Geld, das uns die nächsten gemeinsamen Reisen ermöglichen sollte. Außerdem: Wenn man vier Sommer lang am Fährhafen jobbt – Dank sei Steffis längst verstorbener Tante! – und sich über die klirrenden und gluckernden Koffer von Skandinaviern auf der Heimreise amüsiert, dann darf man das Klischee auch mal brechen, indem man selbst flüssiges Gepäck mitnimmt, finde ich. Muss Enna ja nicht wissen, was ihre Mutter so treibt. Wir haben Urlaub, und wir sind schon groß.
Und wir sind schlau. Viel schlauer als damals bei der Abifahrt nach Schweden, als alle anderen Bier dabeihatten, nur wir nicht. Wir wussten nicht einmal, dass uns die horrenden Preise für Alkohol quasi egal sein konnten, weil die Schnapsläden an Wochenenden grundsätzlich geschlossen sind. Ist ja auch vernünftig. Wir sind es aber nicht. Dosenbier also, solche Traditionen sind heilig!
Das ist noch so eine Sache, die Thorben nie begreifen wird. Thorben ist paradespießiger Prüfstatiker. Seine einzige Jeans hat eine selbst gemachte Bügelfalte, das Handy liegt immer exakt im Neunzig-Grad-Winkel zu jeder Tischkante, und wenn er könnte, würde er sogar die Tragkraft einer Topfblume auf ihre Tauglichkeit als Hummellandebahn berechnen. Steffis Spielwarengeschäft brummt dagegen vor allem deswegen, weil sie selbst grundsätzlich alles voller Neugier und Leidenschaft für das Verrückte ausprobiert, bevor es in den Verkauf geht, am liebsten mit mir zusammen – von der Glibberknete bis zur Schwimmfähigkeit von Puppen mit abnehmbarem Kopf. Weiß der Kuckuck, wie die beiden zusammengekommen sind. Kennengelernt haben sie sich bei der Bauabnahme für die Filiale, die Steffi leitet. Er hatte todernst gefragt, ob sie sich keinen Stromzähler ans Garagentor anbringen lassen wolle – weil sie es doch mit den Nachbarn zusammen nutze, und Steffi fand das witzig. Sie glaubte tatsächlich, er hätte denselben trockenen Humor wie sie. Öhmm.
»Ich muss dir was gestehen«, sagt sie, als wir die Getränkeregale des Supermarkts neben dem Busparkplatz durchstöbern.
»Jetzt kommt’s. Du machst Diät und möchtest Light-Bier kaufen?«
»Nienicht.« Sie grinst. »Ich bin nur echt froh, mal ’ne Woche von zu Hause wegzukommen. Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Heirate nie jemanden, der Dosenbier maximal mit dem Strohhalm und nur in einer Umgebung anrühren würde, wo ihn niemand kennt.«
»Oh. Habt ihr echt Stress?«
Sie zuckt mit den Achseln und seufzt. »Manche sagen, das sei ein kleines Wort für eine handfeste Ehekrise.« Dann bemerkt sie meinen Blick und hakt sich bei mir ein. »Ach, mach dir keinen Kopf. Das wird wieder. Oder auch nicht. Jetzt haben wir Urlaub, da sind trübsinnige Gedanken fehl am Platz. Wir wollen einfach nicht über Th. reden. Basta. Als Nächstes in die Schlange vorm Klo einreihen?«
Ich nicke nachdenklich. Wenn Steffi Basta sagt, ist alles Nachbohren zwecklos. Aber irgendwann wird sie schon rausrücken mit dem, was sie umtreibt!
Zwanzig Minuten später komme ich mir ziemlich bescheuert vor, als es in meinem Rucksack und den Jackentaschen gluckst und murmelt, während wir im Pulk über den Parkplatz zurück zum Bus schlendern. Steffi liest meine Gedanken. »Das trinken wir doch nicht allein. Das nehmen wir zu den Hot Tubs mit, und dann geben wir einen aus. Oder stoßen damit beim Nordlichter-Gucken an.«
»Wenn Schokolade sauteuer wäre, würden wir die genauso horten, richtig? Wir sind einfach nur vorausschauend und haben aus unseren Erfahrungen gelernt.«
Einer der Mitreisenden hört meinen letzten Satz und raunt von hinten: »Schokolade ist teuer in Skandinavien. Psst!«
Als ich mich zu ihm umdrehe, zwinkert er mir zu und überholt uns dann. Ein schlanker junger Mann mit Bommelmütze und dunkelgrünem Parka, der jetzt garantiert glaubt, ich hätte ein Alkoholproblem – oder eins mit Schokolade. Wieso lächelt der so komisch?
Steffi grinst breit.
»Na, wie fühlst du dich, so hinterm Ofen vorgekommen?«
»Pfff«, mache ich und ziehe die Jacke enger um mich. »Frag mich das in einer Woche.«
Dänemark zieht sich. Einsame Gehöfte mit Silotürmen wechseln mit Windkrafträdern ab. Die Bäume stemmen sich schräg gegen den ewigen Wind und lassen ihre kahlen Äste wie Sturmfrisuren wehen. Dann wieder endlose Felder, Wiesen und schwarzbunte Kühe. Und alles ist flach wie ein Pfannkuchen. Der norddeutsche Nieselregen geht fließend in dänischen Pladderpiff über. Dazu kommt auffrischender Wind, umso böiger, je dichter wir an der Küste entlangfahren. Aber während mich so ein Novemberwetter zu Hause mächtig runterzieht, kann ich es heute in vollen Zügen genießen: Das hier ist Lesewetter, Strickwetter, Saunawetter. Und in einen Hot Tub voll heißem Fjordwasser darf es von mir aus auch von oben regnen. Nur für die Nordlichter soll der Nachthimmel bitte zwischendurch aufklaren, bei geschlossener Wolkendecke wird das sonst nichts, und dabei wünsche ich mir das doch so. Ich bin achtunddreißig Jahre alt und habe noch nie Nordlichter gesehen, das geht doch nicht!
Plötzlich höre ich leises Schnarchen neben mir. Steffis Kopf ist auf ihre Brust gesunken, sie ist eingenickt. Ich zücke noch mal mein Handy und checke meine Nachrichten. Ein letztes Mal. Na gut, vielleicht ein vorletztes.
Enna:
Schickst du mir Fotos vom Schiff? Hdl! Und denk dran, dass du mir was mitbringst. Vielleicht einen Pinguin. Oder ein Eisbärbaby. Die haben keinen Lebensraum mehr da oben, wegen der Klimakatastrophe. Das ist aktiver Tierschutz.
Ich seufze. Zwölfjährige. Was soll man da antworten?
Mama:
Wir haben keinen Platz im Kühlschrank, und Eisbären wollen lieber bei ihrer Mama bleiben. Küsschen. Außerdem gibt es beide Tierarten weder auf den Färöerinseln noch auf Island. Hab dich auch lieb! Lern schön am Wochenende. Erdkunde zum Beispiel! ;-)
Gerade als ich mein Smartphone wegstecken will, ploppt eine Nachricht in meiner Lern-App auf. Hannes. Er schreibt irgendwas. Automatisch schiele ich zu Steffi, aber die schläft noch.
Nachricht gelöscht
Hannes:
Goðan dáginn! Hast du Sehnsucht?
Nachricht gelöscht
Nachricht gelöscht
Icelandfan52:
Guten Morgen. Was? Wieso?
Oh. Ich glaube, die App spinnt … technische Probleme. Oder ich bin im falschen Chat. Sorry. Afsakið!
Ich runzle die Stirn. Stand da vorhin in meinem Textbereich auch schon die Nachricht-gelöscht-Anzeige? Wann habe ich denn eine Nachricht zurückgezogen? Seltsam!
Icelandfan52:
Hmm. Nee. Hier stimmt auch irgendwas nicht. Vielleicht das neue Update.
Hannes:
Allt vel. Und jetzt bist du
wach, und deine Freundin schläft?
Gut geraten, Wikinger!
Wieso geraten? *zwinker
Dreh dich mal um. Ganz hinten …
Mich durchfährt ein Riesenschreck. Unwillkürlich mache ich die Schultern krumm. Das kann nicht … Er wird doch nicht …? Ich und meine lose Klappe, wenn ich mich sicher fühle! Um ein Haar fällt mir das Handy runter. Ich erwische es gerade noch so eben, aber dafür räkelt sich jetzt Steffi.
»Was’n los?«, brummt sie schläfrig. »Warum schubst du mich? Sind wir schon da?«
Hinter mir kichert jemand. Ich bekomme Schweißausbrüche. Ruckartig drehe ich mich um und fixiere die hinteren Busreihen.
Ein paar freundliche Gesichter schauen auf und lächeln: zwei Ehepaare, eine rothaarige Frau um die fünfzig, zwei Typen in Ringelshirts, die höchstens Mitte zwanzig sind. Dann ist da noch ein bärbeißiger Typ um die sechzig, der schnell wieder aus dem Fenster guckt. Falscher Alarm. Obwohl … Ich habe Hannes nie gefragt, wie alt er ist. Mit Zahlen im Isländischen habe ich es nicht so. Außer tuttugu, das heißt zwanzig. Diese Zahl muss man einfach lieben.
Ich reibe mir den verspannten Nacken.
Himmel noch eins, und wenn er jetzt doch da gewesen wäre? Diese Spielchen müssen ein Ende haben, nachher versteht Hannes das wirklich noch mal falsch. Aber wie soll ich es deutlich genug rüberbringen, dass ich an unserem Status gerade nichts ändern will, ohne dass er eingeschnappt reagiert? Harmlos und unverfänglich, so will ich das. Bloß nicht mehr. Unsicher starre ich auf mein Telefon und atme gleich darauf erleichtert auf.
Haha, du hast dich umgedreht, stimmt’s?
Gar nicht.
Du schwindelst!
Nicht witzig!
Nicht böse sein. Ich habe manchmal komischen Humor. Es war … ein bisschen witzig, oder?
Okay. Ein bisschen witzig.
Warum sollte ich denn auch extra nach Deutschland kommen, wenn ich weiß, dass du Dienstag quasi vor meiner Haustür stehst? Komplett unlogisch. Höchstens gut als Plottwist in einem Krimi.
Ich werd’s mir merken!
Spaß zur Seite. Wie hättest du reagiert, wenn ich plötzlich da gewesen wäre?
Spaß *bei*seite …
Danke … Und?
Ganz ehrlich? Keine Ahnung … Du hast mich überrumpelt. Sorry, melde mich später.
So viel zum Thema harmlos und unverfänglich. Shit. Shit. Shit.
»Was’n los?« Steffi betrachtet mich aus halb geöffneten Lidern. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
Hannes schreibt offenbar noch irgendwas. Aber ich warte seine Antwort nicht ab, sondern stecke das Handy weg, lasse mich schwungvoll gegen die Rückenlehne fallen und drehe mich zu ihr.
»Haarscharf daneben …« Irgendetwas kratzt an meinem Unterbewusstsein. Ich mustere meine Freundin argwöhnisch. »Sag mal, du würdest nicht heimlich mein Handy benutzen, während ich schlafe, oder? Ich meine … nur weil ich damals auf der Abifahrt …?!«
Steffi verschluckt sich, als sie mir antworten will, und ich klopfe ihr fürsorglich den Rücken.
»Da waren wir siebzehn, Schnee von gestern«, japst sie, als sie wieder Luft bekommt und winkt, damit ich mit dem Klopfen aufhöre. »Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Ach, nix. Schon gut.« Mein Verdacht ist mir peinlich. Ich sehe zum Fenster hinaus, wo dänische Bauernhäuser und schwarzbunte Kühe an uns vorbeizufliegen scheinen. Alles eine Frage der Perspektive.
»Geht es um Hannes?«
»Hmm.«
»Du hör mal, ich …«
»Nee.« Ich drehe mich wieder zu ihr. »Wirklich, alles gut. Er hat einfach einen schrägen isländischen Humor, und ich leide zunehmend an Verfolgungswahn. Einen Moment lang dachte ich glatt, du hättest …«
»Merle!«
»Ist ja schon gut. Dadurch ist mir immerhin eines klar geworden. Ich will ihn wirklich nicht kennenlernen. Was mach ich denn, wenn er sich in mich verguckt? Ich meine, in das Bild von mir, das er sich durch unsere Chatterei womöglich gemacht hat? Eine Warze auf der Nase ist eine Sache, aber was, wenn es bei mir dann einfach nicht klickt oder bei ihm, weil …? Ist ja auch egal. Schluss mit den Illusionen. Du hast vollkommen recht. Hannes ist ein Phantom, und ich habe beschlossen, dass es dabei bleiben soll.«
»Und warum plötzlich jetzt wieder so?« Steffi ist auf einmal hellwach.
»Ich habe eben nachgedacht. Das, was er und ich haben, ist eine … sichere Bank. Ich möchte lieber die Illusion behalten, als das kaputtzumachen. Wir sind virtuelle Lernfreunde, und genauso will ich es haben. Ist besser so. Punkt.« Ich bekomme sogar ein schiefes Grinsen hin.
Steffi guckt bedröppelt. »Oh. Merle, ich … aber …«
Ich schüttle den Kopf. »Kein Wort mehr. Du willst nicht über Th. reden und ich nicht über H. Los, Themawechsel. Wie ist die Nordlichtvorhersage? Und wann sind wir endlich da?«
Am Fährterminal müssen wir unsere Mützen festhalten, so windig ist es. Dafür hat es endlich aufgehört zu regnen. Mit dem schweren Gepäck trauen wir uns nicht auf die Rolltreppe, weil im Bus jemand eine Gruselgeschichte von Lawinen auslösenden Rucksäcken erzählt hat. Also nehmen wir den Fahrstuhl in den ersten Stock des Hafengebäudes. Dort werden wir von unserem Reiseleiter stilecht mit einem Schnaps begrüßt. Und schon komme ich mir nicht mehr ganz so peinlich vor mit unserem scheppernden Tascheninhalt. Dann erhalten wir unsere Bordkarten, einen schicken Programmplan, und gleich sind wir so gut wie an Bord.
»Waaaaahnsinn!« Die Fähre sieht von außen genauso aus wie in diesem isländischen Krimi, den Steffi am Vorabend unserer Buchung in meinen DVD-Rekorder geschmissen hat, inklusive des Emblems mit dem Vogel auf dem gigantischen Schiffsschornstein. Weiter als diese ersten fünf Minuten bin ich nie gekommen, weil Enna plötzlich im Wohnzimmer stand und mitgucken wollte. Manchmal bin ich diesem Kind wirklich dankbar! Wenn schon gleich in den ersten Minuten ein Schiffskoch die Messer wetzt, ist das kein Film für mich. Steffi ist definitiv blutrünstiger und hat stärkere Nerven als ich! Manchmal frage ich mich, ob das irgendwie mit ihrem Job im Spielwarenladen in Verbindung steht. Also, das mit den Nerven meine ich. Wir können beide keiner Fliege was zuleide tun.
Das Schiff sieht jedenfalls in natura mindestens genauso beeindruckend aus wie in Trapped, dem Film, den wir beide nicht zu Ende geschaut haben. Wir haben dann mit Enna Shrek geguckt. Auf Isländisch, mit deutschen Untertiteln, so hatten wir alle was davon.
»Selfieeeee!«, kräht Steffi und nimmt mich in den Arm, damit wir uns in der Warteschlange dokumentieren und das Update nach Hause schicken können. Ich habe plötzlich überhaupt kein Bedürfnis danach, mein Smartphone herauszuholen, mir ist eher nach einem zweiten Schnaps, damit ich Hannes aus dem Kopf kriege. Aber Steffi besteht darauf, weil meins die bessere Frontkamera hat. Der viel zu junge Typ mit der Bommelmütze nimmt mir das Telefon ab und macht ein paar Schnappschüsse von uns.
»Wer freut sich auf Island?«, ruft Steffi.
»Wiiiiir!«
Gehorsam setze ich ein Lächeln auf, und Bommelmütze zwinkert mir zu, als er Steffi das Handy zurückgibt.
Na, das geht ja gut los.
Tja, und dann entern wir unsere Kajüte, äh, Kabine. Leider hat sie keinen Balkon. Weiß der Kuckuck, wieso ich mir das eingebildet hatte. Was soll man auch mit einem Balkon mitten im November? Trotzdem hätte ich das cool gefunden. Dafür sind da zwei große Fenster mit so breiten Metallrahmen, dass man bequem darin sitzen und stundenlang während der Fahrt Schaumkronen und den Horizont betrachten kann.
Grandios! Genau das werde ich tun. Voller Vorfreude lasse ich den Koffer auf den Boden krachen. Das Ding ist ganz schön schwer, trotz Rollen. Vielleicht waren sieben Bücher doch zu viel. Eins pro Reisetag ist womöglich ein wenig ehrgeizig, wenn man mit einkalkuliert, dass wir ja auch vier Landgänge im Programm haben. Zwei Tage Island am Stück und je einmal die Färöer auf dem Hin- beziehungsweise Rückweg.
Die Eydna ist nämlich wirklich kein Kreuzfahrtschiff, egal was Thorben uns da in den ökologischen Fußabdruck schieben will. Steffi und ich sind umweltbewusste Reisende. Das war quasi meine Hauptbedingung, um überhaupt auf diese Tour mitzukommen. Unsere Fähre schippert sowieso hier lang, ohne Chichi, als ganz normales Versorgungsschiff, immer im wöchentlichen Rhythmus von Dänemark nach Island und zurück. Jeden Samstag ab und bis Hirtshals, mit Baustoffen und Lkw und färöischen Pendlern, hoffentlich ganz vielen isländischen Muttersprachlern zum Sprechen-Üben – und diese Woche eben auch mit uns und sechzig anderen Krimifans dazu.
Wobei – ich bin gar keiner.
Ich grusle mich zu schnell, kann nachts nicht mehr einschlafen und würde den Hund mit ins Bett nehmen, wenn ich einen hätte. Auch wenn Steffi mir schon tausendmal erklärt hat, dass es entscheidende Genre-Unterschiede gibt zwischen Krimi und Thriller, ich lese trotzdem lieber was fürs Herz. Oder Fantasy. Oder Science-Fiction. Oder was Lustiges. Oder was von Stephen Hawking. Dessen letztes Buch habe ich mir extra für diesen Urlaub gekauft und ausnahmsweise mal nicht in der Bücherei geliehen. Am liebsten würde ich allerdings weiter mit Hannes chatten. Das ist ja auch lesen, irgendwie … und macht Spaß. Das Lernen natürlich. Vor allem das Lernen!
Meiner Brust entringt sich ein Stoßseufzer, den ich zum Glück Steffi nicht erklären muss, die ist gerade mit sich beschäftigt, die arme Maus. Wenn es ihr so geht wie mir damals mit Steffen, Monate vor unserer Trennung. Autsch. Und das ist genau der Grund, weswegen da nie mehr sein darf mit Hannes als ein bisschen Flirren. Flirren mit einem Unbekannten übers Handy ist okay, das kann ich kontrollieren. Es ist schön. Es verpflichtet zu nichts. Wir spielen mit offenen Karten, dann zieht es auch keinen Herzschmerz nach sich. Und man fühlt sich trotzdem weniger allein. Moment mal – fühle ich mich allein? Ich hab doch alles. Nein, alles gut. Ich bin da eh schon viel zu lange raus. Und so eine Distanzbeziehung über mehrere Länder hinweg, das ist auch nichts. Grundsätzlich nicht. Das wäre … Ich schüttle den Kopf über mich selbst. Was für ein alberner Gedanke. Ich will doch wirklich nicht mehr als unseren Chat, oder?
Oder?
Ich bin offenkundig verwirrt. Und Hannes? Was war das vorhin? Ich darf ihm keine Hoffnungen machen, falls er sich mehr wünschen sollte. Aber vielleicht würde er sich auch vor den Kopf gestoßen fühlen, sollte ich unsere Flirterei plötzlich abbrechen. Das wäre ja auch schade.
Ach, Mist! Ich sollte ganz dringend die Zeit nutzen, um mit Hannes ein paar Dinge geradezurücken, das war ein blödes Ende vorhin, das mag ich so nicht stehen lassen, bevor wir offline sind. Ich will nicht, dass er verletzt ist. Und solange wir noch im Hafen sind, habe ich die Chance dazu. Dänisches Hoheitsgebiet, das kann ich mir auch ohne WLAN leisten, und das verstößt noch nicht gegen unsere Regeln. Steffi und ich haben nämlich tatsächlich beschlossen, dass wir Internet auf See vermeiden. Wir wollen uns selbst beweisen, dass wir nicht digitalsüchtig sind. Apropos, wo habe ich eigentlich vorhin mein Handy hingesteckt?
»Also, ich find’s gar nicht so schlimm, wie ich dachte. Und du?«
Irritiert gucke ich zu Steffi hinüber, die sich breitbeinig wie ein Cowboy nach fünf Stunden im Sattel an der Wand unserer Doppel-de-luxe-Kabine abstützt und so tut, als hätten wir es bereits mit zehn Meter hohen Wellen zu tun. Dabei sind wir noch gar nicht aus dem dänischen Hafen raus, auslaufen werden wir erst in einer Stunde, und die Fähre liegt so ruhig im Wasser wie im Trockendock.
Sie streckt mir die Zunge heraus, und ich lasse mich anstecken und schwanke albern mit. Wehe, wenn sie losgelassen!
»Guck mal, der Obstkorb. Ist das nicht süß? Und die Minibar ist auch prallvoll und inklusive.« Steffi schiebt mir eine Traube in den Mund und zerknurpst selbst auch eine. Wir strahlen uns an. Von mir aus können die Krimivorträge ruhig kommen, ich habe tatsächlich Wolle und Stricknadeln mitgenommen und Kopfhörer, falls es mir zu gruselig wird und ich heimlich auf Musik umschalten möchte. Oder ich bleibe einfach in der Kabine und lümmele im Bett herum.
»Tschacka!«, sage ich triumphierend. Himmel, wann habe ich zum letzten Mal Zeit gehabt, etwas zu stricken? Oder am Stück ein Buch zu lesen, ohne dass jemand »Mama!« ruft, das Telefon klingelt oder ich gleich wieder losmuss?
Jetzt ist sie wirklich zum Greifen nah, unsere ungestörte Woche auf See, gespickt mit ein paar Landausflügen. Eine heilige Mädelswoche ohne Internet. Die lassen wir uns bestimmt nicht von Thorbens Zeitungsausschnitten über zwanzig Meter hohe Kaventzmänner vermiesen. Auch wenn Enna das zuerst wirklich für einen Scherz gehalten hat. Das mit dem Internet-Detox, meine ich.