Ein Sommer an deiner Seite - oder: Wenn es Liebe wird - Rosita Hoppe - E-Book
SONDERANGEBOT

Ein Sommer an deiner Seite - oder: Wenn es Liebe wird E-Book

Rosita Hoppe

0,0
4,99 €
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein gefühlvoller Roman über zweite Chancen und eine Liebe, die erst die Schatten der Vergangenheit überwinden muss. Ein Sommer wie jeder andere, denkt sich Felicitas, als sie, um das jährliche Sommerloch zu überbrücken, für das Hamelner Tageblatt einen Artikel über den Steinbildhauer Viktor Gabriel schreiben soll. Als sie zum ersten Mal durch den Garten voller Wildblumen zu dem roten Backsteinhaus mit grüner Tür geht, spürt sie jedoch, dass dieser Auftrag alles verändern könnte: Ein Blick aus Viktors klaren Bergseeaugen und Felicitas' Welt steht Kopf. Aber warum lebt der Steinbildhauer so zurückgezogen am Waldrand? Schmerzvolle Erinnerungen scheinen ihm jede Hoffnung auf die große Liebe genommen zu haben. Je näher Felicitas ihm kommt, desto mehr hat sie das Gefühl, sich im freien Fall zu befinden … Ein bewegender Liebesroman für Fans von Meike Werkmeister und Jojo Moyes.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 501

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Ein Sommer wie jeder andere, denkt sich Felicitas, als sie, um das jährliche Sommerloch zu überbrücken, für das Hamelner Tageblatt einen Artikel über den Steinbildhauer Viktor Gabriel schreiben soll. Als sie zum ersten Mal durch den Garten voller Wildblumen zu dem roten Backsteinhaus mit grüner Tür geht, spürt sie jedoch, dass dieser Auftrag alles verändern könnte: Ein Blick aus Viktors klaren Bergseeaugen und Felicitas' Welt steht Kopf. Aber warum lebt der Steinbildhauer so zurückgezogen am Waldrand? Schmerzvolle Erinnerungen scheinen ihm jede Hoffnung auf die große Liebe genommen zu haben. Je näher Felicitas ihm kommt, desto mehr hat sie das Gefühl, sich im freien Fall zu befinden …

Über die Autorin:

Rosita Hoppe ist in einem kleinen Ort unweit des Weserberglandes aufgewachsen und lebt noch heute dort. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Die gelernte Reisekauffrau entdeckte früh ihre Liebe zum Schreiben und war viele Jahre freie Mitarbeiterin ihrer heimischen Lokalzeitung. Auf Reisen findet sie Inspiration für ihre einfühlsamen und turbulenten Liebesromane – ganz besonders spiegelt sich darin ihre Begeisterung für das Meer und vor allem die Nordseeinseln wider. Seit 2009 ist Rosita Hoppe Mitglied bei DELIA, der Vereinigung deutschsprachiger Liebesromanautoren und -autorinnen.

Die Autorin im Internet:

www.rositahoppe.de/

www.facebook.com/rosita.hoppe

www.instagram.com/rositahoppe_autorin/

Bei dotbooks veröffentlichte Rosita Hoppe auch ihre Romane »Sommerträume auf der Insel«, »Die kleinen Boutique der Träume«, »Ein Inselsommer zum Verlieben« sowie ihren Romantik-Sammelband »Die Farben der Liebe«.

***

Überarbeitete eBook-Neuausgabe August 2024

Dieses Buch erschien bereits 2014 unter dem Titel »Wenn es Liebe wird« bei Bookshouse.

Copyright © der Originalausgabe 2014 at Bookshouse Ltd., Villa Niki, 8722 Pano Akourdaleia, Cyprus

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98952-230-5

***

dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Rosita Hoppe

Ein Sommer an deiner Seite

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Felicitas ließ ihren Blick über die quirlige Gruppe Drei- bis Fünfjähriger schweifen, die vor ihr auf dem Boden saß. Der Lärmpegel nahm immer größere Ausmaße an. Höchste Zeit, sich zu beeilen. Zügig stellte sie Blende und Belichtungsmesser ihrer digitalen Spiegelreflexkamera korrekt ein, um möglichst rasch genügend Aufnahmen im Kasten zu haben. In der hintersten Reihe wurden zwei Jungen unruhig und schubsten sich. Gruppenaufnahmen von Kindern stellten für alle Beteiligten eine besondere Herausforderung dar, das wusste sie aus Erfahrung. Also würde sie wieder zu ihrem Trick greifen müssen.

»Okay«, rief Felicitas in die Runde. »Ich mache jetzt ein paar Fotos von euch. Seht bitte alle zu mir und auf die Kamera. Diejenigen, die hinterher einen Keks von mir möchten, rufen jetzt cheese.Wer keine Kekse mag, darf ruhig Hasenohren machen oder Grimassen schneiden.«

Prompt zuckten vorwitzige Hände, die hinter den Köpfen zweier Mädchen Faxen machten, zurück. Die beiden Jungen aus der hinteren Reihe hörten auf, sich zu balgen, warfen sich aber noch böse Blicke zu. Felicitas verkniff sich ein Schmunzeln. Der Trick funktionierte immer. Noch nie hatte sie erlebt, dass eines der Kinder keine Belohnung bekommen wollte. Sie nickte der Kindergärtnerin Frau Baumgärtner zu, die laut »Cheeeeeeese!« anstimmte.

Unzählige Male ließ Felicitas die Kamera klicken. Zwischendurch ging sie vor den Kleinen in die Knie. Auch aus dieser Position schoss sie Fotos. Die Kinder wurden immer hibbeliger. Schließlich ließ sie die Kamera sinken. »Fertig.«

Lärmend stob die Gruppe auseinander. Lediglich einer der Jungen, den sie beim Streichespielen erwischt hatte, zupfte an ihrem Hosenbein. »Wann kriegen wir die Kekse?«

Felicitas beugte sich zu dem kleinen Kerl hinunter.

»Zuerst muss ich prüfen, ob die Aufnahmen okay sind.«

»Und du willst gucken, wer keinen Keks mag.«

»Genau.«

»Moritz, lass Frau Kleine bitte in Ruhe arbeiten«, mahnte die Betreuerin der kleinen Truppe.

Felicitas zog sich in eine ruhige Ecke zurück und prüfte die Aufnahmen auf dem Display der Kamera. Auf den ersten Blick schienen sie gelungen, aber sie wusste aus Erfahrung, dass sie erst am PC genau erkennen konnte, welche Fotos für einen Abdruck in der Zeitung brauchbar waren.

Sie liebte ihren Beruf als Redakteurin und konnte sich keinen abwechslungsreicheren Job vorstellen. Die Vielzahl der Themen, für die sie recherchierte und über die sie im Lokalteil des Hamelner Tageblatt berichtete, stellten sie vor immer neue Herausforderungen. Eine Gruppe von fünfundzwanzig Kindergartenkindern für ein paar Minuten zum Stillsitzen zu animieren, stachelte ihren Ehrgeiz ganz besonders an. Einen Augenblick sah sie den Kleinen beim Spielen zu. Sie schienen bereits vergessen zu haben, dass Felicitas ihnen eine Belohnung versprochen hatte und so erkundigte sie sich bei Frau Baumgärtner, wann diese das Austeilen der Kekse für richtig hielt.

»Sie wollen doch bestimmt möglichst schnell wieder los. Ich denke, wir erledigen das sofort.« Sie drehte sich zur Spielecke um. »Frau Kleine verteilt jetzt die Kekse.«

Aus der Tasche, die neben ihr auf dem Boden stand, zog Felicitas eine Packung Gebäck hervor. Noch bevor sie diese öffnen konnte, wurde sie fast umgerannt.

»Stopp«, rief Frau Baumgärtner. »Wir stellen uns wie immer zu zweit hintereinander auf. Kein Gedränge, sonst ist das Naschen gestrichen.« Das wirkte.

Wenig später lenkte Felicitas ihren roten Mini Cooper durch den Stadtverkehr in Richtung des Redaktionsgebäudes und stellte den Wagen kurz darauf auf dem firmeneigenen Parkplatz hinter dem Gebäude ab. Auf drei Etagen waren die Räume des Hamelner Tageblatts verteilt. Das Büro der Lokalredaktion befand sich im dritten Stockwerk. Während Felicitas die Stufen zu ihrem Arbeitsplatz hinaufstieg, entwickelte sie in Gedanken bereits den Text für die Reportage über das Jubiläum des städtischen Kindergartens.

»Hallo Siggi.« Sie winkte ihrem Kollegen zu, der an seinem Schreibtisch saß und in der aktuellen Ausgabe des Lokalteils las.

»Hallo Kleine.«

»Siggi!« Felicitas zog ihre Stirn kraus und warf ihm einen genervten Blick zu. Dass er es nicht lassen konnte, sie bei ihrem Nachnamen zu nennen. Er wusste doch, wie sehr sie darunter litt, so klein zu sein. Ihr Nachname erschien ihr schon, seit sie im Teenageralter bemerkt hatte, dass sie nicht mehr wachsen würde, wie ein Hohn.

»Ist ja schon gut. Hallo Felicitas.« Siegfried Freising grinste.

Dieses Wortgeplänkel hatte sich fast schon zu einem täglichen Ritual zwischen ihnen entwickelt. Felicitas stellte die Kameratasche auf ihrem Schreibtisch ab und zog den Reißverschluss auf. »Gibt’s was Wichtiges?«, fragte sie, während sie die Chipkarte aus der Kamera zog und in ihren Rechner steckte. Neugierig beobachtete sie, wie sich auf dem Bildschirm nach und nach die Fotos öffneten. Ungeduldig trommelte sie mit ihren Fingern auf der Maus herum und schob sich eine Haarsträhne, die ihr vor das rechte Auge rutschte, hinters Ohr zurück. Sie achtete gar nicht darauf, ob Siggi ihr antwortete. Warum brauchte der Rechner immer so lange? Endlich. Zügig traf sie ihre Auswahl und setzte gleich einen Text unter die Aufnahmen. Anschließend zog sie den Notizblock mit den Informationen vom Kindergarten aus ihrer Umhängetasche und begann mit der Ausarbeitung des Artikels.

»Gibt es noch irgendetwas Interessantes heute?«, fragte sie, ohne das Tippen zu unterbrechen.

»Nö, eigentlich nicht. Florian ist in der Stadt, einige Dinge besorgen«, berichtete Siggi. »Und der Chef hat einen Termin beim städtischen Finanzausschuss.«

»Stimmt, hatte ich ganz vergessen. Sonst nichts?«

»Bisher nicht. Ich bearbeite gerade die Ankündigung für das Sommerfest des Schützenvereins.«

»Ziemlich mau im Moment. Man merkt, es ist Urlaubszeit.«

In diesem Moment klingelte Siggis Telefon. Er griff zum Hörer und Felicitas vertiefte sich wieder in ihren Bericht.

»Felicitas, ich muss los. Ein Unfall, hier ganz in der Nähe.« Schon hatte Siggi seine Kamera in der Hand und eilte damit aus der Redaktion.

Auch gut. So konnte sie wenigstens ungestört arbeiten. Doch kurz darauf war es mit der Ruhe vorbei. Florian Römer kam mit schnellen Schritten hereingestürmt. In der Hand balancierte er ein Paket, das er auch gleich vor Felicitas abstellte.

»Hallo, du Schöne.« Er grinste Felicitas breit an. »Ich habe dir was mitgebracht.« Ihr Mitarbeiter öffnete das Papier, das Felicitas eindeutig als das Verpackungsmaterial der Eisdiele aus der Nachbarschaft erkannte.

»Florian, wie oft soll ich es dir noch sagen, nenn mich bei meinem Namen. Außerdem will ich nicht, dass du mir etwas mitbringst. Und du sollst nicht ständig etwas auf meinem Schreibtisch deponieren. Du hast einen eigenen.«

»Ich habe uns Eis mitgebracht. Ist ja schon vor dem Mittag mächtig heiß draußen.«

»Okay, das war ausnahmsweise mal eine gute Idee. Aber zu deinem Pech ist Siggi grad zu einem Termin gefahren.«

»Dann teilen wir beide uns Siggis Portion. Gemeinsam mit dir an einem Eis zu löffeln …« – er seufzte theatralisch – »… was kann schöner sein?«

»Florian, es reicht. Übertreib es nicht. Sonst landet dein Eis da, wo du es garantiert nicht haben willst.«

»Schon gut, beruhige dich.« Florian drückte Felicitas einen der Eisbecher in die Hand und reichte ihr einen Plastiklöffel dazu. »Lass es dir schmecken.«

»Danke. Nimm bitte das Paket mit zu dir rüber, damit ich weiterarbeiten kann.«

»Was soll ich denn jetzt mit Siggis Eis machen?«

»Selbst essen oder ins Eisfach stellen.«

»Gute Idee. Wenn ich dich nicht hätte.« Florian ging zu seinem Platz.

»Nun lass mich arbeiten. Das solltest du übrigens auch tun. Der Chef wird bestimmt bald hier sein.«

Felicitas war längst mit dem Bericht über den Kindergarten fertig, als Harald Kunert die Redaktion betrat. »Tag allerseits«, rief er in die Runde und eilte weiter in sein Büro, das hinter dem Redaktionsraum lag.

Wie kann der bei dem schwülen Wetter einen Anzug und Krawatte tragen, fragte sich Felicitas und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Aber sie kannte ihn nicht anders. Er erschien immer korrekt gekleidet am Arbeitsplatz. Durch die Glasfront, die das Büro des Chefs von ihrem abtrennte, beobachtete sie, wie Kunert sein Jackett auszog und über die Stuhllehne hängte, sich mit einem Taschentuch das Gesicht abtupfte und den Krawattenknoten ein wenig lockerte. Er war also doch aus Fleisch und Blut. Sie wollte nicht ungerecht sein, sie mochte ihren Chef. Er konnte zwar hart und unerbittlich sein, zeigte sich aber seinen Mitarbeitern gegenüber stets fair und hatte für deren Belange immer ein offenes Ohr.

Felicitas erhob sich und ging zum Büro ihres Chefs. Der hatte ihr Kommen bereits bemerkt und winkte sie herein.

»Was gibt es, Frau Kleine?«

»Was stehen heute noch für Termine an? In meinem Plan ist nichts eingetragen.«

»Sie haben recht, Saure-Gurken-Zeit. Alles ist in Urlaub. Wo ist eigentlich der Freising?«

»Unfall.«

»Wenn er wieder zurück ist, will ich mit Ihnen allen etwas besprechen. Ich habe so einige Ideen, wie wir das Sommerloch füllen können.«

Felicitas nickte, verließ das Büro und informierte Florian über die anstehende Besprechung.

Eine gute Stunde später stand Kunert plötzlich vor Felicitas Schreibtisch. »Ist der Freising immer noch nicht da?«

»Tut mir leid, gemeldet hat er sich auch noch nicht.«

»Vielleicht bringt er ja was als Aufhänger. Fahren Sie doch mal ins Südbad, ein paar Fotos schießen.« Kunert wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Bei der Hitze ist da bestimmt was los.«

»Kann das nicht Florian machen? Schließlich muss er irgendwann mal allein los.« Felicitas senkte die Stimme. »Und ein paar Fotos im Schwimmbad traue ich ihm gerade noch zu. Auch als Praktikant müsste er selbst einen Auftrag auf die Reihe kriegen.«

»Okay, versuchen wir es. Da kann er nicht so viel falsch machen, außer vielleicht ins Wasser zu stolpern.«

Felicitas stöhnte auf. Die Sache mit Florian wurde wirklich langsam lästig. Er war so ungeschickt. Vor einigen Tagen erst hatte er doch tatsächlich so lange an seiner Kamera herumgefummelt, bis er die Fotos von einem Termin am Vorabend gelöscht hatte. Natürlich ohne sie vorher auf dem PC abgespeichert zu haben. Wieder einmal war sie es gewesen, die ihm aus der Patsche geholfen hatte. Sie war mit ihm zu dem Ehepaar gefahren, über deren diamantene Hochzeit er berichten sollte. Sie mussten neue Fotos von dem Jubelpaar knipsen und Florian hatte sich mit hochrotem Kopf für die Unannehmlichkeit entschuldigt.

»Herr Römer!«, rief der Chef quer durch den Redaktionsraum.

»Ja, Chef?« Florian schoss aus seinem Bürostuhl empor und Felicitas erwartete fast, dass er salutierte. Sie verkniff sich ein Kichern.

»Sie dürfen ins Schwimmbad.«

»Ich hab aber keine Badehose dabei.«

»Römer, Sie sollen auch nicht schwimmen gehen, sondern die Badegäste fotografieren.«

Florians Gesicht lief puterrot an. »Klar, Chef.«

»Lebendige Fotos will ich, Kinder und Erwachsene, die planschen, einen Kopfsprung machen … Sie wissen schon.«

»Klar, Chef. Kein Problem.«

»Hoffen wir es«, murmelte Kunert, drehte sich um und eilte in sein Büro zurück.

Eifrig schnappte sich Florian seine handliche Kompaktkamera und schob sie in die Hosentasche. Einen kleinen Block samt Kuli steckte er in die Brusttasche seines Hemdes. Schon kam er auf Felicitas zu, stützte sich auf ihrem Schreibtisch ab und beugte sich zu ihr herüber. Er räusperte sich.

»Felicitas, ich habe da eine Idee. Ich könnte schnell nach Hause fahren und eine Badehose holen. Dann kann ich ins Wasser steigen und bestimmt supercoole Fotos schießen.«

»Ich kann ja verstehen, dass du die Gelegenheit für eine Abkühlung nutzen willst. Verkneif es dir lieber. Du könntest deine Kamera versenken oder gar ertrinken. Uns reichen Aufnahmen vom Rand aus. Allerdings solltest du in die Hocke gehen oder dich an den Rand setzen. Du weißt, die richtige Perspektive …«

»Ja, ja, alles klar. Bis später.«

Seufzend sah ihm Felicitas nach. Das würde später bestimmt wieder eine Menge Arbeit bedeuten. Florian hatte eindeutig keinen Instinkt dafür, wie er Menschen oder Objekte in Szene setzen konnte. Mit den Texten hatte er ebenfalls seine Probleme. Sie hatte sich schon mit Siggi darüber unterhalten und auch er war der Meinung, die Arbeit bei einer Zeitung sei absolut nichts für Florian. Glücklicherweise endete seine Praktikumszeit in knapp drei Monaten. Doch bis dahin hatten sie noch einiges auszubügeln, was Florian garantiert noch in den Sand setzen würde.

Kurz nachdem Florian in Richtung Freibad verschwunden war, erschien Siggi in der Redaktion.

»Mannomann. War ganz schön heftig. Jetzt brauch ich erst mal einen starken Kaffee.« Er deponierte die Kameratasche auf seinem Schreibtisch, nahm seinen Kaffeebecher und ging zur winzigen Küchenzeile hinter dem Redaktionsraum. Er goss sich den letzten Rest des braunen Gebräus ein, das seit Stunden in der Glaskanne der Kaffeemaschine auf ihn wartete. Angeekelt verzog er sein Gesicht und schüttete den Kaffee in das Spülbecken. »Das Gesöff kann ja keiner mehr trinken.«

»Wie kannst du an so einem Tag überhaupt etwas Heißes trinken?«, fragte Felicitas von ihrem Platz aus.

»Ohne Kaffee bin ich zu nichts zu gebrauchen, das weißt du doch.«

»Dann trink ihn halt kalt, vielleicht mit einer Kugel Eis. Apropos Eis. Da steht eine Portion für dich im Eisfach. Hat Florian vorhin mitgebracht.«

»Danke, im Moment nicht. Ich muss erstmal den Unfall verdauen.« Siggi hantierte mit einer Filtertüte, häufte Kaffeepulver hinein, goss Wasser in die Maschine und drückte auf den Startknopf. Dann kam er auf Felicitas zu und setzte sich auf die Ecke ihres Schreibtisches. »Da ist einer auf abschüssiger Straße gegen eine Hauswand geknallt. Ohne zu bremsen. Er muss ein ziemliches Tempo drauf gehabt haben. Er war sofort tot.«

»Selbstmord?«

»Keine Ahnung. Könnte sein. Oder die Bremsen haben versagt. Er fuhr einen alten klapprigen Kleinwagen. War auch kein Airbag drin. Du glaubst nicht, wie der Wagen jetzt aussieht. Er hat keine Schnauze mehr. Ist zusammengeschoben bis zu den Vordersitzen. Der Fahrer hatte echt keine Chance.« Siggi atmete tief durch. »Eingeklemmt war er, die Feuerwehr musste ihn herausschneiden. Ich habe das noch gesehen, konnte auch noch ein paar Fotos davon schießen, bevor mich die Bullen weggescheucht haben.«

»Wie alt war er? Weißt du, wer er ist?«

»Sie wussten noch nicht, ob der Fahrer auch der Wageninhaber ist. Er schien keine Papiere dabei gehabt zu haben. Der Fahrzeugschein lag im Handschuhfach. Kölner Kennzeichen. Vielleicht ein Geschäftsmann.«

»Ich glaube kaum, dass ein Geschäftsmann einen klapprigen Wagen fährt.«

»Da könntest du recht haben. Wir werden sehen, was die Ermittlungen ergeben.« Er rutschte vom Schreibtisch. »Muss sehen, dass ich das in den PC kriege.« Er öffnete seine Tasche, zog die Speicherkarte aus seiner Kamera und steckte sie in den Rechner. Noch ein Blick auf den Bildschirm, um zu kontrollieren, ob alles funktionierte, dann schlurfte Siggi in die Küchenecke, um sich den frisch aufgebrühten Kaffee in seinen Becher zu gießen. Auf dem Weg zurück zu seinem Arbeitsplatz nahm er einen großen Schluck. »Endlich! Das baut mich wieder auf.« Er setzte sich und vertiefte sich in die Bilder vor ihm.

Felicitas’ Gedanken überschlugen sich. Was, wenn es kein Selbstmord und kein technisches Versagen war? Vielleicht hatte jemand die Bremsen manipuliert. Sie sprang auf, der Bürostuhl landete mit Schwung am Regal hinter ihr. »Siggi! Was, wenn da jemand nachgeholfen hat? Dann war es Mord.«

Siggi sah auf. »Feli, die Fantasie geht schon wieder mit dir durch. Gab’s gestern wieder einen Tatort? Oder hast du einen deiner Thriller gelesen?«

Mit einer Handbewegung wischte Felicitas Siggis Bemerkung fort. »Überleg doch mal …«

»Das ist nicht unser Bier. Wenn bei dem Unfall etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein sollte, wird die Polizei das schon herausfinden. Das ist nämlich ihr Job.«

»Erinnerst du dich an den Fall mit der Pilzvergiftung? Da hattest du auch gemeint, vielleicht wären die Pilze nicht mehr ganz frisch gewesen. Und dann fanden sie heraus, dass giftige dazwischen waren.«

»Aber es war nicht festzustellen, ob die Dame, die sie gesammelt hatte, versehentlich ein paar falsche erwischt oder ob ihr jemand giftige Exemplare untergemischt hatte. Sie konnte doch nach ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen werden.«

»Und dann die Sache mit dem Bootsunfall im vergangenen Sommer …«

»Feli, du hättest zur Kripo gehen sollen. Da wärst du immer am Geschehen und bräuchtest nicht so viele Krimis lesen.«

Felicitas stemmte ihre Hände in die Hüften und baute sich vor Siggis Schreibtisch auf. »Wozu sind wir eigentlich da? Doch nicht nur, um über irgendwelche Jubiläen oder Kleingartenfeste zu schreiben. Recherche, mein Lieber, hinter die offensichtlichen Dinge blicken, das ist unsere Aufgabe.«

»Gut so, machen Sie ihm ruhig ein wenig Dampf. Er kann das ab und an gebrauchen.«

Auweia. Sie hatte den Chef gar nicht kommen hören und an Siggis roten Ohren erkannte sie, wie peinlich es ihm sein musste, dass sein Vorgesetzter die kleine Standpauke mitbekommen hatte. Erschrocken biss sich Felicitas auf die Lippen und drehte sich um.

»Sie brauchen beide nicht gleich in Panik geraten. Ein paar deutliche Worte haben noch niemandem geschadet. Aber deswegen bin ich nicht hier. Was war los bei dem Unfall, Herr Freising?«

Siggi erklärte in wenigen Worten, was er herausgefunden hatte, und zeigte seinem Chef die Aufnahme, die er für den Artikel ausgesucht hatte.

»Gut, machen Sie was draus. Wir treffen uns in einer halben Stunde in meinem Büro. Wäre gut, wenn Sie bis dahin alles im Kasten haben.«

»Geht in Ordnung, Herr Kunert.«

»Wir starten eine Serie über Künstler in unserer Region«, informierte Kunert seine Mitarbeiter kurze Zeit später.

»An welche Kunstrichtung haben Sie dabei gedacht?«, fragte Siggi.

»An alle. Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Musiker. Sehen Sie im Archiv nach, über wen wir schon mal berichtet haben. Fragen Sie beim Kunst- und Kulturverein, welche Ausstellungen in naher Zukunft geplant sind. Statten Sie dem nächsten Floh- oder Kunsthandwerkermarkt einen Besuch ab.«

Felicitas nickte. »Das ist genau mein Ding. Ich habe da auch schon ein paar Ideen. Darf ich das machen?«

»Teilen Sie sich die Termine auf. Sie können beide daran arbeiten. Je nachdem, was sonst so ansteht.«

»Ich weiß, dass im Moment eine Ausstellung mit Aquarellen läuft. Den Namen der Malerin finde ich ganz schnell heraus.«

»In Ordnung. Fangen wir mit ihr an. Ich will Motive von ihren Arbeiten, natürlich auch eines, während sie an einem ihrer Bilder malt. Sie wissen schon. Und selbstverständlich alles über ihren Werdegang.«

»Natürlich, Herr Kunert.« Felicitas erhob sich von ihrem Platz. »Am besten fange ich gleich an.«

Kapitel 2

Wie Felicitas vom Kunstverein, der die Ausstellung in den eigenen Räumen präsentierte, erfuhr, war besagte Malerin aufgrund einer akuten Blinddarmentzündung wenige Tage zuvor operiert worden. Natascha Scherwinsky lag noch im Krankenhaus. Gezwungenermaßen verschob Felicitas diese Reportage. Sie suchte im Archiv nach möglichem Ersatz. Ihre Wahl fiel auf Viktor Gabriel, einen Steinbildhauer. Über seine Arbeiten fand sie in einem Artikel des jüngsten Kunsthandwerkermarktes eine Notiz und erfuhr dabei auch, dass er sein Domizil in einem kleinen Ort in der Nähe hatte.

Vergeblich suchte sie im Telefonbuch nach seiner Adresse und Telefonnummer. Auch im Internet fand sie keinen Eintrag. Merkwürdig. Felicitas ging davon aus, dass dieser Bildhauer seine Kunstwerke verkaufen wollte. Weshalb sonst wäre er in dem Bericht vom Kunsthandwerkermarkt erwähnt worden? Felicitas’ Neugier war geweckt.

Noch einmal durchforstete sie das Internet nach einer Notiz über diesen Gabriel. Nichts. Also würde sie diesem Herrn einen unangekündigten Besuch abstatten. Sie entschied, ihr Vorhaben gleich am nächsten Vormittag umzusetzen. In dem kleinen Ort, kurz hinter Hameln, würde sie ihn schon finden, davon war sie überzeugt. Sie informierte sowohl Siggi als auch ihren Chef über ihr Vorhaben.

»Haben Sie noch etwas Dringendes auf dem Schreibtisch?«, fragte Kunert.

Felicitas verneinte.

»Gut, dann nehmen Sie sich den Rest des Nachmittags frei. Die Zeit ist günstig zum Abbummeln von Überstunden.«

»Ja, aber Florian …«

»Kein Problem, das machen wir schon, nicht wahr, Herr Freising?«

Siggi nickte. »Was willst du mit dem angebrochenen Tag anfangen, Feli? Vielleicht ins Schwimmbad gehen?«

»Gott bewahre. Wenn ich schon mal freihabe, dann will ich bestimmt nicht Florian über den Weg laufen.« Sie räumte zügig ihren Schreibtisch auf, fuhr den Rechner herunter und stellte den Bildschirm aus. Sie winkte ihrem Kollegen zum Abschied zu und verließ mit Kamera- und Umhängetasche über der Schulter das Büro.

Was nun? Ein spontaner Stadtbummel wäre nicht schlecht. Durch eine kleine Gasse gelangte sie von der Redaktion zur Osterstraße, eine der beiden Hauptstraßen der Fußgängerzone. Vor der Auslage einer kleinen Boutique blieb sie stehen. Tolle Sachen, aber eindeutig nicht ihre Preislage, fand sie und schlenderte weiter. Sie hob ihren Blick zu der Häuserfront empor und freute sich wieder einmal über die üppig verzierten Fassaden. Die meisten der Häuserfronten waren im Stil der Weserrenaissance des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts erbaut worden und bestanden vorwiegend aus Fachwerk oder Weser-Sandstein. Felicitas wusste auch, dass das Gestein aus den Steinbrüchen in Obernkirchen stammte. Der Sandstein von dort war berühmt. Wenn sie genügend Zeit erübrigen konnte, sah sie sich gern die Häusergiebel an und entdeckte jedes Mal etwas Neues. Töne aus einer Flöte, ganz in der Nähe, rissen sie aus ihren Betrachtungen. Das war doch … Tatsächlich! Der Rattenfänger, beziehungsweise der junge Mann, der in dieser Saison die Hamelner Sagengestalt verkörperte und Touristen in der Stadt herumführte, lief musizierend an ihr vorüber. Ihm folgte eine beträchtliche Schar Touristen. Er nickte ihr zu, ohne sein Flötenspiel zu unterbrechen. Felicitas winkte. Sie kannte ihn von diversen Presseterminen. In einigem Abstand folgte sie der Gruppe, die jetzt vor dem Hochzeitshaus, genauer gesagt vor der Front mit dem Glockenspiel, stehenblieb. Felicitas wandte den Blick den Auslagen des Geschäfts neben ihr zu. Dann bog sie nach links in die Bäckerstraße ein. Magisch zogen sie die Büchertische vor der nächsten Buchhandlung an. Sie liebte es, hier zu stöbern, verschiedene Bücher in die Hand zu nehmen und erst einmal den Klappentext zu lesen. Wie oft schon hatte sie in den Büchern geblättert und die eine oder andere Textstelle gelesen. So gut wie nie verließ sie das Geschäft, ohne wenigstens ein Buch gekauft zu haben. Kurzerhand nahm sie einen Ostfriesenkrimi einer ihr unbekannten Autorin in die Hand. Der Klappentext hörte sich vielversprechend an, und da in ihrem Bücherregal kein ungelesenes Buch stand, entschied sie sich, den Krimi zu kaufen. Kriminalgeschichten hatten es ihr besonders angetan und sie freute sich schon darauf, in Gedanken mit den ermittelnden Kommissaren zu wetteifern, wer von ihnen als Erstes den Täter entlarvte. Im Geschäft nebenan durchstöberte sie einen Ständer mit T-Shirts und erstand noch zwei Oberteile. Auweia. Wenn das so weiterging, würde es ein kostspieliger Nachmittag werden. Besser wäre es, sie würde sich schleunigst auf den Heimweg machen. Allerdings kam sie nur bis zu ihrem Lieblingseiscafé, das fast am Ende der Fußgängerzone lag. Noch schnell ein Eis auf die Hand. Während sie sich ans Ende der beträchtlich langen Schlange stellte, entschied sich Felicitas anders. Warum nicht hier bleiben? Schließlich hatte sie nichts mehr vor. Unter einem Sonnenschirm nahm sie Platz und bestellte sich einen großen Früchtebecher mit Sahne. Während sie genüsslich ihr Eis löffelte, begann sie, in dem neuen Buch zu lesen.

»Hallo Feli, was machst du denn hier?«

Zögernd blickte Felicitas von ihrem Buch auf, obwohl sie die Stimme sofort erkannt hatte. Ausgerechnet jetzt, wo der erste Mord passierte.

»Chrissi!« Beim Anblick ihrer besten Freundin klappte Felicitas das Buch zu. »Musst du nicht arbeiten?«

Chrissi setzte sich und winkte die Bedienung heran. »Einen Cappuccino, bitte.« Dann wandte sie sich wieder an Felicitas. »Ich bin auf dem Weg ins Hotel, hab mit einer Kollegin getauscht und ihre Spätschicht übernommen.« Sie schmunzelte. »Aber ein Viertelstündchen kann ich noch abknapsen, wo ich dich gerade treffe. Nun erzähl schon, was ist mit dir?«

»Mein Chef entschied, heute sei eine gute Gelegenheit zum Überstunden abbummeln.«

»Schade. Wenn ich gewusst hätte, dass du freihast, dann hätte ich nicht getauscht. Mit dir bummeln zu gehen wäre mir bedeutend lieber.«

»Kann ich mir vorstellen.« Felicitas lachte. »Aber unseren Konten zuliebe sollten wir in nächster Zeit keinen Einkaufsbummel machen.«

»Da hast du wahrscheinlich recht. Aber wie es aussieht, bist du mal wieder schwach geworden.« Chrissi betrachtete grinsend die Einkaufstüten, die auf dem Stuhl neben ihr lagen, als die Bedienung den Cappuccino brachte.

»Ich zahl gleich«, sagte Felicitas und holte ihr Portemonnaie heraus.

»Was hast du denn noch vor?«

Felicitas zuckte die Schultern. »Weiß noch nicht. Erst mal nach Hause. Vielleicht lesen und am Abend noch ein wenig Sport.«

»Sport bei der Hitze?«

Felicitas rollte mit den Augen. »Dann schwitze ich mir wenigstens das riesige Eis aus.« Sie seufzte. »Warum bleib ich immer wieder hier hängen? Dabei gab es vorhin in der Redaktion schon ein Eis.«

»Du bist und bleibst halt ein Leckermäulchen.« Chrissi zwinkerte ihrer Freundin zu und leckte sich den Cappuccinoschaum von den Lippen.

»Ja, eines, das bald aussehen wird wie eine zu kurz geratene Litfaßsäule.«

»Nun übertreib nicht. Erstens bist du nicht zu dick und zweitens sollst du nicht immer sagen, du wärst zu kurz geraten.«

»Bin ich doch aber.«

Chrissi fasste über den Tisch hinweg nach Felicitas’ Hand. »Es muss auch kleine Leute geben. Außerdem kommt wahre Größe von innen heraus.«

»Du hast gut reden. Mit deinen eins fünfundsiebzig hast du natürlich keine Probleme. Weder beim Einkaufen, bei den Klamotten noch bei Männern. Ich muss ständig meine Sachen kürzen lassen und ans obere Regal im Supermarkt komme ich auch nicht dran. Weißt du eigentlich, wie peinlich es ist, andere Leute zu bitten, mir was aus dem Regal zu reichen?«

»O Feli, du und dein Größenkomplex. Vermutlich glaubst du auch noch, deshalb keinen Mann zu finden.«

Seufzend schob sich Felicitas eine letzte Erdbeere, die sie auf dem Grund des Eisbechers fand, in den Mund. »Stimmt doch auch.«

»Du hast einen Knall, Frau Kleine!«

»Siehst du, schon mein Name ist Programm.«

Chrissi lachte und warf gleichzeitig einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Schade, ich muss jetzt los.« Sie erhob sich und umarmte ihre Freundin. »Ich würde dir gern noch ein wenig deine Komplexe austreiben. Aber wenn ich mich nicht spute, krieg ich wieder einen Anpfiff. Mach’s gut. Ich ruf dich morgen Abend an.«

Felicitas sah ihrer Freundin hinterher. Sie kannten sich schon seit dem Kindergarten und waren auf die gleiche Schule gegangen. Chrissi war eigentlich in jeder Lebenslage ein Schatz und immer hilfsbereit. Nur manchmal nervte sie – so wie gerade eben.

Entschlossen erhob sich Felicitas, verstaute ihr Buch in einer der Einkaufstüten und beeilte sich, zu ihrem Wagen zu kommen, der noch immer auf dem Parkplatz hinter dem Pressegebäude stand. Eigentlich hätte Felicitas zu Fuß nach Hause gehen können, der Weg aus der Innenstadt dauerte nur knapp fünfzehn Minuten, aber da sie für ihre Arbeit stets mobil sein musste, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit dem Wagen zur Arbeit zu fahren.

Ihren Vorsatz, am Abend noch etwas Gutes für ihre Figur zu tun, verschob Felicitas. Zu spannend waren die Geschehnisse im neuen Roman. Als sie dort über einen Unfall las, bei dem die Bremsleitungen durchgeschnitten worden waren, fiel ihr Siggis Bericht vom Nachmittag wieder ein. Im Buch ging es um die Machenschaften der italienischen Mafia und um Schutzgeldforderungen. Felicitas zog grübelnd die Augenbrauen zusammen. Es könnte doch durchaus möglich sein, dass der Auslöser des Autounfalls in Hameln ebenfalls die Handschrift der Mafia trug.Auf jeden Fall wollte sie Siggi darauf aufmerksam machen. Er musste einfach in der Richtung noch mal recherchieren. Die Mafia oder was auch immer für Ganoven in ihrem beschaulichen Städtchen? Das wäre nicht auszudenken.

Am frühen Morgen machte sich Felicitas bei strahlendem Sonnenschein auf den Weg in das kleine Dorf, das wenige Kilometer hinter Hameln idyllisch am Rande eines Waldes lag, und in dem Viktor Gabriel wohnen sollte. Gleich am Ortseingang entdeckte sie einen Bäckerladen, vor dem sie anhielt. Dort fragte sie nach der Adresse des Bildhauers und kaufte sich bei der Gelegenheit ein belegtes Brötchen.

»Hinter dem Ort, dicht am Waldrand müsste er wohnen«, sagte die Bäckereiverkäuferin. »Dort liegt ein großes Grundstück mit einem alten Backsteinhaus darauf. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dort bei einem Spaziergang allerlei Skulpturen stehen sehen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ganz sicher bin ich mir aber nicht. Ich wohne nämlich nicht hier.«

Felicitas legte das Geld auf den Tresen und nahm ihre Brötchentüte entgegen. »Vielen Dank, ich werde es schon finden.«

Ihren Proviant verstaute sie in einer kleinen Kühltasche, die sie sich erst vor einigen Tagen gekauft hatte. Sie nahm stets eine Flasche Mineralwasser mit, wenn sie unterwegs war, und in diesem heißen Sommer erwies sich die Kühltasche als wahrer Glücksgriff – vorausgesetzt, man vergaß die Kühlakkus nicht. Darauf, ebenso wie auf genaueste Recherchen bei ihrer Arbeit, achtete Felicitas.

Vom Parkplatz vor dem Bäckerladen aus konnte Felicitas den Wald bereits sehen. Sie startete den Wagen und fuhr langsam die Hauptstraße entlang. An der nächsten Biegung führte die Straße vom Wald weg, doch kurz darauf fand Felicitas eine Abzweigung, die zum Wald zu führen schien. Sie setzte den Blinker und bog nach links ab. Im Schritttempo fuhr sie weiter. Nach einigen Häusern lagen nur noch Wiesen und Gärten beidseitig der Straße. War sie hier überhaupt richtig? Felicitas entschied, bis zum Waldrand weiterzufahren und sich dort umzusehen. Rechts säumte jetzt eine Hecke die Fahrbahn. Kurz darauf sah sie ein Tor, hielt an und stieg aus. Vergeblich suchte sie nach einem Hinweisschild. Sie legte schützend ihre Hand vor die Augen, damit die Sonne sie nicht blendete, und drehte sich langsam um die eigene Achse. Was sie sah, gefiel ihr. Sie liebte die ländliche Umgebung von Hameln. Von hier aus konnte sie sogar die Silhouette der Stadt erkennen und die Weser, die sich, in der Sonne glitzernd, ihren Weg durch Wiesen, Felder und Dörfer bahnte.

»Herrlich«, flüsterte sie. Schweren Herzens wandte sie sich ab, schließlich hatte sie einen Job zu erledigen. Den wollte sie gewissenhaft ausführen. Entschlossen schob sie die eine Haarsträhne, die sich immer wieder selbstständig machte, zurück, drückte die Klinke am Tor hinunter und trat auf einen schmalen Pfad. Nach einigen Schritten entdeckte sie auf der Wiese, die sich linker Hand befand, einen Findling im Gras. Verschiedene Wildblumen wuchsen rund um ihn herum und verströmten einen betörenden Duft. Felicitas blieb stehen und atmete tief ein. Herrlich! So riecht der Sommer. Schließlich riss sie sich los und setzte ihren Weg fort. Der Pfad bog um eine Baumgruppe herum nach links. In ihrem Blickfeld erschien ein kleines Haus aus rotem Backstein. Es schien schon recht alt zu sein. Die grün gestrichene Tür in der Mitte der Vorderfront fiel Felicitas sofort auf. Rechts und links davon gab es je zwei kleine Sprossenfenster, die Rahmen weiß lackiert. Hinter der Hausecke lugte ein Holzschuppen hervor. Am meisten interessierte Felicitas eine Gruppe aus Stein gefertigter Eulen, die größte vielleicht einen halben Meter hoch, die neben der Haustür stand. Sie trat näher heran und betastete eines der steinernen Tiere. Erstaunlich, wie exakt und filigran der Künstler jede Kontur, fast jede einzelne Feder, herausgearbeitet hatte. Das Material fühlte sich ein wenig rau, aber durchaus angenehm an. Aus ihrer Fototasche zog sie die Kamera hervor, ging vor der Eulenfamilie auf die Knie, stellte den Apparat ein und machte einige Aufnahmen. Zufrieden erhob sie sich wieder und suchte nach einem Namensschild neben der Klingel. Sie fand keines. Entschlossen drückte sie auf den Klingelknopf. Niemand öffnete und sie hörte auch kein Geräusch aus dem Innern des Hauses. Sie versuchte es noch einmal. Nichts. Vielleicht hielt er sich hinter dem Haus auf. Sie eilte an der Hausfront entlang und kam, als sie um die Ecke bog, auf einen unbefestigten Platz. Die Mitte nahm ein großer Sandsteinquader ein. An diesem Block war eindeutig gearbeitet worden. Sie trat näher und fühlte über die Rillen und Unebenheiten, die irgendwann einmal eine Figur ergeben würden. Noch konnte sie nicht erkennen, was aus diesem mächtigen Stein werden sollte. Werkzeuge, die sie als verschieden dicke Hämmer und Meißel deutete, lagen am Boden.

Sie trat einige Schritte zurück und ließ ihren Blick über den Platz schweifen. Mehrere kleinere Felsbrocken aus dem gleichen Material lagen verstreut herum. Hatte sie hier den Arbeitsplatz von Viktor Gabriel gefunden? Felicitas vermutete es, obwohl der Künstler nicht zu sehen war. Neugierig blickte sie sich auf dem Hof um. In der einen Ecke lagerten Sandsteinblöcke in den unterschiedlichsten Größen. Sie sah Vogeltränken, dekoriert mit Vögeln oder Fröschen, und verzierte Steinplatten. All diese Gegenstände fotografierte sie. Dann entsann sie sich, dass sie ja den Künstler sprechen wollte. Neben dem Schuppen stand ein alter Transporter. Er sah schon ziemlich verbeult aus und einige rostige Stellen überzogen den hellgrauen Lack.

»Hallo«, rief sie. »Hallo, Herr Gabriel!«

Niemand antwortete.

Auch im Schuppen fand sie ihn nicht und nicht auf der Wiese, die sich hinter dem Schuppen ausbreitete und bis zum Waldrand zu reichen schien.

Augenscheinlich war sie umsonst hergekommen. Was nun? Bleiben und warten, bis er auftauchte? Oder unverrichteter Dinge zur Redaktion fahren? Sie zog das Handy aus der Tasche und rief ihren Chef an.

»Bleiben Sie ruhig noch ein Weilchen«, riet er ihr. »Vielleicht taucht er gleich wieder auf. Sie könnten ja inzwischen einiges fotografieren.«

»Schon erledigt.«

»Wenn Sie ihn in der nächsten Viertelstunde nicht antreffen, kommen Sie zurück.«

Felicitas ließ sich auf der kleinen Holzbank nieder, die im Schatten des Hauses unter einem der Sprossenfenster stand. Auf dem Display der Kamera überprüfte sie die eben gemachten Aufnahmen. Sie wischte sich über die Stirn. Ganz schön heiß, selbst hier im Schatten. Durstig war sie auch, aber ihr Getränk steckte in der Kühltasche und die stand im Auto. In der prallen Sonne zurücklaufen und die Flasche holen mochte sie auch nicht. Sie schob den Fotoapparat in die Tasche zurück und erhob sich. Ob sie mal durchs Fenster … Schon kniete sie sich auf die Sitzfläche der Gartenbank und lugte durch eines der Fenster ins Innere des Hauses. Viel konnte sie nicht erkennen, lediglich eine schlichte weiße Küchenzeile. Davor stand ein kleiner runder Tisch mit drei Stühlen. Der Inhaber dieses Hauses schien nicht besonders auf Ordnung zu achten. Eine Tasse und ein Teller, auf dem Besteck lag, standen auf dem Tisch, auf dem Herd einige Töpfe. Felicitas rümpfte die Nase. Ihr würde es nie passieren, dass sie aus dem Haus ging, ohne in der Küche aufgeräumt und abgewaschen zu haben. Sie hasste es, wenn sie abends nach Hause kam und als Erstes das schmutzige Geschirr vom Frühstück vorfand. Der Typ schien sowohl seine Wohnung wie auch seinen Arbeitsplatz gern unaufgeräumt zu hinterlassen. Sie war neugierig, wie Viktor Gabriel aussah und was für einen Eindruck sein Äußeres auf sie machen würde. Der Eindruck, den sie im Moment von ihm bekam, war nicht gerade der Allerbeste. Obwohl ihr die Arbeiten, die sie bisher von ihm gesehen hatte, gefielen.

Nachdem sie noch einige Minuten ausgeharrt hatte, entschloss sie sich, zur Redaktion zu fahren. Sie schrieb ihren Namen, die Telefonnummer der Redaktion und den Grund für ihren Besuch auf ihren Notizblock mit der Bitte um einen Anruf. Den Zettel deponierte sie vor den Steinquader auf dem Boden. Vorsichtshalber legte sie den dicken Hammer darauf, damit ihre Notiz nicht davonwehen konnte. Sie war sich sicher, dass Viktor Gabriel ihre Nachricht nicht übersehen konnte.

Heiße Luft strömte ihr entgegen, als Felicitas die Autotür öffnete. Rasch kurbelte sie die Fenster der Fahrer- und der Beifahrerseite herunter, um für etwas Durchzug zu sorgen. Glücklicherweise hatten die Akkus der Kühltasche ihr Wasser kühl gehalten und sie trank fast die ganze Flasche auf einmal aus. Dann setzte sie sich hinter das Lenkrad und startete den Wagen.

Viktor Gabriel runzelte die Stirn, als er aus dem Dickicht des Waldes trat und einen roten Kleinwagen vor der Einfahrt zu seinem Grundstück stehen sah. Eine zierliche Person mit wilder Mähne, eindeutig eine Frau, setzte gerade eine Flasche an ihre Lippen. Schon wieder jemand, der seine Einfahrt als Parkplatz nutzte. Na, der würde er was erzählen. Doch bevor er nah genug an den Wagen herankam, stieg die Person ein und fuhr los. Auch gut. Das ersparte ihm lästige Diskussionen. Er hatte sich ohnehin genug andere Dinge vorgenommen und beeilte sich, an seine Arbeit zu kommen. Doch ein Waldspaziergang am Morgen, wie er ihn gerade hinter sich hatte, war in den vergangenen Jahren zu einem täglichen Ritual geworden und er spürte jedes Mal, wie der Wald ihn geradezu inspirierte.

Viktor trat durch die Eingangstür seines Hauses und schwenkte nach links in die kleine Küche. Mit einer schnellen Handbewegung verscheuchte er ein paar Fliegen, die auf dem Teller saßen, den er zum Frühstück benutzt hatte, und der noch immer auf dem Tisch stand. Er hasste das Abwaschen, hielt es bei den hohen Temperaturen jedoch für ratsam, sein Geschirr zu säubern, bevor es noch mehr Ungeziefer ins Haus lockte. Eilig spülte er die benutzten Teile unter fließendem Wasser ab und ließ sie zum Trocknen auf der Ablage neben dem Spülbecken liegen. Mit einer Flasche Mineralwasser verließ er kurz darauf das Haus und eilte in Richtung Hof. Er schob sich die Schutzbrille, die er, wenn er seine Arbeit unterbrach, in der Brusttasche seines Overalls aufbewahrte, auf die Nase und zog sich die ledernen Arbeitshandschuhe über, die er vor etwa einer Stunde auf dem Steinquader abgelegt hatte. Viktor Gabriel hatte schon am frühen Morgen, so gegen sieben Uhr, begonnen, den Stein zu bearbeiten. Er konnte selten länger als fünf, sechs Stunden schlafen und war meist schon beim ersten Vogelgezwitscher wach. Jeden Morgen musste er sich zügeln, nicht sofort aufzustehen und an die Arbeit zu gehen. Seit ihn jemand aus dem Dorf wegen Ruhestörung angezeigt hatte, hielt er sich zurück. Bevor ihm die Anzeige ins Haus geflattert war, hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, ob ihn jemand hören könnte, wenn er mit Hammer und Meißel seine Steine bearbeitete. Das nächste Haus am Dorfrand lag mindestens dreihundert Meter entfernt. Er konnte sich kaum vorstellen, dass man ihn dort hörte. Letztlich hatte er sich eines Besseren belehren lassen müssen.

Erst, als er sich bückte, um sein Werkzeug zu greifen, entdeckte er den Bogen Papier auf dem Boden. Er zog seine rechte Augenbraue empor und zog das Papier unter dem Vorschlaghammer hervor.

Lieber Herr Gabriel,

leider habe ich Sie nicht angetroffen. Für einen Artikel im Hamelner Tageblatt möchte ich gern einen Termin mit Ihnen ausmachen. Bitte rufen Sie mich im Redaktionsbüro unter folgender Telefonnummer an …

Verbindlichst, Ihre Felicitas Kleine

Für die Nachricht in seiner Hand hatte Viktor nur ein verächtliches Schnauben übrig. Er zerknüllte das Blatt und schob es in seine Hosentasche. Damit war der Fall für ihn erledigt. Mit heftigen Schlägen begann er den Sandstein vor ihm zu bearbeiten. Bereits nach wenigen Minuten war er in seine Arbeit vertieft und legte erst dann eine Pause ein, als sich das Knurren seines Magens nicht mehr ignorieren ließ.

»Wie ist es gestern im Schwimmbad gelaufen?«, fragte Felicitas als Erstes Florian, als sie endlich im Redaktionsbüro ankam.

»Ganz gut. Nur schade, dass ich keine Badehose dabei hatte, dann wären die Fotos klasse geworden.«

»Und, wie sind sie jetzt?« Felicitas ahnte nichts Gutes.

»Fast hätte Florian im Fluge fotografiert«, rief Siggi dazwischen.

»Wie das?«

»Ja also, das war so.« Florian holte schwungvoll mit beiden Armen aus, um die Geschichte für Felicitas auszuschmücken.

»Kurzversion, bitte.«

Siggi hielt sich den Bauch vor Lachen. »Er ist auf den Dreier geklettert und wollte einige Jungs, die sich anschickten, vom Fünfer zu springen, während ihres Fluges vor die Kamera kriegen. So ein kleiner Bengel hat ihn da oben angeschubst. Da wäre er beinahe ebenfalls geflogen.«

»Und die Kamera?«

»An der hat er sich krampfhaft festgeklammert und sie hat es sogar überlebt.«

»Florian, du solltest vom Beckenrand aus die Badegäste beim Planschen fotografieren.« Felicitas konnte es nicht fassen, was ihm fast wieder passiert war.

»Ich wollte doch sensationelle Fotos mitbringen. Vom Rand aus, das kann jeder. Wie konnte ich ahnen, dass mir der Knirps in die Quere kommt.«

»Zeig mal die Fotos.«

»Die kannst du schon in der aktuellen Ausgabe bewundern.«

Felicitas nahm die neueste Ausgabe vom Tisch im Eingangsbereich des Büros und schlenderte damit zu ihrem Schreibtisch. Während ihr Rechner hochfuhr, holte sie sich das Brötchen aus der Kühltasche. Hungrig biss sie hinein und blätterte nebenbei in der Zeitung.

»Wie war es bei deinem Künstler?«, fragte Siggi.

»Nichts war. Der war gar nicht da. Aber ich habe schon einige Aufnahmen von seinen Skulpturen. Wenn es überhaupt seine sind und ich auf dem richtigen Grundstück war.«

»Wieso?«

Felicitas erzählte in wenigen Worten von ihrer vergeblichen Fahrt in den Ort, in dem Viktor Gabriel wohnen sollte.

»Glaubst du, er meldet sich bei dir?«

»Wenn nicht, dann muss ich eben noch einmal hinfahren. Irgendwann werde ich ihn schon erwischen. Du kennst mich. So schnell gebe ich nicht auf.«

»Weiß ich doch.«

Viktor Gabriel meldete sich nicht und Felicitas fand das gar nicht nett. Ein kurzer Rückruf wäre doch wohl nicht zu viel verlangt gewesen. Da in den nächsten zwei Stunden keine Termine anstanden, bat sie am Nachmittag ihren Chef, noch einmal hinfahren zu dürfen.

»Wollen Sie nicht warten, bis er sich meldet? Vielleicht ist er ja verreist und hat ihre Notiz noch gar nicht gelesen.«

»Glaub ich nicht. Es sah dort so aus, als hätte er seinen Arbeitsplatz nur kurz verlassen.« Felicitas war sich zu neunzig, nein, mindestens neunundneunzig Prozent sicher, an der richtigen Adresse gewesen zu sein. Mit einer energischen Bewegung strich sie sich die ewig widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Chef, mir haben die Arbeiten sehr gefallen und ich will diesen Artikel so schnell wie möglich.«

»Nun gut, Frau Kleine. Versuchen Sie Ihr Glück.«

Felicitas parkte erneut direkt vor der Eingangspforte des Grundstücks, auf dem sie Viktor Gabriel vermutete. Ein triumphierendes Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie beim Aussteigen ein stetiges Hämmern vernahm. Hier war sie richtig und vor allem – er war da. Sie beugte sich noch einmal in den Wagen, holte die Fototasche heraus und hängte sie sich über die Schulter. Mit raschen Schritten machte sie sich auf den Weg zum Interview mit dem Steinbildhauer.

Lediglich mit einer Latzhose bekleidet – ohne Hemd oder Shirt – bearbeitete Viktor Gabriel mit Hammer und Meißel den dicken Sandsteinblock, als sie bei ihm eintraf. Okay, das Thermometer war inzwischen auf mindestens achtundzwanzig Grad im Schatten geklettert und körperliche Arbeit war nun mal schweißtreibend, aber einer Reporterin bei einem offiziellen Termin in so einem Aufzug gegenüberzutreten, fand Felicitas etwas unpassend – und äußerst irritierend. Na gut, wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass er ja nicht wissen konnte, wann sie noch einmal auftauchen würde – aber ahnen hätte er es wenigstens können. Und zurückrufen natürlich auch.

Kleine Steinsplitter flogen um ihn herum, aber es schien ihm nichts auszumachen, wenn ihn ein Stück traf. Lediglich seine Augen schützte er mit einer Arbeitsbrille, die er auf seine Stirn schob, nachdem Felicitas sich mit wedelnden Armen und einem lauten »Guten Tag, Herr Gabriel« bemerkbar machte.

»Was wünschen Sie?«, fragte er ziemlich barsch mit tiefer, rauer Stimme und zog fragend eine Augenbraue hoch.

Was wollte sie eigentlich von ihm? Ihr Kopf war wie leer gefegt. Der Anblick dieses Mannes brachte sie aus der Fassung. Nicht nur, weil er halb nackt vor ihr stand und seine gebräunte Haut schweißnass glänzte. Dunkle Haare, die bis über seine Ohren reichten, kringelten sich feucht und glänzend um ein schmales Gesicht. Felicitas fand ihn nicht im wirklichen Sinne schön, aber er besaß eine Ausstrahlung, die sie umhaute. Er war um einiges größer als sie selbst, sie schätzte ihn auf mindestens einen Meter fünfundachtzig. Zwei tiefe Falten hatten sich beidseitig von seiner schmalen Nase aus in sein Gesicht eingegraben und reichten fast bis zu den Mundwinkeln. Das ließ ihn sehr ernst aussehen. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig. Seine Augen, hell, graublau und von einem dichten Kranz langer Wimpern umgeben, musterten sie argwöhnisch.

Felicitas riss sich zusammen und erklärte ihm ihren Besuch.

»Sie sind die Tante von der Zeitung?«

Felicitas bemerkte, wie sich ihr Gegenüber unwillkürlich an die Hosentasche fasste. Vermutlich steckte da die Nachricht drin, die sie ihm hinterlassen hatte. Das war ja nicht zu fassen! Ein bisschen freundlicher könnte er schon sein. Immerhin sollte ein Artikel über ihn erscheinen und das war schließlich Werbung für ihn und seine Arbeit. Felicitas hatte schon eine passende Antwort parat. Doch im letzten Moment zügelte sie sich. »Ja, die bin ich«, sagte sie stattdessen und hielt ihm die Hand zur Begrüßung hin. »Felicitas Kleine vom Hamelner Tageblatt.«

Er zögerte, zog schließlich die Arbeitshandschuhe aus, wischte sich die Finger am Latz seiner Hose ab und ergriff Felicitas’ Rechte. Seine Hand fühlte sich rau an und strahlte eine derartige Hitze aus, dass Felicitas glaubte, ihre Haut würde brennen. Ein Kribbeln zog an ihrem Arm hinauf und in ihren gesamten Körper.

»Ähm, wollen wir zuerst das Interview machen oder die Fotos?«, fragte sie rasch, um sich abzulenken, und zog ihre Hand zurück.

»Mir egal«, brummte er, zog die Brille herunter und nahm wieder sein Werkzeug.

»Okay, dann zuerst die Fotos. Tun Sie so, als wäre ich gar nicht da.«

Genau das tat er. Er schien ihre Anwesenheit vergessen zu haben, sobald er seine Arbeit aufnahm.

Felicitas holte die Kamera hervor und begann eine Serie von Fotos zu schießen. Von allen Seiten nahm sie ihn auf, fasziniert vom Spiel seiner Muskeln. Was für ein Körper. Sie konnte es kaum abwarten, die Bilder später in aller Ruhe auf ihrem PC betrachten zu können.

»Autsch!« Ein heftiger Schmerz an der Stirn ließ Felicitas zusammenzucken. Etwas hatte sie getroffen, ein Steinsplitter vermutlich. Sie ließ die Kamera sinken und betastete vorsichtig die schmerzende Stelle. Glücklicherweise blutete nichts, zumindest konnte sie an ihrer Hand kein Blut entdecken. Aber eine Beule würde sie bestimmt bekommen. Um die Verletzung zu überdecken, zupfte sie ein paar ihrer Locken in die Stirn.

Viktor Gabriel arbeitete wie ein Besessener. Er schien Felicitas’ Malheur gar nicht bemerkt zu haben.

Sie sah ihm eine Weile bei der Arbeit zu, konnte sich aber nicht zusammenreimen, was er da erschaffen wollte.

»Was wird das?«

Er reagierte nicht.

»Herr Gabriel! An was arbeiten Sie?«

»An Sandstein.«

Für wie blöd hielt er sie eigentlich? »Ich wollte wissen, was das werden soll.«

»Weiß ich noch nicht.«

»Wieso nicht?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Herr Gabriel?« Felicitas bemerkte, wie er tief durchatmete, bevor er ihr antwortete.

»Manchmal fallen größere Stücke ab, als ich vorgesehen hatte und dann muss ich umdisponieren. Genau das ist mir vorhin passiert.«

»Was sollte das ursprünglich werden?«

»Ein Rehbock.«

»Entwerfen Sie hauptsächlich Tiere?«

»Nee.«

Felicitas atmete tief durch. Der war wirklich eine harte Nuss. Aber sie würde ihn schon noch knacken. So schnell würde sie nicht aufgeben.

»Darf ich mich mal umsehen?«

Er brummte etwas, was sie als Zustimmung auslegte.

Natürlich behielt Felicitas für sich, dass sie sich bereits am Morgen ein wenig umgesehen hatte. Jetzt, wo sie quasi sein Einverständnis hatte, hielt sie nichts mehr zurück. Sie streifte auf dem Grundstück umher und knipste so ziemlich alles, was ihr vor die Linse kam. Um den alten Schuppen herum schlängelte sich der schmale Pfad, dem Felicitas schon am Morgen gefolgt war und der auf die Wiese führte, die über und über mit Gänseblümchen, Butterblumen, Löwenzahn und vielerlei Kraut übersät war. Mittendrauf stand eine schwarz lackierte Sonnenuhr. Konnte er etwa auch schmieden, schweißen oder wie auch immer man das nannte? Das wollte sie ihn später fragen. An der Rückseite des Schuppens lehnten merkwürdige Fratzen aus Stein. Einige davon jagten ihr einen unangenehmen Schauder über den Rücken. Die gefielen ihr ganz und gar nicht. Wer kaufte denn so etwas? Aber es ging auch nicht darum, was ihr gefiel, sondern nur darum, über die Arbeit von Viktor Gabriel zu berichten. Unter einem Kirschbaum entdeckte Felicitas kleine Statuen mit runden, pausbäckigen Gesichtern, die sie sofort an Engel erinnerten. Nur, dass die hier keine Flügel trugen. Sie sahen so richtig knuddelig aus – schon eher nach ihrem Geschmack. Sie setzte sich vor die Figuren ins Gras, stellte Blende und Belichtung ein und schoss einige Fotos. So richtig zufrieden war sie noch nicht. Sie streckte sich auf dem Bauch aus und stützte ihre Ellenbogen auf dem Erdboden ab. So war die Perspektive viel besser. Noch unzählige Male drückte sie auf den Auslöser und hatte bereits entschieden, eine dieser Aufnahmen für den Artikel zu verwenden.

»Gefällt es Ihnen da unten?«

Felicitas schrak auf. Peinlich berührt versuchte sie, möglichst schnell auf die Füße zu kommen.

»Mindestens auf Augenhöhe mit dem Motiv sein«, sagte sie rasch als Erklärung. Auf dem Display der Kamera überprüfte sie währenddessen die Aufnahmen.

»Darf ich auch mal?« Viktor Gabriel stand plötzlich dicht hinter Felicitas und beugte sich über ihre Schulter.

Seine Nähe nahm ihr fast den Atem und sie wünschte sich plötzlich, er würde sie berühren. Für einen Moment schloss sie die Augen und hoffte, dadurch ihre Sinne wieder sammeln zu können. Schließlich war sie aus rein beruflichen Gründen hierhergekommen. Damit, dass sie auf einen derart attraktiven und äußerst verwirrenden Mann treffen würde, hatte sie nicht gerechnet. Sie atmete tief ein und aus und drehte sich zu ihm um.

»Darf ich Ihnen jetzt einige Fragen stellen?«

»Wenn es sich nicht vermeiden lässt.« Er seufzte und ließ sich vor Felicitas’ Füßen im Gras nieder.

Sie musste sich eingestehen, der Platz für dieses Gespräch gefiel ihr und nahm ihm gegenüber Platz. Aber die Informationen über die Arbeit dieses Mannes musste sie sich hart erkämpfen. Immer wieder antwortete er einsilbig und zurückhaltend auf ihre Fragen.

Kapitel 3

Es war wie verhext. Während Felicitas versuchte, sich auf den Text zu konzentrieren, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab zu dem Mann, bei dem sie die vergangene Stunde verbracht hatte. Viktor Gabriel hatte ihre Sinne vollkommen durcheinandergewirbelt.

»Was ist los?«, fragte Florian, der ihr gegenübersaß und sie beobachtete.

Felicitas schrak auf. »Was, wieso?«

»Du bist so abwesend.«

»Du spinnst.« Gerade hatte sie daran denken müssen, wie sie diesem Bildhauer jedes Wort aus der Nase hatte ziehen müssen. Bevor er sich dazu herabgelassen hatte, ihr ziemlich knapp auf ihre Fragen zu antworten, hatte er sie abschätzend mit hochgezogener Augenbraue begutachtet und der Ausdruck seiner Augen hatte sich verändert. Diesen Blick konnte sie nicht vergessen. Sie ärgerte sich, weil sie nicht einmal sagen konnte, ob sie diesen Ausdruck in seinen Augen als eher unangenehm oder als ein kleines bisschen angenehm empfunden hatte. Als sie sich von ihm verabschiedet hatte, hatte er sie noch einmal so komisch angesehen.

Mit äußerster Konzentration versuchte sie, den Bericht zu tippen. Mist! Sie hatte vergessen, ihn wegen der Sonnenuhr zu fragen. Dabei war es wichtig, zu erfahren, ob er außer mit Sandstein auch mit anderen Materialien arbeitete. Es könnte natürlich auch sein, dass er die Sonnenuhr gekauft oder geschenkt bekommen hatte. Felicitas griff zum Telefon und zog gleich darauf ihre Hand zurück. Nach seiner Telefonnummer hatte sie ihn auch nicht gefragt. So etwas war ihr noch nie passiert. Also würde sie noch ein drittes Mal zu ihm fahren müssen, möglichst sofort, denn der Artikel sollte umgehend erscheinen.

Wie würde er reagieren, wenn die nervige Tante von der Presse schon wieder auftauchte? Felicitas atmete tief durch, stieg aus dem Wagen und straffte ihre Schultern.

»Auf in den Kampf«, murmelte sie vor sich hin.

Sie traf Viktor Gabriel auf dem Hof nicht an. Der Steinblock, an dem er gearbeitet hatte, war mit einer Plane abgedeckt. Wahrscheinlich wegen des angekündigten Regens, vermutete Felicitas und wandte sich dem Haus zu. Die Eingangstür stand offen. Sie klingelte. »Herr Gabriel, sind Sie da?«, rief sie.

Keinerlei Reaktion. Vielleicht fand sie ihn hinter dem Haus. Doch auch dort konnte sie ihn nicht entdecken. Sollte aus einer zügigen Veröffentlichung des Artikels doch nichts werden? Alternativ könnte sie auf die zusätzliche Information verzichten, doch das wollte sie ungern tun. Noch einmal versuchte sie ihr Glück beim Haus. Wieder keine Reaktion auf ihr Rufen. Doch sie war für ihre Hartnäckigkeit bekannt und wollte immer noch nicht aufgeben. Vorsichtig trat sie durch den Eingang.

»Hallo! Herr Gabriel! Sind Sie da?«

Vollkommene Stille. Also schon wieder Pech gehabt. In dieser Reportage steckte wirklich der Wurm drin. Schulterzuckend machte sie kehrt und wollte die Tür gerade hinter sich schließen, als sie ein Geräusch im Innern des Hauses innehalten ließ. Das hörte sich doch an wie das Tapsen nackter Füße auf dem Fußboden. Er war also doch da.

Schon tauchte er vor Felicitas auf.

Das war doch … Felicitas schnappte nach Luft.

Er kam den Flur entlang, den Kopf gebeugt und rubbelte sich mit einem Handtuch sein Haar trocken. Da ihm ein Zipfel des Handtuchs vor dem Gesicht hing, schien er sie nicht zu bemerken. Ohne aufzusehen, schlenderte er zum Tisch in der Küche, die sich neben dem Eingangsbereich befand. Dort nahm er eine Flasche Mineralwasser vom Tisch und setzte sie an seine Lippen. Mit einer Mischung aus Faszination und Panik starrte Felicitas ihn an und biss sich auf die Lippen.

Da stand er, in Gedanken versunken – und nackt, wie Gott ihn erschaffen hatte.

Höchste Zeit zu verschwinden. Rückwärts, den Blick weiterhin auf ihn gerichtet, schlich sie auf Zehenspitzen zur Haustür. Hoffentlich bemerkte er sie nicht. Doch prompt knarrte eine Diele unter ihren Füßen und er drehte sich zu ihr um.

Die Überraschung war ihm anzusehen.

»Entschuldigung«, stammelte Felicitas und spürte die Hitze, die ihr ins Gesicht schoss. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe mehrmals gerufen und geklingelt habe ich auch. Ehrlich.«

»Soso.« Betont lässig schlang er sich das Handtuch, mit dem er sich eben die Haare frottiert hatte, um die Hüften. Ebenfalls betont lässig kam er auf sie zu.

Felicitas schluckte trocken. »Ich … ich komme lieber ein anderes Mal wieder.«

»Warum? Kommen Sie doch herein. Möchten Sie etwas trinken?«

Die Knie zitterten ihr, als er einfach nach ihrem Arm griff und sie in die Küche zog. Felicitas’ Blick blieb an seiner braun gebrannten Brust hängen. Was für ein Körper!

»Was führt Sie zu mir?«, fragte er.

»Ja also … ich habe da noch ein paar Fragen.«

»Okay, aber zuerst trinken wir etwas. Es ist mächtig heiß heute.«

Das kann man wohl sagen.

Er schlenderte zum Kühlschrank und nahm eine neue Flasche Mineralwasser heraus.

Felicitas konnte den Blick nicht von ihm und von dem Spiel seiner Muskeln wenden, als er die Flasche öffnete. Wie sollte sie ihm jemals vernünftige Fragen stellen können, wenn er so gut wie nackt vor ihr stand? Wie sollte sie jemals einen informativen und objektiven Text über ihn zustande bringen, wenn sie ständig seinen knackigen Körper vor Augen haben würde? Den würde sie vor Augen haben, das ahnte sie jetzt schon.

Mit dem gefüllten Glas kam Viktor Gabriel auf Felicitas zu. Dicht vor ihr blieb er stehen. Sie nahm das Glas und trank es hektisch aus. Währenddessen beobachtete er sie und sein Blick trug nicht gerade dazu bei, dass sie ruhiger wurde. Plötzlich hob er seine Hand und befühlte vorsichtig die Stelle an der Stirn, wo Felicitas der Splitter getroffen hatte.

»Wie ist das passiert? Das sollte versorgt werden.«

»Kaum der Rede wert«, wisperte sie.

»Keine Widerrede.« Er bugsierte Felicitas zum nächsten Stuhl. »Setzen Sie sich. Ich hole Verbandsmaterial.«

Wie in Trance nahm sie Platz und kaum eine Minute später verarztete Viktor sie. Die Wunde brannte, als er ein Desinfektionsmittel auftrug und sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken.

»Ist gleich vorbei«, murmelte er.

Er war so fürsorglich und seine Berührungen so sanft. Kaum zu glauben, dass er der gleiche Mann war, der bei ihrem ersten Zusammentreffen so zurückhaltend und wortkarg gewesen war.

»Vielen Dank.«

Mit einem Lächeln, das ihr durch und durch ging, zog Viktor sie vom Stuhl. »Dafür habe ich eine Belohnung verdient, oder?«

»Okay, ich werde einen besonders netten Bericht über Sie schreiben.« Sie bedachte ihn mit einem herausfordernden Blick.

»Das würden Sie sowieso tun.« Mit seinem Zeigefinger zeichnete er die Form ihrer Lippen nach und diese Berührung fand Felicitas äußerst erregend. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm wenden. Die Farbe seiner Augen erinnerte sie an die klaren Bergseen, an denen sie in ihrer Kindheit mit ihren Eltern und ihrem Bruder Urlaub gemacht hatte, und sie verlor sich darin. Es erschien ihr wie Stunden, in denen sie nur dastanden und sich ansahen. Dann endlich kamen seine Lippen näher und mit einem Seufzer zog er sie an sich und küsste sie auf das Haar.

Ihr Gesicht lag nun an seiner nackten Brust. Sein Herz klopfte heftig und sein Brustkorb hob und senkte sich schnell. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine kleine Narbe oberhalb seiner rechten Brustwarze. Eine Verletzung, die während seiner Arbeit entstanden war? Fast war sie versucht, ihre Lippen darauf zu drücken. Sie konnte sich nur schwer beherrschen und biss sich auf die Unterlippe. Verwirrt hob sie den Kopf.

Viktor sah zu ihr herab. Seine Augen erschienen ihr jetzt um einige Nuancen dunkler. Mit beiden Händen griff er in ihr Haar und schob ihre widerspenstigen Locken zurück. Er beugte sich zu ihr herab. Sein Gesicht kam immer näher, und als sein Mund endlich den ihren berührte, schloss sie mit einem kleinen Seufzer die Augen. Seine Lippen waren heiß und fest und, als seine Zunge Einlass forderte, konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Ihr Herz raste und das Blut pulsierte in ihren Schläfen. Niemals zuvor hatte der Kuss eines Mannes derartige Gefühle in ihr ausgelöst.

Plötzlich und unvermittelt ließ Viktor von ihr ab und schob sie zurück. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und dazwischen entstand eine tiefe Kerbe, die von seiner Nasenwurzel aus zur Stirn verlief. Mit diesem verkniffenen Ausdruck im Gesicht wandte er sich ab. Schwer atmend stützte er sich mit gesenktem Kopf am Küchentisch ab.

Felicitas zitterte noch vor Erregung. Was hatte dieser abrupte Stimmungswandel zu bedeuten?

»Viktor?«

»Du solltest besser gehen.«

»Warum?«

»Geh … jetzt sofort.«

»Aber …«

Als sie sah, wie Viktor den Kopf schüttelte, wurde ihr klar, dass er bereute, was da gerade zwischen ihnen geschehen war.

Tränen brannten ihr in den Augen, als sie sich hastig abwandte und ohne ein weiteres Wort das Haus verließ. Zweimal stolperte sie auf dem unebenen Weg, während sie tränenblind zu ihrem Auto rannte. Mit zitternden Fingern schloss sie die Autotür auf und ließ sich hinters Steuer sinken. Eine Weile blieb sie so sitzen, den Kopf auf das Lenkrad gelegt. Wie konnte sie nur so blöd sein! Noch einmal hier unangemeldet aufzukreuzen, nur wegen dieses dämlichen Artikels. Da fiel ihr die Sonnenuhr ein. Nein! Die Blöße, noch einmal bei ihm aufzutauchen, würde sie sich nicht geben.