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Eine große Liebe. Und eine Auszeit von der Treue. Eine offene Beziehung. Für drei Monate. Zwischen Abi und Studium. Sich ausprobieren. Mit anderen. Danach ist alles wieder wie zuvor und Tom und Verena weiterhin ein Paar. Denn sie lieben sich und wollen für immer zusammen bleiben. Doch ist das wirklich so einfach, wie sie es sich vorstellen? Verena und Tom kennen sich von klein auf, sind ein Paar, seit sie dreizehn sind. Sie gehören einfach zusammen und das soll für immer so bleiben. Aber ein Gedanke lässt Verena – mitten im Abistress und voller Vorfreude auf das anstehende Studium – nicht mehr los: Sie hat noch nie einen anderen Jungen geküsst, geschweige denn Sex mit einem anderen gehabt. Doch sie liebt Tom und sich von ihm zu trennen oder ihn zu betrügen, kommt nicht infrage. Als sie schließlich mit Tom darüber spricht, treffen die beiden eine Vereinbarung: eine offene Beziehung, drei Monate Austobzeit nach dem Abi. Danach ist alles wieder wie vorher und die zwei wieder ein Paar. Zunächst genießen die beiden es, sich auszuprobieren. Doch sie haben nicht mit den Gefühlen gerechnet, die das Arrangement mit sich bringt: Zweifel tun sich auf. Ängste. Werden sie rechtzeitig einen Ausweg finden? Mit ihrer ganz eigenen, poetischen Sprache wendet sich Sabine Both den Themen offene Beziehung, Fremdgehen und Treuebruch zu, das viele Jugendliche bewegt, und lässt es ihre Protagonisten durchleben. Sie schildert, wie vorsichtig man in einer Beziehung mit Vertrauen und den Gefühlen des Partners umgehen sollte, ohne pädagogisch belehrend daherzukommen. Eine unterhaltsame, besondere Liebesgeschichte mit Tiefgang.
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Seitenzahl: 253
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Fünf Jahre zuvor
Verena schaut gegen die Sonne zur Terrassentür, legt die Hand schützend über die Augen.
Inge balanciert die Torte. Wie immer mit Zuckerguss überzogen: halb rosa, halb hellblau. Auf der einen Hälfte Herzen aus weißer Schokolade, auf der anderen aus Vollmilch. Dreizehn Kerzen, die Flammen sind im Sonnenschein unsichtbar.
»Pustet ihr zusammen aus?«
Auch nach dreizehn Jahren wünscht sich Inge, dass Verena und Rollo etwas gemeinsam tun. Sich wie Zwillinge benehmen. Zusammenhalten, durch dick und dünn gehen. Wissen, was der andere denkt. Spüren, wie es dem anderen geht.
Verena würde ihr den Gefallen gerne tun. Aber Rollo lacht nur.
»Bis Verena Luft geholt hat, hab ich schon einen Großbrand gelöscht«, sagt er.
Dann also wie immer. Verena gibt Rollo einen Stoß. Er hat nicht damit gerechnet, schwankt zur Seite, prallt gegen den Tisch, jault auf. Verena beugt sich über den Kuchen und pustet. Acht schafft sie auf Anhieb. Gleich wird Rollo ihr in die Quere kommen. Sie schnappt nach Atem, der wegbleibt. Sie wird es nicht schaffen. Da kommt unerwartete Hilfe von der Seite. Tom macht Wind für drei. Die letzten fünf Flammen erlöschen, bevor Rollo der Torte nahe kommt. Dafür ist Tom nahe. Sie sieht sein Gesicht durch den Rauch, der von den Dochten aufsteigt.
»Jetzt darf sich nur Verena was wünschen«, verkündet Tom.
Verena wünscht sich etwas. Sie muss nicht nachdenken, es wünscht sich von alleine.
Rollo stößt Verena zur Seite, beugt sich über die Torte, als wollte er sie mit einem Bissen verschlingen. Zieht aber nur die Kerzen heraus und verwendet sie eine nach der anderen als Wurfgeschoss. Sie landen in den Azaleen. Rollo ist ein schlechter Verlierer. Immer schon gewesen. Und weil das alle wissen, bleibt sein Verhalten unkommentiert.
»Was wünschst du dir?« Hannes legt Verena den Arm um die Schulter. Auch wenn er nur der Nachbar ist, gehört er zur Familie. So fühlt es sich für Verena an. Hannes und Sigrid und Tom. Weil sie schon so gut wie immer da waren.
Verena weiß noch, wie sie Tom das erste Mal gesehen hat. Sie muss drei gewesen sein, als Hannes und Sigrid die Doppelhaushälfte gekauft haben. Tom auf seinem roten Fahrrad mit der Piratenflagge ist die erste Erinnerung, die Verena aus ihrem Leben vor Augen hat. Tom, der schon Fahrrad fahren konnte. Tom, der auf sie zuraste, vor ihr bremste und lächelte. Tom, von dem Verena sofort wusste, dass sie ihn mögen würde.
Weil Verena immer noch nicht geantwortet hat, ruft Bernd: »Sie wünscht sich, dass die Pubertät an uns allen glimpflich vorübergeht!«
»Dass sie sich nie wieder mit ihrem Bruder streitet«, sagt Inge.
»Dass sie diese Bombenfigur behält«, sagt Sigrid.
Verena sagt: »Ich lass mir doch nicht von euch meinen Wunsch vorsagen. Außerdem geht der keinen was an. Er geht nur in Erfüllung, wenn man ihn nicht verrät.«
Die Erwachsenen prosten mit Sekt, die Kinder mit Apfelschorle. Inge verteilt Kuchenstücke. Rollo bekommt als Erster, damit er besänftigt ist. Essen zieht bei ihm immer. Dass er genauso alt ist wie Verena, ist schwer zu glauben. Auch wenn er größer ist als sie.
Geschenke wandern um den Tisch. Rollo reißt sofort auf, was er in die Finger bekommt. Von Bernd und Inge eine Jahreskarte fürs Stadion. Von Sigrid und Hannes ein Trikot seiner Lieblingsmannschaft. Von Tom ein Furzkissen. Jeder muss sich draufsetzen. Jedes Mal wird gelacht, als wäre es das erste Mal.
Tom ist nur zwei Monate älter. Auch Tom hat Mist im Kopf. Aber trotzdem ist er anders. Verena sieht es seit ein paar Wochen. Etwas an ihm hat sich verändert. Eher innen als außen. Es ist sein Blick. Und was er manchmal sagt. Tom war immer schon klug. Konnte immer beides. Im Schlamm catchen mit Rollo und über Filme reden mit Verena. Aber in letzter Zeit ist da in seinen Augen etwas Neues. Etwas, das Verena verlegen macht.
Tom ist an der Reihe. Zwischen ihm und Verena sitzt Bernd, der zurückweicht, als Tom das Geschenk herüberreicht. Seine Handflächen sind feucht. Kleben am Geschenkpapier. Als Verenas Hände näher kommen, möchte er das Geschenk zurückziehen. Es umtauschen gegen das, was er ursprünglich besorgt hatte. Einen Kackhaufen aus Plastik. Sie würden alle lachen. Das Furzkissen und der Kackhaufen wären ein echt gutes Team. Aber jetzt sind ihre Hände schon da, greifen nach dem Geschenk. Ihr Finger, er denkt, es ist der Mittelfinger, streift dabei seine Hand. Er spürt die Berührung im ganzen Körper. Das Gefühl bündelt sich in den Lenden. Der Schwanz steht. In Sekundenschnelle.
Das macht er in letzter Zeit dauernd. Wenn Tom durch die Lücke im Zaun in den Garten kommt und Verena im Bikini auf der Sonnenliege liegt. Auf ihrer Haut spiegeln sich die Tropfen, die sie aus dem Planschbecken mitgenommen hat. Sie passen gerade noch hinein, nebeneinander. In das Planschbecken, das Bernd so oft geflickt hat, dass es aussieht wie eine Landkarte. Die Landkarte ihrer gemeinsamen Kindheit. Zaun an Zaun. Tür an Tür. Unter Wasser löst sich die Form ihrer Beine auf. Setzt sich wieder zusammen, wenn sie aufsteht, über ihm steht. Der Stoff des Bikinis presst sich an ihre Haut. An die kleinen Erhebungen unter dem Oberteil. Er sieht sie wachsen. Er sieht weg. Und doch immer wieder hin. Wie sie unter dem T-Shirt aussehen. Wie sie aussehen, seit sie einen BH trägt. Wie sie aussehen, wenn sie auf dem Trampolin springt. Sie führen ein Eigenleben.
»Danke.« Verena schüttelt das Geschenk, als könnte sie so hören, was drin ist.
Aber es macht kein Geräusch. Es hat das Taschengeld der letzten Monate verbraucht. Kein neues Skateboard also. Er hofft, dass es das wert ist. Dass sie lächelt. Wie Verena lächelt. Wenn sich ein Marienkäfer auf ihren Arm setzt. Wenn sie in einen See gesprungen ist und wieder auftaucht. Wie sie gelächelt hat, als er sie das erste Mal gesehen hat. Er weiß es noch genau. Sogar was sie anhatte. Ein Sommerkleid, rot mit weißen Tupfen. Ihre Knie waren aufgeschürft. Ihre Haare hingen ihr ins Gesicht. Wie sie es auch jetzt noch tun. Da kann sie dran rumstylen, wie sie will.
Verena reißt das Papier ab. Er sieht auf ihren Mund. Ihre Lippen. Sie formen ein Oh. Dann ziehen sie sich an den Mundwinkeln hoch. Verena lächelt, wie Verena lächelt.
»Was ist es denn?«, will Inge wissen.
Verena drückt das Geschenk an sich. Noch ist es zusammengerollt. Ein Bündel Stoff in Verenas Händen. Aber sie hat es schon erkannt.
»Das hast du dir gemerkt?«, sagt sie.
Sie sieht ihn an. Und Tom möchte wegsehen. Auf den Tisch, die Pappbecher, die Luftschlangen, die sich um die Teller kringeln. Er kann so viel Freude in Verenas Augen kaum aushalten. Am liebsten würde er etwas schreien. Strike! Aber er bleibt nach außen ganz gelassen. »Klar hab ich mir das gemerkt.«
Und tatsächlich hat er jeden Tag daran gedacht. Bis er das Geld zusammenhatte. Er ist, so oft er konnte, zu dem Geschäft geradelt und hat im Schaufenster überprüft, ob es noch da ist. Als es nicht mehr da war, ist er in den Laden gerannt und hatte das Gefühl, ihm kämen gleich die Tränen. Es hing ganz hinten zwischen vielen anderen. Er hat das hässlichste Kleid ausgesucht und ihres hineingehängt, damit es niemand finden konnte. Einmal war er im Geschäft, als ein Mädchen es doch entdeckt hatte. Es mit in die Umkleide genommen, sich draußen vor dem Spiegel begutachtet hat. Er hat gesagt, das Kleid macht einen fetten Hintern, sie soll es bloß nicht kaufen. Sie hat es nicht gekauft. Es tut ihm leid, dass sie jetzt dauernd über ihren vermeintlich fetten Hintern nachdenken muss. Aber das war es wert. Weil Verena gar nicht aufhören kann zu lächeln.
Verena steht in ihrem Zimmer vor dem Spiegel. Das Kleid schmiegt sich an den Körper, als sei es für ihn gemacht. Das Kleid, das Mama ihr nie gekauft hätte, weil es sich an den Körper schmiegt, als sei es für ihn gemacht. Das sie im Schaufenster gesehen hat, als sie mit Tom, Felix, Anna und Rollo ein Eis essen war. In das sie sich sofort verliebt hat. Weil es etwas aus ihr macht, das vorher nicht da war.
Sie dreht sich, versucht, ihre Rückansicht im Spiegel zu sehen. Sie kann sich keinen Reim auf das machen, was sie sieht. Der unsichtbare Gürtel, der sich um ihre Taille spannt und die Hüften leicht hervortreten lässt. Eine Frau, die keine Frau ist. Ein Kind, das kein Kind ist. Ob Tom sehen wird, dass das Kleid sich an ihren Körper schmiegt, als sei es für ihn gemacht? Ob er sehen wird, dass das Kleid etwas aus ihr macht, das vorher noch nicht da war? Ob er lächeln wird, wie Tom lächelt? Wenn er ein neues Level in seinem Lieblingsgame erreicht hat. Wenn er das Gesicht in den Regen streckt und sich schüttelt wie ein nasser Hund. Wenn er einen großen Bissen Pfannkuchen mit Nutella isst. Die Schokolade klebt in seinen Mundwinkeln und lässt das Lächeln umso breiter wirken. Sigrid wischt sie weg mit Daumen und Zeigefinger. Es wäre auch möglich, sie wegzuküssen.
Anna hat schon einen Jungen geküsst. Der Junge hat nach Pfefferminz geschmeckt, weil er ein Kaugummi im Mund hatte. Anna sagt, Küssen ist ganz einfach. Zunge rein und rühren. Mama und Papa rühren nicht. Und Hannes und Sigrid auch nicht. Bei denen sieht es aus, als würden sie aneinander saugen. Bei Mama und Papa eher wie knabbern.
Verena legt den Handrücken an die Lippen und saugt daran. Und knabbert. Sie streckt die Zunge raus und leckt im Kreis über die Haut. Sie schmeckt salzig. Ob Tom auch salzig schmeckt?
Tom muss immer wieder zur Terrassentür schauen. Die Sonne blendet. Er kneift die Augen zusammen. Verena braucht lange für das Anprobieren. Dabei ist das Kleid nur eine elastische Wurst aus Stoff, ohne Knopf, ohne Reißverschluss. Vielleicht fühlt sie sich nicht wohl darin. Sie hat es vorher nie anprobiert. Vielleicht passt es nicht. Es war eine dumme Idee, ihr etwas zu schenken, von dem er nicht weiß, ob es passt. Tom denkt an den Hintern des Mädchens im Geschäft. Vergleicht ihn mit Verenas Hintern. Er kann nicht dicker sein. Er ist nicht dick. Er ist. So ziemlich. Das Heißeste an Hintern, was Tom je gesehen hat. Weil es Verenas Hintern ist. Den er nackig kennt. Damals war er schmal wie seiner. Und jetzt hat er sich verändert. So, dass er nicht mehr an ihn denken kann, ohne dass sein Schwanz steht. Er weiß nicht, ob das normal ist. So oft. Dauernd. Ungefragt. Auch in Situationen, in denen er es nicht gebrauchen kann.
Er will Hannes nicht fragen, Sigrid erst recht nicht. Und auch nicht Inge und Bernd. Mit Rollo kann er nur über Games reden und Sport und Essen. Über Schwänze haben sie noch nie gesprochen.
Er sieht wieder zur Terrassentür. Und da steht sie, noch im Schatten des Wohnzimmers. In dem Kleid. Das aussieht, als sei es für ihren Körper gemacht. Das Verena zu etwas macht, das sie vorher nicht war. Tom hört sich nach Luft schnappen. Verena kommt näher, barfuß, in dem Kleid, das er ihr geschenkt hat. Sie schreitet. Ihre Hüften wiegen. Die anderen haben sie jetzt auch entdeckt. Die Väter pfeifen durch die Zähne. Sigrid klatscht. Inge schlägt die Hände vor das Gesicht und lugt durch einen Spalt in den Fingern.
»Ist dieses Wesen meine Tochter?«, fragt sie. Und sagt: »Das ziehst du aber nicht in der Schule an!«
Verena dreht sich um die eigene Achse.
Rollo sagt: »Voll nuttig.«
Verena zeigt ihm den Mittelfinger. Dann steht sie vor Tom. Sie sagt: »Das ist das coolste Geschenk von allen.« Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, lehnt den Oberkörper an seinen und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Tom steht in Flammen.
Verena wird rot. Sie spürt die Hitze in sich hochsteigen. Als wenn das der erste Wangenkuss gewesen wäre, den sie Tom je gegeben hat. Es ist der tausendste. Aber die anderen hat sie nicht gespürt. Sie haben sich nach nicht mehr angefühlt als nach Lippe auf Haut. Dieser fühlt sich an, als hätte sie sich etwas genommen. Ein Stück von Tom. Als hätte sie es gestohlen, um es zu hüten wie einen Schatz. Es ist nicht der erste Schatz, den sie geraubt hat. Das T-Shirt, das er bei ihnen vergessen hat, liegt zwischen Verenas Strumpfhosen. Sie riecht daran, wenn sie sicher ist, dass niemand hereinkommt. Und schaut dabei die Fotos an. Auf denen alle verschwimmen, als wären sie unscharf fotografiert. Schärfe hat nur Tom.
Verena setzt sich, weiß nicht recht, was sie mit den Beinen machen soll. In dem Kleid muss sie sich anders verhalten. Sie stochert mit der Gabel in dem Kuchenstück herum, das sie nicht mehr essen wird, weil sie satt ist. Ihr Körper hat genug anderes zu tun, als Kuchen zu verdauen. Sie muss ihn im Zaum halten. Irgendwie.
Sie weiß, dass Tom sie ansieht. Sein Blick brennt sich in ihre Seite. Sie überlegt, den Kopf zu wenden, seinen Blick zu erwidern. Sie traut sich nicht. Verteilt die Krümel auf dem Teller gleichmäßig am Rand. Traut sich doch. Sein Kopf dreht sich weg, als ihrer sich ihm zuwendet. Er holt das Handy aus der Tasche, tippt drauf herum. Er ist beschäftigt. Oder er tut beschäftigt. Wenn Verena diese Dinge nur wüsste. Aber Verena weiß rein gar nichts. Wie sie herausfinden kann, ob sie in Tom auslöst, was er in ihr auslöst. Wie sie sicher sein kann, dass sie sich nicht zum Narren macht. Wie das alles geht. Dieses ganze Ding zwischen Junge und Mädchen. Und das auch noch mit Tom.
»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragt Inge.
»Klaro.«
»Es steht dir. Auch wenn ich mich erst daran gewöhnen muss, dass du jetzt Kleider trägst, die dich im Handumdrehen in eine kleine Lady verwandeln.«
»Ich bin keine kleine Lady, Mama. Das ist echt voll peinlich.«
Inge lacht. »Ist schon komisch. Die ganze Zeit denke ich, ich sei noch jung. Und dann gibt es da plötzlich eine andere junge Frau in der Familie. Und ich fühle mich zum ersten Mal alt.«
»Du bist doch nicht alt.«
Inge sieht Verena an mit diesem Blick: Das verstehst du noch nicht. Und Verena weiß, dass das stimmt. Dass sie so einiges noch nicht versteht. Dass ihr das bisher egal war. Aber jetzt will sie alles wissen. Für einen Moment denkt sie daran, Inge zu fragen. Aber die würde zurückfragen. So lange bohren, bis Verena den Namen ausspuckt.
»Bei dir ist es ja auch sowieso egal, wie alt du bist«, sagt Verena.
Inge zieht fragend die Augenbrauen hoch.
»Du bist verheiratet. Papa liebt dich. Und du liebst ihn. Und das bleibt auch für immer so.«
Inge legt den Arm um Verena. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang. Aber seit einer Weile fühlt es sich anders an. Halb schön, halb eng.
Tom tippt Buchstaben, die keine Sätze ergeben, die keine Nachricht sind, die er nicht senden wird, die er nur in den Chat mit Sigrid tippt, damit Verena denkt, er sei mit etwas anderem beschäftigt. Und nicht mit ihr. Obwohl sie doch unbedingt wissen soll, dass ihn nichts anderes beschäftigt. Nur sie. In letzter Zeit passiert Tom das oft. Dass die Dinge nicht mehr eindeutig sind, dafür paradox, kompliziert.
Rollo setzt sich neben Tom. Erst einmal gibt es eine Kopfnuss, dann beginnt Rollo das Gespräch, wie Rollo nun mal Gespräche beginnt. »Eh, du alter Arsch, was geht ab?«
»Nichts.«
»Wow, nichts. Kann ich mitmachen?«
»Kannst du nicht.«
Rollo schnappt sich das Handy. »Wem schreibst du denn da?« Er sieht den Buchstabensalat und schaut Tom an wie etwas Unerklärliches. »Bist du besoffen?«
»Von Apfelschorle?«
»Wieso schreibst du deiner Mutter so einen Brei?«
»Geheimsprache.«
»Nicht dein Ernst, Alter.«
»Doch.«
»Damit dein Vater es nicht lesen kann?«
»Genau das.«
»Krass, Alter.« Rollo drückt auf Senden.
»Bist du irre?«
»Wieso?«
»Ich war noch nicht fertig!«
Rollo schaut gebannt zu Sigrid.
Sigrid kramt in ihrer Tasche, liest, liest noch mal, schaut rüber zu Tom und zieht fragend die Augenbrauen hoch.
»Die hat keinen Schimmer, was da steht.«
Tom greift nach dem Handy und verpasst Rollo einen Hieb gegen den Oberarm.
»Aua, Arschloch.«
»Selber Arschloch.«
Rollo grinst. »Trinken wir heimlich die Pfützen aus den Sektgläsern?«
»Nein, Idiot.«
»Wieso nicht?«
»Weil du gerade dreizehn geworden bist.«
»Ein Grund mehr.« Rollo deutet unter den Tisch. Da steht die halb volle Sektflasche. Tom weiß genau, was Rollo denkt.
Sie könnten unter dem Tischtuch verschwinden. Wie früher. In die Höhle zwischen den Füßen. Zuschauen, wie Sigrid den Schuh abstreift, mit dem nackten Fuß an Hannes’ Bein hochwandert. Tom möchte unter den Tisch. Er möchte Verenas Beine sehen. Wie sie aus dem Kleid ragen. Wie sie sie ineinander verschlungen hat, als seien sie aus Gummi.
»Werd erwachsen!«, sagt Tom.
»Ich denk nicht dran.« Rollo seufzt. »Mit dir ist echt nichts mehr los.«
Das Ende des Gesprächs läutet ein Griff in Toms Nacken ein. Tom jault auf. Sein Blick fängt Verenas Blick ein. Sie sieht aus, als täte ihr der Nacken weh, nicht ihm. Er grinst, schlägt mit dem Arm Rollos Hand weg. Will nicht als Verlierer dastehen. Springt auf. Wirft sich auf Rollo. Sie kippen auf den Rasen, reißen den Stuhl um. Tom ist oben, bis Rollo ihn im Schwitzkasten auf den Rücken wirft. Dann umgekehrt. Es geht hin und her. Wie immer. Kraft haben beide gleich viel. Die Mütter stöhnen. Die Väter feuern an. Tom versucht Verenas Stimme aus den anderen zu filtern. Aber sie sagt nichts. Als er unten liegt, kann er sie für einen Moment sehen. Sie sieht genervt aus.
Verena fragt sich, was Jungen dazu bewegt, andauernd ihre Muskelkraft zu messen. Vielleicht hat sie sich doch getäuscht. Vielleicht ist Tom nicht ein Quäntchen erwachsener als Rollo. Vielleicht projiziert sie das, was die Hormone in ihr machen, nur auf Tom, weil er eben da ist. Immer da war.
Tom hat Verenas Gedanken gelesen. Er schlägt mit der Hand auf den Boden und ruft: »Ich gebe auf! Das ist mir zu blöd.«
Rollo springt wie ein siegestrunkener Boxer im Garten herum, Tom rappelt sich auf, klopft die Kleider ab. Er ist jetzt schmutzig, grün vom zermalmten Gras. Er kommt auf Verena zu. Sein Grinsen ist schief. Genau wie die Neigung seines Kopfes. Sie neigt ihren automatisch in dieselbe Richtung.
»Kinderkacke«, sagt Tom. »Ich mach das nur für Rollo. Der braucht das ab und zu.«
Verena ist glücklich, dass Tom der ist, den sie in ihm sieht. In seinen Haaren stecken Grashalme. Verena entfernt einen. Sie spürt die Dicke seiner Haare.
»Du siehst toll aus in dem Kleid«, sagt Tom. »Echt mega.«
Verena sagt nichts, bleibt mit dem Blick zwischen seinen strubbligen Haaren auf der Suche nach Grashalmen. Sie zupft einen nach dem anderen heraus. Sieht, wie sich Schweißperlen auf Toms Stirn bilden, direkt am Haaransatz. Und hätte nichts dagegen, sie zu berühren. Der letzte Grashalm segelt auf den Boden. Verena schaut ihm nach. »Das wär’s«, sagt sie. Sie könnte sich jetzt umdrehen. Noch vor ein paar Wochen wäre es das Normalste auf der Welt gewesen, sich einfach umzudrehen. Zu kommen und zu gehen, wie es ihr in den Kram passt. Zu Tom, der dazugehört wie Essen, Schlafen, Atmen. Der jetzt alles schwer macht. Essen, Schlafen, Atmen.
Tom fragt sich, ob die Energie, die sich zwischen ihren Körpern aufbaut, bei einer Messung jede Skala sprengen würde. Er möchte diese Energie für immer spüren und kann sie doch nicht eine Sekunde länger aushalten.
Bernd zerstört das Energiefeld, stellt sich so dicht neben Verena, dass die Spannung in alle Richtungen entweicht. »Sekt ist alle«, sagt Bernd. »Wir haben hier keinen mehr. Kannst du schnell rübergehen und welchen holen, Tom?«
»Muss das sein?«
»Bring auch noch irgendein leckeres Eis mit. Oberstes Fach in der Truhe«, ruft Sigrid.
»Sehr wohl, meine Königin!«
Tom ist schon an der Lücke im Zaun, als er hinter sich Schritte hört. Leise Schritte, gedämpft durch das Gras. Barfußschritte.
Verena läuft auf ihn zu. »Ich helf dir tragen.«
Sie gehen nebeneinanderher. Ihre Arme schlenkern. Von Zeit zu Zeit streift ihre Hand seine. Er weicht nicht aus. Sie weicht auch nicht aus. Tom fragt sich, ob ihre Hände sich auch früher so berührt haben. Und wieso er sich nicht daran erinnern kann, die aktuellen Berührungen aber nie wieder vergessen wird.
Sie gehen ins Haus, die Treppe in den Keller hinunter. Er vor. Sie hinter ihm. Es ist kühl im Keller. Seinem aufgeheizten Körper kommt das entgegen. Es beruhigt ihn. Sie suchen den Sekt. Der Auftrag macht die Stimmung locker. Sie scherzen. Sie lachen. Sie öffnen die Gefriertruhe. Aus ihrem Inneren steigt eiskalter Dampf.
»Welches?«, fragt Verena.
Wie immer sind geschätzt zehn Eissorten in der Truhe. »Keine Ahnung. Nehmen wir deine Lieblingssorte. Du hast Geburtstag.«
»Schokolade.«
»Seit wann das denn?«
»Seit heute.«
»Schokolade ist meine Lieblingssorte.«
»Ich weiß.«
»Du sagst Schokolade, damit ich bekomme, was ich will?«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Aber du bist der Vanilletyp.«
»Der Vanilletyp?«
»Ja. Alles an dir ist Vanille.«
Es ist raus, ehe er es hat prüfen können. Und er weiß, dass es sich anhört wie etwas, das Tom noch nie zu Verena gesagt hat. Alles an dir ist Vanille. Er hätte so etwas nicht sagen dürfen. Er hätte nicht eine Sekunde länger warten können, so etwas zu sagen.
Verena fragt sich, wieso sie sich die ganze Zeit unsicher war. Obwohl es so eindeutig ist. Obwohl ihr jetzt, nachdem er das gesagt hat, klar wird, dass sie es schon die ganze Zeit gewusst hat. Sie sagt – es kommt wie eine Feder leicht über ihre Lippen: »Und an dir ist alles Schokolade.«
Tom lächelt. »Vanille und Schokolade zusammen ist nicht zu toppen. Schokoladeneis mit Vanillesoße. Vanilleeis mit Schokosoße. Schokostreusel. Schoko–«
»Pst!«, macht Verena und legt den Finger auf die Lippen.
Sie ist jetzt ohne jede Scheu. Ihr Körper ist wieder ganz ihrer, bewegt sich geschmeidig, von alleine. Verena tritt einen Schritt auf Tom zu. Sie stehen jetzt so nah, dass der Stoff ihrer Kleidung sich bereits berührt. Verena muss den Kopf weit nach hinten legen, um seinen Blick nicht zu verlieren. Jetzt will sie ihn nicht mehr verlieren. Seine Hand wandert in ihren Nacken. Das ist angenehm. Sie muss die Schwere ihres Kopfes nicht mehr alleine halten. Tom zieht sie noch etwas näher an sich. Legt den anderen Arm um ihre Schultern. Ihr Körper spürt seinen. Er ist warm. Das einzig Warme in dem Raum unter der Erde, in den die geöffnete Gefriertruhe Eisatem schickt. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen. Er beugt seinen Kopf zu ihr. Sein Atem fährt über ihre Haut. Sie kann ihn riechen. So riecht er. Hat er immer schon gerochen. Riecht er erst seit wenigen Wochen. Sie denkt nicht. Nicht ans Knabbern, ans Saugen, ans Rühren. Sie legt ihre Lippen auf seine und alles andere ergibt sich von selbst.
Tom sieht Verena an. Sie sieht immer noch so aus wie vorher. Und ganz anders. Sie lächelt. So wie Verena lächelt. Wenn sie Torte isst. Wenn der erste Schnee fällt. Wenn Tom sie geküsst hat.
Er sagt: »Das wollte ich schon seit Wochen machen.«
Sie sagt: »Aber ich habe mich nicht getraut.«
Er: »Weil ich nicht wusste, ob du es auch willst.«
»Wie dumm.«
»Saudumm.« Er streichelt ihr die Strähne aus der Stirn. Sie sieht so wunderschön aus im Halbdunkel des Kellers. »Wir nehmen also Vanille und Schokolade mit hoch?«
»Was sonst.«
Sie lachen. Wie gut das ist, so mit ihr zu lachen. Tom hatte schon befürchtet, nie wieder so mit ihr lachen zu können. Sich nie wieder normal zu fühlen in ihrer Gegenwart. Nie wieder ihr Kumpel sein zu können, jetzt, da er in sie verliebt ist.
Sie stellt sich zurück auf die Zehenspitzen, streckt ihm den Mund entgegen. Der zweite Kuss ist anders als der erste. Jetzt denkt er nicht die ganze Zeit daran, dass sie es tatsächlich tun. Jetzt spürt er, wie sich ihre Zunge anfühlt, wie die Lippen. Er nimmt wahr, wie sich seine Spucke mit ihrer mischt, wie ein ganz besonderer Geschmack entsteht. Seine Hände streicheln ihren Rücken. Und auch ihre Hände wandern hoch und runter über sein Shirt. Sein Schwanz steht. Er möchte nicht, dass sie das spürt. Auch wenn er nichts lieber möchte, als dass sie es spürt. Vielleicht werden diese Dinge irgendwann wieder eins ergeben. Bis dahin kann er mit dem Zwiespalt leben. Jetzt kann er mit allem wieder leben.
»Ach du Scheiße!« Rollos Stimme hallt im Keller wider. »Ich kotz gleich.«
Verena löst sich von Tom, weicht zurück. Auf ihren Lippen glänzt Feuchtigkeit. Sie wischt mit dem Handrücken darüber.
Rollo sagt: »Das ist megaekelhaft.« Er macht ein Geräusch, als käme ihm jeden Moment was hoch.
Verena beugt sich über die Truhe und greift nach dem Schokoladeneis. Tom nimmt das Vanilleeis. Sie schließen die Truhe gemeinsam. Als sie sich umdrehen, ist Rollo weg.
»Der geht petzen«, sagt Verena.
»Und wennschon«, sagt Tom. Soll er doch Zeit haben, die Sensation in den gallegrünsten Farben auszuschmücken. Zeit, in der Tom Verena einen dritten Kuss geben kann.
Verena spürt das kalte Eis in der Hand. Neben sich spürt sie Tom. Mit ihm an ihrer Seite ist alles nicht so schlimm. Auch nicht dieser Gang über den roten Teppich. Rampenlicht. Alle Blicke sind auf Verena und Tom gerichtet. In allen Gesichtern ist Neugierde und Sensationslust zu sehen. Oder ist es doch etwas anderes? Etwas, das Kinder nicht deuten können, weil sie es erst deuten können, wenn sie selbst Kinder haben?
»Müssen wir jetzt so tun, als hätte Rollo es uns nicht erzählt?«, fragt Hannes.
»Müssen wir dann so tun, als ob Rollo bei irgendwas die Klappe halten könnte?«, fragt Verena zurück.
So einfach ist das. Alle lachen.
Verena dreht sich zu Tom, zwinkert ihm zu. Er weiß direkt, was sie meint. Jetzt weiß er wieder direkt, was sie meint. Jetzt sieht sie ihn wieder an, ohne Angst davor zu haben, dass er direkt weiß, was sie meint, wenn sie ihn ansieht.
Er sagt: »Und jetzt noch mal für alle«, zieht Verena zu sich und verpasst ihr einen fetten Schmatzer auf die Lippen.
»So sah der Kuss im Keller aus?«, fragt Sigrid enttäuscht, schnappt sich Hannes und schmatzt ihm ein ähnliches Kaliber auf die Lippen. Und auch Inge und Bernd machen lautstark mit.
»Nein!« Rollo fühlt sich verarscht. »Eben war es mit Zunge. Ich hab es genau gesehen.«
Wieder lachen alle.
Inge geht auf Rollo zu. »Mein armer Sohn. Jetzt bist du allein unter verliebten Paaren.« Sie zieht ihn an sich. »Komm, du bekommst einen Kuss von Mama.«
Rollo windet sich aus dem Griff und flieht kreischend hinter den Holunderbusch.
Verena greift nach Toms Hand. Es fühlt sich so gut an, ihn einfach zu berühren. Zu wissen, dass er berührt werden will.
Tom genießt es, Verenas Hand zu halten. Er hat so oft davon geträumt, jetzt tut er es tatsächlich.
Bernd sagt: »Ich will ja nicht angeben und behaupten, ich hätte das schon immer gewusst, aber … ich hab schon immer gewusst, dass bei euch mal der Funke überspringen wird.«
»Ihr passt so toll zueinander«, sagt Sigrid.
»Wie füreinander gebacken«, stimmt Inge zu. »Und vor unsympathischen Gegenschwiegern müssen wir uns jetzt auch nicht mehr fürchten.«
Wahrscheinlich sieht sie vor Augen, was Tom selbst durch den Kopf geht. Dass er und Verena für immer glücklich sein werden. Wie Mama und Papa. Wie Bernd und Inge.
»Was denkst du?«, fragt Verena und lächelt ihn an.
Er streicht ihr die widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. »Ich denke: Ich darf dir jetzt für immer diese Strähne aus dem Gesicht streichen.«
Und sie sagt: »Ja. Du. Und sonst niemand.«
Jetzt
1
Verena träumt. Sie atmet den Duft von nassem Holz ein. Der Wald ist feucht. Tropfen fallen von den Ästen. Bei jedem Schritt, den sie geht, sinken ihre Füße in das nasse weiche Moos. Es ist nicht kalt. Trotz des Nebels scheint die Sonne. Nässe glitzert. Es ist schön. Und fremd. Verena fühlt sich gut. Auf eine Weise, die ihr neu ist. Sie ist ganz alleine. Und doch weiß sie, dass da noch jemand ist. Im Grün versteckt. Nass wie sie. Sie spürt es in den Fußsohlen. Schritte erreichen sie durch den Erdboden. Jemand kommt auf sie zu. Sie freut sich. Spannung breitet sich in ihrem Körper aus. In Armen, Beinen, im Nacken. Schemenhaft ist ein menschlicher Umriss im Nebel zu erkennen. Er kommt auf sie zu. Es ist ein Mann. Es ist nicht Tom. Sie wusste bereits, dass es nicht Tom sein würde. Er streckt die Hand aus, steht direkt vor ihr. Sie berührt seine Fingerspitzen mit ihren. Alles an ihm ist neu. Sie ist neu. Er sagt: »Dein Schatz ruft an!«, mit Toms Stimme.
Verena schreckt auf. Das Handy liegt auf dem Nachttisch. Obwohl es immer diesen Spruch ausspuckt, wenn Tom anruft, fällt Verena darauf rein. Schaut sich um, ob Tom nicht doch im Zimmer steht. Er ist nicht da. Natürlich nicht. Auf dem Display steht sein Name. Leuchtet sein Foto.
»Dein Schatz ruft an! Dein Schatz ruft an!«
Noch einmal, dann wird die Mailbox rangehen. Verena lässt sie rangehen. Sie hat Angst, dass er ihrer Stimme anhört, dass sie geträumt hat. Was sie geträumt hat. Dass sie es schon wieder geträumt hat. Es ist vier Uhr nachmittags. Wieso sie eingeschlafen ist, weiß sie nicht. Sie wollte nur kurz die Augen schließen, bevor alle kommen. Von unten hört sie Inges Stimme, Teller klappern. Sie steht auf, sieht sich im Spiegel an. Natürlich ist sie nicht nass.
Tom findet, auf die Mailbox zu sprechen macht keinen Sinn. Es gibt nichts Wichtiges zu sagen. Sie haben sich noch vor zwei Stunden gesehen. Sie haben die Nacht zusammen verbracht, um zwölf angestoßen, nur sie beide, im Bett. Sie haben ausgeschlafen. Mit Rollo, Inge und Bernd gefrühstückt. Er hat sogar gesungen. Obwohl er nicht singen kann. Richtig gefeiert wird am Abend. Noch eine Stunde. Dann sieht er sie sowieso wieder. Er weiß auch nicht, warum er sie anruft. Etwas in ihm möchte sich vergewissern, dass sie noch da ist.
Er schaut auf die Dinge, die vor ihm auf dem Schreibtisch liegen. Die Geschenkpapierrolle. Das Klebeband. Er hätte gerne noch einmal mit ihr geschlafen, solange sie siebzehn ist. Aber sie war zu müde. Die Lernerei macht sie müde. Als wenn es wichtig wäre, wie alt sie ist. Er wird auch noch mit ihr schlafen, wenn sie siebzig ist. Wenn er dann noch kann. Jetzt kann er immer. Und will auch immer. So sind Jungs nun mal. Und Mädchen sind anders. Sie müssen in Stimmung sein. Sie sind nicht in Stimmung, wenn sie müde sind und den Kopf voll haben mit Vokabeln und Formeln.