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Es geht um:
ein Chamäleon in Kampfstellung, ein Bäume umarmendes Wesen, Hoffnung, einen gemeinen Kochtopf, Götter und Fantasiegestalten, Motivation, einen im Graben liegender Trottel, Inspiration, Licht und Schatten.
Kurzgeschichten: Fantasie und Realität und alles dazwischen.
Tod, Liebe, Tragik, Wortgeflechte.
Einige Kurzgeschichten der letzten Jahre gesammelt in einem Buch.
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Veröffentlichungsjahr: 2013
Selena weinte herzzerreißend. Sie schluchzte und schniefte den ganzen Weg vom Haus bis zum Wald. Plötzlich spürte sie, dass sie nicht mehr alleine war. Sie blickte auf. Da ging ein kleines Wesen neben ihr her. Sie runzelte die Stirn. Was war das? Es sah ein bisschen aus wie ein Mädchen, eine Puppe vielleicht. Und dann war es wieder ein Mensch, zart schimmernde Haut, helle lange Locken. Dunkle Augen und ein ernster Blick.
„Wer bist du denn?“, fragte sie und obwohl sie sich Mühe gab, unfreundlich zu klingen, drang die Neugierde aus ihren Worten hervor.
„Das ist doch ganz egal“, meinte das Wesen. „Du solltest aufhören, traurig zu sein.“
„Und wie?“
„Das ist leicht“, meinte das Wesen. „Ich mache dir eine Geschichte. Dann wird es gleich besser.“
Gina, das Chamäleon, huschte auf die Schulter ihres Besitzers und sah sich um. Jedenfalls nahm der Mann das an - er war mit den Gewohnheiten seiner Chamäleondame zwar sehr vertraut, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihn ab und zu zum Staunen brachte. Womöglich sah sich Gina gar nicht wie er selbst im Raum um. Vielleicht sah sie nur fern. Da hing ein Fernseher an der Wand. Oder sie hatte eine Fliege entdeckt.
Die Bar, in die er heute geraten war, lag am Hafen. Draußen war es kalt und nass, drinnen war es stickig und der Raum war voller Rauch. Nachdem er den Mantel aufgehängt hatte, setzte er sich in eine Ecke und holte seine Pfeife hervor. Er lehnte den Stock griffbereit neben sich an die Holzbank und musterte die Wände.
Diese verfluchte Frau, warum hatte sie nicht in sein Haus liefern können? Sollte sie sich jetzt auch noch verspäten, würde er sich jemand anderen suchen. Nie wieder würde er mit dieser unpünktlichen Person Geschäfte machen. Er grummelte vor sich hin und bestellte einen Kaffee. Der Kaffee war alt und schmeckte nach Wasser. Nicht einmal dazu waren diese verdammten Faulenzer im Stande.
Gina zog ihre Augen in den Kopf zurück und versuchte trotz des Lärms zu schlafen. Verrücktes Tier!
Die rothaarige Frau war dick und hatte Lachfalten im Gesicht. Tatsächlich hatte er sie noch nie gesehen, aber er erkannte ihre laute, fröhliche Stimme sofort. Hunderte Telefongespräche hatten sie miteinander geführt. Sie wirkte freundlich, doch ihre Kleidung war fleckig und unordentlich: Ein Teil ihrer Bluse war nicht in die Hose gesteckt.
„Herr Serrator?“, fragte sie.
„Frau Faber“, krächzte er. Er deutete auf den leeren Stuhl ihm gegenüber und sie setzte sich. Aus ihrer gigantischen Handtasche holte sie einen in ein Tuch gewickelten Gegenstand hervor. Herr Serrator streckte die Hand aus und öffnete das Paket.
„Was soll denn das sein?“, knurrte er widerwillig. Seit wann interessierte er sich für die Arbeit eines Schlossers? Zweifellos war es ein schöner Schlüssel, den sie ihm da zeigte. Aber das war nun wirklich nicht sein Fachgebiet. Hatte die unmögliche Person etwa Alzheimer?
„Es geht nicht um den Schlüssel. Es geht um die Tür, die er aufsperrt. Und viel wichtiger ist, was sich in dem Raum befindet. Unglaublich. Sie werden erfreut sein. Sehr erfreut!“
„Warum treffen wir uns dann nicht dort, Sie verfluchtes Biest, warum locken Sie mich denn hierher?“
„Ich muss sofort weiter. Ich habe keine Zeit. Hier ist die Adresse. Wenn Sie etwas entwenden, werden Sie es mir bezahlen. Ich weiß, wo ich Sie finden kann. Dankeschön.“ Mit einem ironischen Grinsen auf ihren Lippen machte sie sich auf den Weg.
Herr Serrator hob den Schlüssel auf Augenhöhe. Er war alt und mit der Hand geschmiedet, kunstvolle Verzierungen gaben ihm eine beachtliche Größe. Die Adresse befand sich nur ein paar Gassen weiter. Entschlossen steckte Herr Serrator den Schlüssel in die Hemdtasche, legte Geld auf den Tisch und nahm seinen Stock.
„Gina, das müssen wir uns ansehen.“ Gina antwortete nicht, aber als die Beiden durch die Tür ins Freie traten, nahm sie eine dunkle Farbe an. Herr Serrator sah es und steckte Gina unter seine Jacke, damit ihr nicht zu kalt wurde. „Man sollte meinen, dass ein Tier, das seit mindestens 26 Millionen Jahren überlebt, einen Kälteschutz eingebaut hat. Das nächste Mal bleibst du zu Hause“, drohte er.
Dann hörte er ein Geräusch und wirbelte herum. Er stützte sich auf seinen Stock und wartete ab, ob sich jemand zeigte. Er brummte nachdenklich und versuchte, etwas schneller zu gehen. Sein Bein schmerzte, aber es war ja nicht weit. Vielleicht waren es nur die Boote gewesen. Das Wasser hatte dagegen geschlagen. Ja, so musste es sein. Nein, da war noch ein Geräusch. Was war das?
„Gina, siehst du was, was ich nicht sehe?“, flüsterte Serrator, aber Gina antwortete nicht.
Immer wieder drehte er den Kopf nach hinten, aber er sah einfach nichts. Langsam wurde es dunkel. Da war endlich das Haus, nachdem er gesucht hatte. Ein altes Vorhängeschloss versperrte ein großes altmodisches Tor mit dicken Eisenstreben. Der Schlüssel passte. Es war nicht einfach, das Tor zu öffnen, aber dann war es geschafft. Herr Serrator tappte zwei Schritte ins Innere des Hauses. Es war zu finster, um etwas zu erkennen. Gina kletterte wieder auf seine Schulter. Er tastete sich vor zur Wand und suchte nach dem Lichtschalter.
In dem Moment begann Gina, an seinem Hals zu kratzen.
„Was soll denn das? Du blödes Vieh! Gina! Lass das! Sofort!“, rief Herr Serrator, doch Gina ließ nicht von ihm ab. Endlich war das Licht eingeschaltet und er sah, dass Gina angespannt wartete.
„Keine Bewegung!“, hörte er da eine Stimme hinter sich. Verwundert drehte er sich um und sah eine Pistole auf sich gerichtet.
„Was soll denn das?“, rief er dem Mann zu, der durch seinen Hut über zwei Köpfe größer war als Herr Serrator selbst. „Das ist kein Einbruch, Mann, ich habe doch den Schlüssel!“
„Ja, aber von wem? Frau Faber ist keine gute Frau. Sie ist böse. Sie verkauft an böse Menschen.“
„Was reden Sie denn da?“, schnauzte Herr Serrator dem Mann entgegen.
„Frau Faber steht seit Jahren unter Beobachtung. Jetzt habe ich sie endlich.“
„Ja, und? Was habe ich denn damit zu tun? Nehmen Sie sofort die Waffe runter! Ich bin unbewaffnet!“
„Frau Faber ist mit Ihnen befreundet. Sie werden mich zu ihr führen“, befahl der Mann mit dem Hut.
„Aber ich weiß nicht, wo sie wohnt!“ Herr Serrator nahm den einen Arm, den er erhoben hatte, wieder herunter.
„Hören Sie, ich habe Faber heute zum ersten Mal getroffen! Wenn Sie sie beschatten, wissen Sie das doch!“
„Ich glaube Ihnen kein Wort!“, stammelte der Mann, aber er wirkte schon verunsichert.
„Gina, der ist ja irre!“, sagte Herr Serrator leise. Die Beiden waren sehr aufgeregt.
„Es ist noch jemand hier? Mit wem haben Sie gesprochen? Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!“, schrie der Mann.
Herr Serrator begann zu lachen. Er konnte nicht anders. Seit Jahren hatte er nicht mehr gelacht. Jetzt konnte er es nicht verhindern. Er wollte Gina hochhalten und pflückte sie von seiner Schulter.
„Keine Bewegung!“, schrie der Mann wieder. Dann drückte er ab.
Herr Serrator stürzte zu Boden.
„Aber Gina ist doch hier in meiner Hand ...“, murmelte er leise, während er erleichtert bemerkte, dass alles schwarz wurde.
Gina kletterte seinen Arm entlang, wechselte die Farbe und ging in Kampfstellung.