Ein Tag ohne Nacht - Gudrun John - E-Book

Ein Tag ohne Nacht E-Book

Gudrun John

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Beschreibung

Die Idee, Geschichten zu schreiben, entstand in einer der hellen Sommernächte am Nordkap. Aber es dauerte fast ein ganzes Leben, bis Gudrun John ihre Erzähl-Ideen verwirklichen konnte. Nach zahlreichen, abenteuerlichen Reisen über die ganze Welt entstand schließlich ein buntes Kaleidoskop außergewöhnlicher Geschichten. Sie erzählen von plötzlichen Überfällen und unerwarteten Stammes-Kriegen in Papua-Neuguinea; von einem uralten, totgesagten Regenzauber im Jemen und von den Liebesgedichten eines Dalai Lama. Gudrun John entführt den Leser in traumhafte Landschaften und lässt ihn teilnehmen an besonderen Festen, Kulthandlungen und ergreifenden Begegnungen. Ob in Indien, in Guatemala, in Tibet oder entlang der Seidenstraße, überall gibt es ein Geheimnis zu entdecken, welches den Leser neugierig macht, die nächste Geschichte zu lesen.

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für meinen Mann und alle die dieses Buch mit Freude lesen

Inhalt

Ein Prolog – oder – Ein Tag ohne Nacht

Ein Tag in den Hochland-Dörfern von Papua – oder – Glück für die einen – Pech für die anderen

Ein Tag am Kailash – oder – Der Sprung in ein neues Leben

Ein Tag in Chichicastenango – oder – Die bunten Häuser der Muertitos

Ein Tag in Tawang – oder – Der Traum vom Liebesnest

Ein Tag im Wadi Hadramaut – oder – Das Steinbockfest gibt es doch

Ein Tag in Kashgar – oder – Hier ist das Fettschwanz-Schaf der Star

Ein Tag im Dorf der tönernen Pferde – oder – Eine verbotene Liebe

Ein Tag in der Wüste – oder – Ein Meer aus Sand

Ein Tag in Rishikesh – oder – Die große Nacht des Shiva

Epilog – oder – Ein neuer Tag in Irgendwo

Ein Prolog

– oder –

Ein Tag ohne Nacht

Damals war ich gerade achtzehn geworden, war Studentin im ersten Semester, voller Lebensfreude, und einmal wieder mit meiner Schwester unterwegs in den Ferien. Diesmal hatten wir eine Freundin von ihr mitgenommen. Die Fahrt in die nordischen Länder war recht kostspielig, und zu dritt würden sich die Ausgaben für den Einzelnen in Grenzen halten. Außerdem wäre die Wahrscheinlichkeit eines erhöhten Streitpotentials bei Anwesenheit einer dritten Person geringer; das waren unsere Überlegungen.

Jede von uns Dreien hatte während unserer Reise ihre ganz bestimmten Aufgaben zu erfüllen, so war es vorher abgesprochen; wir wollten auf diese Weise jeden unnötigen Ärger vermeiden. Der fing aber schon gleich in Dänemark an. Meine Schwester fuhr ihren hässlichen blauen Kadett, das machte sie prima; ich war der Copilot und musste auf der Karte den richtigen Weg finden, was meistens auch funktionierte; die Freundin war für die Essenstasche verantwortlich, das heißt, sie musste die Vorräte verwalten, was ihr aber völlig misslang. Unter anderem hatten wir von zu Hause Rübenkraut mitgenommen, damals ein durchaus üblicher und kostengünstiger Brotaufstrich. Das Eimerchen mit dem süßen Sirup sollte eigentlich bis zum Ende unserer Reise reichen, aber ihr war wohl entgangen, dass man den Deckel nach dem Gebrauch auch wieder sorgfältig verschließen muss. Beim nächsten Essensstopp wollte sie uns dann lieber in eine Imbissbude einladen, da ahnten wir noch nichts Böses. Aber am Abend – der Blick in die Tasche – wir wussten nicht, ob wir lachen oder schimpfen sollten. Dauerwürstchen, Käse, Eier, Brot, Besteck – alles war zu einer braunklebrigen Masse verbacken, die nicht mehr zu gebrauchen war. Wir entzogen ihr daraufhin die Verantwortung für eine neue Tasche. Obwohl uns damit nicht wirklich geholfen war.

Später in Norwegen, als wir mindestens schon zwei Wochen unterwegs waren, haben wir uns fast ein bisschen für den Ärger über eine solche Lappalie geschämt. Wir fuhren damals auf einer endlos geraden Straße, ich weiß gar nicht mehr, wie lange wir immer nur geradeaus gefahren waren. Die Landschaft rechts und links war öde und leer, hügelige, mit braungrünem Gestrüpp bedeckte Wildnis, nur hin und wieder ein bunter Tupfen Heidekraut.

Dann stand da plötzlich dieser VW-Bus; aus dem Fenster hing ein Arm mit einem weißen Taschentuch. Hinter dem Steuerrad saß mit blutverkrustetem Gesicht ein junger Mann, der nur noch sagen konnte: „Helft mir!“ Meine Schwester hatte ein Jahr Krankenhausdienst hinter sich, deshalb war wohl auch ihr „Notfallköfferchen“ mit im Gepäck. Sie wusste, was in einer solchen Situation zu tun war, und bald war er wieder einigermaßen ansprechbar. Wie er uns dann erzählte, war er wohl für einen Moment unaufmerksam gewesen und hatte mit zu hoher Geschwindigkeit eines dieser verdammten Schlaglöcher erwischt. Dabei wurde er so heftig gegen das Autodach geschleudert, dass er jetzt eine riesige Platzwunde am Schädel hatte, die unbedingt genäht werden musste. Dafür waren wir nun aber doch nicht ausgerüstet. Was also tun? Wir mussten dringend einen Arzt finden; nur wo? Auf dem Weg zurück konnten wir uns an kein Dorf erinnern, und was vor uns lag, und ob es da einen Arzt geben würde, wussten wir nicht. Unserem „Patienten“ ging es wieder schlechter, und wir gerieten zusehends in Panik. Da tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein Mann auf, der ein Rentier an einem Strick mit sich führte. Er trug die alte Tracht der Samen, so nennt man wohl heute das Volk der Lappen – und dann dieser Elch! Für mich war es jedenfalls ein Elch, denn er erschien mir riesig und wunderschön, wie aus einem Märchen. Es gibt Momente, die irgendwann zu Geschichten werden, so ungeheuerlich brennen sie sich ins Gedächtnis. Damals habe ich das jedoch kaum als Idee wahrgenommen, damals zählte nur der Augenblick der Not und einer möglichen Erlösung.

Der Elch-Mann näherte sich nur sehr zögerlich, aber er verstand sehr bald, dass wir dringend Hilfe brauchten. Unsere Karte sagte ihm gar nichts; er zeigte immer wieder in die Ferne vor uns, und meinte, dass wir dort wohl einen Arzt finden würden. Wir packten also unseren Patienten in unser Auto und fuhren los. Die Freundin ließen wir bei seinem Auto zurück. Aber es kam kein Dorf, wir fuhren und fuhren, bald völlig verzweifelt. Dann, nach mehr als hundert Kilometern, Häuser!

Es war inzwischen zwei Uhr nachts. Für uns war es Tag – und für die anderen wohl auch. Es war ja hell, das heißt grau-hell, und gleich im ersten Haus saßen Leute auf der Veranda, die wir fragen konnten. Einer von ihnen führte uns dann auch sofort zum Arzt. Aber der wollte die Klingel nicht hören und öffnete erst, als wir heftig gegen die Tür polterten. Er machte sie einen Spalt breit auf und sagte nur: „Ich habe Urlaub!“ Dann schlug er sie wieder zu. Wir polterten wieder, und wieder. Schließlich machte er doch auf. Wahrscheinlich wollte er nur sagen, dass er Urlaub hätte. Aber ich kam ihm zuvor und erklärte ihm voller Zorn, dass ich Medizin studieren würde und dass ich sein Verhalten unmöglich finden würde. Das stimmte so gar nicht, ich hatte nur einen Freund, der Medizin studierte, aber meine Worte zeigten Wirkung, und er führte uns brummig in sein kleines Behandlungszimmer, irgendwo im Keller. Ich wollte mich hier lieber nicht umsehen, er schien wohl schon länger Urlaub zu haben. Unser Patient war jedoch nach einer Weile versorgt, bekam noch eine Spritze, und wir konnten ihn wieder die endlose Straße zu seinem Auto zurückfahren. Am Morgen, der genauso aussah wie die Nacht, trennten sich unsere Wege.

Nach diesem Schrecken folgte pure Lebenslust. Auf dem nördlichen Peer-Gynt-Weg trafen wir eine kleine Gruppe Studenten, die uns gleich zu sich nach Hause einluden. Ich kann mich noch an die riesige Buttercreme-Torte erinnern, die wir gemeinsam verspeisten, und an den „verbotenen“ Schnaps, den wir beisteuerten, und an die verrückten Tänze, und an ihre seltsamen Lieder, die eigentlich nichts mit Liedern zu tun hatten. Sie waren den Gesängen der Samen nachempfunden, die sich „das Volk der Sonne und des Lichts“, nennen. Dazu schlug einer die mit Symbolen bemalte Schamanentrommel, wie ich sie auch schon auf Abbildungen sibirischer Schamanen gesehen hatte. Ein anderer blies auf einer Art „grünen“ Flöte. Sie nannten das, was sie da taten „Joik“. Und sie erklärten uns, dass dies alles ein wichtiger Teil ihrer Geschichte sei, fest verankert im animistischen Glauben ihrer Vorfahren und deren rituellen Handlungen.

Ich war fasziniert und einfach nur hingerissen von ihrem spontanen Gesang, der die raue Landschaft der vergangenen Tage wieder vor mir entstehen ließ, dazu die unerwartet eingestreuten, fröhlichen Momente der Musik, die Freude am Leben. So verbrachten wir eine lange Tag-Nacht, denn die Sonne ging einfach nicht unter – und wir nicht schlafen.

Unsere Studenten-Freunde drängten uns dazubleiben, wir aber wollten unbedingt weiter, nach Norden, zum Nordkap, dem fast! nördlichsten Punkt Europas. Dort, das hatten wir uns fest vorgenommen, würden wir uns im einzigen Postamt Europas, das nach alter Tradition Champagner ausschenkt, ganz sicher ein Gläschen gönnen. Es heißt, dass Carl Vogt, ein deutsch-schweizer Naturwissenschaftler, nach Champagner verlangte, als er es endlich geschafft hatte, 1861 das Nordkap zu erreichen. Und alle anderen haben es ihm wohl nachgemacht!

Wir fuhren und fuhren, Tag und Tag-Nacht – und waren eigentlich nie wirklich müde, eher erschöpft, aber nicht müde. Wir bauten unser Zelt auf, wann immer uns danach war und wo wir einen geeigneten Platz fanden. Manchmal konnten wir auch in einem kleinen Dorf übernachten, in einer eher privaten Unterkunft, wo wir wie eigene Kinder umsorgt wurden. Die Toiletten waren hier die völlig unerwartete Attraktion. Meist erwiesen sie sich als ein geräumiges Plumps-Klo mit zwei Sitzen nebeneinander. Vielleicht wollte man spannende Gespräche dort einfach weiterführen. Der wirkliche Sinn hat sich mir aber nicht erschlossen.

Die einzige Straße, die damals nach Norden führte, war nicht für hohe Geschwindigkeiten gebaut. Kaum gab es asphaltierte Abschnitte, aber der feine Sand-Schotter-Belag war wie von Geisterhand gesäubert und sah immer glatt und wie gerecht aus. Vielleicht war der Grund hierfür auch der wenige Verkehr, denn stundenlang begegnete uns kein Auto. Abwechslung brachten nur die kleinen, spiegelnden Seen, die den Blick für einen kurzen Moment festhielten und vom Grau-Braun-Grün-Gelb der Landschaft ablenkten. Und natürlich die Elche, für mich waren alle Rentiere „Elche“. Manchmal standen sie einfach da, zu mehreren, ganz friedlich, mit ihrer beeindruckenden Körpergröße und dem Riesengehörn.

Irgendwann hatte die Straße tatsächlich ein Ende. Wir standen am Ufer des Nordmeeres, in einer kleinen Bucht, an der Anlegestelle des Fährbootes, das uns zum endgültigen Ziel unserer Reise bringen sollte, dem Nordkap. Und was stand da vor uns? Ein Fiat aus Italien! Nach so viel Einsamkeit wussten wir nicht, ob wir uns über diese menschliche Abwechslung freuen sollten.

Aber da stieg schon ein junger, schöner Mann aus und strahlte uns an. „Guten Tag, Francesco!“, begrüßte ich ihn. „Woher weißt du, wie ich heiße?“ „Ich dachte, du bist die Wiedergeburt“, aber weiter kam ich nicht. Er lachte sein fröhliches Lachen, das ihn so unglaublich sympathisch machte. „Ich komme aber aus Neapel, und nicht aus Ravenna!“ Meine Schwester und die Freundin schauten ziemlich ratlos in die Runde. „Mein Landsmann, Francesco Negri, ein Franziskaner-Mönch, war Mitte des 17. Jahrhunderts der erste Tourist auf dem Nordkap.“ „Und er wollte wissen, wovon sich die Menschen hier am unwirtlichsten Ende der Welt ernähren!“, ergänzte ich, weil ich es irgendwo gelesen hatte und weil ich meinen leeren Magen spürte. Wir hatten tatsächlich den ganzen Tag über fast nichts gegessen. „Ich weiß nicht mehr so genau, was er vor dreihundert Jahren darüber herausgefunden hat“, meinte er dann, „aber ich weiß, wie man sich hier im Jetzt ernähren kann. Was wünscht ihr euch, was soll ich kochen?“ Da war wieder mein nagendes Hungergefühl. „Wir wünschen uns natürlich Spaghetti mit einer leckeren Soße, dann einen Fisch und als Abschluss noch einen Espresso“, sprudelte es einfach aus mir heraus. „Kein Problem, meine Damen“, meinte er lachend. „Du hast übrigens den Wein vergessen! Und den Fisch muss ich erst noch fangen. Aber wenn ihr mir ein bisschen Zeit lasst?!“

Schon war er wieder in seinem Auto verschwunden. Meine Schwester schaute ziemlich genervt, müde von der langen Fahrt. „Ich gehe jetzt eine Runde schlafen“, gab sie uns mürrisch zu verstehen. Wir krochen mit ihr in unseren hässlichen Kadett, klemmten wieder die Handtücher in die Scheiben, damit es wenigstens ein bisschen dunkel war und versuchten zu schlafen. „Du spinnst mal wieder! Aber ich hab‘ auch Hunger“, hörte ich meine Schwester noch etwas einlenkend sagen, dann war sie wohl eingeschlafen.

Ein lauter, klatschender Schlag auf die Kühlerhaube weckte uns. Da stand Francesco, mit seinem Lächeln und einem großen Fisch. „Ich bin fast fertig!“ Er hatte sogar schon einen Tisch aufgestellt, mit einer Decke, Tellern und Gläsern. Zum Staunen blieb gar keine Zeit. Wir holten unsere Klappstühlchen – und dann speisten wir – wie einst die Könige und berühmten Nordkap-Touristen – und konnten es einfach nicht glauben! Als Vorspeise gab es Spaghetti mit einer himmlischen Salsa, dann in Olivenöl gebratenen Fisch, dazu einen wunderbaren Wein und zum Schluss Espresso.

Da saßen wir Vier in dieser taghellen Nacht, mit zufrieden strahlenden Gesichtern, tranken köstlichen, italienischen Wein, und vertrieben uns die Zeit, bis das Fährboot kam, mit Geschichten-Erzählen. Von Nebelschwaden eingehüllt, wurde unsere kalte, raue Wirklichkeit hier am Ende der Welt zu einer riesigen Bühne der Phantasie. Es fiel mir nicht schwer, sprechende Elche zu erfinden, Trolle und Feen zum Leben zu erwecken.

Die Geschichten als Genre, ob wahr oder halb wahr oder ganz erfunden, sie waren es, die mich in der Literatur schon immer am meisten fasziniert hatten. Vielleicht sollte ich irgendwann einmal damit beginnen, meine Geschichten zu schreiben. Dieser aufkeimende Gedanke begeisterte mich, bis, ja, bis lange nach unserem Nordkap-Abenteuer die Lust am Erzählen zu Worten auf Papier wurden. In Norwegen, an jenem „Tag ohne Nacht“, war die Idee dazu geboren worden, die sich durch ein inzwischen langes, bewegtes Leben immer weiter entwickelte, wuchs und sich verfestigte.

Die Bühne für die Geschichten in diesem Buch ist unsere bunte, facettenreiche, globale Welt. Wobei es immer wieder der Mensch ist, der in seinem individuellen und einzigartigen Umfeld agiert, der mich begeistert und immer wieder neu anregt, auch anderen etwas über das Erfahrene und Geschaute zu erzählen.

Zu jeder „Tag-Geschichte“ gibt es eine kurze Erklärung zur Verortung der Handlung. Vielleicht für den einen unnötig, für den anderen aber eine Hilfe, sich in das Erzählte besser hineindenken zu können.

„Und allem Anfang wohnt ein Zauber inne“, diese vielzitierte Zeile aus dem Gedicht von Hesse hat mich auf dem Weg durch meine Geschichten begleitet. Sie sind im Laufe ihres Entstehens zu sprechenden Inseln auf den Stufen meines Lebens geworden, in dem es Wandel gab, Stagnation, aber stets auch einen Neubeginn. Sie haben mein Da-Sein reicher und erfüllter werden lassen. Denn die Protagonisten darin haben mir geholfen, es besser zu verstehen, und es ist ihnen gelungen, die Macht des Zaubers immer wieder neu in mir zu entfachen.

Papua-Neuguinea – ist nach Grönland die zweitgrößte Insel unserer Erde. Vor etwa 8000 Jahren wurde sie durch den ansteigenden Meeresspiegel von Australien getrennt. In der Abgeschiedenheit von der übrigen Welt konnte sich hier eine ganz besondere Artenvielfalt an endemischen Pflanzen und Tieren entwickeln. Politisch teilt sich die Insel in das westliche Irian Jaya, das zu Indonesien gehört und das östliche Papua-Neuguinea, das seit 1975 ein eigenständiger Staat ist.

Die Mitte der Insel durchzieht ein 200 Kilometer breites Gebirgsland, dessen höchste Erhebung im Osten der Mount Wilhelm mit 4500 Metern ist, benannt nach unserem Kaiser Wilhelm II. Gletscher, Vulkane, undurchdringlicher Regenwald und Sümpfe prägen die Landschaft. In den unzugänglichen Tälern haben sich isolierte Stammesgesellschaften mit eigenständigen Kulturen gebildet, wie es sie so in der übrigen Welt nicht gibt. Einige der Stämme im Hochland sind erst in den 1930ger Jahren entdeckt worden. Fast überall hat die traditionelle, künstlerische Kreativität der Einheimischen unter dem Einfluss der Europäer stark gelitten. Bei Kleidung und Schmuck jedoch waren der Phantasie und dem Einfallsreichtum der Ureinwohner keine Grenzen gesetzt. Mit einem bewundernswerten Gefühl für Formen und Farben haben die Menschen aus allem, was die Natur ihnen bot, fantastische Kunstwerke geschaffen. In den „Geisterhäusern“, die nur für die Männer zugänglich sind, kann man noch heute die ehemals tiefe, religiöse Ergriffenheit in der künstlerischen Gestaltung spüren, selbst als Fremder in dieser nahezu unbekannten Welt.

Von den 8,5 Millionen Einwohnern werden etwa 850 unterschiedliche Sprachen gesprochen. Das sind etwa 20 Prozent der gesamten Sprachen der Weltbevölkerung. Diese außergewöhnliche Sprachenvielfalt mag ein Grund für das Fehlen eines allgemeinen sozialen Gefüges sein, welches ein Volk normalerweise eint.

Trotz „erfolgreicher“ Missionierung eines Großteils der Bevölkerung blieben Geisterglaube, Ahnenkult und Hexenwahn tief in den Menschen verankert. Obwohl durch Gesetz verboten, werden noch immer Hexen oder auch Hexer von Klanmitgliedern zu Tode gefoltert. „Sanguma“ nennen sie den bösen Geist, der das Herz der Menschen vergiftet. Er kann sich wie ein Geschwür ausbreiten und alle anstecken, die mit ihm in Berührung kommen. Ausrotten lässt sich der Geist nur, wenn man diese Menschen tötet und alles verbrennt, was in ihrem Besitz ist, so wurde es mir erzählt.

Steinzeitliche Stammesstrukturen und Machtkämpfe mit Pfeil und Bogen, Speer und Keule bestimmen auch heute noch das menschliche Miteinander. Obwohl die Stammeskriege offiziell verboten wurden, finden sie regelmäßig zwischen den Klans statt. Der Diebstahl von Schweinen, unrechtmäßiges Aneignen von Land, Verletzung der Ahnen, Hexerei, das sind die Gründe, die die Kriege auslösen. Noch in den letzten Jahren gab es bei den Kämpfen im Hochland über 4000 Tote, 60.000 Schweine wurden aus Rache abgeschlachtet und unzählige Häuser und Vorratskammern abgebrannt. Und genau dieses Neuguinea wollte ich immer bereisen und kennenlernen. Im Spätsommer 1990 war es dann endlich so weit.

Ein Tag in den Hochland-Dörfern von Papua

– oder –

Glück für die einen, Pech für die anderen

Mit den schwarz-bunten Bildergeschichten der vergangenen Tage im Kopf bin ich gestern Abend eingeschlafen. Nur fünfundzwanzig Flugstunden liegen zwischen meiner alten, vertrauten und dieser verrückten, neuen Welt, deren Geschichten mir niemand glauben wird, wenn ich sie je erzählen werde. Skurrile Szenen schwirren durch meine Erinnerungen, zusammengefügt zu einem hinreißenden Film, in dem die Protagonisten aus allen Zeitaltern unserer Erde wie selbstverständlich miteinander agieren.

Vor zwei Tagen erst sind wir, mein Mann Peter und noch zwei Freunde, gegen Mittag in Mount Hagen angekommen. Wir mussten dringend Geld tauschen, deshalb führte uns der erste Weg vom Hotel direkt zur Bank, vorbei an gepflegten Blumenrabatten und hübschen Häusern. Frauen in Baströcken oder bunten Kleidern begegneten uns, das Tragenetz um den Kopf gebunden, gefüllt mit Kartoffeln, Früchten, Gemüse. Dazwischen lugt oftmals ein Baby hervor. Männer schleppten ihre Ware zum Markt. Viele von ihnen ziert ein irrer Kopfschmuck aus einem kunstvollen, bunten Materialmix, der kaum zu identifizieren ist.

In der Bank musste ich eine Weile warten; vor mir standen zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Es waren Brüder, wie sich später herausstellte. Der eine trug hinten nur ein „ass-grass“; so nennt man hier dies besondere, frisch geschnittene Grasbüschel. Es hängt an einer dünnen Schnur, die um die Lenden gebunden wird und verdeckt eigentlich nur die Pofalte. Vorn gibt sie einem gebogenen Penisköcher den entsprechenden Halt. Der andere trug einen blauen Anzug und ein leuchtend weißes Hemd. Der eine war barfuß, der andere hatte glänzend geputzte Schuhe und eine braune Aktenmappe unter dem Arm. Der eine hatte keine Tasche, dafür trug er einen kuriosen Hut mit allerlei Schmuckwerk.