Ein Zimmer für sich allein - Virginia Woolf - E-Book
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Virginia Woolf

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Beschreibung

Warum werden eigentlich so übermäßig viele Bücher von Männern geschrieben? Geistige Freiheit hängt von materiellen Dingen ab, betont Virginia Woolf in ihrer großen Streitschrift, einem Schlüsselwerk des Feminismus. Und die hatten Frauen über Jahrhunderte nicht. Jede Frau sollte "fünfhundert Pfund im Jahr und ein eigenes Zimmer" haben. Das ist Unabhängigkeit. Axel Monte hat den brillanten Essay übersetzt, mit den nötigen Erläuterungen versehen und ein Nachwort beigegeben, das die Lebensumstände Virginia Woolfs beleuchtet und mit Missverständnissen aufräumt. – Mit einer kompakten Biographie der Autorin.

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Seitenzahl: 230

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Virginia Woolf

Ein Zimmer für sich allein

Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Axel Monte

Reclam

Englischer Originaltitel: A Room of One’s Own

 

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: © akg-images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961856-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020640-9

www.reclam.de

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Nachwort

Zeittafel

1

Aber, mögen Sie vielleicht sagen, wir haben Sie doch gebeten, über Frauen und Literatur zu sprechen1* – was hat das denn mit einem Zimmer für sich allein zu tun? Ich will versuchen, es zu erklären. Als Sie mich baten, über Frauen und Literatur zu sprechen, setzte ich mich am Ufer eines Flusses nieder und begann darüber nachzudenken, was diese Worte wohl bedeuten. Sie könnten einfach ein paar Bemerkungen über Fanny Burney bedeuten, ein paar weitere über Jane Austen, eine Würdigung der Brontës und eine kurze Beschreibung des verschneiten Pfarrhauses in Haworth, womöglich irgendetwas Geistreiches über Miss Mitford, ein respektvoller Verweis auf George Eliot, eine Erwähnung Mrs. Gaskells und fertig.2 Doch auf den zweiten Blick schien die Sache nicht ganz so einfach. Die Überschrift Frauen und Literatur könnte bedeuten, und so haben Sie es vielleicht gemeint: Frauen und wie sie sind; oder sie könnte bedeuten: Frauen und die Literatur, die sie schreiben; oder sie könnte bedeuten: Frauen und die Literatur, die über sie geschrieben wurde; oder sie könnte bedeuten, dass alles drei irgendwie untrennbar miteinander vermengt ist und Sie möchten, dass ich es in diesem Licht betrachte. Aber als ich anfing, das Thema in diesem letzten Sinne zu betrachten, der am interessantesten schien, sah ich bald, dass die Sache einen entscheidenden Haken hatte. Ich würde niemals in der Lage sein, zu einer Schlussfolgerung zu gelangen. Ich würde niemals in der Lage sein, zu erfüllen, was nach meinem Verständnis die erste Pflicht einer Vortragenden ist: Ihnen nach einer Stunde der Ausführungen ein goldenes Körnchen reiner Wahrheit auszuhändigen, damit Sie es zwischen die Seiten Ihrer Notizbücher stecken und für immer auf dem Kaminsims aufbewahren. Ich könnte Ihnen lediglich eine Meinung über einen nebensächlichen Punkt anbieten: Eine Frau braucht Geld und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Bücher schreiben möchte, und das lässt, wie Sie sehen werden, das große Problem der wahren Natur der Frau und der wahren Natur der Literatur ungelöst. Ich habe mich vor der Pflicht gedrückt, in diesen beiden Fragen zu einem Schluss zu kommen – Frauen und Literatur bleiben, was mich betrifft, ungelöste Probleme. Doch um Sie ein wenig zu entschädigen, werde ich Ihnen, so gut ich kann, darlegen, wie ich zu dieser Meinung über das Zimmer und das Geld gekommen bin. Ich werde in Ihrer Anwesenheit so ausführlich und frei, wie es mir möglich ist, den Gedankengang nachvollziehen, der mich zu dieser Ansicht geführt hat. Wenn ich die Ideen offenlege, die Vorurteile, die hinter dieser Behauptung stehen, werden Sie vielleicht feststellen, dass sie einige Auswirkungen auf Frauen und einige auf die Literatur haben. Wenn ein Thema jedoch höchst umstritten ist – und das ist jede Frage, bei der es um die Geschlechter geht –, kann man nicht hoffen, die Wahrheit zu sagen. Man kann lediglich zeigen, wie man zu seiner Meinung gekommen ist, welche es auch immer sein mag. Man kann seiner Zuhörerschaft nur die Möglichkeit geben, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen, wenn sie die Grenzen, die Vorurteile und Eigenarten der Vortragenden bemerken. Literatur vermittelt in dieser Hinsicht wahrscheinlich mehr Wahrheit als die bloßen Tatsachen. Daher schlage ich vor, dass ich mir alle Freiheiten und Vorrechte einer Schriftstellerin nehme, um Ihnen die Geschichte der beiden Tage, die meinem Eintreffen hier vorangegangen sind, zu erzählen – wie ich, gebeugt von dem Gewicht des Themas, das Sie meinen Schultern aufgebürdet haben, darüber nachgedacht und es in meinem Alltag ein- und ausgearbeitet habe. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass die Dinge, die ich nun beschreiben werde, nicht existieren: Oxbridge ist eine Erfindung, Fernham ebenso,3 und »ich« ist nur eine bequeme Bezeichnung für jemanden, den es in Wirklichkeit nicht gibt. Lügen werden mir über die Lippen kommen, aber vielleicht mischt sich auch die eine oder andere Wahrheit darunter; es ist an Ihnen, diese Wahrheit ausfindig zu machen und zu entscheiden, ob es sich lohnt, irgendein Stück davon aufzubewahren. Falls nicht, werfen Sie das Ganze einfach in den Papierkorb und vergessen es.

Da war ich also (nennen Sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael4 oder wie immer es Ihnen gefällt – das ist völlig unwichtig) und saß vor ein oder zwei Wochen bei schönem Oktoberwetter gedankenverloren am Ufer eines Flusses. Jenes Joch, von dem ich gesprochen habe, Frauen und Literatur, die Notwendigkeit, bei einem Thema, das alle möglichen Vorurteile und Leidenschaften weckt, zu einer Schlussfolgerung zu kommen, drückte meinen Kopf zu Boden. Zur Rechten und zur Linken leuchtete irgendeine Art von Büschen golden und purpurfarben, ja, ihre Farben schienen vor feuriger Hitze gar zu brennen. Am anderen Ufer weinten die Weiden, das Haar um ihre Schultern, in fortwährender Klage. Der Fluss spiegelte, was immer er von Himmel und Brücke und brennendem Baum auswählte, und nachdem der Student sein Boot durch die Spiegelungen gerudert hatte, schlossen sie sich wieder, so vollständig, als habe es ihn nie gegeben. Man hätte dort den ganzen Tag lang in Gedanken versunken sitzen können. Die Gedanken – um sie mit einem stolzeren Namen zu belegen, als sie verdienten – hatten ihre Angelschnur in den Fluss ausgeworfen. Dort tanzte sie, Minute um Minute, hin und her, zwischen den Spiegelungen und den Pflanzen, ließ sich vom Wasser heben und senken, bis – Sie kennen den kleinen Ruck – die jähe Verdichtung einer Idee am Ende Ihrer Angelschnur, dann das behutsame Einholen und das vorsichtige Ausbreiten des Fangs? Aber ach, wie klein und unscheinbar sah dieser mein Gedanke aus, als er dort im Gras lag, die Sorte Fisch, die ein guter Angler ins Wasser zurückwirft, damit er fetter und es sich eines Tages lohnen wird, ihn zuzubereiten und zu essen. Ich will Sie jetzt nicht mit diesem Gedanken behelligen, doch wenn Sie aufmerksam hinschauen, können Sie ihn wohl im Verlaufe dessen, was ich nun sagen werde, selbst ausfindig machen.

Aber so klein er auch war, besaß er dennoch die geheimnisvolle Eigenschaft seiner Art: In den Kopf zurückgesteckt wurde er umgehend sehr aufregend und wichtig, und wie er so dahinschoss und abtauchte und hier und dort wieder aufblitzte, verursachte er einen solchen Schwall und Aufruhr an Ideen, dass es unmöglich war stillzusitzen. So merkte ich auf einmal, wie ich in hohem Tempo über ein Rasenstück lief. Im Nu erschien die Gestalt eines Mannes, um mich abzufangen. Doch begriff ich zuerst nicht, dass das Gestikulieren des seltsam aussehenden Individuums in Gehrock und Frackhemd mir galt. Seine Miene drückte Entsetzen und Empörung aus. Da kam mir eher der Instinkt als der Verstand zu Hilfe: Er war ein Pedell, ich war eine Frau. Hier war der Rasen, dort war der Weg. Hier sind nur Fellows5 und Gelehrte zugelassen, mein Platz ist auf dem Kiesweg. Diese Gedanken waren das Werk eines Augenblicks. Als ich mich wieder auf dem Weg befand, sanken die Arme des Pedells herab, nahm seine Miene die übliche Gelassenheit an, und obwohl es sich auf Rasen besser geht als auf Kies, war kein großer Schaden angerichtet worden. Das einzige, was ich gegen die Fellows und Gelehrten, welchem College sie auch angehören mochten, vorbringen konnte, war, dass sie meinen kleinen Fisch verscheucht hatten, um ihren Rasen zu schonen, der seit dreihundert Jahren ununterbrochen gewalzt wurde.

Ich konnte mich jetzt nicht mehr erinnern, welche Idee es gewesen war, die mich zu diesem kühnen unbefugten Betreten angestiftet hatte. Der Geist des Friedens senkte sich wie eine Wolke vom Himmel herab, denn wenn der Geist des Friedens irgendwo weilt, dann in den Innenhöfen und Gevierten von Oxbridge an einem schönen Oktobermorgen. Beim Umherstreifen durch die Colleges, vorbei an den altehrwürdigen Hallen, schien die Rauhheit der Gegenwart hinfortgeglättet, der Leib schien sich in einem wundersamen Glasgehäuse zu befinden, in das kein Laut vorzudringen vermochte, und der Geist, entbunden von jeglicher Berührung mit den Tatsachen (es sei denn, man beträte wieder unbefugt den Rasen), besaß die Freiheit, sich jeglicher Betrachtung anheimzugeben, die im Einklang mit dem Augenblick stand. Wie es der Zufall so wollte, rief mir eine beiläufige Erinnerung an einen alten Essay über ein Wiedersehen mit Oxbridge in den langen Ferien Charles Lamb in den Sinn – Saint Charles, sagte Thackeray und drückte einen Brief von Lamb an seine Stirn.6 In der Tat ist Lamb unter all den Verstorbenen (ich teile Ihnen meine Gedanken so mit, wie sie mir kamen) einer der einnehmendsten, einer, den man gern gefragt hätte: Erzählen Sie mal, wie haben Sie eigentlich Ihre Essays geschrieben? Denn seine Essays sind sogar denen von Max Beerbohm7 mit all ihrer Perfektion überlegen, dachte ich, wegen des wilden Aufloderns der Phantasie, des jähen Aufblitzens von Genie, was sie fehlerhaft und unvollkommen macht, aber vor Poesie funkeln lässt. Lamb kam also vor etwa hundert Jahren nach Oxbridge. Natürlich hat er einen Essay geschrieben – der Titel ist mir entfallen – über die Handschrift eines Gedichts von Milton, die er hier sah. Vielleicht war es Lycidas,8 und Lamb schrieb, wie sehr es ihn erschüttert habe, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, irgendein Wort in Lycidas könne anders sein, als es war. Der Gedanke, Milton könne in diesem Gedicht Worte geändert haben, erschien ihm wie ein Sakrileg. Das brachte mich darauf, mir – so weit ich konnte – die Verse von Lycidas aufzusagen und mich mit dem Ratespiel zu vergnügen, welches Wort Milton wohl geändert haben könnte und warum. Dann fiel mir ein, dass ebenjene Handschrift, die Lamb betrachtet hat, nur wenige hundert Meter entfernt lag, so dass man auf Lambs Spuren über den Innenhof zu der berühmten Bibliothek, die diesen Schatz bewahrt, wandeln konnte. Obendrein, entsann ich mich, als ich den Plan in die Tat umsetzte, liegt in dieser berühmten Bibliothek auch die Handschrift von Thackerays Esmond.9 Kritiker behaupten oft, Esmond sei Thackerays bester Roman. Doch der affektierte Stil, mit seiner Nachahmung des 18. Jahrhunderts, wirkt störend, soweit ich mich erinnere, wobei es jedoch sein könnte, dass der Stil des 18. Jahrhunderts für Thackeray natürlich war – ein Umstand, der sich überprüfen ließe, indem man die Handschrift nimmt und nachsieht, ob die Änderungen der Verbesserung des Stils oder des Verständnisses galten. Aber dann müsste man entscheiden, was Stil ist und was dem Verständnis dient, eine Frage, die – aber da stand ich schon vor der Tür, die direkt in die Bibliothek führt. Ich muss sie geöffnet haben, denn augenblicklich erschien dort, wie ein Schutzengel, der mit dem Geflatter einer schwarzen Robe statt weißer Flügel den Weg versperrt, abwehrend ein silberhaariger, gütiger Gentleman, der, während er mich zurückscheuchte, mit leiser Stimme bedauerte, Damen seien nur in Begleitung eines Fellows des College oder mit einem Empfehlungsschreiben versehen zur Bibliothek zugelassen.

Dass eine berühmte Bibliothek von einer Frau verwünscht wird, ist für eine berühmte Bibliothek völlig bedeutungslos. Ehrwürdig und gelassen, mit all ihren Schätzen sicher an ihrem Busen verwahrt, schläft sie selbstzufrieden und wird, was mich angeht, für immer so weiterschlafen. Niemals wieder werde ich jene Echos erwecken, niemals wieder werde ich um jene Gastfreundschaft bitten, so schwor ich, als ich voller Zorn die Treppe hinabstieg. Bis zum Mittagessen blieb noch eine Stunde Zeit, was konnte man anfangen? Über die Wiesen spazieren? Am Fluss sitzen? Gewiss, es war ein wunderbarer Oktobermorgen, die Blätter trudelten rot zu Boden, beides würde keine große Mühe bereiten. Doch drang Musik an mein Ohr. Irgendeine Andacht oder Feierlichkeit war im Gange. Die Orgel klagte mit Macht, als ich am Kirchenportal vorbeikam. Sogar das Leid der Christenheit klang in dieser gelassenen Atmosphäre mehr wie die Erinnerung an Leid als wie das Leid selbst, sogar das Stöhnen der alten Orgel schien in Frieden gehüllt. Ich verspürte nicht den Wunsch einzutreten, selbst wenn ich das Recht dazu gehabt hätte, denn dieses Mal würde mich vielleicht der Küster anhalten und meinen Taufschein oder ein Empfehlungsschreiben des Dekans verlangen. Doch das Äußere dieser prachtvollen Gebäude ist oft ebenso schön wie das Innere. Obendrein war es vergnüglich genug, zuzuschauen, wie sich die Gemeinde versammelte, etliche hinein- und wieder hinausgingen und am Eingang zur Kirche10 umherschwärmten, wie Bienen am Schlupfloch ihres Stocks. Viele trugen Barett und Talar, manche hatten Quasten aus Pelz an den Schultern, andere wurden in Rollstühlen geschoben, und wieder andere schienen, obgleich noch nicht über die Lebensmitte hinaus, zu so eigenartigen Gestalten gestaucht und gefaltet, dass sie einen an diese riesigen Krebse und Langusten erinnerten, die sich mühselig über den Sand eines Aquariums schleppen. Wie ich so an der Mauer lehnte, erschien die Universität tatsächlich wie ein Refugium, in dem seltene Arten erhalten wurden, die bald ausgestorben wären, müssten sie auf dem Pflaster der Strand11 um ihr Dasein kämpfen. Mir kamen alte Geschichten von alten Dekanen und alten Professoren in den Sinn, aber bevor ich den Mut gefasst hatte, zu pfeifen – es hieß immer, dass ein alter Professor beim Ertönen eines Pfiffes … augenblicklich in Galopp verfiel –, war die ehrwürdige Gemeinde hineingegangen. Das Äußere der Kirche blieb zurück. Wie Sie wissen, kann man ihre hohen Kuppeln und Spitzen, die bei Nacht erleuchtet und meilenweit sichtbar sind, noch weit über die Hügel hinweg erkennen, wie ein Segelschiff, das sich ewig auf Fahrt befindet und nie ankommt. Einst war dieser Innenhof mit seinen ebenen Rasenflächen, den mächtigen Gebäuden und der Kirche vermutlich ebenfalls Marschland gewesen, wo die Gräser wogten und die Schweine wühlten. Gespanne von Pferden und Ochsen, so überlegte ich, müssen die Steine in Fuhrwerken aus fernen Gegenden herbeigekarrt haben, und dann wurden die grauen Blöcke, in deren Schatten ich jetzt stand, mit unendlicher Mühsal Reihe für Reihe einer auf den anderen gesetzt, und dann brachten die Maler ihr Glas für die Fenster, und die Steinmetze waren über Jahrhunderte mit Kitt und Mörtel, Spaten und Kelle auf diesem Dach beschäftigt. Jeden Samstag muss jemand Gold und Silber aus einem ledernen Geldbeutel in ihre alten Fäuste geschüttet haben, denn am Abend vergnügten sie sich vermutlich bei Bier und Kegelspiel. Ein nicht enden wollender Strom von Gold und Silber, überlegte ich, muss sich unablässig in diesen Innenhof ergossen haben, damit weiterhin Steine kamen und Steinmetze arbeiteten, damit geebnet, ausgehoben, geschaufelt und entwässert wurde. Doch damals herrschte das Zeitalter des Glaubens, und es floss reichlich Geld, um diese Steine auf ein festes Fundament zu stellen, und als sich die Mauern erhoben, floss noch mehr Geld aus den Schatullen von Königen und Königinnen und hohen Adligen, um dafür Sorge zu tragen, dass hier geistliche Lieder gesungen und Gelehrte unterrichtet wurden. Ländereien wurden gestiftet und der Zehnte gegeben. Und als das Zeitalter des Glaubens vorbei und das Zeitalter der Vernunft angebrochen war, floss derselbe Strom von Gold und Silber wie zuvor, gelehrte Vereinigungen wurden gegründet und Lehrstühle eingerichtet, nur floss das Gold und Silber jetzt nicht mehr aus der Schatulle des Königs, sondern aus den Truhen der Kaufleute und Fabrikanten, aus den Geldbörsen von Männern, die, sagen wir, als Unternehmer ein Vermögen gemacht hatten und in ihren Testamenten einen beträchtlichen Teil davon zurückgaben, um die Universitäten, an denen sie ihr Handwerk gelernt hatten, mit noch mehr Lehrstühlen, Stipendien und Stiftungen auszustatten. Daher die Bibliotheken und Labore, die Observatorien, die vorzügliche Ausrüstung mit teuren und raffinierten Instrumenten, die jetzt auf gläsernen Borden stehen, wo vor Jahrhunderten noch die Gräser wogten und die Schweine wühlten. Ja, als ich so um den Innenhof spazierte, schien das Fundament aus Gold und Silber wahrlich solide, das Pflaster lag fest gefügt über dem wilden Gras. Männer mit Tabletts auf den Köpfen eilten geschäftig von Treppenhaus zu Treppenhaus. Bunte Blumen blühten in den Blumenkästen der Fenster. Grammophonklänge schallten von drinnen heraus. Es war unmöglich, nicht daran zu denken – was immer es war, der Gedanke wurde jäh unterbrochen. Die Uhr schlug. Es war Zeit, sich auf den Weg zum Mittagessen zu machen.12

Es ist ein seltsamer Umstand, dass Schriftsteller die Angewohnheit haben, uns glauben zu machen, Mittagsgesellschaften seien ohne Ausnahme denkwürdig, weil etwas Geistreiches gesagt oder etwas Kluges getan wurde. Aber nur selten haben sie ein Wort dafür übrig, was gegessen wurde. Es ist Teil der schriftstellerischen Konventionen, weder Suppe noch Lachs noch Jungente zu erwähnen, als seien Suppe und Lachs und Jungente gänzlich unbedeutend, als habe nie jemand eine Zigarre geraucht oder ein Glas Wein getrunken. An dieser Stelle werde ich mir jedoch die Freiheit nehmen, mich über diese Konvention hinwegzusetzen und Ihnen zu berichten, dass die Mahlzeit bei diesem Anlass mit Seezungen begann, die in einer tiefen Schüssel lagen und über die der Koch des College eine Decke aus weißestem Rahm gebreitet hatte, nur hier und da wie die Flanke eines Rehkitzes von braunen Flecken gesprenkelt. Danach folgten die Rebhühner, doch wer dabei an ein paar kahle, braune Vögel auf einem Teller denkt, der irrt. Die Rebhühner, zahlreiche und verschiedene, kamen mit ihrem gesamten Gefolge von Soßen und Salaten, die scharfen und die süßen, alles schön der Reihe nach, mit ihren Kartoffeln, dünn wie Münzen, aber nicht so hart, und ihrem Rosenkohl, mit Blättern wie Rosenknospen, aber saftiger. Und kaum waren der Braten und sein Gefolge bewältigt, da setzte uns der stumme Diener, vielleicht der Pedell persönlich in einer milderen Erscheinungsform, eine von Servietten umkränzte Süßspeise vor, die sich in zuckriger Pracht aus den Fältelungen erhob. Sie Pudding zu nennen und so mit Reis und Tapioka in Verbindung zu bringen, wäre eine Beleidigung. Derweil blitzten die Weingläser golden und purpurn auf, wurden geleert und wieder gefüllt. Und so war allmählich dort unten, auf halbem Wege die Wirbelsäule hinab, wo sich der Sitz der Seele befindet, nicht jenes harte, kleine elektrische Licht, das wir Brillanz nennen, wenn es über unsere Lippen aufscheint, entzündet worden, sondern das tiefgründigere, feinere und unterschwelligere Glühen, das die leuchtend gelbe Flamme des gepflegten gesellschaftlichen Umgangs ist. Kein Grund zur Eile. Kein Grund zu glänzen. Kein Grund, ein anderer zu sein als man selbst. Wir kommen alle in den Himmel und van Dyck ist mit von der Partie13 – mit anderen Worten: wie schön das Leben doch schien, wie angenehm seine Genüsse, wie belanglos dieser Groll oder jener Kummer, wie vortrefflich Freundschaft und die Gesellschaft Gleichgesinnter, wenn man, sich eine gute Zigarette anzündend, in die Polster eines Sessels am Fenster sank.

Wäre rein zufällig ein Aschenbecher zur Hand gewesen, hätte man mangels dessen die Asche nicht aus dem Fenster geschnippt, wären die Dinge ein wenig anders gewesen, als sie waren, hätte man vermutlich nicht die Katze ohne Schwanz gesehen. Der Anblick dieses abrupt endenden und gestutzten Tieres, wie es sachte über den Innenhof stapfte, veränderte durch eine Laune des unbewussten Verstandes für mich die Gefühlslage. Es war, als hätte jemand einen Vorhang beiseitegezogen. Vielleicht lockerte der ausgezeichnete weiße Rheinwein seinen Griff. Auf jeden Fall schien irgendetwas zu fehlen, irgendetwas anders zu sein, als ich beobachtete, wie die Manxkatze mitten auf dem Rasen innehielt, als stelle auch sie das Universum in Frage. Aber was fehlte, was war anders, fragte ich mich, den Gesprächen lauschend. Und um diese Frage zu beantworten, musste ich mich aus dem Zimmer wegdenken, zurück in die Vergangenheit, ja, bis vor dem Krieg, und mir das Bild einer anderen Mittagsgesellschaft vor Augen rufen, die in Räumlichkeiten stattgefunden hatte, die nicht sehr weit von diesen entfernt waren, aber anders war. Alles war anders. Derweil lief die Unterhaltung zwischen den Gästen weiter, die zahlreich und jung waren, einige von diesem Geschlecht, andere von jenem, sie plätscherte dahin, angenehm, ungezwungen, amüsant. Und während sie so weiterlief, stellte ich sie vor den Hintergrund der anderen Unterhaltung, und als ich die beiden miteinander verglich, hegte ich keinen Zweifel, dass die eine die Nachfahrin und legitime Erbin der anderen war. Nichts hatte sich verändert, nichts war anders, außer – hier war ich ganz Ohr nicht allein für das, was gesagt wurde, sondern auch für das darunterliegende Gemurmel und Rauschen. Ja, das war es – dort lag die Veränderung. Vor dem Krieg hätten die Leute bei einer Mittagsgesellschaft wie dieser ganz genau die gleichen Dinge gesagt, aber sie hätten anders geklungen, denn in jenen Tagen wurden sie von einer Art Summen begleitet, nicht artikuliert, aber melodisch, aufregend und das Gewicht der Worte verändernd. Konnte man dieses Summen in Worte fassen? Vielleicht kann man es mit der Hilfe von Dichtern. Neben mir lag ein Buch, ich schlug es auf und stieß rein zufällig auf Tennyson. Und hier fand ich, was Tennyson sang:

There has fallen a splendid tear

 From the passion-flower at the gate.

She is coming, my dove, my dear;

 She is coming, my life, my fate;

The red rose cries, »She is near, she is near«;

 And the white rose weeps, »She is late«;

The larkspur listens, »I hear, I hear«;

 And the lily whispers, »I wait.«14

Die Leidensblume, die das Tor umspinnt, / Sie weint und silberhell die Träne rinnt. / Die Taube kommt, mein Lieb, mein einzig Glück, / Sie kommt, sie kommt, mein Leben, mein Geschick. / Die rote Rose sagt: »Sie naht mit Beben«; / Die weiße Rose sagt: »Ich harrte lange«; / Es lauscht der Rittersporn: »Ich hör es schweben«; / Die Lilie flüstert: »Oh, ich warte bange.«

War es das, was Männer vor dem Krieg bei Mittagsgesellschaften summten? Und die Frauen?

My heart is like a singing bird

 Whose nest is in a water’d shoot;

My heart is like an apple tree

 Whose boughs are bent with thick-set fruit;

My heart is like a rainbow shell

 That paddles in a halcyon sea;

My heart is gladder than all these

 Because my love is come to me.15

Mein Herz singt wie ein Vogel singt / Im Nest an einer Schilfrohrbucht; / Mein Herz bebt wie ein Birnbaumzweig / Gebeugt von dichtgedrängter Frucht; / Mein Herz schwankt wie in heiterer See / Fünffarbig quirlt ein Muscheltier; / Mein Herz ist froher als all dies: / Es kam mein Liebster heut zu mir.

War es das, was Frauen vor dem Krieg bei Mittagsgesellschaften summten?

Es lag etwas so Groteskes in dem Gedanken, dass Leute bei Mittagsgesellschaften vor dem Krieg derartige Dinge, wenn auch nur im Flüsterton, vor sich hin summten, dass ich laut auflachte und dieses Lachen erklären musste, indem ich auf die Manxkatze deutete, die tatsächlich ein wenig absurd aussah, das arme Tier, so ohne Schwanz, mitten auf dem Rasen. War sie wirklich so geboren worden, oder hatte sie ihren Schwanz bei einem Unfall verloren? Schwanzlose Katzen sind, auch wenn es ein paar auf der Isle of Man geben soll, seltener, als man denkt. Es sind sonderbare Tiere, eher kurios als schön. Es ist doch merkwürdig, welch einen Unterschied ein Schwanz16 macht – Sie wissen schon, all die Dinge, die man so sagt, wenn eine Mittagsgesellschaft im Aufbruch begriffen ist und die Leute nach ihren Mänteln und Hüten suchen.

Diese hier hatte sich, dank der Gastfreundschaft des Gastgebers, bis spät in den Nachmittag hingezogen. Der schöne Oktobertag schwand dahin, und die Blätter fielen von den Bäumen der Allee, auf der ich hinausging. Tor auf Tor schien sich mit sanfter Endgültigkeit hinter mir zu schließen. Unzählige Pedelle drehten unzählige Schlüssel in gut geölten Schlössern, das Schatzhaus wurde für eine weitere Nacht gesichert. Von der Allee gelangt man auf eine Landstraße – ich habe ihren Namen vergessen –, die einen, wenn man die richtige Abzweigung nimmt, nach Fernham führt. Aber es war noch viel Zeit. Abendessen gab es nicht vor halb acht. Nach so einem Mittagstisch konnte man beinahe ohne Abendessen auskommen. Schon seltsam, wie einem ein Fetzen Poesie im Kopf herumgeht und die Beine im Takt dazu die Straße entlang bewegt. Diese Worte –

There has fallen a splendid tear

 From the passion-flower at the gate.

She is coming, my dove, my dear –

sangen in meinem Blut, als ich geschwind Richtung Headingley17 ausschritt. Und dann sang ich, wo das Wasser vom Wehr aufgewühlt wird, in den anderen Rhythmus wechselnd:

My heart is like a singing bird

 Whose nest is in a water’d shoot;

My heart is like an apple tree …

Was für Dichter, rief ich laut, wie man es in der Dämmerung tut, was für Dichter sie doch waren!

In einer Art von Eifersucht, vermute ich, wegen unseres eigenen Zeitalters, fragte ich mich dann, so abwegig und dumm diese Vergleiche auch sein mögen, ob man ehrlicherweise zwei lebende Dichter benennen könnte, die heute so bedeutend sind wie Tennyson und Christina Rossetti damals. Offenbar ist es unmöglich, so dachte ich, in das schäumende Wasser blickend, sie miteinander zu vergleichen. Der eigentliche Grund, warum jene Dichtung bei uns eine solche Begeisterung, ein solches Entzücken hervorruft, liegt darin, dass sie ein Gefühl zelebriert, das wir (etwa bei Mittagsgesellschaften vor dem Krieg) zu haben pflegten, so dass wir leicht und unbeschwert darauf ansprechen, ohne uns damit zu belasten, das Gefühl zu überprüfen oder es mit einem zu vergleichen, das wir gegenwärtig empfinden. Doch die lebenden Dichter geben einem Gefühl Ausdruck, das gerade erst entsteht und sogleich aus uns herausgerissen wird. Man erkennt es anfangs nicht, oft fürchtet man es aus irgendeinem Grund, beobachtet es scharf und vergleicht es eifersüchtig und argwöhnisch mit dem alten Gefühl, das man kannte. Daher rührt die Schwierigkeit der modernen Dichtung, und eben wegen dieser Schwierigkeit kann man sich nicht an mehr als zwei aufeinanderfolgende Zeilen irgendeines guten modernen Dichters erinnern. Aus diesem Grund – weil mich mein Gedächtnis im Stich ließ – erlahmte meine Beweisführung aus Mangel an Belegen. Aber warum, so fuhr ich fort, während ich nach Headingley ging, haben wir aufgehört, bei Mittagsgesellschaften leise zu summen? Warum singt Alfred nicht mehr:

She is coming, my dove, my dear?

Warum antwortet Christina nicht mehr:

My heart is gladder than all these

 Because my love is come to me?

Sollen wir dem Krieg die Schuld geben? Konnten die Männer und Frauen, als im August 1914 die Kanonen abgefeuert wurden, einander so deutlich an den Gesichtern ablesen, dass die Romantik getötet worden war? Gewiss bedeutete es einen Schock (besonders für die Frauen mit ihren Illusionen über Bildung und so weiter), die Gesichter unserer Herrscher im Lichte des Granatfeuers zu erblicken. So hässlich sahen sie aus – Deutsche, Engländer, Franzosen –, so töricht. Aber wem oder was auch immer wir die Schuld geben, die Illusion, die Tennyson und Christina Rossetti beflügelte, so leidenschaftlich vom Kommen ihrer Geliebten zu singen, ist heute viel seltener als damals. Man braucht nur einmal zu lesen, zu sehen, zu lauschen, sich zu erinnern. Aber warum von »Schuld« reden? Warum, wenn es eine Illusion war, preisen wir die Katastrophe nicht, welcher Gestalt sie auch immer war, die diese Illusion zerstört und die Wahrheit an ihre Stelle gesetzt hat? Denn die Wahrheit … diese Pünktchen bezeichnen die Stelle, wo ich auf der Suche nach Wahrheit die Abzweigung nach Fernham verpasste. Ja, in der Tat, was war Wahrheit und was war Illusion, fragte ich mich. Wie lautete zum Beispiel die Wahrheit über diese Häuser, jetzt in der Abenddämmerung mit ihren roten Fenstern so schummerig und einladend, aber um neun Uhr in der Früh mit ihren Schnürsenkeln und Süßigkeiten so rauh und rot und ärmlich? Und die Weiden und der Fluss und die Gärten, die sich zum Fluss hinabziehen, jetzt im Nebel, der darüber hinwegzieht, so verschwommen, aber im Sonnenschein rot und golden – was war bei ihnen die Wahrheit, was die Illusion? Ich erspare Ihnen die Drehungen und Wendungen meiner Gedankengänge, denn sie führten auf der Straße nach Headingley zu keinem Ergebnis, und ich bitte Sie, davon auszugehen, dass ich meinen Fehler betreffs der Abzweigung bald bemerkte und meine Schritte wieder Richtung Fernham lenkte.