Eine Absurdität nach der anderen - Francesca Mangano - E-Book

Eine Absurdität nach der anderen E-Book

Francesca Mangano

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Beschreibung

Es war der 18.8.18. Ein Schnapsdatum, wie man es sich für den eigenen Hochzeits- oder Geburtstag wünschen würde. Es hätte auch für Francesca Mangano ein schönes Datum sein können - aber für sie ist es negativ behaftet, sehr negativ. Höllische Schmerzen und grosse Verzweiflung bestimmen von nun an Francescas Alltag. Sie wurde aus ihrem Leben geschleudert, da ein katholischer Pfarrer unaufmerksam war und mit 50 Stundenkilometern in ihr Auto prallte. Bis heute hat sich dieser Diener Gottes mit keinem Wort bei ihr entschuldigt. Francesca verbrachte viel Zeit in Spitälern und Rehaeinrichtungen, wurde fälschlicherweise von der Polizei beschuldigt, für den Verkehrsunfall verantwortlich zu sein, und litt unter enormen Existenzängsten. Sie musste auch mit etlichen Versicherungen kämpfen, damit ihr Unfall überhaupt als Unfall anerkannt wurde. Physische Heilung durfte sie nach jahrelanger, ambitionierter und eiserner Disziplin grösstenteils erfahren. An den psychischen Folgen leidet sie noch immer. Wird ihr jemals Gerechtigkeit zuteil? Geld repariert kein Herz, kein Fundament von Beziehungen und ersetzt auch keine verlorene Lebenszeit. Francesca setzt sich zum Ziel, mit ihrem autobiografischen Essay als Kritikerin der Gesellschaft und des Systems an die Öffentlichkeit zu treten, um die Reflexion zu fördern und Raum für Diskussion zu ermöglichen. Sie bezeichnet sich heute selbst als «unendlich dankbar und unheilbar glücklich».

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Steigen Sie aus, Ihnen ist ja nichts passiert!

Kapitel I

Lotse überrollen erlaubt, aber vor dem Lotsen anhalten verboten

Was gibt 365 minus 1, Herr Doktor?

Abwegig – von der Notaufnahme zu Fuss nach Hause

Zwei kurzfristige Absagen – zweihundert langfristige Konsequenzen

Drei Stunden für eine SMS

Der missratene Apfelbiss

Der zweite unnütze Besuch in der Notaufnahme

Ihr Mittagessen bekommen Sie in zehn Tagen

Allein zu Hause und allein zur Physiotherapie

Die Neuraltherapie als Hoffnungsschimmer gegen die Schmerzen

Meine Traumatherapeutin

Sie nennt sich Unfallversicherungsgesellschaft (UVG) ist es aber bei Weitem nicht

Auto wichtiger als Opfer, das passt zum Täterprofil

Kapitel II

Das Irrenhaus, die erste Reha

Auge um Auge

Die Abwärtsspirale

Der gerechte Pulli

Die antidepressive Uhr

Kapitel III

Kurz vor dem Tod, kurz nach dem Tod

Kapitel IV

Die zweite Reha

Thermalbad, ohne baden gehen zu können

Die temporäre Freundin

Die Scham wegen der Pobacke

Die Bibliothek für Hörbücher und E-Books

Die Privatabteilung im Restaurant

Die Fressattacken

Mein Privatchauffeur

Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt

Der Arzt mit dem gleichen Schicksal

Allein in ein Geschäft: Ess- und Spielwaren

Das Malen

Es hätte auch mich treffen können…

Kapitel V

Lieber spät als nie

Von der Vollnarkose zum Albtraum

Er raubte mir den letzten Nerv

Vom gebrochenen Fuss zur Bauchblutung

Kapitel VI

Schultern zum Anlehnen

Das Vertrauen

Gibt es Gerechtigkeit?

Kapitel VII

Die Juristerei – das geht alles eine Ewigkeit

Der bürokratische Hohn

Diese Regel gilt immer und bei jedem

Kapitel VIII

Der unaushaltbare Schmerz

Drogen sind uninteressant

Ein Unfall – hundertfach erlebt

Ein hilfreicher Therapieansatz

Ein Schatz von Mediziner

Putzfrauendidaktik

Die Hundeangst und die Spitex-Frau

Kapitel IX

Einen Schlussstrich ziehen?

Meine Kristallkugel

Das unerwartete Phänomen

Epilog

Literaturverzeichnis

Anhang

Erläuterungen

Erwähnte literarische Werke

Medikamente

Zeitskala

Fotos

Kopien

Danksagung

Autorenvita

Il est aussi absurde de regretter le passé que d’organiser l’avenir.

Roman Polanski

Das Absurde hat nur insofern einen Sinn, als man sich mit ihm nicht abfindet.

Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos

Das Absurde, mit Geschmack dargestellt, erregt Widerwillen und Bewunderung.

Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen

Prolog

Steigen Sie aus, Ihnen ist ja nichts passiert!

Das wäre schön gewesen, wenn mir drei Minuten vor diesem nötigenden Satz nichts zugestossen wäre.

Alle Absurditäten bauen auf dieser Aufforderung auf. Da an mir nichts Sichtbares kaputtgegangen war, ging der «Nichtseher» davon aus, dass ich unversehrt geblieben war und einfach simulierte. Seit diesem Satz habe ich keine Minute simuliert, ich hatte nicht einmal im Geringsten daran gedacht zu simulieren, da einige grundlegende und selbstverständliche Körperfunktionen bereits zu diesem Zeitpunkt eingeschränkt waren, ohne, dass ich es selbst merkte. So war es beispielsweise mit der unwesentlichsten Mimik. Wie viele Muskeln haben wir im Gesicht? Inzwischen weiss ich, dass ein Auge elf Muskeln hat und für dessen Motorik komplizierte Vorgänge stattfinden müssen, damit die Akkommodation, was eine selbstverständliche und unbewusste, fast sekündlich stattfindende Bewegung ist, überhaupt ablaufen kann. Das Auge muss sich an einen Punkt gewöhnen können, damit ein scharfes Bild entstehen kann. Aber nur schon das Blinzeln war schmerzhaft. Man stelle sich das mal vor… Ich kann mir ausdenken, dass man sich das kaum vorstellen kann. Und wie das Blinzeln waren auch andere Körperfunktionen schmerzhaft. Das Grausame daran war, dass die Schmerzen weder diagnostizierbar noch wirklich effizient behandelbar waren. Das Einzige, was die Heilung förderte, war und ist immer noch unsere liebe Zeit. Die Zeit heilt alle Wunden, heisst doch das Sprichwort von Voltaire. Ich bin einverstanden, dass sie Wunden heilen kann, aber beim Wort alle bin ich skeptisch. Dies erfahre ich leider am eigenen Leib. Es gilt die Hoffnung nie aufzugeben, auch wenn es noch so schmerzt und aussichtlos erscheint. Die Hoffnung trug mich durch den Abgrund, die Hölle und die Dunkelheit. Ein gesundes Motto von Schopenhauer lautet: Immer das Beste hoffen und mit dem Schlimmsten rechnen.

Nachdem meine Ohren diesen auffordernden Satz: «Steigen Sie aus, Ihnen ist ja nichts passiert!» des am meisten von mir verachteten Menschen, wahrgenommen hatten, roch meine Nase noch das Shampoo der Dusche. Die Dusche, die ich vor einer halben Stunde nahm, als meine Welt noch in Ordnung war. Der Pulsschlag war erhöht, mein Hirn dachte nur: «Nein, nein, nein. Nicht schon wieder. Wäre ich doch nur mit dem Fahrrad hergefahren, wäre ich doch nur nach xxx einkaufen gegangen» und und und; und viele andere Konjunktive. Aber der Indikativ – die Realität – spielte sich leider ab an diesem Samstagmittag im Sommer 2018. Auf die Aufforderung reagierte ich nicht. Ich wollte eigentlich nur, dass diese abscheuliche Kreatur – von einem Menschen kann man nicht sprechen – die Türe wieder schloss und wegging. Ich wollte diesen falschen und fatalen Film zurückspulen, nur um drei Minuten, so wie ich dies manchmal an meinen DVD-Gerät machte, um eine Szene nochmals zu sehen, wenn sie mir unverständlich erschien.

Da ich vor allem eine visuelle Einschränkung erlitten hatte, stelle ich mir das eher wie ein Hörbuch vor, das ich kurz zurückspule, um die Sequenz nochmals zu hören. Beim Schreiben dieser Worte kommen mir fast die Tränen. Wie viele Tage ich nicht lesen konnte – meine geliebte Tätigkeit als Lehrerin und Literatin… Ich bin unglaublich froh und hätte fast nicht mehr damit gerechnet, dass ich je wieder würde lesen können. Eine unglaublich grosse Dankbarkeit und meinen Durchhaltewillen spüre ich tagtäglich im tiefsten Innern meines Herzens. Heute könnte ich vom Zeitpunkt des ersten befehlenden Satzes fast jeden einzelnen überlebten und durchlebten Tag beschreiben, in Erinnerung rufen und analysieren. Aus diesem Grund entstand auch dieses vor dir liegende Buch. Ich wünsche dir, lieber Leser, viele spannende Stunden mit «Eine Absurdität nach der anderen. Das kann auch dir passieren.»

Vor gut 20 Jahren habe ich mich für das Thema einer Seminararbeit an der Universität Zürich im Rahmen meines Literaturstudiums für «Le théâtre de l’absurde»1 entschieden. Damals war ich noch jung und naiv, meine Reflexion basierte nur auf den Stücken der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts – genauer gesagt Becketts Warten auf Godot oder falls es dir geläufiger ist, nenne ich noch Rhinocéros. Zusammengefasst steht da ein Rhinozeros in einer Stadt und wühlt sie auf. Was daran absurd ist, möchte ich hier nicht erläutern, weil ich der Meinung bin, dass meine Episoden viel absurder sind, und vor allem real. Genau diese Realität will ich im vorliegenden Buch unterstreichen.

Nichts, aber auch gar nichts ist hier meiner Fantasie entsprungen, kein einziger Satz. Hier habe ich nur Erlebtes und Gefühltes umschrieben und auf Papier gebracht, alles ist genauso abgelaufen, wie es hier steht. Damit möchte ich vor allem zeigen, dass vieles von dem Erlebten absurd ist, nicht absurd im Sinne von «unmöglich sich vorzustellen», sondern absurd im Sinne von «unglaublich, aber wahr». Es ist zum einen mein Ziel zu erzählen, wie ich das alles erlebt habe, und zum anderen möchte ich hier die Leser zur Reflexion anregen. Es sollte nicht einfach alles so akzeptiert werden, wie es sich anbietet, sondern Kritik an unserem System – dem Rechtsstaat, der Demokratie, der Schweiz, dem Gesundheitssystem, den Sozialversicherungen, dem Bildungswesen, den Behörden, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Juristen – ausgeübt werden.

Das war mein Schwur: «Ich werde auf die Missstände aufmerksam machen, wenn ich das Ganze überlebe und wieder Lesen und Schreiben kann. Dann werde ich es veröffentlichen, um die Gesellschaft wachzurütteln.» Es geht mir nicht um Bewunderung oder Mitgefühl, sondern um die Reflexion, die ich dazu angestellt habe und die ich auch dir, lieber Leser, mitgeben möchte. Falls du an einem Austausch interessiert bist, bin ich bereit, mich konstruktiv darüber mit dir zu unterhalten. Ich setze mich für die Leute ein, die widriges Leid erfahren haben und sich Gehör verschaffen wollen. Auch wenn man immer wieder zu hören bekommt, dass es einen grossen Unterschied zwischen «Recht haben und Recht bekommen» gibt. Damit bin ich einverstanden. Und doch finde ich es lohnenswert, dass man sich dafür einsetzt und alles in die Wege zu leiten versucht, damit man sein gesetztes Ziel erreicht. Damit meine ich nicht Geld. Geld hat keinen so hohen Stellenwert. Meines Erachtens gibt es keinen Betrag auf Erden, der das alles wiedergutmachen würde. All die Schmerzen, Ängste und vor allem Konsequenzen werden nicht mit Geld ausgeglichen, nie und nimmer. Es gibt mir mehr Genugtuung, wenn mir Leser Rückmeldungen zu diesem Buch geben.

Falls dir auch einmal so etwas passieren sollte, wünsche ich dir, dass die Erinnerung an mein Buch dir nützlich ist, um deine Situation zu überstehen.

Alles Gute bei der Lektüre, Reflexion und dem Meistern von schwierigen und vor allem ungerechten und absurden Lebenssituationen.

1 Das absurde Theater (Studysmarter.de (2023)), Das absurde Theater entstand in den 1950er Jahren. Sowohl thematisch als auch in Form und Inszenierung fokussiert das absurde Theater die Sinnlosigkeit des Lebens. Andere Themen, die aufgegriffen werden, sind Orientierungslosigkeit und Ängste um die eigene Existenz.

Kapitel I

Lotse überrollen erlaubt, aber vor dem Lotsen anhalten verboten

Eigentlich hatte ich den Blinker nach rechts gesetzt, um auch wirklich nach rechts abzubiegen, um auf den Parkplatz zu gelangen. Beim Abbiegen stand ein Verkehrslotse vor meinem Auto. Ich hielt an, liess das rechte Beifahrerfenster herunter und drehte meinen Kopf zu ihm. Dabei musste ich leicht von unten nach oben schauen, damit ich dem Lotsen in die Augen sehen konnte, so wie das mit dem Kommunikationspartner selbstverständlich sein sollte. Den Kopf legte ich also leicht in den Nacken. Ich war angeschnallt, der rechte Arm war angewinkelt, die rechte Hand war am Lenkrad. Der Lotse begann einen Satz, den ich in diesem Moment nicht mehr wahrnahm: «Sie sollten auf der anderen Strassenseite parken», obwohl das Schild ganz klar nach rechts zeigte. Der Fahrer hinter mir war schon mit circa 50 Stundenkilometer in mein Auto geprallt und hatte mich ungefähr 15 Meter nach vorne geschoben.

In der Sekunde, in der ich nach vorne geschoben wurde, dachte ich: «Nein, nicht schon wieder… Dieses Mal wird es wohl nicht so glimpflich ausgehen.» Schon vier Monate zuvor ist jemand in meine linke Türe gefahren, als dieser rückwärts aus dem Parkplatz fuhr und nicht aufmerksam genug war. Das Auto war damals schon ziemlich ruiniert, aber ich blieb unverletzt, hatte lediglich einen Schock und wagte mich aber bereits am Tag danach wieder hinter das Steuer.

Dieses Mal aber war mir sogleich bewusst, dass dieser Unfall grössere Folgen haben würde. Als mein Auto dann endlich stehen blieb, sah ich im Rückspiegel ein grosses und hohes schwarzes Auto, welches sich von meinem Auto loslöste. Ich dachte noch: «Der muss doch genau da stehen bleiben, damit der Unfallhergang rekonstruiert werden kann!», er war aber schon von meinem Heck losgelöst und überholte mich links. Es kam mir merkwürdig vor. Erst dann realisierte ich, dass er womöglich Fahrerflucht begehen wollte. Er hielt erst viel weiter vorne an, circa 100 Meter vor mir, am Ende der Bushaltestellenbucht. Ich hatte die Augen weit aufgerissen, mein Herz pochte schnell, ich war schockiert und trotzdem irgendwie froh, dass ich nicht irgendwohin geknallt war und dass ich auf den ersten Blick keine Verletzungen bemerkt hatte. Dann aber realisierte ich, dass der Unfallverursacher, ein älterer Herr in einem schwarzen Anzug, dick und unrasiert, sein Auto nach Kratzern kontrollierte. Er lief bestimmt dreimal um sein Auto herum. Währenddessen fragte ich mich, warum er sich eher für sein Auto als für mich interessierte. Heute ist es mir klar: Es handelt sich um einen grossen Egoisten. Wir haben sogar im Anhang seine wörtliche Aussage. Als er also noch um sein Auto herumging, kam der Lotse wieder an das rechte Fenster meines Autos und fragte, ob es mir gut gehe. Doch anstatt eine Antwort abzuwarten, ging er schon wieder weg, zurück zum Unfallplatz. Ich weinte, ich begann zu zittern, ich war geschockt und entrüstet, fühlte mich einsam und fragte mich, ob ich schuldig war, ob ich etwas falsch gemacht hatte. Ich fand es aber nicht heraus. Schlussendlich, weil ich nichts, aber auch gar nichts falsch gemacht hatte.

Wenn ich schuld daran gewesen wäre, hätte ich mir Vorwürfe machen können, aber so suchte ich immer nach dem Grund. Warum ich? Warum hier? Warum jetzt? Zum Glück hatte der Lotse seinen Kopf nicht ins offene Autofenster gesteckt, sonst wäre er womöglich enthauptet worden. Was ich nicht verstand und immer noch nicht verstehe, ist die Tatsache, dass der Pfeil zum Parkplatz in seine Richtung gezeigt hatte, und nicht auf die gegenüberliegende Strassenseite, wohin er mich schicken wollte. Zudem tauchte er aus dem Nichts auf. Scheinbar sass er hinter einem Mäuerchen, weswegen ich ihn erst sehen konnte, als er sich mir in den Weg stellte. Hätte ich nicht angehalten, weil er mir ein Zeichen machte, hätte ich ihn überfahren müssen. Später fragte mich die dilettantische Polizei, warum ich überhaupt angehalten habe. Hätte ich ihrer Meinung nach den Lotsen überfahren sollen? Darauf komme ich noch zu sprechen.

Vielleicht wurde genau wegen meines Unfalls diese Stelle zwei Jahre später so umgebaut, dass man besser sehen konnte, dass jemand da stehen, gehen oder sitzen musste. Ich wollte es herausfinden, jedoch bekam ich dazu keine Informationen von der Gemeinde.

Meine Fahrertüre wurde geöffnet, ich hörte eine Stimme sagen: «Steigen Sie aus, Ihnen ist ja nichts passiert!» Es war der Verursacher, der sich doch noch dazu bequemt hatte, zu mir zu kommen. Doch mit seiner Nötigung und Annahme, dass ich nichts abgekriegt hatte, lag er leider falsch. Die Wunden waren nicht sichtbar, weder für ihn noch für mich noch für die Röntgenstrahlen. Alles nicht objektivierbar. Ich stieg natürlich nicht aus, schaute den Mann auch nicht an, sondern wartete, dass er die Türe wieder schloss und ich weiterweinen konnte. Durch das offene rechte Fenster hörte ich den Lotsen mit dem Verursacher diskutieren. Ich nahm den Inhalt wahr: Der Lotse wollte den Verursacher am Unfallort halten, wohingegen der Verursacher weder die Polizei rufen noch am Unfallort bleiben wollte. Der Verursacher ging wieder zu seinem Auto. Ich versuchte, mir sein Autokennzeichen zu merken, für den Fall, dass er wegfahren würde. Ich konnte es nicht entziffern. Und das nicht, weil die Entfernung zu gross war, sondern weil meine Augen bereits zu diesem Zeitpunkt die Akkommodation nicht mehr vollziehen konnten. Ich stieg aus, denn ich wollte sehen, wie beschädigt mein Auto hinten war.

Ich mochte mein Auto, ich fuhr gerne damit, ich fühlte mich gut darin. Ich löste meinen Gurt, stieg aus, machte die Türe zu, bemerkte, dass ich gut gehen konnte, ging bis hinten zum Heck und erschrak, als ich den Schaden sah. Mein Auto war völlig eingedrückt, der Kofferraum hatte sich geöffnet. Seit dem Aufprall waren vielleicht vier Minuten vergangen. Wie viel einem durch den Kopf geht, erstaunte mich. Ich weinte weiter, der Lotse versuchte, mich auf seinen Stuhl zu setzen. Ich konnte aber nicht einfach stillsitzen, sondern lief zur Mauer und hörte den Lotsen sagen, dass er bereits die Polizei gerufen habe und der Verursacher in seinem Auto warte. Ich rief Martin an. Er nahm nicht ab, ich schrieb eine SMS, es waren vielleicht sechs Wörter: «Hatte Unfall, komm nach xxx.» Er rief an, sobald er die SMS sah. Ich weinte am Telefon und sagte ihm, dass mir der Nacken schmerzte. Er versuchte, mich zu beruhigen, fragte nach der genauen Adresse und fuhr sofort los. Keine 40 Minuten später war ich in seinen Armen. Während ich auf die Polizei wartete, sah ich eine Frau an mir vorbeigehen. Sie schaute mich an, als wäre ich eine Ausserirdische. Ich weinte und sass wie ein Häufchen Elend auf dem Mäuerchen. Sie nahm nur kurz Blickkontakt mit mir auf. In diesem Moment hätte ich mir gewünscht, dass eine Frau mich beruhigt, mich getröstet hätte. Sie lief an mir vorbei. Ich werde ihr Gesicht nicht mehr vergessen. Ich war so enttäuscht, ich fühlte mich sehr einsam. Danach kam der Verursacher und versuchte, mir seine Visitenkarte zu geben und fragte nach meiner, damit die Polizei nicht kommen musste. Was dachte der sich eigentlich? Auf seiner Visitenkarte, die er mir unter die Nase hielt – ich sass einfach da und war in mich versunken – sah ich seinen Namen und vor allem seine Titel «jur. theol.»2. Waren diese zwei Titel nicht paradox? Er war Anwalt und wollte einen von ihm verursachten Unfall mit grossem Blechschaden ohne Polizei erledigen? Er war oder ist Theologe und wollte zuerst davonfahren, dann kümmerte er sich um seinen Wagen, dann nötigte er mich auszusteigen und wollte ohne Polizei die Sache erledigen, ohne ein Wort oder ein Blick des Bedauerns zum Ausdruck zu bringen? Heute, fünf Jahre nach dem Unfall, hat er sich immer noch nicht entschuldigt – mit keinem Wort, mit keinem Zeichen der Reue, des Bedauerns. Und das sollte ein Jurist, geschweige denn ein katholischer Pfarrer sein? Was hättest du getan, wenn du in mich gefahren wärst?

Ich bin überzeugt, dass du auf irgendeine schlaue Idee gekommen wärst, und sicher nicht darauf, was der Anwalts-Pfarrer geboten hat.

Als ich auf dem Mäuerchen sass und vom Pfarrer mit seinem Verhalten belästigt wurde, schaute ich weder zu ihm hoch noch beantwortete ich seine Frage. Später bekam ich noch mit, dass er sich beim Lotsen über mein Nichtreagieren beklagte.

Die Polizei kam einige Minuten später. Ich erinnere mich an einen Schwarzuniformierten; schon der Verursacher war schwarz gekleidet. Ich war blau gekleidet, aber nicht blau. Obwohl der Polizist das dachte, denn er liess mich als Erstes den Alkoholtest machen. Er fragte mich aber noch, ob ich einen Krankenwagen brauchte, was ich bejahte. Das Martinshorn des gelben Krankenwagens rüttelte mich auf, ich stand auf und stieg selbstständig in den Krankenwagen. Eigentlich hätte ich mir als erstes ein Glas Wasser gewünscht, das aber führte man nicht. Bevor man meinen Puls mass, liess man mich blasen. Ich sagte noch zum Polizisten, dass ich seit anderthalb Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr zu mir genommen hatte. Trotzdem musste es sein. Ich sagte noch, dass man doch das «A…….…….» blasen lassen müsse, und nicht mich, denn er war schliesslich in MICH gefahren. Der Polizist war sichtlich verwirrt darüber, dass mein Auto 100 Meter hinter dem Auto des Verursachers stand – nur war meines kaputt und seines nicht. Meines war eine Tonne, seines doppelt so schwer – eindrücklich. Meines war klein, niedrig und niedlich, seines war gross, hoch und scheusslich. Meines war ein Micra, seines ein BMW SUV. Die erste nette und verständnisvolle Person seit dem Unfall war die Rettungssanitäterin. Sie sagte mir, dass der Verursacher seinen Führerschein für immer abgeben müsse, dies beruhigte mich. Es war die Rettungssanitäterin,