Dieses Buch entstand aus Gesprächen Vandana Shivas mit dem französischen Autor und Journalisten Lionel Astruc. Vandana Shiva erzählt dabei über ihr Leben, ihre Motivation, ihre Kämpfe und ihre Vision für eine bessere Zukunft.
Einleitung von Lionel Astruc
Die Themen von Vandana Shiva – ein verwobenes Netz
»Mit der Lüge verhält es sich wie mit einer übersättigten Lösung: Gibt man nur einen Tropfen Wahrheit zu, so kristallisiert sich alles um ihn herum.«
VANDANA SHIVA
Meine erste Begegnung mit Vandana Shiva erlebte ich wie eine kalte Dusche. Ich hatte sie im April 2010 anlässlich eines Prozesses kontaktiert, der in den indischen Medien großes Aufsehen erregte. Sie hatte es recht eilig und beachtete mich kaum, auch Absprachen zu einem alternativen Termin waren schwierig; einmal sprang sie direkt vor meiner Nase in ein Auto und entschwand wortlos. Eine halbe Stunde später tauchte ihr Gesicht im Fernsehen auf. Da saß sie dann auf einem Podium von CNN, selbstbewusst und tadellos gekleidet in ihrem Sari, schaute ihren Gesprächspartnern entschlossen in die Augen und argumentierte mit großer Überzeugungskraft. Nachdem das drei Tage lang so ging, machte ich ihr unmissverständlich klar, dass das so nicht ginge und ich wieder nach Frankreich zurückreisen würde. Vandana schwieg einen Augenblick – und war auf einmal wie ausgewechselt. Sie schätzt Offenheit über alles und hasst nichts so sehr wie falsche Freundlichkeit. Seitdem hat sich unser Verhältnis stetig verbessert, ja ist mit der Zeit sogar zu einer Freudnschaft geworden.
Inzwischen habe ich verstanden, warum sie mich anfangs so abblitzen ließ: Der Kampf für die Umwelt ist in Indien zu einem äußerst gewalttätigen Konflikt geworden, in dem Dörfer niedergebrannt und Menschen entführt, zwangsweise umgesiedelt und gefoltert werden. Im Büro von Vandana Shiva in Neu-Delhi herrscht die Atmosphäre eines Feldlagers, für Artigkeiten und leeres Geplauder hat man dort keine Zeit. Der Krieg um die Rohstoffe, der in Zentralindien wütet, hat bereits Tausende das Leben gekostet. Im indischen Baumwollgürtel im Westen des Landes kommt es Jahr für Jahr zu einer Welle von Suiziden, weil immer mehr Bauern unter der Last ihrer Schulden zusammenbrechen und sich das Leben nehmen (mehr als 284.000 zwischen 1995 und 2012), oft, indem sie eben jene Pestizide schlucken, die sie in den Ruin gestürzt haben. Vandana Shiva widmet ihren Alltag kompromisslos einem Kampf, in dem Stunde um Stunde viele Hektar Land zerstört, in dem Familien enteignet und in die Armut gestürzt werden, und der letztlich auch Menschenleben kostet. Jedes Jahr, das in diesem Kampf verlorengeht, sichert den Lobbyisten Profite und bringt uns näher an den Punkt, an dem Klimawandel, die Zerstörung der Biodiversität und die Ressourcenerschöpfung unumkehrbar in die Katastrophe führen.
Inzwischen sitze ich wie selbstverständlich an der Seite von Vandana im Flugzeug oder im Zug, wenn sie zu Konferenzen, Prozessen oder Demonstrationen unterwegs ist, oder ich begegne ihr, wenn sie mit einer Tasse Chai in der Hand einen Augenblick Ruhe auf der Terrasse ihres ökologischen Zentrums Navdanya sucht. Verschmitzt tadelt sie mich dann dafür, dass ich ihr mit meinen Interviews zu viel ihrer kostbaren Zeit stehle. Aber sie hat immer ein verständnisvolles Lächeln für mich, hört sich bereitwillig meine Fragen an, lässt sich ins Gespräch mit mir ein und lässt mich an ihrem familiären, beruflichen und politischen Leben teilhaben. Möge diese außerordentliche Persönlichkeit die Leserinnen und Leser ebenso faszinieren wie mich.
Mobilisierung durch das gelebte Vorbild
Vandana Shiva zieht heute überall dort, wo es um Fragen von Gesellschaft und Umwelt geht, die Menschen in ihren Bann. Dabei war sie einst nur eine einfache Frau in einem handgewebten Sari und einem Paar Sandalen.
Im März 1987 erfuhr diese Frau in dem kleinen französischen Dorf Bogève etwas, das sie nicht mehr losließ und das sie der ganzen Welt mitzuteilen beschloss. Die Wissenschaftlerin nahm damals an einem von einer schwedischen Stiftung organisierten Seminar über den Einfluss der Biotechnologie auf die Wirtschaft teil. Es war ein Treffen im kleinen Kreis und niemand achtete auf die stille Inderin, die als Begleiterin ihrer Schwester, einer Ärztin, gekommen war. Und so sprachen Vertreter der Saatgutindustrie in dem Seminar ganz offen über ihre Zukunftsstrategien und einen perfiden Plan, der in den folgenden drei Jahrzehnten tatsächlich realisiert wurde: Mithilfe des Patentrechts und gentechnisch veränderter Organismen (GVOs) wollten einige wenige Unternehmen die Kontrolle über unser Saatgut übernehmen und den Bauern in der ganzen Welt anschließend verkaufen, was ihnen der Boden bislang kostenlos bot – Pflanzensamen. Zu diesem Zweck wollte man sich zu einem aus fünf großen Unternehmensgruppen bestehenden Oligopol zusammenschließen und größtmöglichen Einfluss auf die Entscheidungen von Regierungen und internationalen Institutionen ausüben. Vandana Shiva begriff sofort die Tragweite dieses Plans, von dem sie damals als einzige Person außerhalb eines eingeschworenen Zirkels von Konzernmitarbeitern der Agrochemie erfuhr.
Ende der 1980er-Jahre machten sich weder die Bevölkerung noch die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Gedanken um Patentrechte und gentechnisch veränderte Organismen. Vandana Shiva war klar, wie fatal sich dieses Desinteresse auswirken könnte, und sie entwickelte schon auf dem Rückflug von dem Treffen nach Neu-Delhi eine Widerstandsstrategie. Seit jenem Frühlingstag lässt ihr das Thema keine Ruhe mehr und um das Recht auf Saatgut zu beschützen, hat sie sich seitdem mit größter Entschlossenheit in die Konfrontation mit einigen der mächtigsten Unternehmen des Planeten gestürzt.
Shiva, eine Physikerin mit einem Doktor in Wissenschaftstheorie, ist weltweit zur Symbolfigur der ökologischen Revolution geworden und führt die globalisierungskritische Bewegung an, die sie mitbegründet hat. Sie steht in Dialog mit Millionen Aktivisten, die sie in Seattle, Genua, Kopenhagen, Paris, Rom oder Bangalore trifft und an die sie sich über die Medien der fünf Kontinente, die sozialen Netzwerke und zahlreiche Dokumentarfilme wendet.1 Sie trug dazu bei, dass 2 Millionen Demonstranten in 52 Ländern 2013 am »March Against Monsanto« teilnahmen. Schon im Dezember 2009 sprach sie bei einer Konferenz in Kopenhagen in der Kälte der dänischen Hauptstadt vor einer dichtgedrängten Menge von 100.000 Menschen. Im Oktober 1993 waren es sage und schreibe 500.000 Demonstranten gewesen, die ihrem Aufruf zum zivilen Ungehorsam gefolgt und mit ihr durch die Straßen von Bangalore gezogen waren. Diese Resonanz und die Anerkennung ihrer Arbeit – sie erhielt unter anderem den alternativen Nobelpreis und den Sydney-Friedenspreis – sind das Resultat des ehrgeizigen Unterfangens, gleichzeitig auf lokalem wie internationalem Terrain zu kämpfen. »Die Popularität von Vandana Shiva wächst und wächst und ist für Unternehmen wie Monsanto zum echten Problem geworden«, schrieb die Time im November 2013. Der Bekanntheitsgrad dieses »Rockstars der Anti-GVO-Bewegung«2 bringt es mit sich, dass sie zur bevorzugten Zielscheibe der Pro-GVO-Lobby geworden ist, von der sie über die Medien unablässig attackiert wird.
Gandhi hatte das Spinnrad zum Symbol gewählt und darauf selbst die Baumwolle für seine Kleidung gesponnen. »Warum sollten das andere für mich tun?«, antwortete er, wenn ihn jemand nach dem Sinn fragte. Im Andenken an Ghandi hat Shiva das Saatkorn zum Sinnbild ihres Kampfs gemacht. Auch sie versteht sich als Lehrerin, die durch ihr Beispiel wirken möchte. Zu diesem Zweck hat sie einen Modellbauernhof geschaffen, der absichtlich auf durch Intensivlandwirtschaft ausgelaugter Erde errichtet wurde, die nun durch eine bedachtere Landwirtschaft wiederbelebt wird. Außerdem hat sie ein breites Netz von Saatgutbanken aufgebaut, bislang 120.
Doch sie beschränkt sich nicht auf den hochspezialisierten Kampf im landwirtschaftlichen Bereich – für Shiva ist das Saatgut ein Katalysator für so wichtige Fragen wie Ernährungssouveränität, Demokratie, Frieden, gesellschaftliches Engagement und Feminismus.
Nahrungsknappheit im Süden … und im Norden
Shiva stammt aus einer Familie, die schon immer Wert auf Ernährungssouveränität legte. Das hat sie schon früh für dieses Thema sensibilisiert.
Die internationalen Konzerne rauben vielen Ländern des Südens ihre Nahrungssouveränität, ja sogar ihre Nahrungssicherheit. Das führt nicht selten dazu, dass in ein und derselben Region industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln und Nahrungsmangel der lokalen Bevölkerung direkt nebeneinander existieren. Doch die Nahrungssouveränität ist auch in den Ländern der Wohlhabenden bedroht: Das Leben aller Menschen hängt von Versorgungsgütern ab, die über große Distanzen herangeschafft werden und deren Verfügbarkeit keineswegs gesichert ist. Eine Unterbrechung der Importe (durch Streiks, Naturkatastrophen, Krisen, einen plötzlichen Preisanstieg von Erdöl und dergleichen) kann schon innerhalb weniger Tage zu einer akuten Mangelsituation führen, da die Länder des Nordens ihre Resilienz vernachlässigt und die Eigenproduktion von Nahrungsmitteln aufgegeben haben. Shiva hat auch die individuellen, weniger offensichtlichen Aspekte dieses Souveränitätsverlusts im Blick, beispielsweise, dass immer weniger Menschen wissen, wie man schmackhafte Gerichte zubereitet – ein Phänomen, das sie besonders beunruhigt.
Um dem entgegenzuwirken, lenkt die indische Aktivistin die Aufmerksamkeit auch auf die vielen hoffnungsträchtigen Selbstversorgungsinitiativen in Familien, Gemeinden und Städten. Das Konzept der Ernährungssouveränität wird vielfach aufgegriffen: Man findet es in gemeinschaftlich genutzten Gärten, in der solidarischen Landwirtschaft, Organisationen zur regionalen Nahrungsversorgung und in vielen anderen Ansätzen. Dabei gelingt es oft, unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen zusammenzubringen.
Doch so sehr diese Bewegung an Fahrt aufnimmt, all das reicht nicht, die Banken davon abzuhalten, weiterhin mit Rohstoffen, auch mit Nahrungsmitteln, zu spekulieren. Und die Konzerne reißen sich nach wie vor Land unter den Nagel und plündern die Schätze der Natur in einer Weise, die in wahre Rohstoffkriege ausartet. In armen Regionen wie Zentralindien stützen sie sich bei der Enteignung der indigenen Bevölkerung teilweise auf Milizen und die reguläre Armee. Die vielen Opfer auf diesem ökonomischen Schlachtfeld – von dem unsere Güter des Massenkonsums kommen – lassen die europäische Presse weitgehend gleichgültig. Shiva zeigt uns die Brutalität dieses Kampfs, der gegen die Ärmsten der Armen geführt wird und in den Tiefen der Wälder von Andhra Pradesh, Jharkhand oder Chhattisgarh deren einzigartige ökologische Lebensweise zerstört. Der Reichtum, der in ihrem Heimatboden steckt, ist für diese Menschen, die nach dem Gewohnheitsrecht leben und denen in ihrem großen Respekt vor der Natur der Begriff des Eigentums fremd ist, zum Fluch geworden. Shiva setzt sich dafür ein, eine klare Trennlinie zwischen Unternehmen zu ziehen, deren Arbeit der Gesellschaft und dem Gemeinwohl dient, und solchen, die rechtliche Bollwerke zwischen den Bürgern und den Gemeingütern errichten, um Kapitalrendite aus dem Boden, Wasser, dem Saatgut und allen anderen Ressourcen zu schlagen.
Ziviler Ungehorsam im Kampf für die Freiheit des Saatguts
Die ökonomische Ausplünderung betrifft sämtliche Schätze der Natur, von denen jedoch einer von besonderer Bedeutung ist: Wie kann man die Lebensmittelversorgung überhaupt sicherstellen, wenn die Vermehrung des Saatguts verboten oder unmöglich gemacht wird? So klein und für den Endkonsumenten oft gar nicht sichtbar Samenkörner sind, ohne sie gibt es kein Leben auf der Erde. Vandana Shiva erläutert die fundamentalen Unterschiede zwischen dem Saatgut der Bäuerinnen, Hybridsaatgut und gentechnisch verändertem Saatgut. Sie geht auch auf die sozioökonomischen und biotechnologischen Auswirkungen ein und beschreibt die Strategien der Biopiraterie, mit denen die Giganten der Agrochemie zu Werke gehen.3 Die Aktivistin analysiert ebenso ausführlich die Winkelzüge der Lobbyisten und die Korruption der Konzerne, wie sie die Funktionsweise von Patenten erläutert. Und sie führt gerichtliche Prozesse gegen gentechnisch veränderte Organismen und die willkürliche Aneignung von Pflanzen und der Kenntnisse über sie, die sich Bauern, Ärzte und einfache Menschen durch viele Generationen der Nutzung erworben haben.
Die indische Aktivistin, die in diesem ungleichen Kampf an vorderster Front steht, ruft die Bauern zum »Ungehorsam im Kampf für das freie Saatgut« auf. Dem gewaltfreien Kampf, der von Gandhi in den 1930er-Jahren gegen das Salzmonopol geführt wurde, ist auch in unserer Zeit noch Erfolg beschieden. Shiva hat schon viele Siege mit dieser Waffe errungen und appelliert an alle Bauern der Welt, den Gehorsam zu verweigern. Eine Möglichkeit des Ungehorsams besteht darin, dass Bauern auf ihrem Land »Freiheitszonen für das Saatgut« schaffen, auf denen sie Saatgut ausbringen, das aus den offiziellen Saatgutkatalogen gestrichen wurde. Auf allen Kontinenten entstehen Saatgutbanken nach dem Vorbild des Navdanya-Netzwerks, in den USA wird Saatgut in großem Maßstab getauscht und es gibt viele weitere Initiativen, die diesem Vorbild folgen. Die überaus erfolgreiche Ausweitung des Kampfs zum Schutz des Saatguts hat zur Schaffung des Weltweiten Bündnisses für die Freiheit von Saatgut geführt, das von Vandana Shiva gegründet wurde. Dieses Netzwerk ermöglicht es, Ländern zu helfen, die von den Giganten der Agrochemie ins Visier genommen werden, wie es in Afrika geschieht, und die Propaganda der GVO-Lobby mit der Wahrheit zu konfrontieren. Nicht nur die Bauern, sondern alle Menschen können an dieser Bewegung teilnehmen, denn unser gesamter Alltag – von dem, was auf unseren Teller kommt, über die Pflanzen in unseren Gärten bis zu den Fasern unserer Kleider – hat letztlich mit der Biodiversität in der Landwirtschaft zu tun, auch wenn das von vielen Verbrauchern immer noch unterschätzt wird.
Der Ökofeminismus befreit auch die Männer
Doch immerhin scheint ein Teil der Menschheit über einen natürlichen Schutzinstinkt für das Saatgut des Lebens zu verfügen, gepaart mit einer Neigung zu Solidarität und Güte: die Frauen. Shiva erhielt für ihre zukunftsweisenden Forschungen über den Beitrag der Frauen zum Schutz von Umwelt und Gemeinwohl 1993 den Alternativen Nobelpreis. Ihre Kollegen aus der Wissenschaft neigen dazu, Frauen aus den niederen Kasten, die auf dem Land leben und oft nur über geringe formelle Bildung verfügen, als Menschen zweiter Klasse zu betrachten. Die Aktivistin hat in dieser Hinsicht im immer noch stark vom Machismo geprägten indischen Bürgertum eine kopernikanische Wende eingeleitet. Sie untersuchte, welche Aufgaben Männer und Frauen übernehmen, wie viele Stunden sie mit Feldarbeit zubringen und welchen Erfahrungsschatz sie besitzen. So kam die Forscherin in ihrer Studie Staying Alive, Women Exology and Survival in India4 zu dem Schluss, dass Frauen, die oft einfach nur als Analphabetinnen abgetan werden, über wahres Expertenwissen verfügen. Sie weist auch nach, dass Frauen einen höheren Beitrag zum Gemeinschaftsleben und zum Schutz der Biodiversität leisten, und zeigt, dass sie eine tiefe Verbindung zur Erde haben. Die Frauen, die als Sammlerinnen durch den Wald ziehen, die Holz holen und Wasser schleppen und sich historisch um die Vermehrung und Aufbewahrung des Saatguts kümmern – neben tausend anderen Dingen, die sie zusätzlich erledigen –, verkörpern geradezu das nachhaltige Leben, dessen Geist uns inspirieren sollte.
In einer späteren Arbeit wies Shiva gemeinsam mit der deutschen Soziologin Maria Mies nach, dass diese Verbindung zwischen den Frauen, der Natur und dem Gemeinwohl auch in den Ländern des Nordens besteht. Warum also nicht die Frauen – oder vielmehr das shakti, das »weibliche Prinzip« der Hindus – zur Grundlage aller Entscheidungen machen? Bietet sich hier nicht eine ganz neue Gelegenheit zur Emanzipation, einschließlich der Emanzipation der Männer? »Die Welt aus einem Blickwinkel zu betrachten, in dem die Frau nicht das schwache Geschlecht und die Natur nicht unveränderlich, passiv und nur zur Ausbeutung da ist, gehört zusammen«,5 sagt die Inderin, die betont, dass jeder, unabhängig von seinem Geschlecht, Ökofeminismus praktizieren kann.
Den Frieden und die Demokratie zurückholen
Die Dominanz der Männer in Familie, Wirtschaft und Politik lässt ihnen freie Hand, ihren Neigungen zur Gewalt und zum Krieg nachzugeben. Dieses Gift – für das die Männer selbstverständlich nicht allein verantwortlich sind – hat längst unmerklich alle Bereiche des Gesellschafts- und Wirtschaftslebens kontaminiert: Land Grabbing, Zerstörung der Biodiversität durch chemische Produkte, Plünderung von Ressourcen und Kenntnissen, Sterilisierung von Saatgut und so fort. Shiva sieht hier einen wahren Krieg gegen die Natur. Sein Ausmaß und die von ihm entfesselte Gewalt dürfen nicht unterschätzt werden.
Wie kann man unter solchen Bedingungen Frieden und Demokratie wiederherstellen? Es gibt viele Möglichkeiten: Sich dem Konsumterror verweigern, das Wachstumsdogma in Frage stellen, Essen aus der Region bevorzugen, wieder eine Verbindung zur Erde suchen oder, allgemeiner, den Gebrauch seiner Hände neu erlernen, Saatgut auf die alte bäuerliche Weise vermehren, Widerstand gegen die großen Forschungslabors leisten, vielleicht sogar genveränderte Pflanzen ausreißen … Der zentrale Punkt dieses Engagements ist die Verweigerung gegenüber einem System, das zum Scheitern verurteilt ist. Jeder dieser Akte des Widerstands bringt uns dem notwendigen Paradigmenwechsel näher, durch den allein wir ein Leben in Frieden inmitten der reichen natürlichen Ressourcen unseres Planeten erreichen können.
Doch was kann man über individuelle Aktionen hinaus tun, damit die Gesellschaft als Ganzes mehr Nachhaltigkeit praktiziert? Shiva, die schon so oft unter Beweis gestellt hat, wie gut sie es versteht, Menschen für die großen ökologischen Fragen unserer Zeit zu mobilisieren, analysiert auch, wie man die Aufmerksamkeit für zentrale ökologische Fragen gewinnt. Sie ist skeptisch gegenüber Formen des Aktivismus, die sich zu stark auf NGOs und ihre schwerfälligen Strukturen stützen. Unsere größte Chance sieht sie in der Vernetzung einer Vielzahl autonom handelnder Menschen, die von dem Wunsch beseelt sind, ganz konkret im Alltag die angestrebten Veränderungen zu realisieren.
Den Worten müssen Taten folgen
Die Philosophie der Gewaltfreiheit prägt letztlich alle Themenfelder von Shiva: die Lebensmittelsouveränität, die Saatgutfreiheit, den Ökofeminismus, den Frieden, die Demokratie und die Mobilisierung der Menschen. Aber sie verkörpert sie auch in ihrer Person. Ihr Leben ist so sehr Einheit von Wort und Tat, dass ihr Reden und Handeln nicht getrennt betrachtet werden können. Dieses Buch versucht behutsam, dem Geheimnis dieser Frau auf die Spur zu kommen, der seit ihrer Kindheit ein großes, geradezu romanhaftes Schicksal beschieden schien.
Der heldenhafte Tod ihres Großvaters in einem Dorf am Rand von Neu-Delhi sagt viel über die Ursprünge, die Einstellungen und den starken, unbeugsamen Charakter dieser Frau aus und bestätigt das Prinzip der vedischen Philosophie, dass der Charakter des Einzelnen untrennbar mit dem seiner Vorfahren verbunden ist. Im Jahr 1956 starb Vandanas Großvater Mukhtiar Sing an den Folgen eines Hungerstreiks, bei dem es um die Gründung einer Mädchenschule ging. Das Projekt war damals, als die herrschende Kaste den Frauen noch das Recht auf Bildung verwehrte, so avantgardistisch, dass es von seinen Zeitgenossen als geradezu aberwitzig empfunden wurde. Mukhtiar Sing gewann zwar letztlich den Kampf, doch als der Brief mit der Zustimmung der Behörden für die kleine Mädchenschule in Duhai endlich per Postfahrrad eintraf, war er schon so geschwächt, dass ihm nicht mehr zu helfen war. Er zahlte mit seinem Leben für die Gründung einer wegweisenden Schule, die heute von nicht weniger als 3000 Schülerinnen besucht wird.
Das kleine vierjährige Mädchen, das damals den Tod seines Großvaters beweinte, ist inzwischen weltweit zur Symbolfigur des Ökofeminismus geworden und Feind Nummer eins der Agrarkonzerne. Indische Bäuerinnen, die Waffengewalt trotzten und bereit waren, für ihre Wälder, die ihnen Nahrung spendeten, zu sterben, führten sie Anfang der 1980er-Jahre in den Kampf für die Umwelt ein. Bald engagierte sie sich gegen den Bau von Talsperren, die Bergwerksmafia und Großunternehmen.
Bis dann der Tag im März 1987 in dem kleinen Dorf Bogève kam …
Kapitel 1
Die Macht über unsere Nahrung
Meine Mutter Jagbir Kaur hat den größten Teil unserer Lebensmittel selbst produziert. Rund um unser Haus wuchsen Tomaten, Karotten, Bohnen, Erbsen und Linsen, auch Obstbäume gab es. Wir hatten auch ein paar Kühe, die uns Milch und den nötigen Dünger lieferten. Die ganze Familie war eingebunden, und mein Bruder, meine Schwester und ich haben regelmäßig und gerne geholfen. Diese Verbindung zur Erde hat in unserer Erziehung eine große Rolle gespielt. So lebten damals viele Menschen in Indien, doch für meine Mutter, eine Schulinspektorin, war es schon eher ungewöhnlich.
Heutzutage ist eine solche (Teil-)Selbstversorgung viel seltener geworden. Dabei liefert sie einen wesentlichen Beitrag zum ökologischen Übergang und zur wirtschaftlichen Sicherheit der Bürger und fördert die Gesundheit. Es leuchtet sicher ein, dass lokal produzierte und auf kurzen Wegen herangeschaffte, im Idealfall selbst erzeugte Nahrung die Benutzung von Verkehrsmitteln und damit den Ausstoß von Treibhausgasen verringert. Selbstversorgung heißt zudem, sich von den Großhändlern und Supermarktketten zu befreien und zu einer gewissen »Resilienz« zurückzukehren, also sich besser auf die wirtschaftlichen, sozialen und klimatischen Unwägbarkeiten vorzubereiten, die in absehbarer Zeit auf uns zukommen. Wer sein Gemüsegärtchen hat, kann sich zu einem konstanten Preis ernähren, auch wenn Obst und Gemüse in den Supermärkten immer teurer wird. Die wachsende Zahl der Zwischenhändler vom Acker bis zum Teller ist für die Konsumenten kostspielig und die stetige Ausweitung von Lieferketten schadet auch der Qualität der Lebensmittel: Nichts ist so gut wie das, was man für seine Nachbarn, seine Familie und für sich selbst produziert, und nichts so frisch wie das, was direkt vom Beet auf den Teller wandert.
Die Herausforderungen, vor denen die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Umwelt heute stehen, laufen sämtlich darauf hinaus, dass wir wieder ein Maximum an Autonomie anstreben müssen, und zwar auf allen Ebenen, egal ob in der Stadt, dem Dorf, der Gemeinschaft oder der Familie. So kann es gelingen, dass wir uns wieder zurückholen, worum es bei der Nahrungsmittelproduktion eigentlich geht.
Zwischen Überfluss und Mangel: Der Verlust der Ernährungssouveränität
Nahrungsmittelsouveränität ist das Recht der Völker, über ihre eigenen Methoden der Landwirtschaft und ihre Nahrungsmittelsysteme zu bestimmen. Dazu gehört, dass so viele Menschen wie möglich Zugang zu gesunder und ihrer Kultur entsprechender Nahrung haben, die mit Respekt für die Umwelt und die Gesellschaft erzeugt wird. Zur Ernährungssouveränität gehört unbedingt die Erhaltung der Landwirtschaftsstruktur, die vor allem auf die regionalen und nationalen Märkte ausgerichtet ist.
Einer der Hauptgründe für den momentanen Verlust der Ernährungssouveränität besteht darin, dass die Bauern nicht mehr selbst über ihr Saatgut bestimmen können. Wenn die eigene Saatgutproduktion verboten oder unmöglich gemacht wird, wie dies im Fall von Hybridzüchtungen und genveränderten Pflanzen der Fall ist, dann können die Bauern nicht mehr selbst bestimmen, was sie anbauen, und verlieren ihre Unabhängigkeit. Auch der Übergang zu Methoden der Intensivlandwirtschaft und zu Monokulturen führt zum Verlust der Ernährungssouveränität, wenn nicht gar zum Verlust der Ernährungssicherheit. Wenn man all die vielfältigen Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen will, braucht man auch eine vielfältige Landwirtschaft. Nur so kann man Ergänzung und Ausgleich schaffen: Wenn man mit einer Getreidesorte oder einem Gemüse keine gute Ernte erzielt, beispielsweise aufgrund einer Dürreperiode, dann gibt es sicher ein Anbauprodukt, das unter diesen Umständen besser gedeiht und die Resilienz des Bodens, der Region und der Bauern sichert. Monokulturen haben sehr viel zum Verlust der Ernährungssouveränität in Indien beigetragen – das betrifft nicht nur das Land als Ganzes, sondern auch und ganz besonders die einzelnen Familien.
Die Einführung der gentechnisch veränderten Baumwolle in Indien hat zahlreiche Bauern dazu veranlasst, ihre bisherige Mischwirtschaft aufzugeben, da Baumwolle bei den heutigen Preisen nun einmal Intensivmethoden und Monokultur erfordert. Früher produzierten die Bauern neben Baumwolle immer auch Nahrungsmittel. Heute spezialisieren sie sich ganz auf transgene Baumwolle. So verschulden sie sich nicht nur, um das (einst kostenlose) Saatgut zu kaufen, sondern müssen sich auch noch Geld leihen, um Lebensmittel zu besorgen.
Der Verlust an Ernährungssouveränität offenbart sich auch darin, dass es in einer Region nicht selten für ein und dasselbe landwirtschaftliche Produkt sowohl ein Überangebot als auch Mangel gibt. Ein Beispiel: PepsiCo verarbeitet in Indien große Mengen Kartoffeln zu Chips, die in Tüten verkauft werden. Das Unternehmen lässt die Bauern also wissen, dass es viele Kartoffeln braucht. Von dieser Aussicht verlockt, pflanzen sie statt ihren bisherigen Nahrungsmittelpflanzen spezielle PepsiCo-Kartoffeln an. Die dazu nötigen besonderen Saatkartoffeln müssen sie zuvor von PepsiCo kaufen. Auf diese Weise verdrängt das Unternehmen die lokalen Sorten, die es dann nach einiger Zeit gar nicht mehr gibt. Bengalen ist beispielsweise die Hauptregion für den Kartoffelanbau in Indien geworden. Doch wenn man dort auf den Markt geht, findet man keine Kartoffeln mehr.
Wenn die Industrie sich auf Massenproduktion verlegt, dann heißt das, dass sie sich im großen Maßstab mit Rohstoffen eindeckt, was dazu führt, dass die jeweilige Nahrung aus den Vorratsspeichern und aus dem Angebot der lokalen Märkte verschwindet. Kurz gesagt, wenn Tonnen über Tonnen von Kartoffeln angebaut werden, die der Produktion von Kartoffelchips vorbehalten sind, dann können die Menschen, die einfach nur Kartoffeln kochen wollen, keine mehr kaufen! Das System ist so pervers, dass PepsiCo die einzelnen Bauern gar nicht mehr aktiv für sein System gewinnen muss, sie passen von sich aus ihre Produktionsweise den Bedürfnissen des Unternehmens an. Am Ende kauft die Industrie dann unter Umständen nur zehn Prozent dieser Chips-Kartoffeln auf. Da sie besonders groß und im Innern hohl sind, verrottet der Rest sehr schnell. Dasselbe passiert, wenn eine große Kette wie Walmart große Mengen von diesem oder jenem Produkt einkauft. Anfangs kauft sie nur bei zwei Prozent der Bauern ein, aber schließlich stellen alle ihre Produktion um. Das Ganze erzeugt unglaubliche Mengen an Abfällen und eine gewaltige Lebensmittelverschwendung. Diese Industriepolitik schadet direkt der lokalen Pflanzenvielfalt. Vieles wird einfach nicht mehr angebaut, die Subsistenzwirtschaft wird vernichtet und mit ihr wird ein ganzer, über kurze Wege funktionierender Wirtschaftskreislauf zunichte gemacht.
Wenn die indischen Bauern ihre Ernährungssouveränität wiedererlangen wollen, müssen sie unbedingt wieder Ölpflanzen, Getreide, Gemüse und Obstbäume anpflanzen, aber auch Agroforstwirtschaft betreiben und ihr Saatgut selbst erzeugen. Wenn ein Bauer ausschließlich Reis oder Baumwolle oder nur noch Kartoffeln anpflanzt, dann fehlen die Produkte, die er nicht mehr anbaut, und Mangel macht sich breit.
Hunger und soziale Ungleichheit
Die Welt war noch nie so reich und fortgeschritten, aber zur selben Zeit schlägt der Hunger alle Rekorde. Weltweit leiden 925 Millionen Menschen unter chronischem Hunger, jeden Tag sterben 24.000 Menschen den Hungertod.1 In Indien ist dieser Widerspruch besonders krass. Der Subkontinent verzeichnete erst kürzlich ein historisch sensationelles Wirtschaftswachstum von neun Prozent, während gleichzeitig nach Angaben von UNICEF insbesondere Frauen und Kinder hungern: Eine von drei Inderinnen ist unterernährt, 42 Prozent der indischen Kinder leiden unter Mangelernährung.2 Diese Zahlen widersprechen dem weit verbreiteten Bild, dass Indien ein Erfolgsbeispiel der Globalisierung ist. Der Gipfel der Absurdität ist, dass sich die Geißel des Hungers heute verbreitet, während unsere Landwirtschaft mehr denn je produziert: Die Nahrung wird von der Industrie umgelenkt und erreicht nicht mehr die Mägen. In dieser Hinsicht ist die Situation in Indien inzwischen schlimmer als in Afrika. Die indische Ernährungssouveränität ist im wahrsten Sinne dem Profit von Walmart, Cargill, Monsanto und Coca-Cola geopfert worden.
Verlust bis in die Küche
Am Ende schlagen diese negativen Entwicklungen bis ins Herz unserer Kultur durch und offenbaren sich in dem, was überhaupt noch auf den Teller kommt: Überall auf der Welt ist ein Verlust an kulinarischen Traditionen zu beobachten. Mit ihrem rasanten Verschwinden wird auch die Ernährungssouveränität als Kultur zerstört. Diese heimtückische Entwicklung, die ganz im Stillen in den Küchen vor sich geht, beunruhigt mich sehr. Sie führt am Ende zum Verlust der individuellen Autonomie.