Eine Art Held - John le Carré - E-Book

Eine Art Held E-Book

John Le Carré

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Beschreibung

Alle Romane von John le Carré jetzt als E-Book! - Nach der Enttarnung eines Maulwurfs, eines sowjetischen Agenten im Londoner Geheimdienst, hat George Smiley die Leitung des Circus übernommen. Er soll die Abteilung zu alter Schlagkraft zurückführen. Dazu muss er »Karla« finden, den sowjetischen Einsatzleiter, der den Vernichtungsfeldzug gegen den Circus befehligt. Die entscheidende Spur führt nach Indochina; Smiley schickt seinen Agenten Jerry Westerby, als Journalisten getarnt, nach Hongkong, wo dieser auf Geheimkonten stößt - offenbar soll »Karla« für Moskau Informationen von gewaltigem Wert kaufen. Doch die Russen sind nicht Smileys einziger Gegner. »Geben Sie acht, Sie lesen einen historischen Roman ... «, schreibt John le Carré im Vorwort zur Neuausgabe dieses Buches. Doch auch wenn der Kalte Krieg längst vorbei ist - dieser Klassiker des Spionageromans ist fesselnd wie eh und je. Große TV-Doku "Der Taubentunnel" ab 20. Oktober 2023 auf Apple TV+

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Das Buch

Der Circus, der britische Geheimdienst, liegt in Trümmern. Es ist George Smiley zwar gelungen, den russischen Doppelagenten in den eigenen Reihen zu enttarnen. Doch seit Jahren weiß der sowjetische Dienst nun so gut wie alles über Aufbau und Personal des Circus, und Smiley, zu dessen Leiter befördert, steht vor einer schier unlösbaren Aufgabe: So schnell und unauffällig wie möglich muß er den Secret Service zu alter Schlagkraft zurückführen – und das Leben seiner Agenten auf der ganzen Welt schützen. Der Neuaufbau dient nur einem Ziel: der Jagd auf Karla, den Kopf des sowjetischen Geheimdienstes. Ein entscheidender Hinweis deutet nach Indochina. Der Agent Jerry Westerby wird nach Asien geschickt und stößt auch bald in Hongkong auf Karlas Spuren …

Der Autor

John le Carré, am 19.Oktober 1931 in Poole, Dorset, geboren, war nach seinem Studium in Bern und Oxford in den sechziger Jahren in diplomatischen Diensten u.a. in Bonn und Hamburg tätig. Sein Roman Der Spion, der aus der Kälte kam machte ihn 1963 weltbekannt. Zahlreiche seiner Bestseller wurden erfolgreich verfilmt. Der Autor lebt mit seiner Frau in Cornwall.

Von John le Carré sind in unserem Hause bereits erschienen:

Absolute Freunde · Agent in eigener Sache · Dame, König, As, Spion · Das Rußlandhaus · Der ewige Gärtner · Der heimliche Gefährte · Der Nachtmanager · Der Spion, der aus der Kälte kam · Der Schneider von Panama · Der wachsame Träumer · Die Libelle · Ein blendender Spion · Ein guter Soldat · Ein Mord erster Klasse · Eine Art Held · Eine kleine Stadt in Deutschland · Empfindliche Wahrheit · Geheime Melodie · Krieg im Spiegel · Marionetten · Schatten von gestern · Single & Single · Unser Spiel · Verräter wie wir

John le Carré

Eine Art Held

Roman

Aus dem Englischen von Rolf und Hedda Soellner

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ISBN 978-3-8437-0846-3

1. Auflage Mai 2004 © 2004 für die deutsche Ausgabe by Ullstein Buchverlage GmbH © 1977 by David Cornwell Titel der englischen Originalausgabe: The Honourable Schoolboy (Hodder and Stoughton, London) Übersetzung: Rolf und Hedda Soellner mit freundlicher Genehmigung des Verlags Kiepenheuer & Witsch, Köln Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Ich und das Publikum, wir wissen, Was jedes Schulkind lernt: Wer heute Böses leidet, Wird morgen Böses tun.

Vorwort

Mein aufrichtiger Dank gilt den vielen großzügigen und gastfreundlichen Menschen, die sich Zeit nahmen, mir bei den Vorarbeiten zu diesem Roman behilflich zu sein.

In Singapur, Alwyne (Bob) Taylor, Korrespondent von Daily Mail; Max Vanzi von UPI; Peter Simms, damals bei Time; und Bruce Wilson vom Melbourne Herald.

In Hongkong, Sydney Liu von Newsweek; Bing Wong von Time; H. D. S. Greenway von Washington Post; Anthony Lawrence von BBC; Richard Hughes, damals bei der Sunday Times; Donald A. Davis und Vic Vanzi von UPI; und Derek Davies und seinen Mitarbeitern bei der Far Eastern Economic Review, insonderheit Leo Goodstadt. Besondere Anerkennung verdient die außerordentliche Hilfsbereitschaft Major-General Penfolds und seines Teams im Royal Hong Kong Jockey Club, die mir alle Informationen über den Rennplatz Happy Valley zugänglich machten, ohne mich ein einziges Mal nach dem Zweck meiner Recherchen zu fragen. Leider ist es mir unmöglich, hier auch die Namen jener Regierungsbeamten von Hongkong und Angehörigen der Königlichen Polizei von Hongkong aufzuführen, die mir, auf die Gefahr hin, sich möglicherweise in Schwierigkeiten zu bringen, so manche Tür geöffnet haben.

In Phnom Penh ließ mein liebenswürdiger Gastgeber, Baron Walther von Marschall, mir alle erdenklichen Aufmerksamkeiten angedeihen, und wie ich ohne die umfassenden Kenntnisse von Kurt Furrer und Madame Yvette Pierpaoli, beide bei der Suisindo Shipping and Trading Co., und zur Zeit in Bangkok, hätte zurechtkommen sollen, vermag ich nicht zu sagen.

Doch mein ganz besonderer Dank muß denen Vorbehalten sein, die es am längsten mit mir aushielten: meinem Freund David Greenway von Washington Post, der mir erlaubte, in seinem erlauchten Schatten Laos, Nordost-Thailand und Phnom Penh aufzusuchen; und Peter Simms, der mich, ehe er sich in Hongkong niederließ, ungewohnte Regionen sehen lehrte und mir viele mühsame Gänge abnahm. Bei ihnen sowie bei Bing Wong und einigen chinesischen Freunden in Hongkong, die vermutlich lieber anonym bleiben möchten, stehe ich tief in der Kreide.

Nicht unerwähnt bleiben darf der großartige Dick Hughes, dessen Erscheinung und Eigenheiten ich schamlos übertrieben habe und so die Figur von Old Craw schuf. Manchen Leuten braucht man nur einmal zu begegnen, und schon haben sie sich in einem Roman einquartiert und bleiben darin, bis der Autor einen Platz für sie findet. So einer ist Dick. Leider vermochte ich seinem nachdrücklichen Begehr, ihn als komplettes Zerrbild darzustellen, nicht zu folgen. Selbst meine erbittertsten Bemühungen konnten die Herzensgüte des Originals nicht unterkriegen.

Da alle diese guten Menschen zum damaligen Zeitpunkt genausowenig wie ich selber ahnten, was aus diesem Buch werden würde, muß ich mich beeilen, sie von jeder Mitwisserschaft an meinen Missetaten zu entbinden.

Terry Mayers, Veteran des British Karate Team, weihte mich in eine Reihe höchst beunruhigender Fertigkeiten ein. Miß Nellie Adams’ unglaublichen Leistungen an der Schreibmaschine vermag kein Lob gerecht zu werden.

Cornwall, den 20.Februar 1977

Vorwort zur englischen Neuauflage von 1989

Ein geistreicher englischer Schriftsteller hat einmal bemerkt, er schreibe, damit er im Alter etwas zu lesen habe. Mit siebenundfünfzig zähle ich zwar noch nicht zu den Alten, die Geschichte aber ist in den dreizehn Jahren, seit ich dieses Buch geschrieben habe, zweifellos merklich gealtert. Vor dreizehn Jahren war die Sowjetunion noch unter dem Eis einer trägen und korrupten Oligarchie begraben, und die streng gesinnten Führer des neuen China hatten sich voller Verachtung von ihrem alten Verbündeten und Mentor abgewandt. Heute ringt die Sowjetunion um eine Neudefinition der großen Proletarischen Revolution, falls es diese überhaupt je gegeben hat, während das Blut heldenmütiger Chinesen, die friedlich um eine ähnliche Neudefinition ihrer politischen Identität gebeten haben, auf dem Platz des Himmlischen Friedens steht und sich auch von noch so vielen Wasserwerfern der Armee nicht wegspülen läßt.

Also geben Sie acht, wenn Sie dieses Buch lesen. Sie lesen einen historischen Roman, geschrieben vor dieser Zeit, in einem Klima, das sich so geändert hat, daß ich nicht wüßte, wie ich irgend etwas davon wieder einfangen könnte, wenn ich versuchen würde, Ihnen heute dieselbe Geschichte aus der Erinnerung zu erzählen.

Ein weiterer Grund, warum ich im Alter in Versuchung geraten könnte, mich diesem Buch noch einmal zuzuwenden, ist der, daß ich darin ein vages Abbild des Mannes wiederfinde, der ich damals war. Eine Art Held war das erste Buch, das ich vor Ort geschrieben habe, und das erste, aber nicht das letzte, für das ich, um Erfahrungen und Informationen zu sammeln, die nicht existierende Uniform eines Reporters angezogen habe. Es erinnert mich daran, wie ich zum ersten Mal Schußwechsel in der Hitze der Schlacht erlebt, wie ich einem verwundeten Soldaten beigestanden und auf den Feldern den Gestank alten Blutes gerochen habe. Es erzählt daher in gewisser Weise vom Erwachsenwerden, aber auch von einer Rückwärtsentwicklung, denn der Krieg ist immer auch eine Rückkehr in die Kindheit.

Wenn also Jerry Westerby, der Held meines Romans, seine Taxifahrt an die Front einige Kilometer außerhalb von Phnom Penh unternimmt und sich auf einmal unfreiwillig hinter den Linien der Roten Khmer wiederfindet, saß ich mehr oder weniger mit ihm im selben Taxi, das Herz schlug mir im Hals, ich trommelte mit den Fingern auf dasselbe Armaturenbrett und sandte dieselben Gebete zu meinem Schöpfer.

Wenn Jerry eine Opiumhöhle besucht oder sich den Flugkünsten eines berauschten chinesischen Opiumpiloten anvertraut, und dies in einem Flugzeug, das nicht einmal auf einer Schrottauktion zugelassen worden wäre, so ist er der Nutznießer meiner eigenen angstvollen Abenteuer. Was lediglich bedeutet, daß ich im Zeitraum einiger Monate Gefahren durchgestanden habe, die jeder Reporter lässig an einem einzigen Nachmittag hinter sich bringt. Ich erinnere mich nur an eine Gelegenheit, bei der ich gekniffen habe, doch mag sie für jene anderen Gelegenheiten stehen, die ich zum Glück vergessen habe. Zusammen mit H.D. S. Greenway, der damals bei der Washington Post war, wollte ich mit einem Zug von Nakhonphenom im Nordosten Thailands zurück nach Bangkok fahren. Wir waren aus Laos gekommen und hatten eine ziemlich harte Woche hinter uns. Wir hatten im Rebellengebiet gemeinsam einige höchst interessante, aber zermürbende Begegnungen erlebt, nicht zuletzt mit einem von den Amerikanern ausgebildeten Thai-Kommandanten einer Sondereinheit, der mehr Waffen am Leib trug als irgendein anderer, den ich je zuvor oder seitdem gesehen habe, und den Sie in den späteren Kapiteln dieses Buches kennenlernen werden. Als wir uns dem Fahrkartenschalter näherten, fragte Greenway mich erschöpft, ob meine Suche nach Material es erforderlich mache, daß wir in der schlechtesten Wagenklasse reisen müßten. Ich zögerte noch, als ihm die Lösung einfiel: »Ich sag dir was. Wir fahren erster Klasse und lassen Smiley in der dritten Klasse schmoren.« Gesagt, getan, und so kamen wir so gut erholt in Bangkok an, daß wir die Veröffentlichung von Dame, König, As, Spion feiern konnten.

Was sonst noch könnte mich dazu bringen, dieses Buch in zehn Jahren noch einmal in die Hand zu nehmen? Die Antwort gleicht einem traurigen Lächeln in meiner Erinnerung. Das verschwundene Kambodscha. Das verschwundene Phnom Penh, der letzte von Joseph Conrads Flußhäfen, der zum Teufel gegangen ist. Die Gerüche von heißem Öl und Nachtblumen und das Lärmen der Ochsenfrösche, während wir unsere lächerlich wunderbaren Khmer-französischen Mahlzeiten verzehrten, nur wenige Meilen von den raubgierigen Haufen entfernt, die bald die Stadt verwüsten sollten. Die geflüsterten Anzüglichkeiten der Straßenmädchen, die in ihren dreirädrigen Taxis durch die warme Nacht an uns vorüberrollten. Kurz, die Erinnerung an die letzten Tage des französischen Kolonialismus, bevor die Rache des furchtbaren Pol Pot und seiner Roten Khmer das alles für immer hinwegfegte.

Und was Hongkong betrifft – ist auch das alles Geschichte? Während ich dies niederschreibe, befindet sich Mrs.Thatchers Außenminister gerade in der Kolonie und erklärt dort tapfer, warum Britannien nichts tun kann für ein Volk, von dem es sich einhundertfünfzig Jahre lang ernährt hat. Zeitlos ist anscheinend nur der Verrat.

John le Carré, Juli 1989

Für Jane, die den schwierigsten Teil erwählt hat, die Last meiner Gegenwart und meiner Abwesenheit ertrug

Erster Teil

1Wie der Circus die Stadt verließ

Noch lang danach stritten sich Londons Geheimdienstler in ihren staubigen Stammkneipen um die Frage, wann denn genau der Beginn des Unternehmens Delphin anzusetzen sei. Die eine Partei, angeführt von einem dicklichen Burschen aus der Abteilung Abhörprotokollierung, ging so weit, zu behaupten, der Stichtag sei vor sechzig Jahren gewesen, als »dieser Erzlump Bill Haydon« unter einem verräterischen Stern das Licht der Welt erblickt hatte. Allein schon der Name Haydon jagte ihnen Schauder über den Rücken und tut es noch heute. Denn eben jener Haydon war noch während seiner Zeit in Oxford von dem Russen Karla als »Maulwurf« oder »Schläfer«, das heißt als Tiefenagent angeworben worden, um gegen sie zu arbeiten. Und hatte sich unter Karlas Weisung in ihre Mannschaft eingereiht und sie dreißig Jahre oder noch länger ausspioniert. Und seine endliche Entdeckung hatte die britische Mannschaft – so lautet die Lesart – in eine fatale Abhängigkeit vom amerikanischen Schwesterunternehmen gebracht, von den »Vettern«, wie es in ihrem Privatjargon hieß. Die Vettern modelten das Spiel völlig um, sagte der Dicke: im gleichen Ton, als bedauerte er die Entwicklung des Leistungssports zum Massensport. Und haben es dabei völlig verdorben, sagten seine Sekundanten.

Für weniger umschweifige Geister begann die Geschichte mit Haydons Entlarvung durch George Smiley und mit Smileys darauffolgender Ernennung zum amtierenden Chef der verratenen Dienststelle, so geschehen Ende November 1973. Nachdem George einmal Karlas Witterung aufgenommen hatte, so sagten sie, war er nicht mehr zu halten. Alles übrige sei nur die zwangsläufige Folge gewesen, sagten sie. Armer alter George: aber was für ein Kopf auf den schwachen Schultern!

Ein gelehrtes Haus, Ermittler seines Zeichens, im Jargon »Wühlmaus« genannt, wollte in seinem Suff sogar den 26.Januar 1841 ansetzen, den Tag, an dem ein gewisser Captain Elliot von der Royal Navy seine Mannschaft auf einen umnebelten Felsen Namens Hongkong an der Mündung des Perlflusses an Land setzte und den Ort wenige Tage später zur britischen Kolonie erklärte. Mit Elliots Landung, so das gelehrte Haus, wurde Hongkong zum Hauptquartier des britischen Opiumhandels mit China und in der Folge zu einer der wirtschaftlichen Säulen des Empire. Hätten die Briten nicht den Opiummarkt erfunden, sagte er – nicht unbedingt im Ernst –, dann hätte es auch keinen Fall, kein Unternehmen, kein Ergebnis und folglich auch keine Wiedergeburt des Circus nach Bill Haydons verheerendem Verrat gegeben.

Für die harten Burschen hingegen – die gelernten Außenagenten, die Instruktoren und die Einsatzleiter, die immer ihren eigenen Kommentar brummten – war das Ganze eine reine Verfahrensfrage. Sie erinnerten daran, wie zielsicher Smiley Karlas Zahlmeister in Vientiane aufgestöbert hatte, wie Smiley mit den Eltern des Mädchens umzugehen verstand und wie er mit den Whitehall-Baronen verfuhr, die den Daumen auf der Kasse hielten und in der Geheimwelt das Sagen und das Fragen hatten. Vor allem aber, wie er zu jenem grandiosen Zeitpunkt die ganze Operation um hundertachtzig Grad herumschwenkte. Für diese Profis war Unternehmen Delphin ein Triumph der Technik. Nichts weiter. Sie betrachteten die Muß-Ehe mit den Vettern lediglich als einen weiteren schlauen Trick in einem langen und heiklen Pokerspiel. Und was das Endresultat betraf : nebbich. Der König ist tot, lang lebe der nächste.

Die Debatte wird fortgeführt, wo immer alte Kameraden beieinandersitzen, der Name Jerry Westerby fällt dabei jedoch aus verständlichen Gründen nur selten. Gewiß, gelegentlich passiert es dennoch, irgendwer holt ihn aus der Versenkung hervor, aus Großsprecherei, aus Gefühlsduselei oder einfach aus Unbesonnenheit, und dann kommt Spannung auf: aber das geht vorbei. Erst unlängst hat ihn zum Beispiel ein junger Grünschnabel, frisch aus dem neueröffneten Trainingslager des Circus in Sarratt – im Jargon die »Nursery« genannt –, in der Kneipe der Unterdreißiger herausposaunt. Eine entschärfte Version von Unternehmen Delphin war vor einiger Zeit in Sarratt als Material für Roundtable-Diskussionen eingeführt worden, Teile davon hatte man sogar durchgespielt, und der arme, noch so recht grüne Junge schnappte fast über vor Aufregung, als er entdeckte, daß er im Bilde war: »Mein Gott«, entrüstete er sich im Schutze jener Narrenfreiheit, wie sie manchmal junge Marineleutnants in der Offiziersmesse genießen, »mein Gott, warum will denn niemand Westerbys Rolle in dieser Sache würdigen ? Wenn hier einer das Risiko zu tragen hatte, dann war’s Jerry Westerby. Er war die Speerspitze gewesen. Oder etwa nicht? Ehrlich?« Nur daß er natürlich nicht den Namen »Westerby« aussprach, auch nicht den Namen »Jerry«, allein schon deshalb nicht, weil er sie nicht kannte; er bediente sich des Decknamens, der Jerry für die Dauer seines Einsatzes zugeteilt worden war.

Peter Guillam griff rettend ein. Guillam ist groß und drahtig und elegant, und Novizen, die auf ihren ersten Einsatz warten, blicken gern zu ihm auf, wie zu einer griechischen Gottheit.

»Westerby war der Stecken, der das Feuer schürte«, erklärte er brüsk und beendete damit das Schweigen. »Jeder Außenmann hätte es genausogut getan, mancher sogar verdammt viel besser.« Als der Junge noch immer nicht kapierte, stand der sehr blaß gewordene Guillam auf, ging zu ihm hinüber und schnauzte ihm ins Ohr, er solle sich noch einen Drink holen, wenn er ihn vertragen könne, und danach ein paar Tage oder besser ein paar Wochen lang die Klappe halten. Worauf das Gespräch sich wiederum dem lieben alten George Smiley zuwandte, dem gewiß letzten der wahrhaft Großen, und was er wohl jetzt, da er wieder in den Ruhestand zurückgekehrt war, mit sich anfangen mochte? Er hatte so viele Leben gelebt; so vieles am stillen Herd zu überdenken, meinten sie einhellig.

»George hat fünfmal soviel geleistet wie wir«, erklärte jemand ritterlich – eine Frau.

Zehnmal, fanden sie alle. Zwanzigmal ! Fünfzigmal! Über diesem massiven Lob geriet Westerbys Schatten in gnädige Vergessenheit. Und in gewissem Sinn auch George Smileys Schatten. Schließlich hatte George ein erfülltes Leben gehabt, sagten sie. Was konnte man in seinem Alter noch erwarten?

Vielleicht ist es realistischer, als Ausgangspunkt einen Sonnabend in der Mitte des Jahres 1974 anzunehmen, als ein Taifun über Hongkong hinwegfegte und die Stadt gegen drei Uhr nachmittags wie ausgestorben dalag und auf den nächsten Sturmangriff wartete. In der Bar des Auslandskorrespondenten-Clubs lungerten eine Handvoll Journalisten, in der Mehrzahl aus ehemaligen britischen Kolonien – Australien, Kanada, Amerika –, herum, alberten und tranken in einer Art aggressiver Untätigkeit: eine Truppe ohne Hauptdarsteller. Dreizehn Stockwerke unter ihnen schoben sich die alten Straßenbahnen und Doppeldeckerbusse durch die schmutzigbraunen Ausdünstungen der Häuser und den Ruß der Fabriken von Kaulun. Die winzigen Teiche vor den hochaufragenden Hotels wurden vom langsamen, penetranten Regen punktiert. Und in »Herren«, von wo aus man den schönsten Blick über den Hafen hatte, tauchte der junge Kalifornier Luke das Gesicht ins Becken und wusch sich das Blut vom Mund.

Luke war ein eigenwilliger, hochaufgeschossener Tennisspieler, ein Greis von siebenundzwanzig Jahren, der bis zum Abzug der Amerikaner das beste Pferd im Saigoner Stall der Kriegsberichterstatter seiner Zeitschrift gewesen war. Wer ihn als Tennisspieler kannte, konnte sich kaum vorstellen, daß er auch noch etwas anderes tat, und wäre es nur trinken. Man sah ihn am Netz, wie er unbeirrbar alles, was da kommen mochte, zum Teufel schmetterte; oder zwischen Doppelfehlern Asse servierte. Während er saugte und spuckte, war sein Denken durch Alkohol und eine gelinde Gehirnerschütterung in mehrere luzide Teile gespalten. Der eine Teil beschäftigte sich mit einer Barmaid in Wanchai namens Ella, der zuliebe er dem neuseeländischen Polizisten einen Kinnhaken versetzt und die unvermeidlichen Folgen erlitten hatte: mit einem Minimum an Kraftaufwand hatte ihn Superintendent Rockhurst, alias der Rocker, der sich jetzt in einer Ecke der Bar von seinem Tun ausruhte, auf die Bretter geschickt und ihm einen herzhaften Tritt in die Rippen verpaßt. Ein weiterer Teil von Lukes Denken beschäftigte sich mit einem Ausspruch seines chinesischen Hauswirts, der sich an diesem Morgen wegen des Grammophonlärms bei ihm beschwert hatte und auf ein Bierchen geblieben war.

Irgendein Knüller, soviel stand fest, aber was für einer?

Er erbrach sich nochmals, dann linste er aus dem Fenster. Die Dschunken waren hinter den Schutzmauern vertäut, und die Star Ferry hatte den Betrieb eingestellt. Eine altgediente britische Fregatte dümpelte vor Anker, und im Club ging das Gerücht, Whitehall wolle sie verkaufen.

»Sollte in See stechen«, brabbelte Luke wirr, denn er entsann sich einigen Seemannsgarns, das er auf seinen Reisen aufgeschnappt hatte. »Fregatten stechen auch bei Taifun in See. Yes Sir.«

Die Hügel waren schiefergrau unter den schwarzen Wolkenschichten. Vor einem halben Jahr hätte Luke bei diesem Anblick vor Wonne geschnurrt. Den Hafen, das Getöse, sogar die Hochhausschuppen, die vom Strand bis zum Peak, zur Hügelspitze, hinaufklommen: nach Saigon hatte er die ganze Szenerie jubelnd begrüßt. Aber heute sah er nur noch einen satten, reichen, britischen Felsen in den Händen einiger feister Krämer, die nicht über die eigenen Wänste hinaussahen. Die Kolonie war daher für ihn genau das geworden, was sie für die übrigen Journalisten längst war: ein Flugplatz, ein Telefon, eine Wäscherei, ein Bett. Dann und wann – aber niemals für lange – eine Frau. Sogar die Erfahrungen mußte man importieren. Und die Kriege, die so lange Zeit hindurch seine Droge gewesen waren: sie waren von Hongkong genauso weit entfernt wie von London oder New York. Nur die Börse reagierte andeutungsweise, aber am Sonnabend war sie ohnehin geschlossen.

»Meinst du, du wirst’s überleben, Goldjunge?« fragte der strubbelige kanadische Cowboy, der an die Piß-Schüssel nebenan trat. Die beiden Männer hatten die Freuden der Tet-Offensive geteilt.

»Danke, mein Lieber, ich bin in ausgesprochner Hochform«, erwiderte Luke mit seinem übertriebensten englischen Akzent. Luke kam zu dem Schluß, daß er sich unbedingt an das erinnern müsse, was Jake Chiu am Vormittag beim Bier zu ihm gesagt hatte, und plötzlich fiel es ihm wie ein Geschenk des Himmels wieder ein.

»Ich hab’s«, schrie er. »Herrgott, Cowboy, ich weiß es wieder! Luke, du weißt es wieder! Mein Gehirn! Es funktioniert! Leute, alle mal herhören!«

»Vergiß es!« riet ihm der Cowboy. »Da draußen herrscht heute dicke Luft, Goldjunge. Was es auch sein mag, vergiß es.«

Aber Luke trat die Tür auf und rannte mit ausgebreiteten Armen in die Bar.

»Heh! Heh! Leute!«

Niemand wandte den Kopf. Luke formte die Hände zu einem Megaphon:

»Hört zu, ihr besoffenen Strolche, ich hab ne Neuigkeit. Zwei Flaschen Whisky am Tag undn Gehirn wien Rasiermesser. Ist das nicht fabelhaft? Wo is die Bimmel?«

Da er keine fand, griff er sich ein Bierseidel und hämmerte damit gegen die Theke, daß das Bier überschwappte. Auch dann geruhte nur der Zwerg, von ihm Notiz zu nehmen.

»Na, wo brennt’s denn, Lukie?« näselte der Zwerg mit seinem Greenwich-Village-Akzent. »Hat Big Moo wiedermal den Schluckauf? Bricht mir das Herz.«

Big Moo nannten sie im Clubjargon den Gouverneur, und der Zwerg war Lukes Bürochef. Ein formloser, mürrischer Mensch mit wirrem Haar, das ihm in schwarzen Strähnen ins Gesicht fiel, und der Angewohnheit, wie aus dem Nichts neben einem aufzutauchen. Vor einem Jahr hatten ihn ein paar Franzosen, die man sonst hier selten sieht, wegen einer beiläufigen Bemerkung über den Ursprung des Vietnam-Fiaskos beinah umgebracht. Sie zerrten ihn zum Lift, brachen ihm den Kiefer und mehrere Rippen, dann kippten sie ihn im Erdgeschoß wie ein lebloses Bündel heraus und kehrten zu ihren Gläsern zurück. Kurz darauf wurde ihm eine ähnliche Behandlung von seiten der Australier zuteil, als er eine absurde Äußerung betreffs ihrer militärischen Rolle in diesem Krieg zum besten gab. Er behauptete, Canberra habe mit Präsident Johnson vereinbart, daß die australischen Jungens in Vung Tau bleiben sollten, einem wahren Picknickplätzchen, während die Amerikaner anderswo den wirklichen Krieg führten. Im Gegensatz zu den Franzosen verschmähten die Australier den Lift. Sie prügelten den Zwerg einfach an Ort und Stelle windelweich, und als er zu Boden ging, bekam er noch eine Zugabe. Danach hatte er begriffen, wann er den Leuten in Hongkong aus dem Weg gehen mußte. Zum Beispiel bei lang anhaltendem Nebel. Oder wenn es nur vier Stunden am Tag Wasser gab. Oder an einem Sonnabend während des Taifuns.

Im übrigen war der Club recht leer. Die Starkorrespondenten hielten sich aus Prestigegründen ohnehin fern. Ein paar Geschäftsleute, die wegen der um die Pressemänner herrschenden Atmosphäre kamen, ein paar Mädchen, die der Männer wegen kamen. Eine Handvoll Fernseh-Kriegstouristen in imitierten Kampfanzügen. Und, in seiner Stammecke, der furchterregende Rocker, Polizei-Superintendent und ehemaliger Palästina-, Kenia», Malaya- und Fidji-Kämpfer, ein erbarmungsloses Schlachtroß mit einem Bier, einer Garnitur leicht geröteter Fingerknöchel und einer Wochenendausgabe der South China Morning Post. Der Rocker, so sagten die Leute, komme aus Standesgründen. Und an dem großen Mitteltisch, der an Wochentagen das Reservat von United Press International war, lungerte der Shanghai Junior Baptist Conservative Bowling Club unter dem Vorsitz des gescheckten alten Australiers Craw und gab sich dem üblichen Sonnabendturnier hin. Bei diesem Kampf ging es darum, eine zusammengedrehte Serviette quer durch den Raum segeln und im Weinregal landen zu lassen. Bei jedem Treffer stifteten die Mitspieler dem Torschützen die betreffende Flasche und halfen sie ihm leeren. Old Craw knurrte die Schießbefehle, und ein ältlicher Kellner aus Schanghai, der bei Craw einen Stein im Brett hatte, bestückte müde den Schießstand und servierte die Preise. An diesem Tag fehlte dem Spiel die Würze; ein paar Mitglieder beteiligten sich überhaupt nicht. Dennoch wählte Luke gerade diesen Kreis als sein Publikum.

»Die Frau von Big Moo hatn Schluckauf!« quengelte der Zwerg weiter. »Das Pferd von der Frau von Big Moo hatn Schluckauf! Der Stallknecht vom Pferd von der Frau von Big Moo hatn Schluckauf! Das …«

Luke marschierte zum Tisch, sprang mit einem Satz darauf, daß er krachte; ein paar Gläser zerbrachen, und Lukes Kopf rammte die Decke. Die leicht gebückte Gestalt hob sich überlebensgroß vor dem Südfenster ab: der suppige Nebel, dahinter der dunkle Schatten des Peak und dieser schwarze Riese, der den ganzen Vordergrund ausfüllte. Aber die Männer warfen und tranken weiter, als hätten sie ihn nicht gesehen. Nur der Rocker blickte ein einzigesmal in Lukes Richtung, ehe er seinen riesigen Daumen ableckte und zur Witzseite umblätterte.

»Dritte Runde!« kommandierte Craw mit seinem kräftigen australischen Akzent. »Bruder Kanada, Feuer frei. Warte, du Knallkopf. Feuer!«

Eine zusammengedrehte Serviette segelte im hohen Bogen zum Regal. Fand eine Lücke, verhakte sich eine Sekunde lang, glitt ab, flatterte zu Boden. Luke, vom Zwerg angestachelt, begann auf den Tisch zu stampfen und warf noch ein paar Gläser um. Schließlich gab sein Publikum den Widerstand auf.

»Ehrwürdens«, sagte Old Craw seufzend, »darf ich um Aufmerksamkeit bitten für meinen Sohn. Ich fürchte, er hat uns etwas mitzuteilen. Bruder Luke, du hast heute mehrere Friedensbrüche begangen, jeder weitere wird unserer ernsten Mißbilligung begegnen. Sprich klar und knapp und lasse nichts aus, auch nicht die geringste Kleinigkeit, und dann halt die Luft an.«

In ihrer unermüdlichen gegenseitigen Mythenstrickerei hatten sie Old Craw den »Ancient Mariner« getauft. Craw habe sich, so erzählten sie einander, schon mehr Sand von den Hosen geklopft, als die meisten von ihnen je unter die Sohlen kriegen würden; und das stimmte. In Schanghai, wo seine Laufbahn begann, war er Tee-Boy und Lokalredakteur der einzigen englischsprachigen Zeitung der Hafenstadt gewesen. Seither berichtete er über den Kampf der Kommunisten gegen Tschiang Kai-schek, den Kampf Tschiangs gegen die Japaner und die Kämpfe der Amerikaner gegen nahezu alle anderen. Craw vermittelte ihnen eine Art Geschichtsbewußtsein in dieser wurzellosen Stadt. Seine Redeweise, die an Taifuntagen sogar den Abgehärtetsten verzeihlicherweise auf die Nerven fallen konnte, war ein echtes Relikt aus den dreißiger Jahren, als Australien den Großteil der Journalisten im Fernen Osten stellte und der Vatikan aus unerfindlichen Gründen den Jargon ihrer Gemeinde.

So gelang es Luke dank Old Craw schließlich, seine Neuigkeit an den Mann zu bringen.

»Gentlemen! – Zwerg, verdammter Polack, laß meinen Fuß los! – Gentlemen!« Er hielt inne und betupfte sich die Lippen mit dem Taschentuch. »Das Haus, bekannt unter dem Namen High Haven, steht zum Verkauf, und Ehrwürden Tufty Thesinger haben sich aus dem Staub gemacht.«

Nichts tat sich, aber er hatte auch nichts Besonderes erwartet. Journalisten geben ihrem Erstaunen nicht lauthals Ausdruck, nicht einmal ihrem Unglauben.

»High Haven«, wiederholte Luke schallend, »ist zu haben. Mr.Jake Chiu, der bekannte und beliebte Immobilienmakler, Ihnen besonders in seiner Eigenschaft als mein aufgebrachter Hauswirt ein Begriff, wurde von der Regierung Ihrer Majestät beauftragt, über High Haven zu disponieren. Im Klartext: die Bude zu verscheuern. Loslassen, polnischer Saukerl, ich bring dich um!« Der Zwerg hatte ihn vom Tisch gestoßen. Nur ein hurtiger Luftsprung bewahrte Luke vor Schaden. Vom Fußboden aus brüllte er weitere Beschimpfungen gegen seinen Angreifer. Inzwischen hatte Craw seinen großen Kopf Luke zugewendet, die feuchten Augen hefteten sich böse glotzend auf ihn, schienen ihn nie mehr loslassen zu wollen. Luke fragte sich, gegen welches von Craws zahlreichen Gesetzen er verstoßen haben mochte. Unter seinen verschiedenen Verkleidungen war Craw ein komplizierter und einsamer Mensch, wie die ganze Tischrunde wußte. Die absichtliche Ruppigkeit verdeckte eine Liebe zum Fernen Osten, die ihn zuweilen bis zur Unerträglichkeit zu packen schien, so daß er monatelang von der Bildfläche verschwinden konnte und wie ein gereizter Elefant auf seinen eigenen Pfaden stapfte, bis er sich diesem Leben wieder gewachsen fühlte.

»Bitte nicht zu faseln, Ehrwürden, wenn’s beliebt«, sagte Craw schließlich und warf den großen Kopf gebieterisch in den Nacken. »Kein dreckiges Gewäsch in die bekömmlichen Gewässer spucken, wenn’s gefällig ist, Herr Baron. High Haven ist das ›Spukhaus‹, schon seit Jahren, die Residentur. Bau des luchsäugigen Major Tufty Thesinger, ehedem bei Her Majesty’s Rifles, jetzt der Lestrade des Yard in Hongkong. Tufty würde sich nie aus dem Staub machen. Er ist ein ›Spuk‹, kein Waschlappen. Gebt meinem Sohn zu trinken, Monsignore« – dies zu dem chinesischen Barmann –, »er redet irre.«

Craw gab einen weiteren Feuerbefehl, und der Club wandte sich wieder seinen intellektuellen Exerzitien zu. Lukes großartige Erstmeldung in Sachen Spionage war für die Kollegen kein Novum. Er genoß seit langem einen Ruf als verhinderter Spitzeljäger, und seine Hinweise waren unweigerlich haltlos. Seit Vietnam sah dieser Dämlack Spione unter jedem Teppich. Er war überzeugt, daß sie die Welt regierten, und einen Großteil seiner freien Zeit trieb er sich, falls er nüchtern war, in der Umgebung der zahlreichen Heere kaum getarnter China-Beobachter und noch üblerer Gestalten herum, die das riesige amerikanische Konsulat auf dem Hügel heimsuchten. An einem weniger ereignislosen Tag hätte die Sache folglich damit ihr Bewenden gehabt. So jedoch sah der Zwerg eine Gelegenheit zur Kurzweil, und ergriff sie.

»Sag mal, Lukie«, begann er und drehte dabei die ausgestreckten Handflächen nach oben, »steht High Haven mit kompletter Einrichtung zum Verkauf oder nur wie besichtigt?«

Die Frage wurde mit Applaus belohnt. War High Haven wertvoller mit seinen Geheimnissen oder ohne sie?

»Steht es mit Major Thesinger zum Verkauf?« hakte der südafrikanische Fotograf in seinem humorlosen Singsang ein, und wiederum lachten alle, wenn auch nicht mehr so herzhaft. Der Fotograf war eine gespenstische, klapperdürre Gestalt mit Bürstenhaarschnitt, und sein Gesicht war so zerpflügt wie die Schlachtfelder, auf denen er herumgeisterte. Er kam aus Kapstadt, aber sie nannten ihn Deathwish den Hunnen. Sie sagten, er würde sie noch alle begraben, denn er stelzte immer hinter ihnen her wie ein Klageweib.

Ein paar vergnügliche Minuten lang ging Lukes Eröffnung völlig unter in einer Flut von Thesinger-Stories und Thesinger-Imitationen, an denen sich alle außer Craw beteiligten. Man erinnerte sich, daß der Major ursprünglich als Importkaufmann in der Kolonie aufgetaucht war, drunten in den Docks mit irgendeiner albernen Legende; nach einem halben Jahr erschien er völlig übergangslos auf der Beamtenliste und übersiedelte komplett mit seinem Personal blasser Schreiber und teigiger, wohlerzogener Sekretärinnen in besagtes Spukhaus, um dort irgend jemandes Nachfolge anzutreten. Besonders seine Tête-à-tête-Lunches wurden geschildert, zu denen, wie sich jetzt herausstellte, fast jeder der anwesenden Journalisten irgendwann einmal eingeladen war, und die mit spitzfindigen Vorschlägen beim Cognac endeten, einschließlich so wunderschöner Formulierungen wie: »Hören Sie, alter Junge, falls Ihnen jemals ein interessanter Chinaman vom anderen Flußufer vor die Büchse kommen sollte – einer mit Zugang, Sie verstehen? –, dann denken Sie an High Haven!« Dann die magische Telefonnummer, die »direkt auf meinem Schreibtisch anklingelt, keine Zwischenstation, keine Tonbänder, nichts, ja?« – die ein gutes halbes Dutzend von ihnen in ihren Notizbüchern stehen hatte: »Da, schreiben Sie’s auf Ihre Manschette, sagen Sie einfach, es ist ein Rendezvous oder eine Freundin oder so. Fertig? Hongkong fünf-null-zwei-vier …« Sie leierten die Zahlen im Chor herunter, dann wurde es still. Irgendwo schlug eine Uhr Viertel nach drei. Luke erhob sich langsam und klopfte sich den Staub von den Jeans. Der alte schanghainesische Kellner gab seinen Posten bei den Regalen auf und holte die Speisenkarte hervor, in der Hoffnung, jemand wolle essen. Eine Weile zögerten sie. Der Tag war vertan. War es schon beim ersten Gin gewesen. Im Hintergrund ertönte tiefes Knurren, als der Rocker sich einen üppigen Lunch bestellte:

»Und dazu ein kaltes Bier, kalt, verstanden? Sehl kalt. Und luck zuck.« Der Superintendent wußte mit Eingeborenen umzugehen und versäumte nie, darauf hinzuweisen. Dann war es wieder still. »Na, geschafft, Lukie«, rief der Zwerg und brachte sich außer Reichweite. »Damit dürften Sie den Pulitzerpreis gewinnen. Gratuliere, darling. Knüller des Jahres.«

»Ach, leckt mich doch, alle mitnander«, sagte Luke und begab sich durch das Lokal zur Bar, wo zwei blaßgelbe Mädchen saßen. Armymädchen auf der Pirsch. »Jake Chiu hat mir die Scheiß-Anweisung gezeigt, oder? Anweisung von Her Majesty’s Scheiß-Service, oder? Scheiß-Wappen aufm Briefkopf, Löwe vögelt Geiß. Hei, sweethearts, kennt ihr mich noch? Ich bin der nette Onkel, der euch aufm Jahrmarkt die Lutscher gekauft hat.«

»Thesinger antwortet nicht«, sang Deathwish der Hunne moros vom Telefon her. »Niemand antwortet. Nicht Thesinger, nicht sein Diensthabender. Apparat ist außer Betrieb.« War es die Aufregung oder die Langeweile gewesen, niemand hatte bemerkt, wie Deathwish ans Telefon gegangen war.

Bis jetzt war Old Craw so leblos gewesen wie ein Dodo. Nun blickte er jäh auf.

»Wähl nochmal, du Narr«, befahl er scharf wie ein Feldwebel beim Exerzieren.

Achselzuckend wählte Deathwish wiederum Thesingers Nummer, und ein paar von ihnen gingen hinüber und sahen ihm dabei zu. Craw blieb, wo er war, und beobachtete. Es gab zwei Apparate. Deathwish probierte es mit dem zweiten, aber das Ergebnis blieb das gleiche.

»Ruf die Vermittlung an«, befahl Craw quer durch das Lokal. »Steh nicht da wie die schwangere Jungfrau. Ruf die Vermittlung an, du afrikanischer Baumaffe.«

»Kein Anschluß unter dieser Nummer«, sagte die Vermittlung. »Seit wann, Menschenskind?« fragte Deathwish.

»Keine weiteren Angaben«, sagte die Vermittlung.

»Haben die vielleicht ne neue Nummer gekriegt? Hallo! Vermittlung!« heulte Deathwish in die Muschel. Niemand hatte ihn je so aufgebracht gesehen. Das Leben war für Deathwish etwas, was sich vor dem Sucher abspielte: an dieser Leidenschaftlichkeit konnte nur der Taifun schuld sein.

»Keine weiteren Angaben«, sagte die Vermittlung.

»Ruf Shallow Throat an«, befahl Craw, der jetzt richtig wütend war. »Ruf jeden verdammten Protokollhengst in der Kolonie an.« Deathwish schüttelte zweifelnd den langen Kopf. Shallow Throat war der offizielle Regierungssprecher, ihnen allen ein Dorn im Auge. Ihn um irgend etwas angehen hieß das Gesicht verlieren. »Los, gib ihn mir«, sagte Craw, stand auf, schob die anderen beiseite, griff nach dem Telefon und hob ein makabres Werben um Shallow Throat an. »Ihr ergebener Craw hier, Sir, Ihnen stets zu Diensten. Wie geht’s Euer Eminenz an Leib und Seele? Sehr erfreut, Sir, sehr erfreut. Und die Frau Gemahlin und die Kleinen, Sir? Essen schön ihren Teller leer, will ich hoffen ? Kein Kopfgrind, kein Typhus? Wundervoll. Also dann, vielleicht würden Sie die Güte haben, mir mitzuteilen, warum zum Teufel Tufty Thesinger sich aus dem Staub gemacht hat?«

Sie beobachteten ihn, aber seine Züge waren wie versteinert, und es gab nichts aus ihnen zu lesen.

»Danke sehr, gleichfalls, Sir!« schnaubte er schließlich und hieb den Hörer so hart auf die Gabel, daß der ganze Tisch einen Satz machte. Dann wandte er sich an den alten schanghainesischen Kellner. »Monsignore Goh, Sir, besorgen Sie mir eine Benzinkutsche, seien Sie so freundlich! Ehrwürdens, lüftet eure Ärsche, die ganze Bande!«

»Warum zum Teufel?« fragte der Zwerg, in der Hoffnung, der Befehl gelte auch für ihn.

»Weil’s ’ne Story gibt, du rotziger kleiner Kardinal, ’ne Story, ihr versoffenen Eminenzen. Und Reichtum, Ruhm, Weiber und ein langes Leben!«

Seine grimmige Laune war ihnen allen ein Rätsel.

»Was hat Shallow Throat denn so Schlimmes gesagt?« fragte der zottige kanadische Cowboy ratlos.

Der Zwerg echote: »Ja, was hat er denn gesagt, Bruder Craw?« »Er hat gesagt: Kein Kommentar«, erwiderte Craw mit schöner Würde, als wären diese Worte der gemeinste Schandfleck auf seiner Berufsehre.

Also fuhren sie alle zum Peak hinauf, nur die schweigende Mehrheit der Säufer blieb friedlich sitzen. Der zerfahrene Deathwish, der lange Luke, der zottige kanadische Cowboy, ein malerischer Anblick mit seinem mexikanischen Revoluzzerschnurrbart, der Zwerg, wie immer nicht abzuschütteln, und schließlich Old Craw und die beiden Armyweibchen: eine Plenarsitzung des Shanghai Junior Baptist Conservative Bowling Club also, nebst Damen – obwohl der Club auf Ehelosigkeit eingeschworen war. Wunderbarerweise brachte der lustige kantonesische Chauffeur sie alle unter, ein Triumph der Masse über physikalische Gesetze. Er war sogar einverstanden, drei Quittungen über den jeweils vollen Fahrpreis auszustellen, eine für jeden beteiligten Journalisten: was kein Taxichauffeur von Hongkong jemals getan hatte oder in Zukunft tat. Ein Tag, der alles bisher Dagewesene über den Haufen warf. Old Craw saß vorn, auf dem Kopf den berühmten weichen Strohhut mit den Eton-Farben am Band, den ihm ein alter Kamerad testamentarisch vermacht hatte. Der Zwerg kauerte über dem Schalthebel, die drei anderen Männer saßen hinten und die beiden Mädchen hatten sich Luke auf den Schoß gesetzt, so daß er Mühe hatte, sich die Lippen abzutupfen. Der Rocker war offenbar nicht am Mitkommen interessiert gewesen. Er hatte die Serviette in den Kragen gestopft und harrte der Spezialität des Clubs in Form von gegrilltem Lamm mit Pfefferminzsoße und reichlich Kartoffeln.

»Und noch ein Bier! Aber diesmal kalt, verstanden? Sehl kalt, und zwar luck zuck!«

Aber sobald die Luft rein war, benutzte auch der Rocker das Telefon und sprach mit einer zuständigen Stelle, nur um ganz sicher zu gehen, obwohl beide Teilnehmer der Meinung waren, daß sich gar nichts machen lasse.

Das Taxi war ein roter Mercedes, ziemlich neu, aber nirgends geht ein Wagen so schnell vor die Hunde wie am Peak, wo es im Schneckentempo mit voll aufgedrehter Klimaanlage endlos bergauf geht. Das Wetter war und blieb mörderisch. Als sie langsam die Zementklippen hinaufwimmerten, umfing sie ein Nebel, an dem man fast erstickte. Und als sie ausstiegen, war es sogar noch schlimmer. Ein heißer, unbeweglicher Vorhang, geschwängert von Benzingestank und getränkt mit dem Lärm aus dem Tal hatte sich über den Gipfel gebreitet. Die Feuchtigkeit wallte in dünnen heißen Schwaden. An einem klaren Tag hätten sie nach beiden Seiten Aussicht gehabt, eine der schönsten der Welt: im Norden auf Kaulun und die blauen Berge der New Territories, hinter denen sich die achthundert Millionen Chinesen, denen nicht das Glück britischer Herrschaft lächelte, den Blicken entzogen; im Süden auf Repulse und Deep Water Bays und hinaus aufs offene Chinesische Meer. Die Royal Navy hatte schließlich in der ihr eigenen Naivität in den zwanziger Jahren High Haven erbaut, damit es das Gefühl von Macht repräsentiere und ausstrahle. Doch befände sich das Haus nicht in einer Mulde, von Bäumen umstanden, die danach strebten, den Himmel zu erreichen, und hätten sie nicht den Nebel abgehalten, dann wäre an jenem Nachmittag nichts weiter zu sehen gewesen als die beiden weißen Betonsäulen mit den Klingelknöpfen für »Tag« und »Nacht« und die abgesperrten Gittertore dazwischen. Doch dank der Bäume sahen sie das Haus ganz deutlich, obwohl es fünfzig Yards zurückgesetzt war. Sie konnten die Regenrinnen unterscheiden, die Feuertreppen und die Wäscheleinen, und sie konnten die grüne Kuppel bewundern, die die japanische Armee während ihres vierjährigen Aufenthalts draufgesetzt hatte.

Der Zwerg, der sich nützlich machen wollte, lief hin und drückte die Klingel mit dem Schildchen »Tag«. Eine Sprechanlage war in die Säule eingebaut, und sie starrten alle darauf und warteten, daß sie tönen würde, oder, wie Luke sich ausdrückte, Opiumrauch ausstoße. Am Straßenrand hatte der kantonesische Fahrer das Autoradio auf volle Lautstärke gedreht, es spielte unermüdlich ein winselndes chinesisches Liebeslied. Die zweite Säule war kahl bis auf ein Messingschild mit der Aufschrift Inter Services Liaison Staff, Thesingers fadenscheinige Legende. Deathwish der Hunne hatte eine Kamera gezückt und fotografierte so methodisch, als wäre er auf einem seiner vertrauten Schlachtfelder.

»Vielleicht arbeiten sie sonnabends nicht«, gab Luke zu bedenken, während sie weiter warteten, worauf Craw ihn einen blutigen Esel nannte: Spione arbeiteten sieben Tage in der Woche rund um die Uhr, sagte er. Auch äßen sie niemals, ausgenommen Tufty.

»Wünsche einen schönen guten Tag,« sagte der Zwerg.

Er hatte die Nachtklingel gedrückt und die gespitzten roten Lippen den Schlitzen der Sprechanlage genähert. In, wie man ihm zubilligen mußte, überraschend gekonntem Oberklassen-Englisch flötete er hinein:

»Mein Name ist Michael Hanbury-Steadly-Heamoor, ich bin Erster Bumsboy bei Big Moo. Ich würde, biete, gern Major Thesinger in einer wichtigen Angelegenheit sprechen, biete, da ist eine pilzförmige Wolke, die der Herr Major vielleicht noch nicht gesehen haben, schoint über dem Perrlfluß aufzustoigen und beointrächtigt Big Moos Golfplatz. Tanke schön. Würden Sie freundlicherweise das Tor öffnen?«

Eines der blonden Mädchen kicherte.

»Ich hab’ nicht gewußt, daß er ein Steadly-Heamoor ist«, sagte sie.

Sie hatten Luke stehenlassen und sich an den zottigen Cowboy geklammert, dem sie dauernd ins Ohr flüsterten.

»Er ist Rasputin«, sagte eines der Mädchen bewundernd und streichelte die Rückseite seines Schenkels. »Ich hab’ den Film gesehen. Gleicht ihm wie ein Ei dem anderen, stimmt’s, Kanada?« Nun nahmen sie alle einen Schluck aus Lukes Flachmann, während sie sich wieder sammelten und überlegten, was zu tun sei. Vom geparkten Wagen her tönte unbeirrbar das chinesische Liebeslied, aber die Sprechanlagen an den Säulen gaben keinen Ton von sich. Der Zwerg drückte gleichzeitig auf beide Klingeln und probierte es mit der Al-Capone-Masche.

»Hören Sie, Thesinger, wir wissen, daß Sie drinnen sind. Kommen Sie jetzt raus, Hände überm Kopf, ohne Visier, und ihre Dolche werfen Sie weg – Heh, paß doch auf, du Rindvieh!«

Das Kosewort galt weder dem Kanadier noch Old Craw – der sich gerade seitwärts in die Büsche schlug, offenbar einem Ruf der Natur folgend –, sondern Luke, der sich entschlossen hatte, mit Gewalt ins Haus einzudringen. Das Tor stand in einer verschlammten Zufahrt unter triefenden Bäumen. Auf der anderen Seite lag ein Haufen Abfall, einiger davon neueren Datums. Luke war hinübergesprungen und hatte auf der Suche nach erhellenden Anhaltspunkten ein S-förmiges Stück Roheisen ausgegraben. Obwohl es seine dreißig Pfund haben mußte, schleppte er es zum Tor, wuchtete es mit beiden Händen über den Kopf und ließ es auf den Stahl hinuntersausen, worauf das Tor den Ton einer gesprungenen Kirchenglocke von sich gab.

Deathwish war niedergekniet, sein ausgemergeltes Gesicht zu einem Märtyrerlächeln verzerrt, während er Fotos schoß.

»Zähle bis fünf, Tufty«, brüllte Luke und holte wiederum mit aller Kraft aus. »Eins …«, er schlug erneut zu, »Zwei …«

Über ihren Köpfen erhob sich ein Schwarm von allerhand Vögeln, einigen sehr großen, aus den Bäumen und floh in langsamen Spiralen, das Donnern aus dem Tal und das Dröhnen des Eisentors übertönten ihr Geschrei. Der Taxichauffeur tanzte herum, klatschte in die Hände und lachte, das Liebeslied war vergessen. Und was noch seltsamer war angesichts der bedrohlichen Witterung: eine komplette Chinesenfamilie tauchte auf, schob nicht nur einen Kinderwagen, sondern deren zwei vor sich her und fing ebenfalls an zu lachen, auch das Kleinste lachte, und sie hielten die Hände vor den Mund, um ihre Zähne zu verbergen. Bis der kanadische Cowboy jählings einen Schrei ausstieß, die Mädchen abschüttelte und durch die Gitterstäbe wies.

»Um Himmels willen, was treibt denn bloß Old Craw? Der alte Bussard ist über den Stacheldraht gesprungen.«

Jetzt war es um den letzten Rest von Vernunft geschehen, der bislang noch gewaltet haben mochte. Die ganze Horde schien von Wahnsinn erfaßt. Der Alkohol, der elende Tag, die Klaustrophobie hatten ihnen endgültig die Köpfe verwirrt. Die Mädchen hätschelten hingebungsvoll den Cowboy; Luke hämmerte unaufhörlich auf das Tor ein; die Chinesen trompeteten vor Lachen – bis sich plötzlich mit göttlicher Präzision der Nebel hob, blau-schwarze Wolkenburgen sich genau über ihnen türmten und ein Platzregen in die Bäume prasselte. Eine Sekunde später hatte er sie erreicht und durchnäßte sie im Handumdrehen. Die Mädchen, die plötzlich halb nackt dastanden, flohen lachend und kreischend in den Mercedes, die Reihen der Männer jedoch hielten eisern stand – der Zwerg eingeschlossen – und starrten durch den Wasserschleier auf die unverwechselbare Gestalt Old Craws des Australiers mit seinem alten Etonhut. Craw stand dicht am Haus unter einem primitiven Vordach, das aussah wie ein Fahrradschuppen, obwohl nur ein Irrer den Peak hinaufradeln würde.

»Craw!« schrien sie. »Monsignore! Der alte Bastard hat uns abgehängt!«

Der Regen prasselte ohrenbetäubend, die Äste schienen unter seiner Gewalt zu krachen. Luke hatte seinen blöden Hammer weggeworfen. Der zottige Cowboy ging als erster, Luke und der Zwerg folgten, Deathwish bildete mit seinem Lächeln und seiner Kamera die Nachhut, hoppelte geduckt dahin, während er blindlings fotografierte. Der Regen strömte wie aus Eimern, spritzte in roten Bächlein um ihre Knöchel, während sie Craws Fährte hügelan folgten, wo das Krächzen von Ochsenfröschen den Höllenkrach noch steigerte. Sie nahmen im Sturm einen Farnkrauthügel, kamen vor einem Stacheldrahtzaun schlitternd zum Stehen, schlüpften durch die auseinandergebogenen Stränge und setzten über einen niedrigen Graben. Als sie bei Craw ankamen, starrte der Alte zur grünen Kuppel hinauf, während der Regen ungeachtet des Strohhuts ihm flott übers Gesicht und weiterlief und seinen adretten rostbraunen Anzug in einen schwärzlichen, formlosen Kittel verwandelte. Er stand wie hypnotisiert da und starrte nach oben. Luke, der ihn besonders gern mochte, versuchte als erster, Craw in die Gegenwart zurückzuholen.

»Ehrwürden? Heh, aufwachen! Ich bin’s: Romeo. Herrjeh, was zum Teufel ficht ihn an?«

Plötzlich bekam Luke Angst und berührte sanft seinen Arm. Aber Craw sprach noch immer kein Wort.

»Vielleicht isser im Stehen gestorben«, ließ sich der Zwerg vernehmen, während der grinsende Deathwish ihn auf diesen Verdacht hin fotografierte.

Langsam, wie ein alter Berufsboxer, rappelte Craw sich auf. »Bruder Luke, wir müssen dir demütig Abbitte tun, Sir,« murmelte er.

»Bringt ihn zurück ins Taxi«, sagte Luke und fing an, ihm einen Weg zu bahnen, aber der alte Knabe wollte sich nicht von der Stelle rühren.

»Tufty Thesinger. Ein guter Spürhund. Keine ausgesprochene Spitzenklasse – dazu ist er nicht schlau genug –, aber ein guter Spürhund.«

»Tufty Thesinger ruhe in Frieden«, sagte Luke ungeduldig.

»Gehen wir. Zwerg, verzieh dich«.

»Stockbesoffen«, sagte der Cowboy.

»Sieh dir mal die Spuren an, Watson«, fuhr Craw nach einer weiteren Denkpause fort, während Luke ihn am Arm zog und der Regen noch heftiger fiel. »Beachte zunächst die leeren Kästen über dem Fenster, aus denen zur Unzeit die Klimaanlagen herausgerissen wurden. Sparsamkeit, mein Sohn, eine empfehlenswerte Tugend, besonders, wenn ich so sagen darf, bei einem Spion. Siehst du die Kuppel dort? Schau sie dir genau an, Sir. Kratzspuren. Doch ach! Nicht die Krallen eines riesigen Hunds, sondern die Kratzspuren von Funkantennen, von fiebrigen weißen Händen entfernt. Schon mal von einem Spukhaus ohne Antennen gehört? Wäre wie ein Puff ohne Klavier.«

Der Regenguß hatte sich zum Crescendo gesteigert. Riesentropfen schlugen wie Schüsse rings um sie ein. Craws Gesicht zeigte eine Mischung aus Gefühlen, die Luke nur erraten konnte. Tief in seinem Herzen regte sich der Verdacht, Craw könne wirklich am Sterben sein. Luke hatte wenige natürliche Todesfälle gesehen und war sehr scharf darauf, einen zu erleben.

»Vielleicht haben sie die Bergkrankheit gekriegt und sind weg«, sagte er und versuchte erneut, Craw zum Wagen zu locken.

»Durchaus möglich, Ehrwürden, ja, durchaus möglich. Ist genau die rechte Jahreszeit für unbesonnene, kurzgeschlossene Handlungen.«

»Nach Hause«, sagte Luke und zog ihn energisch am Arm. »Platz da, ja? Sanitäter!«

Aber der alte Mann ließ es sich nicht nehmen, noch einen letzten langen Blick auf das englische Spukhaus zu werfen, das im Sturm schauderte.

Der kanadische Cowboy reichte seine Story als erster ein, und sie hätte ein besseres Los verdient. Er schrieb sie noch in der gleichen Nacht, während die Mädchen in seinem Bett schliefen. Er fand, die Story würde sich besser als Zeitschriftenartikel eignen, nicht als Sensationsmeldung, also baute er sie um den Peak im allgemeinen und benutzte Thesinger nur als Aufhänger. Er erklärte, wie der Peak von jeher der Olymp Hongkongs gewesen sei – »je weiter oben man wohnt, desto höher rangiert man in der Gesellschaft« – und wie die reichen britischen Opiumhändler, Hongkongs Gründerväter, dort hinauf vor der Cholera und dem Fieber in der Stadt flüchteten; wie noch vor ein paar Jahrzehnten jeder Chinese sogar einen Paß brauchte, wenn er einen Fuß dorthin setzen wollte. Er schilderte die Geschichte von High Haven und zuletzt dessen, von der chinesischsprachigen Presse begründeten, Ruf als Hexenküche für britisch-imperialistische Anschläge auf das Reich Maos. Über Nacht war die Küche geschlossen worden, die Köche waren verschwunden.

»Eine weitere Versöhnungsgeste?« fragte er. »Ein Entgegenkommen? Im Zuge der britischen Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Festland? Oder einfach nur ein weiteres Indiz dafür, daß die Briten in Südostasien wie überall auf der Welt von ihrer hohen Warte heruntersteigen müssen?«

Er beging den Fehler, eine weitverbreitete englische Sonntagszeitung zu wählen, die gelegentlich seine Arbeiten brachte. Die Sperr-Anweisung, die alle Hinweise auf diese Vorkommnisse untersagte, kam ihm zuvor. »Bedauern Ihre hübsche Havenstory nicht unterzubringen«, telegrafierte der Redakteur und ließ sie prompt in der Schublade verschwinden. Ein paar Tage später fand der Cowboy beim Nachhausekommen sein Zimmer gründlich durchsucht. Auch litt sein Telefon ein paar Wochen lang an einer Art Kehlkopfentzündung, so daß er es nie benutzte, ohne eine obszöne Anspielung auf Big Moo und sein Gefolge zu äußern.

Luke kam voll guter Ideen nach Hause, badete, trank große Mengen schwarzen Kaffee und machte sich an die Arbeit. Er rief bei Fluggesellschaften an, bei Regierungsleuten und bei zahlreichen bleichen, geschniegelten Bekannten im amerikanischen Konsulat, die ihn durch Ausflüchte und delphische Antworten erbitterten. Er belästigte Umzugsfirmen, die vorwiegend für die Regierung arbeiteten. Noch in der gleichen Nacht um zehn Uhr hatte er, wie er wörtlich zum Zwerg sagte, »hieb- und stichfeste Beweise« dafür, daß Thesinger mit Frau und sämtlichem Personal von High Haven in den frühen Morgenstunden des Dienstag Hongkong mit einer Chartermaschine in Richtung London verlassen hatte. Thesingers Boxerhund, so erfuhr er durch einen glücklichen Zufall, sollte im Lauf der Woche per Luftfracht nachkommen. Mit seinen Notizen setzte Luke sich an die Schreibmaschine und blieb, wie er genau vorhersah, alsbald stecken. Er fing hastig und fließend an zu schreiben:

»Heute hängt eine neue Skandalwolke über der kampfgewohnten und nichtgewählten Regierung von Britanniens einzig verbliebener Kolonie in Asien. Der Aufdeckung von Korruption im Polizei- und Zivildienst folgt die Nachricht auf dem Fuße, daß das geheimnisvollste Etablissement der Insel, das Haus High Haven, die Basis für Englands Mantel- und Degenkomplotte gegen Rotchina, über Nacht geschlossen wurde.«

Hier hielt er mit einem gotteslästerlichen Fluch über sein Unvermögen inne und preßte das Gesicht in die Handflächen. Alpträume: die konnte er ertragen. Erwachen nach soviel Krieg, schweißbedeckt ob unaussprechlicher Visionen, in den Nüstern den Gestank von Napalm auf Menschenfleisch: in gewisser Weise war es ihm ein Trost, daß die Dämme seines Gefühls nach so langem Verdrängen gebrochen waren. Es hatte Zeiten gegeben, damals, als er das alles erlebte, in denen er sich nach einer Atempause sehnte, die ihm erlauben würde, Ekel zu empfinden. Wenn Alpträume notwendig waren, damit er wieder in die Reihen normaler Menschen zurückfände, dann konnte er sie dankbar willkommen heißen. Doch nicht im schlimmsten Alptraum war die Möglichkeit aufgetaucht, daß er nach jahrelangem Kriegsberichten nicht mehr imstande sein könnte, über den Frieden zu berichten. Sechs Nachtstunden lang kämpfte Luke mit dieser schrecklichen Starre. Manchmal dachte er an Old Craw, wie er dort stand, regentriefend, und seine Grabrede gehalten hatte: vielleicht war das die Story? Aber wer hängt schon eine Story an der ausgefallenen Gemütsverfassung eines Zunftkollegen auf?

Der Version, die der Zwerg zusammenbraute, war auch nicht viel mehr Erfolg beschieden, was den Verfasser sehr reizbar machte. Auf den ersten Blick hatte die Story alles, was man sich wünschen konnte. Sie mokierte sich über die Briten, enthielt das Wort SPION in Großbuchstaben und verzichtete ausnahmsweise auf das Bild von Onkel Sam als Henker Südostasiens. Doch alles, was er nach fünftägigem Warten zur Antwort erhielt, war die bündige Anweisung, er möge bei seinem Leisten bleiben und nicht in anderer Leute Stiefeln auftreten.

Blieb nur noch Old Craw. Verglichen mit der Rasanz der Haupthandlung war die Art, wie Craw den Zeitpunkt für sein Tun und Nichttun wählte, zwar nur ein Nebeneffekt, aber sie blieb denkwürdig bis auf den heutigen Tag. Drei Wochen lang schickte er gar nichts ein. Es gab ein paar Kleinigkeiten, um die er sich hätte kümmern sollen, aber er tat es nicht. Luke, der sich ernstlich um ihn Sorgen machte, hielt es zunächst für ein Zeichen fortschreitenden rätselhaften Verfalls. Craw verlor jeden Schwung und jedes Bedürfnis nach Geselligkeit. Er wurde schwierig und zuweilen ausgesprochen unfreundlich und bellte die Kellner in schlechtem Kantonesisch an; sogar Goh, seinen Liebling. Er behandelte die Shanghai Bowlers wie seine schlimmsten Feinde, und grub angebliche Missetaten aus, die sie längst vergessen hatten. Er saß allein auf seinem Fensterplatz wie ein alter Boulevardier in mageren Zeiten, verbiestert, abweisend, untätig. Dann verschwand er eines Tages, und als Luke voll banger Ahnungen seine Wohnung aufsuchte, teilte ihm die alte Amah mit, »Whisky Papa lauflauf London, laschlasch«. Sie war ein sonderbares kleines Wesen, und Luke glaubte ihr nicht recht. Ein stumpfsinniger Schreiber des Spiegel berichtete, er habe Craw in Vientiane in der Constellation Bar bechern sehen, aber auch das schien Luke fragwürdig. Die Insider hatten sich schon immer einen Sport daraus gemacht, Old Craw zu beobachten, und jede zusätzliche Information erhöhte das eigene Prestige.

Bis eines schönen Montags so gegen Mittag der alte Knabe in einem neuen beigen Anzug mit eleganter Knopflochblume in den Club spaziert kam, voller Anekdoten und Lächeln, ganz wie ehedem, und sich an die High-Haven-Story machte. Er gab mehr Geld aus, als sein Blatt ihm normalerweise zugestanden hätte. Er verzehrte mehrere vergnügte Mahlzeiten mit gutgekleideten Amerikanern von recht vage bezeichneten US-Organisationen, darunter ein paar, die Luke bekannt waren. Den berühmten Strohhut auf dem Kopf, führte er jeden einzeln in ein ruhiges, ausgewähltes Restaurant. Im Club wurde er als Diplomatenknecht geschmäht, eine schwere Anschuldigung, und er lachte dazu. Danach mußte er zu einer Konferenz der China-Beobachter nach Tokio, und rückblickend darf wohl angenommen werden, daß er diesen Besuch nutzte, um nach weiteren Bestandteilen der Story zu recherchieren, die langsam für ihn Gestalt annahm. Bestimmt bat er alte Bekannte bei dieser Konferenz, das eine oder andere für ihn auszugraben, sobald sie wieder zu Hause sein würden, in Bangkok oder Singapur oder Taipeh oder woher immer sie gekommen waren, und sie taten ihm den Gefallen, weil sie wußten, daß er das gleiche auch für sie getan hätte. Auf geheimnisvolle Weise schien er zu wissen, wonach er suchte, noch ehe sie es gefunden hatten.

Das Ergebnis erschien in voller Ausführlichkeit in einer Sydneyer Morgenzeitung, die für den langen Arm der anglo-amerikanischen Zensur unerreichbar war. Alle fanden, daß es an die besten Jahre des Meisters erinnerte. Ein Artikel von zweitausend Wörtern. Typischerweise stand keineswegs die High-Haven-Story im Vordergrund, sondern der »geheimnisvolle leere Flügel« der britischen Botschaft in Bangkok, der bis vor einem Monat eine seltsame Körperschaft namens »The Seato Coordination Unit« beherbergt hatte und außerdem eine Visa-Abteilung mit sage und schreibe sechs Zweiten Sekretären. Waren es die Freuden der Massage-Salons von Soho, so fragte der alte Australier zuckersüß, die die Thailänder in solcher Anzahl nach England lockten, daß man zur Bearbeitung ihrer Visa-Anträge sechs Zweite Sekretäre benötigte? Sonderbar desgleichen, so seine weiteren Überlegungen, daß sich nach ihrer Abreise und der Schließung des betreffenden Gebäudeflügels keine Warteschlangen von Reisewilligen vor der Botschaft bildeten. Ganz allmählich – er schrieb mit leichter Hand, aber immer wohlüberlegt – tat sich ein überraschendes Bild vor seinen Lesern auf. Er bezeichnete den britischen Geheimdienst als den »Circus«. Er sagte, der Name komme von der Adresse dieser Organisation, deren Hauptquartier an einem berühmten Platz in London stehe. Der Circus hatte sich nicht nur aus High Haven abgesetzt, sagte er, sondern auch aus Bangkok, Singapur, Saigon, Tokio, Manila und Djakarta. Und aus Seoul. Sogar das entlegene Taiwan sei nicht immun, dort sei festgestellt worden, daß ein zweitrangiger britischer Resident drei Schreiber-Chauffeure und zwei Sekretariatsgehilfen abgestoßen habe, nur eine Woche ehe dieser Artikel in Druck gegangen sei.

»Das Dünkirchen der Spione«, hatte Craw es genannt, »wobei Chartermaschinen vom Typ DC 8 die Fischerboote aus Kent ersetzten.«

Was hatte einen solchen Exodus ausgelöst? Craw bot mehrere geistreiche Theorien an. Waren wir Zeugen einer weiteren Beschneidung der Staatsausgaben? Der Autor hatte da seine Zweifel. In ihren schweren Stunden neigte Britannia eher dazu, mehr, nicht weniger Wert, auf ihre Spione zu legen. Die ganze Geschichte des Empire bewies das. Je schmaler die Handelswege, desto raffinierter die geheimen Bemühungen, sie zu schützen. Je mehr sich der Zugriff auf die Kolonien lockerte, desto verzweifelter der Kampf gegen jene, die ihn vollends lösen wollten. Nein: Großbritannien mochte bei Wasser und Brot schmachten, seine Spione würden der letzte Luxus sein, den es aufgäbe. Craw zeigte noch weitere Möglichkeiten auf und tat sie sogleich wieder ab. Eine Geste der Entspannung gegenüber China ? fragte er, wie vor ihm schon der Cowboy. Gewiß würde England alles Menschenmögliche tun, um Hongkong vor Maos antikolonialistischem Eifer zu bewahren – alles, nur nicht seine Spione opfern. Und so kam Old Craw schließlich zu seiner Lieblingstheorie:

»Quer über das ganze Fernöstliche Schachbrett«, schrieb er, »ging der Circus, wie man im Fachjargon sagt, auf Tauchstation.«

Aber warum ?

Der Schreiber zitierte nun seine »verehrten amerikanischen Amtsbrüder von der streitenden Geheimkirche in Asien«. Amerikanische Geheimdienstler seien allerorts, so sagte er, nicht nur in Asien, »fuchsteufelswild über die laxe Sicherheitshandhabung bei den britischen Dienststellen«. Am verbittertsten seien sie über die kürzliche Entdeckung eines hohen russischen Spions – er warf hier das Fachwort »Maulwurf« ein – innerhalb des Londoner Hauptquartiers, eben des Circus: eines britischen Verräters, dessen Namen sie nicht nennen wollten, der jedoch mit den Worten der verehrten Amtsbrüder »jede auch nur einigermaßen nennenswerte anglo-amerikanische Geheimoperation während der letzten zwanzig Jahre zunichte gemacht« habe. Wo war der Maulwurf jetzt?, habe der Schreiber seine Quellen gefragt. Worauf sie mit unverhohlener Erbitterung geantwortet hätten: »Tot. In Rußland. Und hoffentlich beides.«

Craw war nie um einen effektvollen Schluß verlegen gewesen, aber dieser hatte für Lukes liebendes Auge etwas geradezu Erhabenes. Er war beinah eine Aussage über das Leben selbst, und sei es nur über das geheime Leben.

»Ist Kim, der junge Spion, für immer aus den Legenden des Fernen Ostens verschwunden?« fragte er. »Soll der englische Pundit nie wieder seine Haut färben und seinen Platz am Dorffeuer einnehmen? Fürchtet euch nicht«, donnerte er. »Die Briten werden zurückkommen! Der altehrwürdige Sport der Spionenjagd wird Urständ feiern! Der Spion ist nicht tot: er tut nur einen tiefen Schlaf.«

Der Artikel erschien. Im Club wurde er flüchtig bewundert, beneidet, vergessen. Eine örtliche englischsprachige Zeitung mit starken amerikanischen Verbindungen druckte ihn ungekürzt nach, mit dem Erfolg, daß die Eintagsfliege noch weitere vierundzwanzig Stunden leben durfte. Die Benefiz-Vorstellung des alten Knaben, sagten sie: eine letzte Reverenz, ehe er von der Bühne abtrat. Dann brachten ihn die überseeischen Sender von BBC, und schließlich strahlte der müde Sender der Kolonie eine Version der Version von BBC aus, und einen vollen Tag lang wurde die Frage erörtert, ob Big Moo beschlossen habe, den örtlichen Medien den Maulkorb abzunehmen. Doch obwohl inzwischen Wochen vergangen waren, sah weder Luke noch der Zwerg sich zu der Frage veranlaßt, wieso zum Teufel der Alte den Hintereingang zu High Haven gekannt hatte.

Was nur bewies, wenn ein Beweis jemals nötig war, daß Journalisten genauso lange brauchen wie gewöhnliche Sterbliche, bis sie spitzkriegen, was sich vor ihrer eigenen Nase tut. Schließlich tobte an jenem Sonnabend der Taifun.

Im Circus selbst, wie Old Craw den Sitz des britischen Geheimdienstes zutreffend benannt hatte, löste der Artikel unterschiedliche Reaktionen aus, je nachdem, wieviel die Betroffenen wußten. Bei den Housekeepers zum Beispiel, die für das bißchen Tarnung verantwortlich waren, mit dem sich der Circus zur Zeit umgeben konnte, löste der alte Knabe eine Woge aufgestauten Zorns aus, wie sie nur ein Mensch verstehen kann, der die Atmosphäre in einer Geheimdienststelle im Belagerungszustand kennt. Sogar sonst duldsame Geister wurden von wilder Rachsucht erfaßt. Verrat! Vertragsbruch! Sperrt seine Pension! Setzt ihn auf die Observierungsliste! Strafverfolgung, sobald er nach England zurückkehrt! Ein Stückchen weiter unten sahen die weniger fanatisch um ihre Sicherheit Besorgten die Sache mit milderem Auge, obgleich auch sie von falschen Voraussetzungen ausgingen. Na ja, so sagten sie ein bißchen kleinlaut, so geht es eben: zeigt uns einen, der nicht schon dann und wann mal durchgedreht hätte, und ganz besonders einen, der so lange in Unkenntnis gelassen wurde wie Old Craw. Und schließlich hatte er nichts veröffentlicht, was nicht allgemein zugänglich gewesen wäre, nicht wahr? Wirklich, diese Housekeepers da sollten sich ein bißchen mäßigen. Wie sie zum Beispiel neulich abends die arme Molly Meakin, die schließlich Mikes Schwester ist, fertiggemacht haben, nur weil sie ein Blatt leeres Briefpapier in ihrem Papierkorb ließ!

Nur die Leute vom innersten Kreis sahen die Sache anders. Für sie war Old Craws Artikel ein Meisterstück an Desinformation: George Smiley in seinen besten Tagen, sagten sie. Klar, daß die Sache herauskommen mußte, und alle stimmten darin überein, daß Zensur zu jeder Zeit ein fragwürdiges Mittel sei. Viel besser also, wenn sie nach unserer eigenen Fasson herauskam. Der rechte Zeitpunkt, das rechte Maß, der rechte Ton: in jedem Federstrich die Erfahrung eines ganzen Lebens, so sagten sie einmütig. Aber diese Ansicht drang nicht über ihren Kreis hinaus.