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Michael Blume setzt alles auf eine Karte, wenn es darum geht, Menschenleben zu retten und Terroropfern eine Zukunft zu ermöglichen. Mit seinem kleinen Team ist der Religionswissenschaftler und Referatsleiter im Staatsministerium von Baden-Württemberg 14-mal während der kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem IS in den Nordirak gereist, bis zu den Pforten der Hölle. Eine der nach Deutschland evakuierten Frauen, Nadia Murad, wurde 2018 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Michael Blume ist ein romantischer Typ. Mit einer welken Geranie tritt er vor Zehra, um ihr seine Liebe zu gestehen – und das halbe Mädchengymnasium schaut zu. Mit angezogener Handbremse kurvt er durch den Schwarzwald, um seine Angebetete zu sehen. Später lernt das junge Paar schnell, welche Verwicklungen eine deutsch-türkische Liebe in der Provinz mit sich bringt – gerade wenn es um Glaubensfragen zwischen Christentum und Islam geht. Michael Blume überrascht. Man muss lachen und weinen, wenn man ihn auf seinem Weg begleitet. Leidet mit, wenn ihn der Verfassungsschutz wegen Terrorverdachts öffentlich an den Pranger stellt. Und man merkt: Um andere sorgt er sich meist mehr als um sich selbst. Es ist seiner Frau Zehra und ihm ein Herzensanliegen, dass wir einander besser verstehen und respektieren – gerade auch in Glaubens- und Wertefragen. Ganz nebenbei ist dieses von Journalist Andreas Malessa furios erzählte Buch ein Stück deutscher Geschichte im Kleinformat.
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Seitenzahl: 245
Andreas Malessa
Eine Blume für Zehra
Liebe bis zu den Pforten der Hölle
Knaur e-books
Spannend: Michael Blume und sein Team haben mehr als 1.000 Frauen und Kinder aus den Fängen der IS-Terroristen gerettet – darunter die spätere Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad. Berührend: die Kraft der Liebe und der Einsatz für das Gute. Ein gutes Beispiel: Die Geschichte von Zehra und Michael Blume zeigt, wie eine Beziehung zwischen einer Muslimin und einem Christ gelingen kann.
Michael Blume setzt alles auf eine Karte, wenn es darum geht, Menschenleben zu retten und Terroropfern eine Zukunft zu ermöglichen. Mit seinem kleinen Team ist er 14-mal während des Krieges in den Nordirak gereist, bis zu den Pforten der Hölle. Eine der nach Deutschland evakuierten Frauen, Nadia Murad, wurde 2018 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Michael Blume ist ein romantischer Typ. Mit einer welken Geranie tritt er vor Zehra, um ihr seine Liebe zu gestehen – und das halbe Mädchengymnasium schaut zu. Mit angezogener Handbremse kurvt er durch den Schwarzwald, um seine Angebetete zu sehen. Später lernt das junge Paar schnell, welche Verwicklungen eine deutsch-türkische Liebe in der Provinz mit sich bringt – gerade wenn es um Glaubensfragen zwischen Christentum und Islam geht. Und was es heißt, immer wieder gegen jede Menge Konventionen zu verstoßen.
Michael Blume überrascht. Als Leser muss man lachen und weinen, wenn man ihn auf seinem Weg begleitet. Man leidet mit, wenn ihn der Verfassungsschutz wegen Terrorverdacht öffentlich an den Pranger stellt. Und man merkt: Um andere sorgt er sich meist mehr als um sich selbst. Es ist seiner Frau Zehra und ihm ein Herzensanliegen, dass wir einander besser verstehen und respektieren – gerade auch in Glaubens- und Wertefragen.
Ganz nebenbei ist dieses furios erzählte Buch ein Stück deutscher Geschichte im Kleinformat.
Kapitel 1
»Würden Sie es denn machen, Herr Blume?«
Am 3. August 2014 überfallen Terroristen des sogenannten Islamischen Staats Dörfer und Städte im Nordirak, weil dort »Ungläubige« leben: Jesiden, Christen, nichtsunnitische Muslime. Sie ermorden rund 3000 Männer vor den Augen ihrer Familien, entführen geschätzt 7000 Frauen und Kinder, um sie als Sex-Sklavinnen zu missbrauchen, zu verkaufen oder deren Angehörige zu erpressen. Die Bilder und Videos unvorstellbarer Grausamkeiten veröffentlicht der IS im Internet oder verschickt sie per WhatsApp in die Region, um in den noch nicht eroberten Gebieten Panik zu verbreiten. Tausende Jesiden – eine ethnisch-religiöse Minderheit innerhalb der Kurden –, aber auch Christen und Muslime fliehen daraufhin in das benachbarte Shingal-Gebirge. Eine Prozession der Elenden bei bis zu 50 Grad im Schatten, den es kaum irgendwo gibt.
Rund 190000 Jesiden leben in Deutschland oder sind bereits hier geboren. Im September 2014 gehen Vertreter ihres Zentralrats mit Fotomappen zu Politikern in Berlin. Sie bekommen einen Termin bei der gerade laufenden Fraktionsklausur der Grünen. Unter Tränen zeigen sie Bilder von unfassbaren Kriegsverbrechen, Folterungen von Kindern, öffentlichen Hinrichtungen und sogar Kreuzigungen. Sie bitten um Hilfe. Katastrophenhilfe. So schnell es irgend geht. Ministerpräsident Winfried Kretschmann und sein Staatssekretär Klaus-Peter Murawski sind geschockt. »Baden-Württemberg hat keine Armee …«, erklärt Kretschmann, »aber wir prüfen, was wir tun können.«
Zu Hause in Stuttgart bereiten Dr. Michael Blume, Referatsleiter für Integration und Religion, und sein Team gerade einen »Flüchtlingsgipfel« vor. Eine Konferenz aller Parteien im Landtag, der Kreisräte und Bürgermeister, der Verbände und Kirchen. Man will vorbeugende Maßnahmen angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen beraten.
Die Frage schafft es auf die Tagesordnung: Sollen wir Opfer sexueller Gewalt aus dem Kriegsgebiet holen? 600, vielleicht 800 oder sogar 1000 Frauen und Kinder?
Michael Blume traut seinen Augen nicht. Alle Parteien, alle, sind dafür! Die Kirchen sowieso, die Städte und Kommunen, Vertreter der Zivilgesellschaft auch.
Die AfD sitzt noch nicht im Landtag.
*
23. Dezember 2014. Das Auswärtige Amt und das Innenministerium in Berlin haben, »na ja, nicht gerade grünes Licht gegeben, eher gelbes«, erinnert sich Michael, »weil die sagten: ›Wir spielen doch nicht den Buhmann und verbieten eine humanitäre Aktion. Von uns aus – macht es! Aber auf eigene Verantwortung und eigenes Risiko! Mit eigenen Beamten, eigener Sicherheit und hinterher alleiniger Rechenschaft der Öffentlichkeit gegenüber. Vor allem, was den Verbleib der Geretteten und die Finanzierung der Aktion betrifft!‹«.
Michael hat Verständnis für die Bedenkenträger: »Die Region ist Kriegsgebiet, der IS ist noch stark präsent, der Nordirak ist kein Rechtsstaat in unserem Sinne. Wer die größte Wumme hat, hat recht.«
Die Büros der Landesregierung in Stuttgart sind am Abend vor dem Weihnachtsfest schon fast komplett leer. Staatssekretär Klaus-Peter Murawski ruft den Ministerpräsidenten an. Es geht um eine einzige Frage: Übernehmen wir als Land Baden-Württemberg die alleinige und volle Verantwortung für eine solche Rettungsaktion? Ein Fehlschlag, eine Entführung, ein toter Mitarbeiter – und der »MP«, wie ihn hausintern alle nennen, ist in seinem Ansehen dauerhaft beschädigt. Und Murawski und Blume sind wahrscheinlich sogar ihre Ämter los. Alle, das ist ihnen klar, riskieren gerade ihre Karriere. Aber kann man Menschen im Stich lassen? Oder ist es vernünftiger, jetzt das Ganze doch noch abzubrechen?
Nach einer gefühlt sehr langen Pause fragt Winfried Kretschmann: »Würden Sie es denn machen, Herr Blume?«
Durch ein Fenster der Staatskanzlei sieht Michael einen geschmückten Weihnachtsbaum, der draußen gegen die Dunkelheit anleuchtet. Stille Zeit, heilige Zeit. Ein Fest der Freude. Die Geschenke für seine Familie hat er schon alle beisammen.
Während wir morgen zu Hause »Vom Himmel hoch, da komm ich her« singen, werden die Frauen und Kinder dort unten im Irak frieren und einige von ihnen auch sterben, denkt er. Kann er daran etwas ändern? Er, der kleine Referatsleiter im fernen Schwabenland?
»Jeder in meiner Generation hat doch den Film ›Schindlers Liste‹ gesehen und gedacht: ›Oh, was für ein mutiger Mann! Würde ich mich das auch trauen?‹
Solche theoretischen Fragen wurden plötzlich konkret«, erinnert er sich, »wenn ich mich jetzt wegducke, sagte ich mir, würde ich mir für den Rest meines Lebens nicht mehr vertrauen. Du hättest es tun können, hast es aber nicht getan. Jetzt, in diesem Augenblick, wurde mir die Frage ja konkret gestellt: Tausend Menschenleben?«
Er hört sich sagen: »Ja, das kriege ich hin. Aber ich muss natürlich zuerst meine Frau fragen.«
*
24. Dezember 2014. Michael erstickt fast an seinen gedachten Worten, sagt aber den ganzen Tag nichts. Christvesper in der evangelischen Kirche.
O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Familie Blume hat drei Kinder, sie sind elf, neun und drei. Die schönsten Jahre, um mit Kindern Heiligabend zu feiern. Im Wohnzimmer der festlich strahlende Tannenbaum. Seine Frau Zehra und Tochter Melissa spielen Flöte, Michael liest die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium Kapitel 2 vor. »Machen wir ganz traditionell immer so«, erklärt Zehra. Sie stammt aus einer deutsch-türkischen Familie und ist Muslimin. Die Kinder werden christlich-islamisch erzogen.
Zehra wundert sich, warum Michael Tränen in den Augen hat, als er vorliest, wie die Hirten von den nachtkalten Feldern zum Jesuskind gerufen werden. Jesus – ein neugeborener Heimatsuchender in einer notdürftigen Unterkunft.
»Ist alles in Ordnung, Schatz?«
»Klar. Die Geschichte geht mir heute nur besonders nah.«
Es gibt Kartoffelsalat und Kalbfleischmaultaschen.
Dann gibt’s die Bescherung, und das übliche wunderbare Hallo über den Geschenken bricht sich Bahn.
Als die Kinder im Bett und die runtergebrannten Kerzen gelöscht sind, muss es raus: »Der MP hat mich gefragt, ob ich die IS-Sklavinnen, tausend Frauen und Kinder, aus dem Irak hole.«
Zehra schaut ihn schockiert an. »Was? Du?«
Michael nickt und presst die Lippen aufeinander.
»Alle auf einmal?«
»Nein, das braucht etliche Missionen.«
»Wie oft? Wie lange?«
»Ich weiß es nicht. Wir müssen sie finden, ihren Gesundheitszustand checken, ihnen Visa ausstellen, sie herbringen, sie unterbringen. Es werden viele Einsätze. Wahrscheinlich dauert es ein Jahr.«
»Wo du dann jedes Mal in den Irak …?«
Michael nickt. Er braucht ihr nicht zu sagen, wie es im Irak aussieht. Zehra sieht Nachrichten, liest die Zeitung.
Plötzlich weint sie. Das überrascht ihn. Sie ist nicht etwa sauer, sie nimmt seine Hand: »Wir glauben beide, dass uns Gott einmal fragen wird, was wir mit dem Elenden vor unserer Tür gemacht haben, richtig?«
Wieder nickt Michael.
»Ich schäme mich«, jetzt muss Zehra schlucken, »dauernd schäme ich mich, was für Verbrechen da unten im Namen des Islam begangen werden. Es ärgert mich dermaßen, dass diese Monster sich Muslime nennen!«
»Aber …«, Michael hat wieder Festigkeit in der Stimme, »aber ich werde sehr oft sehr lange weg sein und …«
»… und ich werde ein Jahr lang so gut wie alleinerziehend sein, das ist mir klar.«
Sie schaut Michael in die Augen: »Dass du dich das traust, zeigt mir eins: Du bist der Mann geworden, den ich damals in dir gesehen habe. In der Schule, in diesem Jungen im Ethikunterricht, den ich seitdem liebe. Also gut: Mach es. Jedes Leben zählt.«
Kapitel 2
»Guten Tag. Mein Name ist Michael Blume. Ist Zehra zu Hause?«
Vor der Tür der Familie Tayanc steht ein Schüler. Ein schmaler, etwas unsicher wirkender Deutscher. Vielleicht 17, höchstens 19 Jahre alt. Er hält eine weiße Geranie in der Hand und wirkt – nun ja, halb zögerlich, halb forsch entschlossen. Mutter Türkan Tayanc hat in der Küche Auberginen geschnippelt, wischt die Hände an ihrer Schürze ab und lächelt: »Kommen Sie doch rein.«
War dieser Junge nicht vor Jahren schon mal bei ihnen gewesen, nur kurz, aber angenehm in Erinnerung? Als Zehra noch aufs örtliche Gymnasium ging und sie ihm für den Ethikunterricht einen deutschsprachigen Koran ausleihen sollte?
»Wer ist es?«, ruft Papa Osman aus dem Wohnzimmer.
»Blume, Michael Blume«, wiederholt der junge Mann, bleibt aber im Hausflur stehen. Er hat ja auch noch nie einen türkischstämmigen Vater nach dessen Tochter gefragt. »Ich bin mit Zehra in der Jungen Union. Also der CDU-Jugend, verstehen Sie? Ich wollte mal fragen …«
Mutter Türkan unterdrückt ein Kichern. Wer zittert mehr – die Blume oder der Blume?
»Zehra ist mit ihrer Klasse im Landschulheim«, sagt sie. »Die machen da irgendein Spiel, irgendwas Militärisches.«
»Was Militärisches? Vom Mädchengymnasium aus? Mit den Nonnen?«
»Ich weiß es auch nicht so genau. Sie ist jedenfalls bis Mittwochabend im Schwarzwald.«
»In Oppenau«, ergänzt der inzwischen hinzugekommene Herr Tayanc. Auch er schmunzelt. Einen jungen Mann, der sich um richtiges Benehmen bemüht, will er nicht verschrecken. Er reicht Michael die Hand und holt ein »Willkommen« nach. Doch Michael hat einen Ort gehört. Und schon einen Entschluss gefasst. Die Geranie hält er kopfüber nach unten wie einen Regenschirm.
Vielleicht gibt es diesen Typ Mann ja in jeder höheren Schulklasse, an allen Universitäten und in jedem Lehrbetrieb: ein meist unauffällig gekleideter, zurückhaltender, bisweilen graumäusig wirkender Junge, der sich die Wertschätzung seiner männlichen Kumpel nicht mit Körperstyling, Sportlichkeit, Draufgängertum oder Trinkfestigkeit erwirbt, sondern der durch sprachgewandte Klugheit, Engelsgeduld und eine schier unerschöpfliche Hilfsbereitschaft beliebt ist. Bei den meisten jedenfalls. Man muss ihn nicht bewundern, vielleicht muss man ihn nicht mal bevorzugt mögen, aber – man kann ihn gebrauchen. Gebrauchtwerden ist ihm ohnehin Liebesbeweis genug.
Na ja, meistens. Mit Freundlichkeit und Fleiß hat er sich etwas Ansehen und Autorität unter Gleichaltrigen erarbeitet. Er markiert nicht den Halbstarken, aber seine eher leise Stimme hat Einfluss. Und den übt er aus. Ganz ohne Machtspiele oder -posen.
Mögen andere Männer kurz vor zwanzig »ein Testosteronfass auf zwei Beinen« sein, wie der Biolehrer manchmal spottet – für viele Mädchen ist Michael eher der »beste Freund«. Kein geschlechtsloses Wesen, aber doch jemand, der hoch über den kleinlichen Irrungen und Wirrungen der Liebe steht. Ein Junge, von dem keinerlei Bedrohung ausgeht, den sie aber auch nicht als Lover begehren. Obwohl sie ständig seine Nähe suchen. Dem sie ihren Liebeskummer mit anderen Kerlen klagen und dem sie ihre Geheimnisse anvertrauen. Weil er so viel Verständnis, so viel Besonnenheit ausstrahlt. Und weil er vernünftig ist, ohne deshalb oberlehrerhaft zu sein.
Ein bisschen hört man die Wunde jener Jahre noch, wenn Michael zurückblickt: »Ich war für die Mädels nicht cool genug, nicht chic, nicht so richtig vorzeigbar. Aber ich war immer gut genug, sich bei mir auszuheulen. Das schmerzte, aber es spornte auch an.«
Michael Blume ist in der Abiturklasse seines Gymnasiums einer der Besten, er ist computerkundiger als die meisten, er ist Spielleiter bei gemeinsamen Fantasy-Abenteuern an Rollenspieltischen und in der Cyberwelt. Worüber auch immer diskutiert wird – er hat zu allem schon mal was gelesen, wartet aber, bis er gefragt wird. Andere mögen kräftiger, drahtiger, cooler sein, das akzeptiert er. Aber wenn er redet, hört man ihm zu. Sogar Lehrerinnen, Gruppenleiter Kommunalpolitiker und sonstige Erwachsene tun das und nehmen ihn ernst, ohne ihr Interesse herablassend zu heucheln.
Zehra Tayanc besucht ein privates katholisches Mädchengymnasium. An den Wochenenden ist sie in der Jungen Union engagiert. Michael ist der Ortsvorsitzende, wer sonst.
Ja, sie hat schon manches Mal ein Auge auf ihn geworfen, Ja, auch sie ist ihm schon oft aufgefallen. Aber: »Er hat ja eine Freundin. Und er ist nicht gläubig. Ich bin aber muslimisch. Also wird’s nix. Schade«, erinnert sich Zehra an ihre Gedanken und Gefühle damals.
Die eine Vermutung stimmt zu dem Zeitpunkt nicht mehr, die andere noch nicht.
»Damals ging ich mit einem Mädchen aus. Im Kino tauschten wir den ersten Kuss. Ich war high, dachte, das wird etwas Großes. Aber auf dem Heimweg bummelten wir an einem übel riechenden Bettler vorbei. Weil ich mein Glück einfach teilen wollte, gab ich ihm etwas. Doch sie regte sich maßlos auf, schimpfte und spottete über diesen Menschen, nannte ihn Penner. Und ich spürte: ›Das war’s. Aus. Ende. Feierabend. Was taugt ein Kuss, wenn er das Herz nicht wärmt? Wenn du eines Tages hilfsbedürftig und unansehnlich wirst, wenn du krank, alt oder arm bist, dann redet die auch so von dir! Es hängt doch wieder alles nur von Leistung ab. Dann ist es aber keine Liebe. Also mach Schluss. Lieber heute als morgen.‹«
Ein Abend, ein Kuss, dabei bleibt’s. Michael ist wieder einsam und innerlich bitterer als zuvor. Und dem Bettler im Grunde noch dankbar für seine Warnung vor einer »Liebe«, die von Erfolg und Leistung abhängig wäre.
Er glaubt an die Liebe. Ein Romantiker mit buchstäblicher »Heidenangst«, enttäuscht zu werden. Michael wurde nicht getauft als Baby, er ist konfessionslos aufgewachsen, er wurde nicht konfirmiert. Zehra Tayanc weiß das, denn als beide noch zur selben Schule gingen, in der neunten bis zehnten Klasse, waren sie u.a. deshalb gemeinsam im Ethikunterricht gewesen. Weil für sie beide weder der evangelische noch der katholische Religionsunterricht infrage kam.
Jetzt, kurz vor den letzten Pfingstferien des letzten Schuljahres, umweht Zehra eine Melancholie wie seit Teenagertagen nicht mehr. Sie könnte euphorisch, mindestens aber optimistisch gestimmt sein: Ihr St.-Agnes-Gymnasium in der Stuttgarter Innenstadt ist als anspruchsvoll und elitär gefürchtet. Das schriftliche Abitur sei für Zehra gut gelaufen, hört man in der Schülerszene. Trotzdem spürt sie kaum Freude. Michael bekommt das mit. Und entscheidet sich spontan, der eigenen Bedrücktheit zu entfliehen, indem er ihr eine kleine Freude macht.
»Dad, kann ich heute Nachmittag die Karre haben?«
Vater Blume ist irritiert. So einen bemüht coolen Ton schlägt sein Sohn sonst nie an. Michael hat zwar einen Führerschein, ist aber im Gegensatz zu seinen Mitschülern kein bisschen autoversessen. Er fährt selten und demzufolge vermutlich auch unsicher. Eine Mutprobe? Ein Date?
»Hast du nicht Nachmittagsschule?«
»Ja, aber die schwänz ich ausnahmsweise. Ich muss nach Oppenau. Zehra ist dort in einem Landschulheim.«
»Und was ist für diese Sarah so dringend?«
Michael hält eine nicht mehr ganz taufrische Geranie in der Hand.
»Die hier. Keine Ahnung. Ich möchte sie ihr bringen. Heute.«
»Du willst …was?«
»Kann ich nun den Wagen haben, oder nicht? Ich frage nicht oft danach. Also: Ja oder Ja?!«
»Äh, also, ja gut, ich meine, wenn das so ist. Nimm den Schlüssel und behalt die Tankuhr im Auge.«
Warum beugt sich ein Vater der spontanen Schnapsidee seines 19-Jährigen?
»Ich glaube, meine plötzliche Entschlossenheit hat ihn überrumpelt, aber auch positiv überrascht«, interpretiert Michael die Erlaubnis von damals, »ich war der Bücherwurm, der Computernerd, ich war der lesende Streber. Jeder noch so kleine Entschluss von mir wurde vorher hundertmal erwogen, durchdacht, theoretisch geprüft. Wahrscheinlich hatten meine Eltern – das gaben sie später augenzwinkernd zu – insgeheim die Sorge, ich würde noch mit 35 im Hotel Mama hocken. Und jetzt, aus dem Nichts, entscheidet der mal was? Wegen einem Mädchen? Na, dann los.«
Politiksimulationsspiele sind Mitte der 90er-Jahre eine zwar aufwendige, aber vielerorts erfolgreiche Methode, Gymnasiasten die tatsächliche Relevanz von Politik nahezubringen. Der Mauerfall ist bereits ein halbes Jahrzehnt her, Helmut Kohl ist zum vierten Mal für vier Jahre zum Bundeskanzler gewählt worden, die politischen Feuilletons beklagen sein selbstgefälliges Aussitzen drängender Probleme, sprechen von Stillstand und Reformstau im Land. Wo es wenig Hoffnung auf Veränderungen gibt, wenden sich viele Jüngere ab. Grüne und Linke spotten, der ganze Bundestag sei momentan ein Politik-Simulationsspiel.
Wer zwischen 16 und 20 ist, interessiert sich mit Sicherheit mehr dafür, warum »Nirvana«-Frontmann Kurt Cobain Selbstmord begangen hat, warum »Oasis« 2,5 Millionen Eintrittskarten für zwei Open-Air-Konzerte verkaufen können, wie das neue Album der »Toten Hosen« klingt und welche Zoten Harald Schmidt in seiner neuen Late-Night-Show raushauen wird. Wenn man es denn schafft, werktags um 23.15 Uhr noch fernsehen zu dürfen …
Aber: Der Bürgerkrieg auf dem Balkan und das Massaker von Srebrenica im Juli 1995, als Radovan Karadzic und Ratko Mladic mehr als 8000 meist muslimische Bosnier ermordeten, hat auch naturgemäß desinteressierte Jugendliche aufgeschreckt. Längst vergangen geglaubte Nazi-Gräuel können sich direkt vor Deutschlands Haustür wiederholen? Mitten im »modernen« Europa?
Die Lehrer und Lehrerinnen des privaten katholischen Mädchengymnasiums St. Agnes in Stuttgart sind stolz darauf, kein weltentrücktes Nonnenpensionat zu führen, sondern Politikunterricht am Puls der Zeit zu bieten. Manche von ihnen sind Schwestern vom Orden des Franz von Assisi, und der hat sich ja auch politisch eingemischt. Ein Thema, gerade für Mädchen.
In der Zeit zwischen schriftlichem und mündlichem Abitur 1996 sind sie daher mit rund 60 jungen Damen ins Tagungshaus »Barbarossa« gefahren, nach Oppenau, im Schwarzwälder »Allerheiligental«. Sinnigerweise. Zwei Bundeswehroffiziere in schicken Uniformen verteilen Aufgaben an vier bis sechs Schülerinnen pro Kleingruppe und lassen sie herausfinden, welche politische oder juristische Institution bis hinauf zum UNO-Sicherheitsrat dieses oder jenes Problem lösen könnte, sollte, müsste.
Zehra findet das interessant. Über den Tellerrand ihrer bisherigen Ortsgruppenarbeit bei der Jungen Union hinauszublicken und die Komplexität internationaler Wirtschafts- und Sicherheitspolitik kennenzulernen liefert neuen Gesprächsstoff unter altbekannten Freundinnen.
Es klopft. Eine Mitschülerin steckt den Kopf durch die halb geöffnete Tür. Dass sie draußen heimlich eine geraucht hat, weht mit dem Luftzug herein. »Zehra, unten steht ein Typ vorm Haus und will zu dir.« – »Wie? Hier? Wer?«
Noch bevor sie durchs Treppenhaus den Hof erreicht hat, stehen alle Mitschülerinnen und Lehrerinnen an den Fenstern …
»Ich bin wegen dir da.« Michael klingt tonlos, leise, ein bisschen ratlos.
»Was machst du hier?! Woher wusstest du …?«
»Du wirktest traurig in letzter Zeit. Ich weiß nicht, warum, aber ich dachte, ich muss dir diese Blume bringen«.
Er versucht ein Lächeln und streckt ihr die inzwischen leicht lädierte Geranie entgegen.
»Bist du verrückt?! Und warum qualmt es aus dem Auto da hinten?«
Michael dreht sich um. Ach, deshalb zog die Karre nicht richtig. Er ist offenbar die 110 Kilometer von Plattenhardt hierher mit leicht angezogener Handbremse gefahren.
»Zehra, ich möchte …«
Sie nimmt ihm das langstielige Blümchen ab und muss mit den Tränen kämpfen.
»Warum jetzt, warum hier? Du riskierst doch dein Leben, Menschenskind! Willst du nachher im Dunklen mit einem defekten Wagen die Serpentinen rauf und runter nach Hause fahren?«
In dem Moment kommt Schwester Franziska in wehendem Ordenshabit aus dem Haupteingang geeilt.
»Worum geht es, junger Mann? Fräulein Tayanc befindet sich im Unterricht, und ich muss Sie bitten …«
Jetzt erst erfasst sie die Situation und stockt. Zehra hält sich mit beiden Händen eine Geranie vors Gesicht, weil sie weint. Michael tritt verlegen von einem Bein aufs andere und bemüht sich um eine feste Stimme: »Dürfte ich mit Zehra etwa eine Stunde allein sprechen, bitte?«
Schwester Franziska blickt mit einer kurzen Kopfbewegung zur Fensterfront des mehrstöckigen Tagungshauses hinauf. Die »brave«, die muslimische, die Zehra Tayanc! Sie wird offenbar von einem unsterblich verliebten Romantiker überrumpelt. Das wird sich nicht erst wie ein Lauffeuer verbreiten, das hat sich bereits blitzartig in allen Kleingruppen des Simulationsspiels herumgesprochen! Alle lehnen an den Fensterbrettern, als wären es die Logenplätze eines Opernhauses.
Die Franziskanerin überlegt. Es gibt die Legende, der heilige Franz und die Nonne Klara seien sich mitten im Winter begegnet, hätten tapfer und sittsam Sehnsucht und Schmerz ertragen, und mitten im Schnee, zwischen den beiden, seien Rosen aufgeblüht.
»Wir kennen uns schon länger. Er ist extra aus Stuttgart …«, fängt Zehra an.
Schwester Franziska lächelt. Keine Rose, aber immerhin eine Geranie.
»Na gut. Eine Stunde. Geht mit Gott, Kinder.«
Kapitel 3
Ob er nun »duftende Rose« oder »strahlend helle Blüte« bedeutet; ob er auf Mohammeds Tochter Fatima-Zahra oder auf eine Adlige im Osmanischen Reich zurückgeht – ihren Namen sprechen die Leute unterschiedlich aus.
Zehra? »Sechraah« sagen Mama und Papa. »’s kloine Serale« sagen die Nachbarn.
Einem Kind von zweieinhalb Jahren, wenn der Spracherwerb auf Hochtouren läuft, macht das wenig aus. Der Wohnortwechsel von Memmingen nach Plattenhardt auch nicht. Aber dass Mama nicht mehr in der Wäscherei eines Altenheims arbeitet, sondern neuerdings bei Bosch »schichtet« – das ist schon gravierender für ein Migrantenkind ohne Kitaplatz. Es bedeutet nämlich, je nach Schichtarbeitsplan, entweder morgens um 5.00 Uhr zur Tagesmutter nebenan gebracht oder spätabends nach 23.00 Uhr von dort abgeholt zu werden. Aus der Familie Helene und Heinz Müller-Bader. Vertrauenswürdige, unkomplizierte, urschwäbische Nachbarn, »die mich vom ersten Augenblick an ganz arg lieb hatten«, erinnert sich Zehra, »und bei denen ich anfänglich nur für ein paar Stunden gehütet werden sollte«.
Zehras Vater, Osman Haci Tayanc, gelernter Schreiner, arbeitet als Möbelmonteur und ist oft unvorhersehbar lange auf Liefertouren. Und so kommt unweigerlich jener Abend, an dem die Nachbarin Helene sagt: »Jetzt lass doch um Gottswille des Mädle do hanne schloafe.« Im Klartext: Zehra kann hier bei uns bleiben, solange sie will.
Daraus werden acht Jahre. Von ihrem dritten bis zum elften Lebensjahr lebt Zehra Tayanc wochentags die meiste Zeit bei den Nachbarn. Die haben eine elf Jahre ältere Tochter, und diese »Biggi betrachte ich bis heute als meine ältere Schwester. Sie hat auf mich aufgepasst, mir alles gezeigt, wir waren Hanni und Nanni, unzertrennlich. Sie wurde später die Patentante unserer Kinder, und wir haben zusammen ihre Mutter, meine Pflegemutter, vier Jahre lang bis zu ihrem Tod gepflegt«.
Viele Kinder aus Zuwandererfamilien wissen von der einen Person zu erzählen, die ihnen Deutschland geöffnet hat. Eine Lehrerin, eine Oma, ein Apotheker. Jemand, der nicht groß über »Integration« diskutierte, sondern einfach half, ermutigte, freundlich war.
Bei Müller-Baders wird vor jeder Mahlzeit gebetet: »Komm Herr Jesus, sei Du unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast« oder auch »Segne, Vater, diese Speise. Uns zur Kraft und Dir zum Preise«. Vor dem Schlafengehen ebenfalls. Sorgfältig, innig, ernsthaft: »Ich bin klein, mein Herz mach rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.«
Sonntags geht man in die evangelische Kirche zum Gottesdienst – »aber das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass ich mal Kopfstand machen musste, weil ich ein ganzes Bonbon verschluckt hatte« –, und wenn der Kirchgang wegen dringender Arbeiten auf den Feldern oder der Obstbaumwiese nicht möglich ist, schallt im Wohnzimmer und Auto die Gottesdienstübertragung aus dem Radio.
Haben Zehras türkisch-muslimische Eltern denn nichts dagegen?
»Überhaupt nicht. Meine Pflegeeltern sagten: ›Es ist doch derselbe Gott, dem wir auf unterschiedlichen Wegen entgegengehen‹, und meine Eltern sagten: ›Wenn ihr schon so liebevoll und gut auf unser Kind aufpasst, dann darf sie auch mitkriegen, wie ihr den Glauben lebt.‹«
Bei vielen Zugewanderten aus türkischen Dörfern gelten die Deutschen als reich, aber »kalt«. Sie siezen sich ewig, lachen selten und laden einander kaum ein. Man tuschelt über Deutsche, die seit 20 Jahren Nachbarn sind, ohne je zusammen Kaffee getrunken zu haben! Umso größer ist die Freude über eine Familie mit Herz.
Bleibt noch das Problem mit den Schweinerippchen. Heinz Müller-Baders Lieblingsgericht. Auch Tochter Biggi liebt sie. Mutter Helene kocht sie.
»Aber gell, Serale, du darfsch des net.« Hält sich die Kleine an das Schweinefleischverbot? »Je nach Tagesform«, lacht sie im Rückblick, »erst, wenn ich mit meinen Eltern in den Ferien zu Verwandten in die Türkei fuhr und dort wochenlang halal gekocht und gegessen wurde, also islamisch korrekt, fiel mir der Unterschied auf.«
Natürlich gibt es auch in Plattenhardt die berühmte Erfahrung »Gott weiß alles, nur die Nachbarn wissen mehr«. Mancher verdreht die Augen oder schüttelt den Kopf, warum eine schwäbisch anständige Familie jetzt schon jahrelang so ein hergelaufenes Türkenkind aufnimmt. Aber Helene kann auch energisch sein: »Jetzt sag i dir mal was: Die oine betet so und die andere so. Aber’s isch nur oi Vadder im Himmel, gell?!« Damit ist die Diskussion beendet, denn »meine Tagesmutter war tief religiös, aber das grundsätzlich Theologische und das Gemunkel der Leute waren ihr so was von egal! Gott war einfach Herzenssache, und Jesus hatte klar und einfach gesprochen. Punkt.«
Es sind die 80er-Jahre. Noch ist die öffentliche Meinung in Deutschland nicht von Populisten vergiftet, die kulturelles Befremden in rassistischen Hass umwandeln. Man spricht von Türken noch wie von Italienern, Spaniern, Jugoslawen. Und Religion? Ach, das sind wunderliche Angewohnheiten, die sich schon geben werden.
Eine heile Bullerbü-Kindheit also für die aufgeweckte Zehra in ihren zwei Religionen und Familienkulturen? Keineswegs: »Meine Eltern haben mich ermutigt, auf die Realschule zu gehen. Meine Mutter sagte immer: ›Ich durfte nicht, ich hatte keine Möglichkeiten, meine Brüder hatten es mir verboten. Aber du, du musst was aus dir machen!‹«
Es gibt Menschen, die so was nicht als Ansporn, sondern als Druck empfinden und als Erwachsene lange brauchen, um die unausgesprochenen oder expliziten Beauftragungen ihrer Eltern abzuschütteln.
»Ich fand das überhaupt nicht falsch. Ich habe mir ihren Ehrgeiz zu eigen gemacht. Ich wohnte inzwischen wieder ganz bei meinen Eltern, strengte mich in der Realschule an, und weil meine Noten sehr gut waren, empfahl man mich fürs Gymnasium. Direkt in die nächste Klasse, ohne ein Jahr zu wiederholen. Ich hab mir in sechs Wochen Ferien alles in den Kopf gehämmert, was die anderen Kinder mir voraushatten.«
Der Sprung ist heftig. Mutter Tayanc geht jetzt neben ihrem Beruf als Schichtarbeiterin noch zusätzlich putzen, um Geld für Zehras Nachhilfestunden zu verdienen. Und für Klavierunterricht.
Schon am ersten Schultag im Eduard-Spranger-Gymnasium aber wird Zehra klar: Sie ist die einzige Türkin weit und breit. Und sie heißt fürs Erste auch so: »Die Türkin.« Gehört zu keiner der bereits bestehenden Gruppen, hat keine reichen Eltern, kein Outfit zum Staunen. Schluss, aus. Die Mädchen sind in der Pubertät. Stimmungsschwankungen, Anpassungsdruck, Konkurrenz, Neid, Eifersucht, Intrigen, Cliquenbildung – das ganze Programm. Gute Noten schaden da nur. Der Ruf, eine Streberin zu sein, schadet erst recht. Zehra ist nicht »in«, und es gibt tausend Wege, sie das spüren zu lassen. Eine Verabredung, gemeinsam mit den Fahrrädern zur Schule zu fahren? Die anderen Mädchen kommen nicht zum Startpunkt. Sind aber schon am Ziel, als Zehra verspätet am Schulhof ankommt …
Sie wird gemobbt. Die Lehrer können das kaum ausgleichen. Zehra entwickelt »eine stille, tiefe, permanente Traurigkeit. Die anderen waren irgendwie alles Kinder von Unternehmern oder mittelständischen Gewerbetreibenden, leitenden Angestellten etc. Statussymbole waren wahnsinnig wichtig. Markenklamotten, die angesagten Styles und Moves – ich konnte da nicht mithalten. Zwei Jahre ging das so«.
Man muss kein Pessimist sein, um an dieser Stelle schlechte Schulnoten, exzessive Konflikte, wilde Abstürze, Autoaggressivität oder das Abrutschen in die Totalverweigerung zu befürchten. Manche Teenager geraten in solchen Phasen ihres Lebens an die falschen Kumpel.
»Das einzig Gute am Eduard-Spranger-Gymi war, dass im Ethikunterricht ein Junge aus der Parallelklasse neben mir saß, den die anderen irgendwie alle zu kennen schienen. Kein angesagter Feger, aber einer, der auch was für andere tut.« Zehra schätzt so was. Die beiden mögen sich auf Anhieb. Als Michael mal krank ist, sortiert sie ihm den Ethikordner. Kleine Gesten. »Knospen im Schnee«, hätte Schwester Franziska gesagt …
Und träumen ist ja nicht verboten. Mit diesem Jungen befreundet sein, richtig »zusammen« sein? Was würden die übellaunigen Zicken für Augen machen, was gäbe das für einen herrlichen Skandal unter den Mobberinnen, wenn ausgerechnet sie, die brave, die muslimische …! Ein Coup, eine Überraschung und ein Sieg von historischen Ausmaßen.
Aber immer wieder das Aufwachen. Wie tief die kulturellen Gräben sind, was ihre Eltern, was seine Eltern sagen würden. Wer überhaupt den ersten Schritt wagen würde. Hat sie es auch nur ansatzweise versucht? Natürlich nicht.