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Nach dem großen Erfolg des 2022 bei Weissbooks erschienenen Titels »Der Wal«, der für den International Booker Prize 2023 nominiert war, liegt nun auch der zweite Roman des südkoreanischen Autors Cheon Myeong-kwan in deutscher Sprache vor. In »Eine Bumerangfamilie« erzählt er von drei im Beruf, in der Gesellschaft und am Leben gescheiterten Geschwistern mittleren Alters, die aus materieller Not in der engen Wohnung ihrer Mutter unterschlüpfen und wieder zueinander finden müssen. Stück für Stück kommen vergangene Dinge ans Tageslicht, die unvorhergesehene Folgen mit sich bringen. Brachial komisch und spannend, aber auch voller Mitgefühl für seine Figuren offenbart Cheon auch mit diesem wilden Familien-Roman sein erzählerisches Genie. »Ein begnadeter Geschichtenerzähler.« Steffen Gnam, FAZ
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Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Cheon Myeong-kwan
Roman
Cheon Myeong-kwan
Aus dem Koreanischen von Matthias Augustin und Kyunghee Park
Roman
Die Übersetzung und Veröffentlichung wurde vom Korea Literature Translation Institute (LTI) gefördert.
Alle Rechte vorbehalten
© 2010 by Cheon Myeong-kwan
© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Weissbooks Verlagsgesellschaft mbH, Berlin
Umschlagmotiv: © Harald Hohberger Grafikdesign, Berlin, unter Verwendung einer Illustration von Henriëtte Beks
Gestaltung und Satz: Harald Hohberger Grafikdesign, Berlin ISBN 978-3-86337-225-5
www.weissbooks.de
Für Mutter, die in ihrer leeren, dunklen Küche für alle unsere Mahlzeiten sorgte
Mutters Wohnung
Durchschnittsalter neunundvierzig
In einem anderen Land
Unterliga
Hemingway und ich
Die Stiefel meines Vaters
Der Clou
Wilde Hunde
Jules und Jim
Und die ganzen übrigen Geschichten
Nachwort
Ich hatte alles verkauft, was sich zu Geld machen ließ. Als Erstes war mein zehn Jahre altes Auto dran gewesen. Nicht lange danach verkaufte ich den Fernseher, dann den Kühlschrank, die Waschmaschine und mein Notebook. Kurz darauf folgte meine Sammlung an Büchern und Videos, in meinem Zimmer lag nur noch eine alte Matratze herum. Ich hätte meinen Körper verkauft, wenn das möglich gewesen wäre, aber wer würde schon einen Achtundvierzigjährigen mit beginnendem Haarausfall haben wollen. Als mein Vermieter mich zum letzten Mal schriftlich aufforderte, die Wohnung zu räumen, gab es für mich nur noch eine einzige Option: mich von der nächsten Klippe zu stürzen.
Der Anruf von Mutter kam gerade zu jener Zeit.
»Hab ich dich aufgeweckt?«
»Nein. Ich war wach.«
»Hast du was gegessen?«
»Ja.«
»Wer arbeiten geht, muss ordentlich essen.«
»Ich weiß.«
Über mein Mobiltelefon ohne Guthaben, mit dem ich nur noch Anrufe entgegennehmen konnte, entspann sich der seit ewigen Zeiten bis aufs Komma immer gleiche Dialog. Normalerweise kam nach »Ich weiß« noch »Mach dir keine Sorgen«, aber zu dem »Mach dir keine Sorgen«-Teil war ich an diesem Tag beim besten Willen nicht in der Lage. Ich hatte nicht gefrühstückt, und morgen würde ich ultimativ meine Wohnung räumen müssen.
Vielleicht spürte Mutter, dass etwas faul war, denn sie hielt kurz inne, dann sagte sie, als sei ihr plötzlich eine Idee gekommen: »Willst du nicht zum Essen vorbeikommen? Ich hab Hühnereintopf mit Reis gekocht.«
In jedem dritten oder vierten Telefongespräch wurde das Repertoire unweigerlich um diesen Satz ergänzt. Meistens schlug Mutter ganz gewöhnliche Gerichte vor wie Glasnudelsalat, Bohnennudeln oder eben Hühnereintopf, die Mutter allerdings für etwas ganz Besonderes zu halten schien.
Zu ihrem Bedauern war ich bisher noch auf keine ihrer Einladungen gefolgt. »Hab zuviel zu tun« oder »Vielleicht beim nächsten Mal«, das waren meine Standardantworten. Aber an diesem Vormittag sah die Lage anders aus. In dem Moment, in dem Mutter von ihrem Hühnereintopf anfing, überfiel mich nagender Hunger, ich konnte das würzige Aroma in meinem Mund geradezu schmecken, und ein wildes Verlangen, einen randvollen Topf davon restlos auszulöffeln, ergriff Besitz von mir. Ohne nachzudenken, sagte ich einfach »Ja«.
»Was?«, fragte Mutter, nach den vielen Ablehnungen von meiner unerwarteten Antwort überrascht. Etwas schnürte mir kurz die Kehle zu. Dann brachte ich mit belegter Stimme hervor: »Ich mach mich jetzt auf den Weg, Mama.«
*
Vor kurzem hatte ich das Ende der Klippe erreicht, keinen einzigen Schritt konnte ich mehr tun. Der totale, unumkehrbare Konkurs, ausweglos, nicht einmal der schwache Schein einer Rettungslampe war in Sicht. Das war die Lage, in der ich mich befand. Für nicht kreditwürdig erklärt hatte man mich schon lange davor, von der Kaution für meine Wohnung war nichts mehr übrig, da man mir die fälligen Monatsmieten davon abgezogen hatte.
Alle Leute um mich herum hatte ich um Geld angepumpt, niemandem hatte ich je etwas zurückgezahlt. Nicht einmal ein paar Scheine für ein kleines Geldgeschenk hatte ich übrig, so dass ich mich auf keiner Hochzeit oder Beerdigung blicken lassen konnte. Und wenn ich es doch einmal tat, dann ließ ich mich an Ort und Stelle volllaufen und fing Streit an mit dem Erstbesten, der mir in die Quere kam. Meine älteren Freunde von der Uni schämten sich, die jüngeren verachteten mich. Doch noch vor ihnen war es meine Frau gewesen, die das Weite gesucht hatte. Meine Frau … (Entschuldigung, aber über meine Frau möchte ich kein Wort verlieren. Nur, dass sie früher als alle anderen den Geruch der Niederlage gewittert und flugs ihre Siebensachen gepackt hatte, so viel sei hier verraten.) Sämtliche Beziehungen waren kaputt, niemand rief mich mehr an. Sogar die hyänenhaft hartnäckigen Angestellten von den Inkassofirmen, die mir so zugesetzt hatten, schienen aufgegeben zu haben. Ich isolierte mich immer weiter von der Außenwelt.
Während ich mit der U-Bahn zu meiner Mutter fuhr, ging mir auf, dass mir außer dem Sprung von der Klippe noch genau eine Auswahlmöglichkeit blieb. Diese bestand darin, wieder bei ihr einzuziehen. Nicht, dass ich nicht schon vorher daran gedacht hätte. Aber die Idee war mir schlimmer vorgekommen als der Tod. Sich als Achtundvierzigjähriger von seiner über siebzig Jahre alten Mutter aushalten zu lassen – allein der Gedanke daran war mehr als peinlich, aber noch schrecklicher wurde es, wenn man die Tatsache bedachte, dass sich mein vier Jahre älterer Bruder bereits in ihrer Wohnung breitgemacht hatte.
*
Mutter wohnte außerhalb des Stadtgebiets in einer Vorortsiedlung, die aus alten, neben einer Bahnstrecke gelegenen Wohnblöcken bestand. Jeder der Blöcke hatte zweiundzwanzig Wohnungen, doch der Platz vor den Häusern war so eng, dass es schwierig war, sich durchzudrängen, wenn auch nur fünf Autos dort geparkt standen. Die vom Regenwasser fleckigen Fassaden waren von Rissen durchzogen, durch die man die Ärmlichkeit der Haushalte hinter den Mauern förmlich zu sehen glaubte.
Die Hinterseiten der Gebäude sahen noch schlimmer aus. Als seien dem Bauunternehmer vor der Fertigstellung die Arbeiter wegen ausstehender Löhne weggelaufen, fehlte der Putz, und zwischen den Lücken in den rohen Betonwänden schauten hier und da rostige Eisenstäbe hervor. Obendrein standen Dutzende von Gasflaschen unordentlich um die Häuser verteilt herum und erinnerten an bedrohliche, die Leiber mit Sprengstoffgürteln umwickelte, zu allem entschlossene Al-Qaida-Terroristen. Beim Anblick der vor zwanzig Jahren errichteten, verwahrlosten Häuser ließ sich die Armut und Verzweiflung ihrer Bewohner nur allzu deutlich erahnen.
Immerhin konnte man von Glück sagen, dass es sich bei Mutters Dreizimmerwohnung mit ihren fünfundsiebzig Quadratmetern um eine der vergleichsweise großen Wohnungen im Block handelte. Angeschafft hatte Mutter sie vor zehn Jahren mit dem Geld, das sie von der Versicherung bekommen hatte, nachdem Vater auf dem Heimweg von der Arbeit – er hatte damals eine Stelle als Pförtner in einem nahegelegenen Wohnkomplex gehabt – auf seinem Motorrad von einem Lastwagen angefahren worden und ums Leben gekommen war. Fünfundsiebzig Quadratmeter im Tausch gegen das Leben meines Vaters, so musste man es wohl sehen, aber nach ein paar Jahren dachte niemand mehr darüber nach.
Ich hatte schon zwei Schalen von Mutters Hühnereintopf geleert. Es schmeckte genau wie früher. Mutters Kochkünste waren ehrlich gesagt nicht unbedingt herausragend zu nennen, doch sie schaffte es, jedes Gericht scheinbar ohne besondere Mühe und mit immer ungefähr gleichem Ergebnis hinzubekommen. Während ich schweigend weiter von dem Eintopf in mich hineinschaufelte, dachte ich, dass mehr als zwei Jahre vergangen waren, seit ich zuletzt etwas von ihr Gekochtes gegessen hatte. Mutter hätte sicherlich einen Kommentar über mein verlottertes Äußeres abgeben können, doch sie saß nur da und sah mir beim Essen zu. Sie wartete, bis ich aufgegessen hatte, und wollte mir schon eine weitere Schale vollmachen, doch ich winkte ab und stand vom Tisch auf.
Fast zwei Jahre lang hatte ich Mutter nicht mehr gesehen. Davor waren es auch höchstens, drei oder vier Mal im Jahr gewesen, kurze Pflichtbesuche an Feiertagen oder zu Vaters Gedenktag, aber auch damit hatte ich fast ganz aufgehört, seit ich pleite und andauernd betrunken war. Mutter trug immer Make-up, ob zu Hause oder außer Haus, und wirkte so jünger, als sie wirklich war, doch die tiefen Schatten des Alters auf ihrem Gesicht ließen sich damit nicht verdecken. Begonnen hatte sie mit der Schminkerei erst mit über siebzig, als sie nach Vaters Tod anfing, Kosmetikprodukte an die Hausfrauen in der Nachbarschaft zu verkaufen. Ich fragte mich zwar immer, wie viel Umsatz eine alte Frau wohl auf diese Weise machen mochte, aber da Mutter ihr Geschäft auch nach zehn Jahren weiterhin betrieb, schien sie damit doch immerhin ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Zum Glück war mein Bruder nicht zu Hause. Mutters Worten nach war er Freunde besuchen gegangen, aber das glaubte ich nicht. In seiner Lage konnte mein Bruder keine Freunde oder dergleichen mehr haben.
Während Mutter das Geschirr spülte, setzte ich mich auf den Fußboden vor das Sofa, rauchte eine Zigarette und betrachtete das Wohnzimmer. Zwar war es etwas eng geraten, aber dadurch besaß die Wohnung trotz der geringen Fläche genügend andere Zimmer, ein Glück in der jetzigen Situation. Durch die halb offene Tür blickte ich in das kleinste Zimmer, das neben dem Eingang lag. Ein alter Schrank stand darin, der übrige Platz war mit einem vollgehängten Kleiderständer, einem Staubsauger, einem Ventilator und diversem anderen Kram zugestellt. Da niemand ihn nutzte, schien der Raum als Kleiderzimmer und Abstellkammer zu dienen. Um mehr Platz zu gewinnen, würde man den Kleiderschrank auf dem überdachten und verglasten Balkon unterbringen können, mit dem die meisten Wohnungen in der Siedlung ausgestattet waren, überlegte ich.
»Du bleibst doch noch, oder?«, fragte Mutter, als sie, mit dem Abwasch fertig, aus der Küche kam.
Ob ich noch bleibe – Was meinte sie damit? Ich fragte mich, ob sie meine Absichten durchschaut hatte, und drückte mich um eine Antwort, dann zeigte sie auf einen Stapel Kosmetikkartons in einer Ecke des Wohnzimmers und sagte: »Jemand wollte sich was von den Sachen anschauen, darum muss ich mal kurz weg …«
»Klar, ich bin ja da, geh du ruhig.«
Nachdem sie ein paar von den Packungen eingesteckt und die Wohnung verlassen hatte, rauchte ich mit dem Rücken ans Sofa gelehnt noch eine Zigarette. Sollte ich hier einziehen oder lieber nicht? Wenn ich es nicht tat, würde ich sofort auf der Straße landen, also wäre es wohl besser, hier zu wohnen, als obdachlos zu sein, auch wenn ich ganz und gar keine Lust darauf hatte, aber wie würde Mutter reagieren, wenn ich sagte, dass ich hierbleiben will? Während mir die verschiedensten Gedanken durch den Kopf gingen, rutschte ich schlaff immer weiter nach vorne, bis ich mehr lag als saß, und bald lehnte nur noch mein Kopf am Sofarand. Im Zimmer hing noch der würzige Geruch von Hühnereintopf, und durch das Fenster fielen die Strahlen der Frühlingssonne auf das Sofa. Ob es an der reichlichen Mahlzeit lag oder an den warmen Sonnenstrahlen, es kam mir vor, als falle das Gefühl der Verzweiflung, das mich eben noch fest im Griff hatte, stückweise von mir ab. Langsam glitt ich in einen sanften Schlummer.
*
Dass ich mit meinen achtundvierzig Jahren nicht einmal eine Bleibe besaß, lag einzig und allein an diesem Film, den ich vor zwölf Jahren gemacht hatte. Zu dem Zeitpunkt, als ich nach langer Zeit als Regieassistent endlich mein Debüt als Regisseur vorlegte, nach schwerem Kampf die Dreharbeiten abgeschlossen und die Plakate an den Kinos aufgehängt waren, schien alles in Ordnung, und auch als der Film schon nach einer Woche als kompletter Flop aus dem Programm genommen und, ja, selbst nachdem er vom Publikum zum schlechtesten Film des Jahres gewählt wurde, hatte ich mir nicht vorstellen können, dass in meinem Leben fortan alles so schiefgehen würde wie jetzt. Denn der Film war ja nur ein Film, ein schlichtes kleines Mystery-Melodram.
Doch da hatte ich mich gründlich getäuscht. Was ich da an die Wand gefahren hatte, war nicht bloß ein Film, sondern umgerechnet mehr als drei Millionen Dollar an Produktionskosten, und Verrat begangen hatte ich damit nicht nur an den unschuldigen Zuschauern, sondern vor allem an dem knallhart kalkulierenden Produzenten und dessen Investoren, die das Geld vorgeschossen hatten. Diese Leute vergaßen niemals, wer ein Verräter war. Und nach mehr als zehn Jahren, die ich danach weiter im Seouler Chungmuro-Viertel herumvagabundierte, dem Zentrum des hiesigen Filmgeschäfts, begriff ich, dass nicht mein Film, sondern mein eigenes Leben ein einziger Flop war.
Man hätte das Telefonbuch verfilmen können, es wäre immer noch was Besseres dabei herausgekommen.
So lautete einer der Kommentare, die damals in der Presse standen. Gewissermaßen stimmte das auch. Mit meinem Film ließ sich wirklich rein gar nichts anfangen. Für gewöhnlich war es so, dass ein Film, auch wenn er an den Kinokassen durchgefallen war, doch irgendetwas Lobenswertes enthielt. Die herausragende Schnitttechnik zum Beispiel, der starke Plot oder die eindrucksvolle schauspielerische Leistung, und selbst wenn das nicht der Fall war, so ließ man sich doch zumindest zu ein oder zwei wohlmeinenden Kommentaren herab, dass sich in dem Werk Potenzial erkennen lasse, oder so etwas in der Art, doch der Film, bei dem ich Regie geführt hatte, enthielt nichts von alledem, sondern war einfach nur ein totaler Reinfall. Eine Kritik gab es noch, bei der mir nicht klar wurde, ob sie positiv oder negativ gemeint war:
Mit Gewissheit lässt sich sagen, dass der Regisseur mit seinem Film ein völlig anderes Ziel verfolgt hat als jeder andere Regisseur auf der Erde. Das Problem ist nur, dass niemand weiß, worin es besteht.
Natürlich hatte ich nach meinem Kassenflop nicht zehn Jahre untätig in meinem Zimmer herumgelegen und darauf gewartet, dass das Telefon klingelte. Ich suchte Produzenten auf, die ich kannte, und unterbreitete ihnen die verschiedensten Ideen, überredete junge Autoren dazu, mit mir an neuen Drehbüchern zu arbeiten, und mit den Texten, die wir uns mühevoll abgequetscht hatten, ging ich bei den Filmfirmen hausieren.
Dennoch, ich war als Verräter gebrandmarkt. Ich hatte das Vertrauen des Produzenten missbraucht, die harte Arbeit der Assistenten, die Leidenschaft der Schauspieler und schließlich auch die Träume der Kinobesucher verraten und galt nun als ein gefährlicher Betrüger, den man nie wieder einen Film machen lassen durfte. Letztlich wurde jedes der Drehbücher, deren Geschichte von der Entstehung bis zur Ablehnung für sich genommen jeweils einen eigenen Film hätte füllen können, erbarmungslos in Grund und Boden gestampft.
Damals dachte ich oft an den russischen Regisseur Vitali Kanevsky, der mit fünfundzwanzig Jahren ein Studium an der Filmhochschule aufnahm, dann acht Jahre lang unter dem Vorwurf der Vergewaltigung im Gefängnis verbrachte, um erst mit dreiundfünfzig Jahren seinen ersten Film drehen zu können. Auch der amerikanische Regisseur Michael Cimino fiel mir ein, der mit seinem Meisterwerk »Heaven’s Gate« ein kommerzielles Desaster erlitt und viele Jahre lang bei keinem Film mehr Regie führte (genau wie ich hatte er seine Produktionsfirma in den Konkurs getrieben). Im Vergleich zu ihnen ging es mir doch gut, ich hatte noch eine Chance, tröstete ich mich selbst. Doch nach zehn Jahren ohne eigenen neuen Film, als Ausgestoßener im Filmgeschäft, begann meine Zuversicht langsam zu schwinden.
Menschen, die ich kannte, hatten irgendwann angefangen, mich zu meiden, und wenn ich ihnen zufällig auf der Straße begegnete, erschraken sie, als sähen sie ein Gespenst. Gerade so, als würde mein Unglück auf sie überspringen. Es dauerte nicht lange, bis man mich in der Filmszene von Chungmuro vollkommen vergessen hatte. Und zum Schluss war ich an einem Punkt angelangt, an dem es keinen Schritt mehr weiterging. Ich hatte endgültig verloren.
*
Halb im Schlaf hörte ich Lachen und Rumoren. Ich öffnete die Augen und sah, dass der Fernseher lief, ein Comedy-Sender, davor saß ein Mann von riesenhafter Gestalt, den Topf mit dem Hühnereintopf im Arm. Trotz des nach wie vor kühlen Wetters trug er ein kurzärmeliges Hemd, unter dem dicke Speckwülste hervorquollen. Immer, wenn er über einen Gag in Gelächter ausbrach, schwabbelten die gewaltigen Fleischmassen hin und her.
Puh, immer noch ein imposanter Anblick. Mein Mut sank, während ich ihm zusah, wie er mit seiner Visage über dem Topf hing und den Eintopf in sich hineinschlang.
Bei dem Riesen handelte es sich um niemanden Geringeren als den Erstgeborenen dieser Familie, sprich meinen großen Bruder. Name: Oh Hanmo. Alter: 52. Gewicht: 120 kg. Fünfmal vorbestraft wegen Körperverletzung und Vergewaltigung, Betrug und Diebstahl, ein Perversling, ein geistig minderbemitteltes, riesiges Monstrum … Mit einem Wort, menschlicher Abschaum. In seiner turbulenten Jugend war er im Knast ein und aus gegangen, als sei dort sein Zuhause; vor einigen Jahren dann hatte er gemeinsam mit einem Bekannten den Plan gefasst, nach Kambodscha zu gehen und ein Geschäft mit Kautschuk aufzuziehen, war aber nach zwei Jahren völlig pleite zurückgekehrt. Irgendwann war er klammheimlich bei Mutter angekrochen gekommen und lebte nun schon seit drei Jahren auf ihre Kosten.
Inzwischen hatte er den Eintopf aufgegessen und begann nun, den Rest mit dem Löffel aus dem Topf zu kratzen. Er war in der Zeit, in der ich ihn nicht gesehen hatte, noch dicker geworden, vor mir saß ein heruntergekommener Mann mittleren Alters mit halb ergrautem Haar.
Ja, ein ganz schön alter Sack ist aus ihm geworden, dachte ich. Erst als ich mich vernehmlich machte, indem ich mich auf dem Sofa aufsetzte, nahm er Notiz von mir, drehte sich kurz zu mir um und fragte: »Was führt dich denn hierher?«, weiter mit dem Löffel im Topf herumfuhrwerkend (bei Hühnereintopf schmeckt der am Boden leicht angebrannte Rest am besten).
»Ich wohne ab heute hier«, rutschte es mir heraus, ohne nachzudenken. Gleichzeitig schien es auch richtig, sofort zu klären, was Sache war, wenn ich nun schon einmal hier saß.
»Hier? Warum das denn?«, fragte er mit gerunzelter Stirn. Er klang streitlustig, wie jemand, der es nicht duldete, dass ein Eindringling sich in sein Revier schleicht.
»Wieso sollte ich nicht hier wohnen dürfen?«, fragte ich zurück, den Kopf herausfordernd nach vorne gereckt. Zwei Brüder, die sich zwei Jahre lang nicht gesehen hatten. Wütend und angespannt starrten sie sich an, zwei erfolglose Männer mittleren Alters, und schickten sich an, einen Revierkampf vom Zaun zu brechen.
Meine Jugend mit ihm war wie ein einziger Albtraum für mich gewesen. Er hatte ein technisches Gymnasium besucht, das für seine kriminellen Schüler bekannt war; in seiner Tasche befanden sich statt Büchern Feilen, Spachtel und dreieckige Lineale aus Metall. Diese Werkzeuge waren für den Gebrauch im Praxisunterricht gedacht, aber je nach Bedarf konnten sie auch zu tödlichen Waffen werden. Mit seinen beschränkten geistigen Fähigkeiten lag meinem Bruder nichts ferner als Lernen; stattdessen war er an der ganzen Schule als Schläger berüchtigt. Sein Spitzname lautete, abgeleitet von seinem Vornamen Hanmo, »Hammer« oder auch »Vorschlaghammer«, das schwere Gerät also, das auf Baustellen dazu dient, Steinbrocken kleinzuschlagen. Seinem Spitznamen alle Ehre machend, gab es für ihn kein Halten, wenn er erst einmal in Wallung geriet. Egal ob Ziegelsteine oder was sonst auch immer in Griffnähe war, er packte es und warf damit nach seinen Gegnern (einmal nahm er auch mich als Wurfgeschoss, als ich zufällig danebenstand, kein Scherz).
Unzählige Male hatte Hammer mich verprügelt, als ich jung war. Ich trug blutige Nasen davon, abgebrochene Zähne, Platzwunden im Gesicht, das volle Programm. Nichts wünschte ich mir sehnlicher als seinen Tod. Dass er beim Kämpfen draufging oder besoffen von einem Auto überfahren wurde, egal wie, wenn er nur bald aus meinem Leben verschwände. Aber er war nicht gestorben, und jetzt, Jahrzehnte später, stand er vor mir und versperrte mir den Weg.
Natürlich war er es, der den ersten Angriffsschlag ausführte, indem er den Suppentopf nach mir warf und brüllte: »Was fällt dir Dreckskerl ein, mich so anzuglotzen!«
In Sachen Kampf war Hammer mir nach wie vor meilenweit voraus. Ich bekam den Topf voll ins Gesicht und taumelte. Ja, das war Hammer, wie er leibte und lebte!
Aber an Rückzug war nicht zu denken. Es gab für mich auf der ganzen Welt keinen anderen Platz mehr außer diesem hier. Und außerdem, wenn jemand kein Recht besaß, sich hier einzunisten, dann ja wohl er! Mit der beträchtlichen Summe, die wir damals nach Vaters Tod bekommen hatten, hätte man eine geräumige Wohnung in einer neuen Wohnsiedlung in Stadtnähe kaufen können; er aber hatte Mutter so lange bequatscht, bis sie ihm die Hälfte von dem Geld gab, da er einen Spielsalon aufmachen wollte, was mit einer Pleite endete. Und jetzt plusterte er sich hier auf und machte einen auf Familienchef und Wohnungsbesitzer?
Vom Topf getroffen packte mich die blanke Wut, ich fuhr hoch und schoss wie eine Rakete auf Hammer zu. Mit erhobener Faust brüllte ich ihn an: »Du Arschloch! Ist doch nicht deine Wohnung, was geht es dich an, ob ich hier einziehe oder nicht!«
Einen kurzen Moment stand Hammer regungslos da. Aber als geübter Kämpfer brachte er mich sofort zu Boden und hob den Fuß, um mir einen Tritt zu verpassen. Zwar war er alt geworden, aber auch ich war nicht mehr der Jüngste, und in meiner vom vielen Trinken geschwächten Verfassung hatte ich ihm natürlich auch wenig entgegenzusetzen.
»Bist wohl total übergeschnappt, Bürschchen. Weil du mein Bruder bist, hab ich mich zurückgehalten, aber jetzt bist du dran!«
Hammer trat erbarmungslos auf mich ein. Dennoch schaffte ich es, mich an seinen Hosenbeinen festzuklammern. Als er zu einem weiteren Tritt ansetzte, rammte ich meinen Kopf in seine Schrittgegend. Mit einem lauten Aufschrei stürzte er zu Boden. Ich ließ meine Chance nicht verstreichen, hockte mich rittlings auf seinen Bauch, griff mir den Kochtopf und hieb damit auf ihn ein. Mit seinen Unterarmen meine Schläge abwehrend, schrie er vor Schmerzen, bis er endlich beide Hände hob und sagte: »Okay, okay, ich hab’s kapiert. Hör auf!«
Ich ließ kurz ab, starrte ihn wutschnaufend an, stieg dann von ihm herab und steckte mir eine Zigarette zwischen die Zähne. Meine Kleidung war besudelt mit Hühnereintopf, und in meinem Mund schmeckte ich das Blut, das aus meiner Nase lief. Das Wohnzimmer, Kriegsschauplatz zweier Männer mittleren Alters, hatte sich in ein Chaos verwandelt. Hammer richtete sich schwer atmend vom Boden auf und tat einen langgezogenen Rülpser. Dann grinste er und sagte: »Soso, der Herr Regisseur will also hier wohnen, da scheint ja einiges in seinem Leben schiefgegangen zu sein, was?«
»Herr Regisseur«, so nannte er mich, wenn er mich ärgern wollte.
Wenig später ging die Tür auf, und Mutter kam nach Hause. Sie machte große Augen vor Schreck, als sie das Durcheinander sah. Kaum hatte er sie erblickt, rief Hammer wie ein petzendes Kind: »Mama! Inmo spinnt! Er sagt, dass er hier einziehen will!«
Mutter zögerte kurz, doch dann antwortete sie, als wisse sie schon längst Bescheid: »Es ist doch ein Zimmer übrig, was soll die Aufregung? Das Haus wird schon nicht zusammenbrechen, nur, weil noch einer hier wohnt.«
Hatte sie bereits geahnt, in welcher Klemme ich steckte? Hammer blickte enttäuscht drein, aber Mutter fuhr fort, als sei alles schon beschlossene Sache, während sie in das kleine Zimmer hinüberging: »Ich kümmere mich um die Klamotten, nimm du die anderen Sachen und bring sie fürs Erste raus auf den Balkon. Aufräumen können wir später.«
Ich war etwas verdutzt über ihr Benehmen, aber dann folgte ich ihren Anweisungen und trug einen Armvoll Kleinkram aus dem Zimmer. Hammer lehnte am Türrahmen und murmelte beleidigt, den Suppenlöffel abschleckend: »Schöne Scheiße. Das geht gar nicht, dass der Mistkerl hier einzieht …« Dann wackelte er mit seinem Hintern und ließ laut vernehmlich einen fahren.
Tröööt!
*
Ein Monat war vergangen, seit ich bei Mutter eingezogen war. Alles hatte sich verändert. Mein Realitätssinn hatte sich aufgelöst, als sei ich in an einen fremden Ort in einer anderen Zeitzone gereist. Selbst wenn ich fernsah oder rauchte oder schlief, fühlte es sich an wie eine außerkörperliche Erfahrung. Wie von Drogen betäubt kam ich mir vor, ein Gefühl der Leere, als hätte man mir sämtliche Eingeweide herausgerissen. Andererseits war ich so ruhig, dass es mir schon fast unnormal schien. Die Enge, die meine Brust eingeschnürt hatte, war verschwunden, und mein Herz raste nicht mehr wie kurz vor einem Anfall.
Ich schlief mehr als zwölf Stunden am Tag. Fast so, als hätte ich in den letzten zehn Jahren überhaupt nicht geschlafen, verbrachte ich die meiste Zeit außer den Mahlzeiten mit Schlafen. Wenn ich nicht schlief, saß ich auf dem Sofa und sah fern oder machte Spaziergänge entlang der Bahnstrecke, den verschiedensten Gedanken nachhängend. Übrig blieb nichts davon in meinem Kopf, nur eine zusammenhangslose Sammlung von Gedankenfetzen. Auch wenn ich zwischendurch immer wieder einmal über meine Probleme oder meine Pläne für die Zukunft nachsann, so war nach jedem Schlaf die Erinnerung daran wie fortgewaschen.
Mutter redete nach wie vor nicht viel. Sie stellte keine einzige Frage über meine Arbeit oder wie es dazu gekommen war, dass ich wieder zu Hause gelandet war. Stattdessen sorgte sie dafür, dass zu jeder Mahlzeit das Essen auf dem Tisch stand, und das, obwohl sie mit ihren Verkaufstouren außer Haus schon genug beschäftigt war. Ich aß, was sie gekocht hatte, dann zog ich mich wieder in mein Zimmer zurück wie eine Raupe in ihren Kokon und schlief.
Einmal kam Hammer durch die Eingangstür herein und maulte, dass es im ganzen Haus nach Fisch stinke. Mutter hatte eben eine große Makrele gebraten, und während ich sie verspeiste, hatte ich eine Art von Déjàvu-Erlebnis. Gleich darauf wurde mir klar, dass ich mich an den Aufruhr erinnerte, der früher oft bei uns zu Hause geherrscht hatte.
Alle in unserer Familie, Vater eingeschlossen, hassten den Geruch von Fisch. Ich hingegen mochte streng riechende Fischsorten wie Makrele oder Degenfisch ganz besonders, und Mutter briet mir häufig welchen, trotz des lauten Protests der gesamten Familie, nur für mich allein. Erst in diesem Moment ging mir auf, dass auch die Beilagen vor mir auf dem Tisch genau die waren, die ich als Kind gerne gegessen hatte. Malvensuppe und Lattich-Kimchi, salzig eingelegte Muscheln und in Sojasoße glasierte Kartoffeln, geröstete Eisfischchen und dergleichen – für sich genommen nichts Außergewöhnliches, doch Mutter hatte zu meinem Erstaunen in den mehr als zwanzig Jahren bis heute meine Lieblingsspeisen nicht vergessen. Ich spürte, wie ich feuchte Augen bekam, und rasch senkte ich meinen Kopf und sah zu, dass ich meine Stäbchen nahm und weiteraß.
Bei einem Besuch im öffentlichen Badehaus, stieg ich auf die Waage. Ich hatte drei Kilo zugenommen. Dennoch wog ich immer noch nicht einmal die Hälfte von dem, was Hammer auf die Waage brachte. Als ich mich zur Seite drehte, sah ich im Spiegel einen Mann mit trübem Blick, an dem alles schlaff herabhing. Meinen Körper betrachtend, fiel mir ein, was eine Kommilitonin von der Uni einmal zu mir gesagt hatte: »Wenn ich die nackten Leiber im Badehaus sehe, glaube ich zu wissen, was für ein Leben ihre Besitzerinnen geführt haben. Auf ihren Körpern steht sie nämlich ganz deutlich geschrieben, ihre Geschichte.«
Ich sah in den Spiegel und versuchte zu erkennen, an welchen Stellen meines Körpers die schweren Zeiten ihre Spuren hinterlassen hatten. Irgendwas glaubte ich zu sehen, aber dann auch wieder nicht. Vermutlich zeigten sich bei Frauen solche Spuren deutlicher als bei Männern, dachte ich. Auch auf der Haut der Kommilitonin mit dem Spruch über die nackten Frauenleiber war sie zu lesen, ihre eigene Geschichte. Sie schämte sich für ihren von zwei Schwangerschaften faltig und schlaff gewordenen Bauch, aber ich hatte sie damals für ihren weichen, rundlichen Körper geliebt.
Was für ein Leben sie wohl lebte, in Kanada? Auch als ich mit dem Baden fertig war und schon wieder draußen stand, ging sie mir nicht aus dem Kopf. Wir hatten uns im Filmklub der Uni kennengelernt, sie war ein paar Semester unter mir gewesen, von kleiner Statur, neugierig und vor Energie sprühend. Wie ich in Chungmuro aktiv, hatte sie Filmdrehbücher geschrieben, dann aber geheiratet, Kinder bekommen und mit zunehmendem Alter ihre Energie und Filmleidenschaft verloren und war zu einer angemessen realistischen, müden Hausfrau geworden. Ich sah ihr bei ihrem Frauenleben zu; ein-, zweimal im Monat trafen wir uns und schliefen miteinander, ohne dass daraus eine ernsthafte Beziehung wurde. Wir schafften es, die Distanz, die wir beide brauchten, auf bewundernswert disziplinierte Weise aufrechtzuerhalten.
Vor fünf Jahren war sie dann mit ihrer Familie nach Kanada ausgewandert. Ein paar Mal rief sie noch an, aber ich steckte damals in der schwersten Zeit meines Lebens und hatte keine Muße, mir um sie Gedanken zu machen. Hatte sie ihren Namen damals im Zuge ihrer Auswanderung nicht in »Catherine« geändert? Während ich vom Badehaus über den Markt nach Hause ging, erinnerte ich mich an dieses und jenes, das mit ihr in Zusammenhang stand. Ich begriff, dass ich an ihrem wahren Leben nie wirklich Anteil genommen hatte, und plötzlich tat sie mir leid, nicht zum ersten Mal, aber auf eine andere Weise.
Wenn man hinter der Siedlung ungefähr drei Kilometer weit ging, gelangte man zu einem flachen Hügel, hinter dem ein kleiner Stausee lag. Der See hatte wenig Wasser und war ringsum mit Unkraut zugewachsen, so dass er seine ursprüngliche Funktion wohl nicht mehr erfüllte, aber die Luft war klar, und dank der erhöhten Lage des Gebiets hatte man eine recht gute Aussicht über die Gegend. Früher musste der See dazu gedient haben, die weiten Getreidefelder, die vor dem Bau des neuen Stadtteils hier bewirtschaftet wurden, mit Wasser zu versorgen, doch jetzt suchten höchstens noch heimliche Liebespärchen oder Arbeitslose wie ich die sich selbst überlassene Stelle auf.
Ich lief am Damm entlang. Zwischen gelblich verdorrtem Gras stand Löwenzahn. Am Ende des Sees setzte ich mich hin und steckte mir eine Zigarette an. Ringsherum war kein Mensch zu sehen, es herrschte Totenstille. Am Himmel zogen Wölkchen vorbei, die aussahen wie aus Watte, und die Köpfe der spärlich wachsenden Felsenblümchen wiegten sich im Wind. Nach dem Bad fühlte ich mich leicht, wie ein nach langer Krankheit aus dem Spital entlassener Patient. Der Geschmack des allzu lange vermissten Friedens. Als ich dem Flirren der Luft über dem Wasserspiegel zusah, hätte ich, aus welchem Grund auch immer, am liebsten geweint.
Dann fiel mein Blick auf eine leere grüne Sojuflasche, die weggeworfen im Gras lag. Wahrscheinlich hatten irgendwelche Frühlingsausflügler hier gefeiert, denn unterhalb des Dammes lag alles voll mit ähnlichen Schnapsflaschen. Jäh schoss das Verlangen nach Alkohol in mir hoch. Wenn ich überlegte, war etwa ein Monat vergangen, seit ich zum letzten Mal getrunken hatte. Mir war zwar selbst nicht klar, ob ich mit dem Trinken angefangen hatte, weil in meinem Leben nichts klappte, oder ob nichts klappte, weil ich trank. Jedenfalls war ich nach meiner Scheidung öfter benebelt gewesen als nüchtern. Wenn ich betrunken war, pöbelte ich herum, und oft soff ich bis zum Blackout. Zwar machte ich mir Sorgen, vollends zum Alkoholiker zu werden, wenn ich so weitermachte, aber hatte ich erst einmal das erste Glas intus, verschwanden solche überflüssigen Bedenken im Nu, und gewohnheitsmäßig ließ ich mich volllaufen bis zur Schmerzgrenze.
Eines Tages lag ich übel verkatert in meinem Zimmer, zu keiner Bewegung fähig, als ich sah, wie ein großes Insekt über die Bettdecke kroch. Wie war das widerliche Viech in mein Zimmer gekommen?, dachte ich und wollte es mit meiner Hand verscheuchen, da löste sich das Tier vor meinen Augen in Luft auf wie eine Fata Morgana. Eine Halluzination, wie Alkoholiker sie haben. Für einen Moment überfiel mich die Angst. Vielleicht, weil doch noch ein Funke von Lebenswillen in mir übrig war, kam mir der beängstigende Gedanke, dass ich allein hier in meinem Zimmer sterben könnte, ohne dass es jemand bemerkte. Der Tod war in Ordnung, aber wenn ich schon sterben sollte, dann nicht auf eine so erbärmliche und sinnlose Weise. Überlegte ich es mir recht, dann waren Mutters Anruf und ihre Einladung zum Hühnereintopfessen ein Rettungssignal gewesen, als ich mitten in der Wüste des Todes stand. Mein Instinkt war dem Signal gefolgt, mit dem Ergebnis, dass ich lebte und diesen Frühlingstag genießen durfte.
*
Ich hatte auf dem Sofa Zeitung gelesen und war dabei eingenickt. Das Bad und der längere Spaziergang hatten mich müde gemacht. Kurz hatte ich einen Traum, in dem seit langem wieder einmal meine Ex-Frau vorkam (ich sagte schon, dass ich kein Wort über sie verlieren möchte, aber für meine Träume kann ich schließlich nichts). Sie war arrogant und kalt wie immer, während ich innerlich tobte. Sie hatte mir den Rücken zugedreht, mich gänzlich ignorierend. Ich wollte die Situation zum Guten wenden, doch ich scheiterte an ihrer abweisenden Art, keines meiner Worte drang zu ihr durch. Dann brachte ich vor lauter Verzweiflung gar keinen Ton mehr heraus. In meiner Wut hätte ich sie umbringen können. Lauthals lachte sie mich aus. Ihre Verachtung nicht verbergend, lachte sie, den Mund so weit offen, dass ich ihr Zäpfchen sah. Eine Weile lang hatte ich sogar dieses Zäpfchen an ihr geliebt, doch irgendwann wollte ich nur noch meine Faust in ihren Rachen rammen und es aus ihr herausreißen.
Als ich die Augen aufschlug, saß ein Mädchen in Schuluniform auf dem Boden vor dem Fernseher und schüttete sich aus vor Lachen über eine Comedyshow. Für einen Moment war ich verwirrt, ein Mädchen an der Stelle meiner Frau zu sehen. Wie alt mochte sie sein? Fünfzehn, sechzehn vielleicht? Sie war etwas pummelig und hatte die halblangen Haare mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz gebunden, und jedes Mal, wenn im Fernsehen ein Spruch fiel, hielt sie sich den Bauch vor Lachen: »Fuck, ist das komisch!«
Ich sah das Mädchen konsterniert an und fragte mich, wer das bloß sein konnte, aber die mit dem Rücken zu mir sitzende Gestalt schien mir vollkommen fremd. Dann drehte sie sich verstohlen nach mir um, und unsere Blicke trafen sich kurz. Das Gesicht mit den Sommersprossen auf der Nase machte einen sehr resoluten Eindruck. »Entschuldigen Sie, aber ich habe eine ziemlich kurze Lunte«, stand darin geschrieben. Nachdem das Mädchen mich einen Moment lang abschätzig gemustert hatte, wandte es sich wieder dem Fernseher zu. Mir war etwas beklommen zumute.
»Äh … Wer bist du?«, fragte ich vorsichtig, mich auf dem Sofa aufsetzend.
Sie blickte mich aufmüpfig an und antwortete: »Das ist die Wohnung von meiner Oma.«
Es klang, als wollte sie sagen: »Und wer bist du, dass du hier auf dem Sofa von meiner Oma rumgammelst?« Oma? Hatte Hammer jetzt auch noch ein Kind angeschleppt, von dem wir nichts wussten? Soweit mir bekannt, gab es zwei Frauen, mit denen er jeweils eine Zeit lang zusammengewohnt hatte. Geheiratet hatte er keine von ihnen, und dass er ein Kind haben sollte, hörte ich zum absolut allerersten Mal.
»Oma, sagst du … dann ist Hanmo dein Papa?«
»Nö. Mein Vater heißt Jang Haesŏng«, antwortete sie gelangweilt, drehte ihren Kopf wieder zum Fernseher und nuschelte, den Blick auf den Programm-Moderator gerichtet: »Was soll die Scheiße, so ein kranker Typ …«
Jang Haesŏng? Wer sollte das sein? Irgendwo hatte ich den Namen schon ein paar Mal gehört … Gleich darauf fiel mir ein, wer Jang Haesŏng war: mein Schwager. Dann war das verzogene Gör die Tochter meiner Schwester Miyŏn? Und ich ihr Onkel? Wie lange war es her, seit ich meine Nichte das letzte Mal gesehen hatte? Bestimmt vier oder fünf Jahre, da konnte es schon sein, dass ich sie nicht wiedererkannte. Kinder wuchsen ja so schnell. Wie auch immer … auf den Rücken meiner vor dem Bildschirm gackernden Nichte starrend, wurde ich allmählich zornig.
»Dann weißt du ja, dass ich dein Onkel bin, oder?«
Sie sah mich kurz wortlos an, um sich mit einem spöttischen Schnauben gleich wieder dem Fernseher zuzuwenden.
Mein Ärger schwoll an, und mit lauterer Stimme wiederholte ich: »Ob dir klar ist, dass ich dein Onkel bin, habe ich gefragt!«
Das Mädchen blickte weiter auf den Fernseher und antwortete in gelangweiltem Ton: »Ja, logisch, mein Onkel mütterlicherseits.«
»Was?« Ich konnte es nicht fassen. »Ja … aber warum begrüßt du mich dann nicht?«
Daraufhin lachte sie genervt auf und sagte: »Boah, ich werde noch wahnsinnig, echt.«
»Wie bitte? Was hast du gesagt? Wiederhol das!«, brüllte ich in Rage, stand auf und packte ihren Arm. Sie aber zuckte nicht mit den Wimpern und sah zu mir auf.
»Guter Mann, hören Sie mal …«
»Was? Guter Mann? So eine Frechheit, seinem Onkel gegenüber …!«
Ich holte mit der Hand aus, da stand auch sie auf und starrte mir ins Gesicht. Ihre Augen waren voller Gift, so gar nicht zu einem jungen Mädchen passend, und ich stockte in meiner Bewegung.
»Guter Mann, wissen Sie, wie ich heiße?«, fragte sie unvermittelt.
»Was?«
»Ob Sie meinen Namen kennen!«
Ihren Namen …? Jang Haesŏng war ihr Vater, also hieß sie mit Nachnamen Jang, so viel war klar … Nein. Nicht unbedingt. Denn Jang Haesŏng war Miyŏns zweiter Ehemann. Weil das Gör aber die Tochter aus erster Ehe war, konnte sie auch einen anderen Familiennamen haben (verdammt, war das alles kompliziert). Mir fiel nichts ein, und heimlich ließ ich meine Hand sinken.
Als hätte sie nichts anderes erwartet, sagte sie mit einem verächtlichen Ausdruck im Gesicht: »Wo in aller Welt gibt es einen Onkel, der nicht einmal den Namen seiner Nichte weiß?«
Ich kam mir vor wie geohrfeigt. Ja, egal, wie lange ich sie schon nicht mehr gesehen hatte, sich nicht an den Namen der eigenen Nichte erinnern zu können, das war schon ein ziemliches Ding. Dennoch. Ich hatte ihr doch nichts getan, und da sollte ich mich von einem Grünschnabel, dessen Großvater ich sein könnte, so behandeln lassen? Ich setzte mich zurück aufs Sofa, und während mein Zorn abkühlte, sinnierte ich, wie ich dem unverschämten Luder einen Denkzettel verpassen konnte.
»Was machst du eigentlich hier? Bist du allein gekommen?«, fragte ich in der Hoffnung, einen schwachen Punkt bei ihr zu treffen.
»Nö, wir wohnen ab heute hier«, antwortete sie lässig.
»Hä? Was soll das denn heißen?«
»Dass Mama und ich ab heute bei Oma wohnen.«
Mir fiel die Kinnlade herunter. Was ging vor sich? Miyŏn und ihr Balg wollten hier einziehen?
»W...Weshalb hier? Ja? Was ist denn mit eurer Wohnung? Ihr habt doch sicher eine eigene, oder?« Vor lauter Verwirrung kam ich ins Stottern.
»Ach, keine Ahnung. Frag Mama, wenn sie kommt.«
Als sei ihr das alles zu lästig, nahm sie die Fernbedienung und begann, sich durch die Programme zu zappen.
Am Abend desselben Tages wurde der Schleier gelüftet. Es war gegen neun, als Miyŏn erschien, mit einer großen Sonnenbrille auf der Nase. Sie hielt sich nicht damit auf, zu fragen, wie es mir in den Jahren gegangen war, die wir uns nicht gesehen hatten, sondern begann sofort, sich über ihren Mann auszulassen: Jang Haesŏng, der »Hundesohn«, komme »stinkbesoffen« nach Hause, wenn es ihm passe, prügele sie »wie einen Hund« und heute habe sie es dann endgültig nicht mehr länger aushalten können und sei mit Min’gyŏng (so hieß das unverschämte Gör also) ausgezogen.
Miyŏn zog ihre Brille ab, zeigte uns ihr dunkelviolett angeschwollenes Auge und erklärte, sie habe heute Morgen beschlossen, sich scheiden zu lassen, und nicht vor, zu dem Hundesohn zurückzugehen, und eigentlich habe sie ja eine Wohnung suchen wollen, aber dazu keine Zeit gehabt, außerdem könne sie ihren Job nicht aufgeben, in der schwierigen finanziellen Lage, in der sie stecke, aber in erster Linie gehe es ihr um Min’gyŏng, die ja noch zur Schule gehe und niemanden habe, der sich um sie kümmere, und so sei sie nach langer Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass es keinen anderen Weg gab, als bei Mutter einzuziehen und gemeinsam hier zu wohnen.
Dem von heftigen Flüchen begleiteten Klagelied der Rotz und Wasser heulenden Miyŏn zuzuhören, versetzte mich für einen Moment in einen Zustand der Ratlosigkeit. Wenn sie hier einzogen, dann würden Mutter und Tochter eines der Zimmer für sich in Beschlag nehmen, was bedeutete, dass ich mit Hammer in dem anderen Zimmer hausen musste, mit einem hundertzwanzig Kilo schweren, ständig vor sich hin furzenden Monster. Undenkbar! Wenn ich mir nicht etwas einfallen ließ, würde ich unweigerlich in seinem Schweinestall enden.
Der Anblick von Miyŏn mit ihrem zugeschwollenen Auge machte mich wütend. Auch wenn wir uns so selten sahen und einander fremd geworden waren, so blieben wir doch Geschwister, aus dem Bauch derselben Mutter!
»Los, steh sofort auf, wir gehen jetzt zu eurer Wohnung! Diesem Dreckskerl drehe ich eigenhändig den Hals um …«, sprang ich von meinem Platz auf, äußerlich zu allem entschlossen, wobei es in meinem Kopf alles andere als klar zuging. Ich wollte ihm an die Gurgel, hatte aber nicht überlegt, wie ich allein es mit meinem kräftig gebauten Schwager aufnehmen sollte. Aber vielleicht konnte ich Hammer dazu bringen, dass er mitkam, sich Jang schnappte, ihn zu Boden brachte und festhielt, damit ich ihm eine Abreibung verpassen konnte. Auch wenn er zu einem nutzlosen, alten Fettsack degeneriert war, so steckte in ihm doch immer noch der Kämpfer, dem man einst nicht umsonst das Prädikat »Vorschlaghammer« verliehen hatte!
Jang Haesŏng würde also seine Taten bereuen und, selbst wenn nicht, sich doch der Gewalt der beiden Schwager beugen müssen, auf den Knien um Gnade bitten und geloben, nie wieder die Hand zu erheben, und wenn wir es dann noch schafften, Miyŏn zu überzeugen, die Nachgiebige zu spielen und nach Hause zurückzugehen, würden wir drei erwachsenen Geschwister nicht in einer engen Wohnung aufeinanderhocken und uns zum Gespött der Nachbarschaft machen müssen.
Die Reaktion der Familienmitglieder jedoch fiel gänzlich anders aus als erwartet. Hammer drehte sich leise zur Seite und vermied meinen Blick, Mutter tat einen tiefen Seufzer, und Miyŏn rannte aufgeregt herum und sagte, dass das absolut unmöglich sei. Wenn es nach ihr gin