Eine Kita für alle Religionen - Friedrich Schweitzer - E-Book

Eine Kita für alle Religionen E-Book

Friedrich Schweitzer

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Beschreibung

Mit dieser Veröffentlichung wird die deutschlandweit erste Kindertagesstätte in interreligiöser Trägerschaft – christlich, muslimische, jüdisch – vorgestellt, die vor wenigen Jahren gegründet wurde und inzwischen erfolgreich arbeitet. Dabei geht es insbesondere um das (religions-)pädagogische Konzept sowie um die Erfahrungen, die in den Jahren seit der Eröffnung gesammelt werden konnten. Darüber hinaus soll deutlich werden, welche Erwartungen für die verschiedenen Religionsgemeinschaften leitend sind und was eine solche Einrichtung für eine Stadt oder Gemeinde bedeutet. 

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Seitenzahl: 151

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Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch ohne Folie produziert.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Hanel, Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Sabine Hanel

Papierstruktur im Innenteil: © hudiemm – iStock

Bildnachweise: Seiten 8, 18, 20, 26, 3136, 47, 59, 67 (oben), 74, 84, 91, 100 (Eingänge): Urheber Daniel Foltin, © IRENICUS GmbH; Seiten 42, 51, 55, 61, 67: privat, © IRENICUS GmbH; Seiten 11, 3940, 41, 48, 49, 64: Zeichnungen von Kindern in der Kita IRENICUS, © IRENICUS GmbH; Seite 109: Urheberin Sandra Augstein, © IRENICUS GmbH; Seite 117: © Raoul du Plessis / Unsplash; Seite 121: © Architekturbüros Stark und Stilb

Satz: Sabine Hanel, Gestaltungssaal

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN Print 978-3-451-39590-1

ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-83462-2

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-83468-4

Inhalt

Vorwort

1 Warum brauchen Kinder Religion?

Das Recht des Kindes als Ausgangspunkt

2 Wozu Religion und Religionen in der Kita?

Lernen für Frieden und Toleranz

3 Wie sieht eine Kita der Religionen eigentlich aus?

Die Kita IRENICUS als Beispiel

4 Was sagt die Religionspädagogik dazu?

Nützliche Erkenntnisse aus der Wissenschaft

5 Wie kann eine Kita der Religionen gestaltet werden?

Ideen – Praxisimpulse – Hinweise zu Materialien

6 Was erleben die Kinder in einer multireligiösen Kita und was können sie mitnehmen?

Symbole, Gebet und religiöse Feste

7 Warum ist die Zusammenarbeit mit Eltern in einer Kita der Religionen so wichtig?

Begegnung – Kooperation – Vertrauen

8 Was bedeutet eine Kita der Religionen für die Fachkräfte?

Arbeiten in einer multireligiösen Einrichtung

9 Wie sieht die Leitung einer multireligiösen Kita aus?

Erfahrungen und Perspektiven

10 Was meinen die Kirchen und Religionsgemeinschaften?

Interreligiöse Kooperation auf Trägerebene

11 Wie kann man eine Kita der Religionen in Gang bringen?

Ideen – Fallstricke – Lösungsmöglichkeiten

12 Welche interreligiösen Einrichtungen für Kinder und welche Gründungsinitiativen gibt es in Deutschland?

Eine Idee breitet sich aus

Neue Impulse für die Elementarpädagogik: Zehn Thesen

Autor:innenverzeichnis

Vorwort

Was eine Kita für alle Religionen bedeutet, kann ganz unterschiedlich aussehen. In diesem Buch geht es darum, wie eine Einrichtung in multireligiöser Trägerschaft möglich ist. Was passiert, wenn sich verschiedene Religionsgemeinschaften – Christentum, Judentum und Islam sowie noch weitere Religionsgemeinschaften wie das Êzîdentum (Jesidentum) – als Träger zusammentun, um damit ein Zeichen für interreligiöse Verständigung und für Frieden in der Welt zu setzen?

Nicht gemeint ist also, dass in den Einrichtungen einfach von der Religionszugehörigkeit abgesehen werden soll – etwa nach dem Motto, dass hier alle willkommen sind ganz unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. In einer Kita für alle Religionen werden Kinder und Eltern, aber auch pädagogische Fachkräfte ausdrücklich mit ihren verschiedenen Religionszugehörigkeiten gleichermaßen wahrgenommen und geachtet. Das gilt dann selbstverständlich auch für diejenigen Kinder und Eltern, die keiner Religionsgemeinschaft angehören.

Manche halten einen solchen multireligiösen Ansatz in der Trägerschaft einer Kita vielleicht für eine Illusion – eine bloße Träumerei. Doch hier ist das Gegenteil der Fall: Hinter diesem Buch stehen Einrichtungen, die tatsächlich eine multireligiöse Trägerschaft aufweisen. Insbesondere gilt das für die Kita der Religionen IRENICUS in Pforzheim mit ihrer christlich-jüdisch-muslimisch-êzîdischen Trägerschaft, die vom Autor und den Autorinnen dieses Bandes mehrere Jahre lang wissenschaftlich begleitet wurde. Die dabei gewonnenen Erfahrungen sind eine wesentliche Grundlage dieses Buches. Es geht also nicht um eine bloße Idee, sondern um reale Praxis.

Die Kita der Religionen IRENICUS wurde im Jahr 2020 eröffnet. In der Zusammensetzung ihrer Trägerschaft ist sie bislang bundesweit einzigartig. Sie hat sich inzwischen sehr erfolgreich etabliert und stößt mit ihrer Arbeit auf großes Interesse – vor allem bei anderen Einrichtungen, die gerne davon lernen möchten, aber auch in den Medien und in der Wissenschaft. Hier wird gezielt die Möglichkeit eröffnet, die Erfahrungen aus einer Kita der Religionen für die eigene Arbeit fruchtbar zu machen. Eine Kita der Religionen kann mit ihrer besonderen Gestalt der Trägerschaft zwar nicht Vorbild für alle Einrichtungen sein, aber alle Einrichtungen können von einer solchen Kita lernen. Denn fast überall in Deutschland und Europa sind Kitas inzwischen dadurch geprägt, dass hier ganz unterschiedliche Religionszugehörigkeiten alltäglich präsent sind. Auch die in Deutschland zahlreichen Kitas in kirchlicher Trägerschaft lassen es inzwischen bewusst zu, dass auch pädagogische Fachkräfte mit einer nicht-christlichen Religionszugehörigkeit dort angestellt werden.

Mit seinen zwölf Kapiteln ist das Buch gleichsam als eine Art Lernprogramm angelegt, das insbesondere pädagogische Fachkräfte – in der Ausbildung ebenso wie in der Praxis – sowie Leitungen von Einrichtungen Schritt für Schritt oder auch in thematischer Auswahl nutzen können. Weiterreichend soll dieser Band neue Impulse für die Elementarpädagogik bieten. Denn angesichts einer sich verändernden Welt und vor allem der zunehmenden religiös-weltanschaulichen Vielfalt in der Gesellschaft muss sich die Elementarpädagogik vermehrt auf (inter-)religiöse Herausforderungen und religionspädagogische Aufgaben einstellen. Kinder brauchen heute eine kompetente Begleitung bei ihrem Aufwachsen mit dieser Vielfalt und bei interreligiösen Bildungsaufgaben.

Das Erscheinen dieses Buches ist ein Anlass für vielfältigen Dank. An erster Stelle zu nennen sind das Team und die Leitung der Kita der Religionen IRENICUS, einschließlich der Religionsgemeinschaften als Träger dieser Einrichtung. Auch die Kinder in der Kita IRENICUS haben das Vorhaben kräftig unterstützt – mit ihren Bildern und Ideen, aber auch mit ihrer Bereitschaft, sich fotografieren zu lassen. Die eindrücklichen Bilder des renommierten Fotografen Daniel Foltin, die diesen Band bereichern, hätten sonst nicht zustande kommen können. Herzlich zu danken ist auch den Eltern für ihre Zustimmung, die Bilder hier abdrucken zu lassen, und ihre Genehmigung für Gespräche mit ihren Kindern. Die IRENICUS GmbH, die als Träger dieser Einrichtung fungiert, sowie die Stiftung Gottesbeziehung in Familien haben diese Veröffentlichung großzügig finanziell unterstützt – ebenfalls ein Anlass für herzlichen Dank. Bei der Finanzierung der wissenschaftlichen Begleitung der Einrichtung wurde die GmbH IRENICUS vom Projekt »Weißt du wer ich bin?« unterstützt, das vom Bundesministerium des Innern und für Heimat gefördert wird. Nicht zuletzt verdient das engagierte Team der Mitautorinnen dieses Bandes großen Dank für eine mehrjährige wunderbare Zusammenarbeit. Dank gesagt sei schließlich auch dem Verlag und seinem Lektor Jochen Fähndrich, der das Entstehen des Bandes von Anfang an engagiert begleitet hat.

Friedrich Schweitzer

1

Warum brauchen Kinder Religion?

Die Themen in diesem Kapitel sind

→ Kinderrechte

→ Kinder als transzendenzoffene Wesen

→ Kinder und die „großen Fragen“

→ Notwendigkeit religionspädagogischer Begleitung

→ Das Recht des Kindes auf Religion bedeutet keine Pflicht, religiös zu sein

Das Recht des Kindes als Ausgangspunkt

»Kommt man in den Himmel, wenn man tot ist?«

»Musst du auch sterben?«

»Kann man Gott sehen?«

»Wie sieht Gott eigentlich aus?1 «

Manchmal wäre es Eltern und pädagogischen Fachkräfte sicher lieber, wenn Kinder keine solchen Fragen stellen würden. Wie soll man nur darauf antworten? Es sind die berühmten »großen Fragen«, vor die Erwachsene sich durch die Kinder gestellt sehen und auf die sie auch selbst oft keine Antwort wissen.

Warum stellen Kinder eigentlich solche Fragen? Offenbar nehmen Kinder wahr, dass die Welt nicht einfach im Alltag aufgeht und es hinter, unter oder über diesem Alltag noch etwas anderes gibt, das geheimnisvoll und spannend ist. Davon lassen sie sich faszinieren. Mit ihren Fragen erkunden sie die Welt und alles, was sie sich darüber hinaus vorstellen können – auch Gott.

Kinder sind transzendenzoffene Wesen

Kinder sind offen für eine Welt voller Geheimnisse und für die Suche nach Gott, die sie deshalb so spannend finden, weil hier auch die Erwachsenen oft nicht weiterwissen. Kinder sind neugierig, was mit den Toten geschieht und ob Tot-sein wehtut. Sie hören neugierig und gespannt zu, wenn es besondere Geschichten über solche Geheimnisse gibt – zum Beispiel bei den großen Festen wie Weihnachten und Ostern, Ramadan und Chanukka oder Îda Êzî. Kinder lieben Rituale – wiederkehrende Lieder, besondere Bewegungen und Gebete.

Kinder sind transzendenzoffene Wesen. Erwachsene haben oft vergessen, dass sie auch einmal Kinder waren. Manche berichten davon, wie sie mit Kindern die vergessene transzendenzoffene Dimension ihres Lebens wieder neu entdecken konnten. Andere haben Zweifel: Wozu soll das gut sein? Ist Religion nicht einfach überflüssig – für aufgeklärte Menschen, die auch ihre Kinder ohne Religion erziehen wollen?

Fragen und Einwände der Erwachsenen

Vielen Menschen, auch Eltern und pädagogischen Fachkräften im Elementarbereich, ist heute unklar, warum Kinder (noch) Religion brauchen sollten. Was soll das den Kindern bringen? Und leben wir nicht in einer Zeit, in der gerade die Kirchen und Religionsgemeinschaften allzu viel Vertrauen verspielt haben – durch Missbrauchsfälle oder Aggression bis hin zu Fundamentalismus und Terrorismus?

Lange Zeit war religiöse Erziehung eine selbstverständliche Aufgabe, im Elternhaus ebenso wie im Kindergarten oder in der Schule. Davon ist heute zumeist nicht mehr auszugehen. Die Eltern haben allerdings sehr unterschiedliche Erwartungen. Im christlichen Bereich scheint vielen Erwachsenen Religion nicht mehr so wichtig, muslimische Eltern zum Beispiel sehen das hingegen ganz anders und legen großen Wert auf Religion.

Aber wie steht es mit den Kindern selbst? Auch dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen. Deshalb ist es unumgänglich, hier mit der Frage zu beginnen: Warum brauchen Kinder Religion? Überzeugende Antworten auf diese Frage lassen sich heute nur noch vom Kind und von seinen Rechten her begründen.

Die Anerkennung von Kinderrechten als entscheidender Fortschritt

Es hat sehr lange gedauert, ehe die Überzeugung, dass Kinder eigene Rechte haben, allgemeine Zustimmung gefunden hat. Die Kinderrechtsbewegung durchzog das ganze 20. Jahrhundert. Ihre Wurzel lag in der Reformpädagogik der damaligen Zeit, die etwa mit der schwedischen Philosophin Ellen Key darauf drängte, dass das 20. Jahrhundert ein »Jahrhundert des Kindes« werden sollte. Ähnlich berühmt ist der polnisch-jüdische Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak, dessen Buch »Das Recht des Kindes auf Achtung« (Erstauflage 1928) ein Klassiker der Pädagogik, vielleicht sogar der Weltliteratur geworden ist.

Die erste Kinderrechtserklärung überhaupt wurde vor 100 Jahren vom Völkerbund in Genf verabschiedet. Der Text aus dem Jahre 1924 ist sehr kurz. Die Erklärung umfasst nur fünf Punkte. Gleich der erste Punkt betrifft die spirituelle Entwicklung des Kindes:

WISSEN

Genfer Erklärung (Völkerbund 1924): Die erste Erklärung von Kinderrechten

1. Das Kind soll in der Lage sein, sich sowohl in materieller wie in geistiger (spiritueller) Hinsicht in natürlicher Weise zu entwickeln.

2. Das hungernde Kind soll genährt werden; das kranke Kind soll gepflegt werden; das zurückgebliebene Kind soll ermuntert werden; das verirrte Kind soll auf den guten Weg geführt werden; das verwaiste und verlassene Kind soll aufgenommen und unterstützt werden.

3. Dem Kind soll in Zeiten der Not zuerst Hilfe zuteilwerden.

4. Das Kind soll in die Lage versetzt werden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und soll gegen jede Ausbeutung geschützt werden.

5. Das Kind soll in dem Gedanken erzogen werden, seine besten Kräfte in den Dienst seiner Mitmenschen zu stellen.

An der Erklärung des Völkerbundes ist zunächst bemerkenswert, dass sie den Kindern überhaupt eigene Rechte zuspricht und solche Rechte offiziell anerkennt. Damit wurde ein wichtiger Fortschritt nicht zuletzt im pädagogischen Denken erzielt, der sich in Praxis und Theorie allerdings erst in einem langwierigen Prozess durchsetzen konnte. Bis heute kommen keineswegs alle Kinder tatsächlich in den Genuss solcher Rechte. Schon die Versorgung mit Nahrungsmitteln, mit Wohn- und Schlafmöglichkeiten und Medikamenten ist in vielen Ländern nicht für alle Kinder gewährleistet. Und der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, also etwa einer Kita oder einer Schule, steht keineswegs allen Kindern auf der Welt offen.

Die hier wiedergegebene Übersetzung der Kinderrechte macht zugleich auf ein Problem aufmerksam, das für dieses Buch besonders wichtig ist. In der deutschen Übersetzung der Kinderrechtserklärung ist bei Punkt 1 nur von einer natürlichen Entwicklung in »geistiger« Hinsicht die Rede, während im französischen Original von »spirituell« gesprochen wird (»spirituellement«). Vor 100 Jahren stand demnach vor Augen, dass Kinder auch ein Recht auf Entwicklungsmöglichkeiten in spiritueller oder religiöser Hinsicht haben. Die Wiedergabe mit »geistig« unterdrückt den tatsächlichen Sinn des Textes. In der Sicht der Kinderrechtserklärung von 1924 haben Kinder aber ohne Zweifel auch spirituelle Bedürfnisse. Deshalb wurde dieses Wort im Text oben in Klammern hinzugefügt.

In der Gegenwart sind es die Vereinten Nationen, deren Erklärungen für Menschen- und Kinderrechte maßgeblich sind. Allerdings hat es nach der ersten Kinderrechtserklärung von 1924 tatsächlich 65 Jahre gedauert, ehe die Vereinten Nationen im Jahre 1989 eine allgemeine Erklärung zu den Rechten von Kindern verabschiedet haben. Diese umfassende Erklärung gilt als Meilenstein in der Geschichte der Kinderrechte. Denn die Erklärung von 1989 lässt keinerlei Zweifel daran, dass Kinder ebenso anerkannt sein müssen wie die Erwachsenen und dass ihre Rechte genauso wichtig sind.

Dass diese Kinderrechtserklärung auch Kindern ein Recht auf spirituelle Entwicklung zuspricht, ist allerdings weithin unbekannt geblieben. Und das liegt erneut an einer problematischen Übersetzung. Denn auch in diesem Falle weicht die deutsche Übersetzung der Kinderrechtsrklärung genau dort von der englischen und französischen Fassung ab, wo es um die spirituellen Rechte des Kindes geht (Art. 27 Absatz 1). Wiederum wird das Wort »spirituell« mit »geistig« wiedergegeben, und so geht im Deutschen die religiöse Dimension verloren.

»Jedes Kind hat ein Recht auf seine Religion!«

Friedrich Schweitzer, evangelischer Religionspädagoge

Kinder und die »großen Fragen«

Dass Kinder ein Recht auf Religion haben, lässt sich am leichtesten an den »großen Fragen« ablesen, die sie gerne den Erwachsenen stellen. Die diesem Kapitel vorangestellten Fragen sind dafür das beste Beispiel: »Was passiert mit den Toten?« »Wie sieht Gott eigentlich aus?«

Engel von einem Kind gemalt

Daneben stellen Kinder auch Fragen, die sich auf den Sinn des Lebens und Zusammenlebens beziehen. Kindern wird zum Beispiel gerne erklärt, dass sie andere fair behandeln sollen, schon weil sie selber so behandelt werden wollen. Was aber, wenn dann ein Kind ganz zu Recht feststellt: »Aber die anderen sind doch auch unfair zu mir! Warum soll ich es nicht genauso machen?« Ganz rasch geht es dann um Überzeugungen und Hoffnungen – dass es in der Welt auch anders zugehen könnte, ohne Gewalt und Verletzungen, friedlich und respektvoll. Genau das ist gemeint, wenn es im bekanntesten christlichen Gebet – dem Vaterunser – heißt, Gottes Wille soll geschehen »wie im Himmel so auf Erden«.

Manche der großen Fragen von Kindern beziehen sich auch ganz direkt auf den Glauben: »Warum glauben manche Kinder an Allah und nicht an Gott?« »Warum sagen manche Kinder, dass sie an gar nichts glauben?« »Und warum glauben Christen an Jesus?« Je vielfältiger sich die religiöse und weltanschauliche Situation darstellt – gerade in der Kita –, desto mehr drängen sich den Kindern solche Fragen auf. Manchmal kommt es sogar zu richtigen Streitgesprächen darüber, wer da eigentlich Recht hat und welcher Gott der wahre Gott ist. Solche Fragen stellen Kinder natürlich nicht einfach nur von sich aus, sondern hier werden Einflüsse vor allem aus dem Elternhaus spürbar. Dann können Kinder etwa sagen, dass sie Recht haben, weil sie es so von Mutter oder Vater gehört haben – und »die wissen es ganz genau«.

Kinder haben, so wird am Beispiel ihrer großen Fragen deutlich, auch in religiöser Hinsicht Entwicklungs- und Orientierungsbedürfnisse. Deshalb brauchen sie eine religionspädagogische Begleitung.

Kinder brauchen eine religionspädagogische Begleitung

Auch wenn Kinder von sich aus transzendenzoffene Wesen sind, bedeutet das nicht, dass sie in dieser Hinsicht keine pädagogische Unterstützung brauchen. Erhalten sie keine Anregungen, wird die religiöse Dimension bei ihnen verkümmern. Das ist ähnlich wie mit der Musik. Alle Menschen sind offen für das Erleben von Musik, aber ob sich diese Offenheit zu eigenem Musizieren entwickeln kann, hängt von der Unterstützung ab, die ein Kind in seiner Umwelt findet.

Aus dem Recht des Kindes auf Religion folgt deshalb die Forderung, dass Kinder eine auch in religiöser Hinsicht anregungsreiche Umwelt finden.

Kinder brauchen Rituale

Als Rituale werden feste Handlungsabläufe bezeichnet, die sich wiederholen, manchmal sogar jeden Tag und zu einer ganz bestimmten Zeit. Viele Menschen haben zum Beispiel bestimmte Frühstücksrituale, und ihre Welt ist nicht in Ordnung, wenn sie diese nicht befolgen können. Ein Tag, der ohne die Tasse Tee oder Kaffee beginnen muss, ist irgendwie kein richtiger Tag.

Kindern sind Rituale besonders wichtig, etwa beim Schlafengehen, das gar nicht richtig funktioniert, wenn etwas fehlt: die vorgelesene Geschichte, ein bestimmtes Buch, in das man gemeinsam hineinschaut, ein Licht, das unbedingt brennen muss, und natürlich das Kuscheltier sowie der Gute-Nacht-Kuss, dem auch ein kleines Nachtgebet vorangehen kann. Einschlafen ist nicht immer einfach. Rituale helfen da oft weiter.

Religion war in der ganzen Menschheitsgeschichte eine der wichtigsten Quellen für Rituale und kann es auch heute noch sein. Das gilt auch für die Kita, in der es viele Rituale gibt: am Beginn der Woche oder auch jeden Morgen etwa bei einem Morgenkreis oder vor dem Essen, vor allem aber bei den großen Festen. Häufig spielt dabei Religion eine wichtige Rolle. Was wäre der Advent ohne den Adventskranz? Weihnachten ohne Weihnachtsbaum? Ramadan ohne Fastenbrechen?

Doch machen Kinder auch noch ganz andere Erfahrungen, bei denen die Bedeutung von Religion hervortritt.

Kinderängste, Vertrauen und Trost

Alle Kinder haben manchmal Angst. Das ist gut so. Denn auch das Leben von Kindern ist nicht immer ungefährlich. Angst warnt vor Gefahren – beim Überqueren von Straßen oder beim zu hoch auf den Baum Klettern. Wer keine Angst kennt, lebt gefährlich.

Zu viel Angst aber wirkt lähmend. Kinder, die sich ständig fürchten, können die Welt nicht entdecken. Es gibt sogar krankhafte Kinderängste, die dazu führen, dass Kinder sich mehr und mehr zurückziehen und sich nicht gesund entwickeln können.

Schon Erik H. Erikson, ein berühmter Vertreter der Kinderpsychologie, spricht davon, dass Kinder ein »Grundvertrauen« ausbilden müssen und dass sie ohne ein solches Vertrauen krank werden und verkümmern. Heute wird viel über die sogenannte Resilienz diskutiert: Es gilt als eine entscheidende Aufgabe, Kinder widerstandsfähig (resilient) zu machen, auch gegen negative Erfahrungen.

Natürlich sind Eltern und andere Erziehungspersonen für Kinder in dieser Hinsicht besonders wichtig. Das gilt allerdings nur, wenn sich diese Menschen als vertrauenswürdig erweisen, was nicht immer der Fall ist. Viele Kinder machen leider gegenteilige Erfahrungen. Eltern, die ihre Kinder schützen und bewahren wollen, wissen auch um die Grenzen ihrer Einflussmöglichkeiten. »Du brauchst keine Angst zu haben!« Wie schön wäre es, wenn das immer zutreffen würde. In Zeiten des Krieges ist besonders deutlich, dass ein solches tröstendes Wort wie ein ungedeckter Scheck sein kann – leider.

Religion und religiöse Erziehung tragen ebenfalls zur Widerstandskraft des Kindes bei. Schon Emmy E. Werner, die als erste die Voraussetzungen für die Ausbildung von Resilienz bei Kindern erforscht hat, beschreibt das sehr eindrücklich. Gerade bei Krisen sind Kinder, die religiös erzogen werden, deutlich im Vorteil. Sie finden Trost bei einem Gott, an den sie sich mit allen Ängsten wenden können.

»Kinder nicht um Gott betrügen!«

Albert Biesinger, katholischer Religionspädagoge

Keine Pflicht, religiös zu sein