Das Bildungserbe der Reformation - Friedrich Schweitzer - E-Book

Das Bildungserbe der Reformation E-Book

Friedrich Schweitzer

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Beschreibung

Klärung und Orientierung zum Bildungsverständnis in der evangelischen Kirche

Die Reformation war nicht zuletzt auch eine Bildungsbewegung, und gerne betont die Evangelische Kirche darum ihr Bildungserbe. Aber: Hat dieses Bildungserbe angesichts heutiger Herausforderungen in der Praxis überhaupt eine Orientierungsfunktion?
Friedrich Schweitzer beschreibt die geschichtliche Entwicklung und die neuzeitliche Wirkungsgeschichte des Bildungsverständnisses im Protestantismus. Er benennt die zentralen Herausforderungen, vor die es sich im 21. Jahrhundert gestellt sieht und zeigt, wie das protestantische Bildungsverständnis neu gefasst und für die pädagogische und religionspädagogische Praxis heute fruchtbar gemacht werden kann.

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Friedrich Schweitzer

Das Bildungserbe

der Reformation

Bleibender Gehalt

Herausforderungen

Zukunftsperspektiven

Gütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2016 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-19962-3V001

www.gtvh.de

Inhalt

Zur Einleitung: Herausforderungen – neue Chancen – Zukunftsperspektiven

1. Reformatorisches Bildungserbe: Geschichtliche Ausgangspunkte, Gehalt und offene Fragen

1.1 Martin Luther und die Geschichte der Bildung: Historische Vergewisserung

1.2 Was das reformatorische Bildungserbe ausmacht: Der bleibende Gehalt

1.3 Bildung heute und die evangelische Tradition: Rezeptionsmöglichkeiten und offene Fragen

2. Bildung als Markenzeichen des neuzeitlichen Protestantismus: Wirkungsgeschichte, Selbstverständnis und Transformationen

2.1 Fragen einer Wirkungsgeschichte

2.2 Institutionelle Entwicklungen: Vielfalt der Bildungsangebote im Protestantismus

2.3 Bildung, Wissenschaft und Kultur

2.4 Der Protestantismus als »Bildungsreligion«?

2.5 Aufklärung und Moderne, Staat und Kirche: Veränderte Parameter eines protestan-tischen Bildungsverständnisses

3. Herausforderungen der Gegenwart

3.1 Demographie: weniger, älter – und die Folgen

3.2 Pluralisierung und Privatisierung von Religion und Weltanschauung

3.3 Säkulares Bildungsverständnis – Religion als Störung des gesellschaftlichen Friedens

3.4 Wertebegründung ohne Religion

3.5 Evangelische Bildungsangebote zwischen Eigenprofil und gesellschaftlichem Wandel

3.6 Misslingende Kommunikation christlicher Glaubensinhalte

4. Zur Neufassung des evangelischen Bildungsverständnisses: Zukunftsperspektiven

4.1 Würde des Menschen – Bildung für alle: ein transformatives Menschenbild als Kern

4.2 Bildung und Religion: Glaube und Wissen versöhnen

4.3 Dialogisches Ethos: Ökumene, Interreligiosität, Konfessionslosigkeit

4.4 Neuer gesellschaftlicher Bedarf an religiöser Bildung: Interreligiöse Kompetenz und berufliche Handlungsfähigkeit

4.5 Sinn, Verantwortung und Lebenskunst: Gelingendes Leben als Bildungshorizont

4.6 Kirche: Mündiges Christsein in Gemeinschaft

4.7 Das staatliche Bildungswesen mitverantworten und mitgestalten

4.8 Bildung in der Zivilgesellschaft: Mehr als nur Schule!

4.9 Anforderungen an kirchliches und staatliches Bildungshandeln

5. Das reformatorische Bildungserbe erneuern: 20 Thesen

5.1 Das reformatorische Bildungserbe erschließen

5.2 Aktuelle Herausforderungen erkennen

5.3 Das reformatorische Bildungserbe neu auslegen und aktualisieren

Anmerkungen

Register

Zur Einleitung: Herausforderungen – neue Chancen – Zukunftsperspektiven

Schon der Begriff provoziert: »Bildungserbe« – kann man Bildung erben?

Der Begriff soll auch provozieren – zu eigenem Nachdenken und zu Klärungsprozessen, die gerade in unserer Gegenwart in neuer Weise dringlich sind.

Denn während der Protestantismus sich anschickt, seine 500-jährige Geschichte zu feiern, steht er zugleich vor tiefgreifenden Umbrüchen, die nicht zuletzt im Bildungsbereich vor Augen treten. Ist der Protestantismus noch in dem Sinne eine Bildungsreligion, dass hier auch Gebildete Antworten auf ihre Fragen finden? Oder ist er eine Religion nur (noch) für Gebildete? Hängt die Zukunft des Protestantismus auch daran, dass das reformatorische Bildungserbe tatsächlich angetreten wird? Und welche Rolle kann und soll dieses Erbe über die Grenzen der Kirche hinaus heute noch spielen?

Solche Fragen deuten an, worum es in diesem Band gehen soll, aber auch, was von Anfang an ausgeschlossen sein muss. Gerade der gegenwärtige Horizont des Reformationsjubiläums fordert zu einer solchen Klärung heraus:

• Berufungen auf ein »Erbe« tendieren häufig zu folgenlosen Selbstdarstellungen. Betont werden die eigenen Leistungen oder zumindest die eigene Leistungsfähigkeit, aber es stellt sich dann doch bald heraus, dass die damit verbundenen Ansprüche nicht eingelöst werden. Dem entspricht es, dass Selbstdarstellungen dazu neigen, sich selbst feiern zu wollen, und dass die Tradition, der man sich zugehörig fühlt, überhöht und verklärt wird. Schwierige Fragen oder Defizite hingegen werden tunlichst ausgeblendet, können dann aber auch nicht mehr bearbeitet werden.• Nicht weniger problematisch sind Besitzansprüche, die bei solchen Gelegenheiten gerne angemeldet werden. Wie von katholischer Seite mitunter festgestellt, liegen solche Ansprüche gerade beim Bildungsthema nahe. Spätestens dort, wo die Rede von einem reformatorischen Bildungserbe so verstanden wird, als wäre Bildung allein mit dem Protestantismus verbunden, fühlen sich andere Konfessionen und inzwischen auch andere Religionen gleichsam um ihr Erbe gebracht.• Ob geistiges Eigentum sich überhaupt vererben lässt, kann zudem grundsätzlich in Zweifel gezogen werden. Darüber hinaus legt die Bezeichnung von Traditionen als Erbe die Beschwörungsbefürchtung besonders nahe. Deshalb gilt: Ob und wo es vielleicht etwas zu erben gibt, muss kritisch geprüft werden. Nicht jedes Erbe ist auch zukunftsfähig, und vor allem gehört ein Bildungserbe niemand allein.

Nur wo solche Probleme nicht übergangen werden, kann auch die Frage nach neuen Chancen einleuchten, die sich mit einem bestimmten Bildungserbe verbinden. Dabei wird deutlich, dass auch diese Chancen beträchtlich sind und dass es sich lohnt, nach Möglichkeiten der Erneuerung zu fragen:

• Für die Bildungsdiskussion der Gegenwart gilt weithin, dass historische Voraussetzungen und Zusammenhänge kaum mehr eine Rolle spielen. Bildung wird einerseits empirisch, nämlich in der Perspektive der erziehungswissenschaftlichen Bildungsforschung begriffen und andererseits als Zukunftsaufgabe von gesellschaftlichen Anforderungen her bestimmt. Beides ist notwendig, reicht aber allein nicht zu, eben weil auf diese Weise die weiterreichenden Voraussetzungen gelingender Bildungsprozesse nicht in den Blick kommen. Insofern bietet die Frage nach dem reformatorischen Bildungserbe die exemplarische Chance, vergessene Zusammenhänge neu ins Bewusstsein zu rufen. Das gilt nicht zuletzt auch für die Erziehungswissenschaft, die viel stärker von weit zurückreichenden Traditionen lebt, als ihr heute in der Regel bewusst ist. • Für die evangelische Kirche spielen Bildungsaufgaben eine wichtige Rolle. Zugleich zeichnen sich jedoch gegenläufige Tendenzen ab: Vor allem demographische Veränderungen können dazu führen, dass die Kirche ihre Arbeit in Zukunft stärker auf ältere Menschen konzentrieren wird, während Bildungsfragen in erster Linie mit Kindern und Jugendlichen assoziiert werden. Durch den Religionswandel der Gegenwart treten andere Herausforderungen etwa der Kirchenbindung angesichts hoher Austrittszahlen in den Vordergrund. So gesehen verbindet sich mit dem Bildungsthema auch die Perspektive einer Selbstklärung im Blick auf die Zukunft: Welche Rolle soll Bildung für die Kirche spielen? • In einer zunehmend multireligiösen Gesellschaft kann der Bezug eines für die gesamte Gesellschaft maßgeblichen Bildungsverständnisses auf eine bestimmte religiöse Tradition immer weniger einleuchten. Religion wird auch in dieser Hinsicht zunehmend als Privatangelegenheit behandelt. Welche Gründe könnten dafür sprechen, gerade im Blick auf die Multireligiosität von einer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des reformatorischen Bildungserbes auszugehen?

In allen diesen Hinsichten muss also immer auch kritisch geprüft werden, was es zu erben gibt und ob ein Erbe überhaupt angetreten werden soll. Positiv ausgedrückt, geht es um die Aufgabe einer kritischen Selbstprüfung als Grundlage für zukunftsfähige Weiterentwicklungen. Insofern verweisen Traditionsorientierung auf der einen und die kritische Auseinandersetzung mit der Tradition im Dienste der Erneuerung auf der anderen Seite konstitutiv aufeinander. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Nur wenn eine Erneuerung erreicht wird, kann ein Erbe erfolgreich angetreten werden.

Deshalb müssen im Folgenden mehrere Interessen oder Ziele zugleich maßgeblich sein. So geht es durchaus um das Motiv einer Vergewisserung im Blick auf den Zusammenhang von Bildung, Reformation und Protestantismus: Worin besteht dieser Zusammenhang? Aber es muss eben auch darum gehen, welche Bedeutung Bildungsaufgaben für die Zukunft des Protestantismus haben und welche Schritte für eine Erneuerung des evangelischen Bildungsverständnisses erforderlich sind.

Ebenso muss das Motiv der Vergewisserung bewusst überschritten werden, wenn es um die gesellschaftliche Bedeutung des protestantischen Bildungsverständnisses gehen soll. Der Verweis auf die Tradition allein führt hier nicht weiter. Vielmehr stellt sich die Frage, was ein protestantisches Bildungsverständnis heute noch für die Gesellschaft austragen kann. Diese Frage zwingt erneut dazu, jede konfessionelle Verengung hinter sich zu lassen. Antworten werden hier nur überzeugen, wenn sie auch für andere Konfessionen und Religionen plausibel sind.

In dieser Zuspitzung wird erkennbar, dass überzeugende Perspektiven sich nur entwickeln lassen, wenn das Motiv der Reformation selbst fortgeschrieben wird. Dazu ist das Bildungserbe nicht nur kritisch und selbstkritisch zu betrachten, sondern die in diesem Erbe anzutreffende Ausrichtung auf eine Erneuerung muss auch für Gegenwart und Zukunft zum Tragen gebracht werden. Reformation bedeutet ja genau dies: eine Erneuerung für die Zukunft – durch Rückkehr zu dem, was aus dem Blick geraten ist.

Als 500 Jahre zurückreichende Größe stellt der Protestantismus dabei vor die Schwierigkeit, dass sich ein so langer Zeitraum in einer begrenzten und bewusst überschaubar gehaltenen Darstellung kaum im Einzelnen aufnehmen lässt. Erforderlich sind stattdessen Auswahl und Konzentration auf Wesentliches, woraus sich freilich nicht nur Nachteile, sondern auch besondere Chancen ergeben. Grundlegende Klärungen erwachsen oft weniger aus den Details als aus einer Betrachtung, die ohne eine gewisse Abstraktion von Einzelheiten nicht möglich ist.

Wie schon in dieser Einleitung erkennbar wird, kommen mehrere, sich teils überschneidende Begriffe und Bezeichnungen ins Spiel, wenn das reformatorische Bildungserbe in seiner geschichtlichen Entfaltung in den Blick genommen werden soll. Als »reformatorisch« werden im Folgenden ebenso die Entwicklungen im 16. Jahrhundert wie auch die davon ausgehenden und insofern weiterwirkenden Impulse angesprochen. Beim »Protestantismus« hingegen geht es um die sich erst in nach-reformatorischer Zeit herausbildende Gestalt des evangelischen oder eben protestantischen Christentums, zu dem über die Kirche hinaus auch gesellschaftliche und kulturelle Ausformungen gehören. Der Begriff »evangelisch« schließlich verweist auf ein bestimmtes Bekenntnis und also eine Konfession im Unterschied zu anderen christlichen Konfessionen (römisch-katholisch, orthodox usw.).

Durchweg erweist es sich dabei als hilfreich und notwendig, eine Verengung aufzulösen, von der fast die gesamte Beschäftigung mit der protestantischen Bildungstradition bis heute geprägt ist. Immer wieder wird bei Bildung nur an die Schule gedacht. Ein solches eingeschränktes Verständnis wird aber dem heute maßgeblichen Stand der Bildungsdiskussion schon lange nicht mehr gerecht. Bildung beginnt vielmehr mit dem Anfang des Lebens, und sie muss als ein lebenslanger Prozess verstanden werden. Mit dieser Einsicht lässt sich auch eine neue und angemessenere Perspektive gerade auf die protestantische Bildungstradition gewinnen. Denn dazu gehören neben Schule und Religionsunterricht auch zahlreiche Bildungsmöglichkeiten in Gemeinde und Gesellschaft sowie und nicht zuletzt die individuelle Selbstbildung.

Beim Bildungsthema geht es nie allein um Theorie, sondern immer auch um die Praxis. Kritische Selbstprüfung und Erneuerung sind keine allein akademische Angelegenheit. Für die Praxis führen sie zu der Frage nach sinnvoller Kontinuität und notwendigen Veränderungen. Im Blick auf die anzustrebende Erneuerung des evangelischen Bildungsverständnisses im Interesse seiner Zukunftsfähigkeit muss sich deshalb zeigen, was dies für die Praxis bedeutet.

Schließlich noch ein Hinweis zur Einordnung des vorliegenden Bandes. Zum einen stellt das Buch eine Weiterführung meiner eigenen Arbeiten zum Bildungsthema dar, die nun auf die Frage zum reformatorischen Bildungserbe zugespitzt werden.1 Zum anderen berührt sich meine Darstellung mit verwandten, vor allem von Karl Ernst Nipkow und Reiner Preul unternommenen Versuchen, eine zeitgemäße »evangelische Bildungstheorie« zu entwickeln.2 Im Unterschied zu diesen Veröffentlichungen soll im Folgenden mit der Frage nach dem Bildungserbe auch über die geschichtlichen Ausgangspunkte sowie deren Wirkungen in nach-reformatorischer Zeit informiert werden.

Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch sagen, wie die Teile des Buches angelegt sind und welchen Aufgaben sie jeweils dienen. Im ersten Teil geht es um eine grundsätzliche Klärung, wie Reformation und Bildung miteinander zusammenhängen. Der zweite Teil ist auf die Wirkungsgeschichte dieses in der Reformation begründeten Zusammenhangs bezogen, indem in exemplarischer Weise seinen neuzeitlichen Transformationen nachgegangen wird. Mit dem dritten Teil tritt die Gegenwart in den Vordergrund, bewusst zunächst in einer möglichst ungeschminkten Darstellung von Herausforderungen, mit denen ein protestantisches Bildungsverständnis heute zu rechnen hat. Diese Herausforderungen – so die Argumentation im vierten Teil – sollen zum Anlass dazu genommen werden, Anforderungen und Perspektiven für die Zukunft zu formulieren und Konsequenzen für Theorie und Praxis aufzuzeigen. Die Thesen am Schluss des Buches bieten noch einmal eine konzentrierte Darstellung solcher Konsequenzen im Blick auf die Zukunft.

Um der Lesbarkeit willen wurden die Literaturhinweise stark eingeschränkt. In den Anmerkungen am Ende des Buches werden alle zitierten Veröffentlichungen für jeden Buchteil zunächst vollständig wiedergegeben, danach nur noch mit Kurztiteln, die darauf zurückverweisen.

Dank

Viele der Überlegungen und Argumente, die in dieses Buch eingeflossen sind, konnte ich mit sehr unterschiedlichen Gruppen sowie bei diversen Veranstaltungen in Religionspädagogischen Instituten, Evangelischen Akademien sowie allgemein bei Fortbildungsveranstaltungen für Lehrerinnen und Lehrer, Pfarrerinnen und Pfarrer oder der Erwachsenenbildung zur Diskussion stellen. Besonders zu nennen ist auch die Bildungskammer der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der ich viele Anregungen verdanke. In wissenschaftlicher Hinsicht spielte in der Zeit, in der dieses Buch entstanden ist, die parallele Arbeit an einem gemeinsamen Buchprojekt mit Richard R. Osmer (Princeton/USA) und Hyun-Sook Kim (Yonsei Universität/Korea) eine wichtige Rolle. Weitere hilfreiche Anregungen kamen wieder aus dem Tübinger religionspädagogischen Kolloquium, in dem besonders die Schlussthesen vorgestellt und diskutiert wurden. Erste Leserinnen waren meine studentischen Mitarbeiterinnen Rebecca Fuder und Kathleen Galle. Dem Verlag und besonders Diederich Steen als Lektor danke ich für die bewährt gute Betreuung!

Tübingen, im Frühjahr 2016

Friedrich Schweitzer

1. Reformatorisches Bildungserbe: Geschichtliche Ausgangspunkte, Gehalt und offene Fragen

Die drei Kapitel in diesem Teil des Buches sollen eine Einführung in das reformatorische Bildungsdenken bieten. Dazu werden verschiedene Betrachtungsweisen gewählt, die eine Annäherung in drei Schritten ermöglichen: Zunächst wird nach der Stellung und Bedeutung Martin Luthers in der Geschichte der Bildung gefragt und damit nach dem weiteren Horizont der Einordnung. Sodann soll das reformatorische Bildungsdenken als »Bildungserbe« genauer entfaltet und im Überblick so dargestellt werden, dass sein sachlicher Gehalt und damit auch seine bleibende Bedeutung vor Augen treten können. Mit dem dritten Schritt dreht sich die Perspektive dann insofern um, als das reformatorische Bildungsdenken daraufhin befragt wird, wie es von unserer Gegenwart her wahrgenommen werden kann. Vor allem in diesem letzten Teilkapitel können auf diese Weise auch offene Fragen aufgezeigt werden, von deren Beantwortung eine mögliche Rezeption aus heutiger Sicht abhängig ist.

Das reformatorische Bildungsdenken und deshalb auch das reformatorische Bildungserbe können nicht auf Luther beschränkt werden. Stärker als in der Vergangenheit wird heute schon für die reformatorischen Entwicklungen in Wittenberg insbesondere auch die Bedeutung Philipp Melanchthons wahrgenommen. Dazu kommt, vor allem im internationalen Horizont, die von Jean Calvin ausgehende reformierte Bildungstradition. Soweit sich die Darstellung im Folgenden, vor allem in diesem ersten Teil, gleichwohl auf Luther konzentriert, ist dies deshalb in einem exem-plarischen Sinne zu verstehen. Immer wieder wird auch auf andere Reformatoren hinzuweisen sein, deren Bildungsverständnis freilich in aller Regel nicht im Gegensatz zu Luthers Auffassungen steht, sondern dieses Verständnis voraussetzt und weiterentwickelt.

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Bildungsbegriff selbst für Luther oder für andere Reformatoren im 16. Jahrhundert keine hervorgehobene Rolle spielte. Damals sprach man in der Regel von Erziehung und Unterricht oder Unterweisung, häufig auch mit den lateinischen Begriffen. Aus Gründen, die im Folgenden genauer erläutert werden, ist es aber durchaus sachgemäß, das reformatorisch-pädagogische Denken zumindest aus heutiger Sicht der Geschichte der Bildung zuzuordnen.

1.1 Martin Luther und die Geschichte der Bildung: Historische Vergewisserung

Die Frage nach Luthers Bedeutung für die Bildungsgeschichte in Deutschland und Europa trifft heute auf unterschiedliche Einschätzungen. Einerseits ist sich etwa die Erziehungswissenschaft der Bedeutung der Reformation für die Bildungsgeschichte und speziell für die Geschichte der Schule durchaus bewusst. Andererseits spielt dieses Bewusstsein gerade in der Gegenwart doch weithin eine deutlich untergeordnete Rolle. Das ergibt sich aus dem fast allgemein bestimmenden Selbstverständnis der Pädagogik oder Erziehungswissenschaft als Kind von Moderne und Aufklärung.

Eine sich entschieden als modern verstehende Pädagogik tut sich notwendigerweise schwer mit allem, was als »vormodern« und daher als eher abständig denn als »prägendes Erbe« empfunden wird.1 Das pädagogische Interesse an Luther hat entsprechend nachgelassen. So wurden seine pädagogischen Schriften in früherer Zeit noch mehrfach in großem Umfang dokumentiert und neu herausgegeben.2 Heute hingegen finden sich keine entsprechenden Ausgaben mehr. In der lange Zeit stark beachteten Auswahl der »Klassiker der Pädagogik« von Hans Scheuerl fehlt Luther ganz.3 Neuere Bildungs- und Erziehungsgeschichten würdigen zwar die Bedeutung der Reformation für die Bildungsgeschichte, aber im Vergleich zu früheren Darstellungen fällt vor allem auf, wie zurückhaltend dies geschieht.4 Und auch die derzeit neueste, von Heinz-Elmar Tenorth herausgegebene Darstellung zu pädagogischen Klassikern kommt im Blick auf die Reformation mit knappen vier Seiten zu Melanchthon und zu dem Straßburger reformatorischen Pädagogen Johannes Sturm aus.5 Fanden ältere Interpreten noch eine, wenn nicht sogar die tragende Wurzel des Volksbildungsdenkens im Sinne eines allgemeinen Schulbesuchs bei Luther und der mit seinem Namen verbundenen Reformation6, so fällt das heutige Urteil weit skeptischer aus und werden vor allem die Unterschiede zwischen den (Volks-)Schulen der Reformationszeit und denen des modernen Bildungswesens akzentuiert.7 Neuerdings ist sogar davon die Rede, dass die Reformation eine »Bildungskatastrophe« herbeigeführt habe.8

Gleichwohl ist schwerlich zu bezweifeln, dass Luther und die Reformation als zentrales bildungsgeschichtliches Ereignis anzusehen sind – mit Folgen, die bis heute spürbar sind oder jetzt überhaupt erst bewusst werden. Dabei ist nicht nur an die etwa in der Bildungsreformdiskussion der 1960er Jahre gerne hervorgehobene Kunstfigur des bildungsfernen katholischen Mädchens auf dem Lande zu denken, die umgekehrt eine bis vor wenigen Jahrzehnten anhaltende Nähe zwischen Protestantismus und Bildung belegt. Weit bedeutsamer sind die allgemein kulturgeschichtlichen Zusammenhänge. Das gilt etwa für die Wirkung von Luthers Bibelübersetzung und für die Entwicklung der deutschen Sprache: »Ohne die Bibel, Luthers Bibel, gäbe es keine deutsche Literatur, die ohne sie unbegreiflich bleibt«, lautet das Urteil des Germanisten Walther Killy9. Luthers Lieder (»Ein feste Burg ...«) haben musikalisch wie politisch, mentalitätsgeschichtlich wie pädagogisch eine eigene Wirkungsgeschichte entfaltet. Die Reformation der Kirche ist nicht zu trennen von der Entwicklung der Gesellschaft, die durch die theologisch begründete, aber weit über Theologie und Kirche hinaus wirksame veränderte Stellung des Individuums auf Dauer beeinflusst wurde. Besonders in der Bildungsgeschichte stehen Luther und die Reformation für einen »Modernisierungsschub«10, der für die weitere kulturelle und pädagogische Entwicklung höchst folgenreich werden sollte.

Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Wirkungsgeschichte der Reformation im Blick auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Pädagogik in Deutschland. Wie noch deutlich werden soll, ist diese Entwicklung in vielen Fällen stark protestantisch geprägt, wofür exemplarisch die Namen Johann Amos Comenius, August Hermann Francke, Christian Gotthilf Salzmann, Johann Gottfried Herder und Friedrich Schleiermacher stehen können. Insofern kann die von dem Erziehungswissenschaftler Fritz Osterwalder formulierte Behauptung einer »Geburt der deutschsprachigen Pädagogik aus dem Geist des evangelischen Dogmas«11 nicht überraschen, auch wenn sie korrekturbedürftig bleibt. Ein »evangelisches Dogma« hat es nie gegeben – lehramtliche Dogmen gehören in die Tradition des Katholizismus. Berechtigt bleibt jedoch der Hinweis auf die enge und engste Verbindung zwischen Erziehungswissenschaft und Protestantismus in Deutschland, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu erkennen ist.

Im Folgenden sollen vier Zusammenhänge beleuchtet werden, die eine erste Zuordnung Luthers zur Geschichte der Bildung ermöglichen: die Frage der allgemeinen (Volks-)Bildung sowie einer entsprechenden Reform für Schule und Bildung, die davon nicht abzulösende Forderung einer religiösen Bildung für alle, die Geschichte der Kindheit sowie Impulse für die pädagogisch-wissenschaftliche Reflexion.

Perspektiven der Reform für Schule und Bildung

Luther verstand sich als Theologe, und seine Haupttätigkeit ist dem Gebiet der Theologie zuzuordnen. Zu Luthers Werk gehören jedoch auch mehrere Veröffentlichungen, die heute als Schulschriften bezeichnet werden, weil Luther sich darin mit Fragen der Schule, der Schulreform und des Schulbesuchs befasst.12 Die Lektüre dieser Schriften, in denen er dem Adel und den Ratsherren, aber auch den – wie er immer wieder formuliert – auf den »Bauch« bedachten Eltern die Notwendigkeit von Bildung und Schulbesuch einschärft, bietet modernen Leserinnen und Lesern mancherlei Überraschung. Vieles, was gemeinhin erst in späterer – moderner – Zeit erwartet wird, findet sich hier in Form erster, aber doch zukunftsweisender Perspektiven für Schule und Bildung.

Der Impuls, sich Fragen von Bildung und Schule zuzuwenden, geht für Luther von praktisch erfahrenen Missständen aus. In den ersten Jahren ihrer Wirksamkeit hatte die Reformation das Bildungswesen faktisch keineswegs gestärkt. Verantwortlich dafür waren nicht etwa grundsätzlich gegen Schule und Bildung gerichtete Zielsetzungen – schon früh hatte Luther vielmehr die Bedeutung von Schule und Bildung aus reformatorischer Sicht eigens hervorgehoben, sich allerdings auch sehr kritisch zum damaligen Schul- und Bildungswesen geäußert. Einen deutlichen Abbau von Bildungsmöglichkeiten und konkret die Schließung von Schulen brachte vor allem die mit der Reformation verbundene Auflösung von Klöstern mit sich. Denn die Klöster waren für die damalige Zeit sehr bedeutsame Schulträger gewesen. Dazu kamen noch die veränderten, wie es zunächst scheinen wollte: deutlich schlechteren Berufsaussichten für den Klerus, dessen bisherige Stellung die Reformation nachhaltig in Frage stellte. Folge war dann, dass Bildung und Schule gerade dort einen Niedergang erfuhren, wo die Reformation zum Tragen kam. Insofern musste sich Luther beim Thema Bildung und Schule zunächst mit ungewollten Nebenfolgen seiner eigenen Reformanliegen auseinandersetzen. Zugleich spielte allerdings auch die kritische Einschätzung der Schulen, wie sie die Reformatoren vorfanden, eine Rolle. Die entsprechende reformatorische Schulkritik begünstigte den Niedergang des damals ohnehin nicht allzu breit ausgebauten Schulwesens noch weiter. Dieser Effekt ist gemeint, wenn heute die negativen Folgen der Reformation für das Schul- und Bildungswesen als »Bildungskatastrophe« bezeichnet werden.13 Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass ein Abbau von Bildungsmöglichkeiten zugleich den Grundintentionen der Reformation widersprach.

Die unmittelbar vor Augen tretenden Missstände waren keineswegs das einzige Motiv, das Luther zu einer Befassung mit Schulfragen motivierte. Abzulesen ist dies schon daran, dass die Reform des Bildungswesens bereits in der Adelsschrift von 1520 und also zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt in der Geschichte der Reformation an prominenter Stelle angeführt wird: »Vor allen Dingen sollte in den hohen und niederen Schulen die heilige Schrift die wichtigste und allgemeinste Lektüre sein, und für die jungen Knaben das Evangelium.«14 Und obwohl die Knaben an erster Stelle genannt werden, bedeutet dies keineswegs – wie später oft fälschlich angenommen wurde –, dass die Mädchen damals ausgeschlossen gewesen wären. Denn Luther fährt fort: »Und wollte Gott, jede Stadt hätte auch eine Mädchenschule, in der die Mädchen täglich eine Stunde das Evangelium hörten, es wäre deutsch oder lateinisch!«15 Auch wenn die Forderung nach einem allgemeinen Schulbesuch abgestuft bleibt, richtet sie sich doch auf alle Kinder, unabhängig vom Geschlecht. Tatsächlich gehört Luthers Adelsschrift damit zu den frühesten Dokumenten, in denen ein allgemeiner Schulbesuch gefordert wird.

Für Luther bestand ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen Kirchenreform und Bildungsreform. Eine Reform der Kirche war faktisch ohne eine Bildungsreform nicht zu erreichen – und umgekehrt. Dabei spielt die Predigt in deutscher Sprache, die für das reformatorische Gottesdienstverständnis im Vordergrund stand, eine entscheidende Rolle. Dafür braucht man Menschen, die eine solche Predigt schreiben und halten können, also gebildete Pfarrer (und heute auch Pfarrerinnen); man braucht aber auch Menschen, die einer solchen Rede konzentriert zu folgen vermögen. Der Gottesdienst wird damit zu einem entscheidenden Motiv für Bildung, und zugleich kann er selbst als Medium der Bildung wirksam werden.

Wie ernst dies für Luther zu nehmen war, ist beispielsweise seiner kleinen Schrift »Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift« von 1523 zu entnehmen.16 Dort heißt es: Christus »nimmt den Bischöfen, Gelehrten und Konzilien sowohl das Recht wie die Vollmacht, über die Lehre zu urteilen, und gibt sie jedermann und allen Christen insgemein«17. »Bischof, Papst, Gelehrte und jeder hat die Vollmacht zu lehren, aber die Schafe sollen urteilen.«18 Hier wird deutlich, dass es ein verändertes Kirchenverständnis im Sinne des Priestertums aller Gläubigen ist, das hinter der zu fördernden Urteilsfähigkeit steht.19 Die Forderung nach Bildung ist tief im reformatorischen Kirchenverständnis verankert. Theologische und pädagogische Argumente greifen dabei unmittelbar ineinander.

So ist es nur konsequent, wenn Luther sich für die Einrichtung und Unterhaltung von Schulen einsetzt, die speziell der Bildung der zukünftigen Pfarrer sowie allgemein der Kirche und ihrer Verkündigung dienen sollen: Schul- und Bildungsreform im Dienste von Glaube und Kirche. Neben dieser geistlichen steht bei Luther aber stets die nicht weniger bedeutsame weltliche Begründung der Notwendigkeit von Schule. In heutiger Terminologie gesprochen, argumentiert Luther dabei im Sinne einer gesellschaftlich-funktionalen Theorie: Schule sei erforderlich zur Aufrechterhaltung weltlicher Ordnung. Herrschen sollen Friede und Gerechtigkeit (pax et iustitia), nicht mehr »Faust und Harnisch«, wie es der mittelalterlichen Fehdeordnung entsprach: »es müssen die Köpfe und Bücher tun. Es muss gelernt und gewusst werden, was unseres weltlichen Reiches Recht und Weisheit ist.«20 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass damit eine deutliche Anhebung des gesellschaftlichen Bildungsniveaus gefordert wurde. Die Bildung nicht nur von Eliten, sondern aller Menschen und insofern Bildung auch für das »gemeine Volk« sind ein Grundanliegen der Reformation.

Die beiden wichtigsten Dokumente im Blick auf Luthers Schulengagement sind die Ratsherrenschrift von 1524 und die Schulpredigt von 1530.21 In diesen Schriften wird die Schule nach beiden Seiten hin betrachtet und begründet – geistlich und weltlich –, wobei bereits diese Form der Darstellung inhaltlich bedeutsam ist:

• Zum einen beschreibt Luther den »geistlichen oder ewigen Nutzen und Schaden« von Schulen.22 An erster Stelle steht hier die Bildung für das Predigtamt. Pfarrer, Prediger oder Schulmeister, die dem Evangelium dienen, werden in den höchsten Tönen gerühmt – als »Engel Gottes«, »rechter Bischof vor Gott«, »Heiland vieler Leute«, »König und Fürsten in Christi Reich«.23 Bildung ist hier vor allem als sprachliche Bildung erforderlich, denn: »Wiewohl das Evangelium allein durch den heiligen Geist gekommen ist und täglich kommt, so ist es doch durch Vermittlung der Sprachen gekommen.« Deshalb folgert Luther: »So lieb uns nun das Evangelium ist, so streng lasst uns über die Sprachen wachen.«24 »Die Sprachen sind die Scheiden, in denen dies Messer des Geistes steckt.«25 Ohne Sprachkenntnisse gibt es keine Urteilsfähigkeit in religiösen Fragen. • Die zweite Argumentationsreihe Luthers bezieht sich dann komplementär auf den »zeitlichen oder weltlichen Nutzen und Schaden«26. Hinter Luthers Unterteilung steht leicht erkennbar seine Lehre von den beiden Reichen oder Regimenten. Während sich das geistliche Regiment auf den »geistlichen oder ewigen Nutzen und Schaden« bezieht, besteht die nun für den zweiten Argumentationsgang maßgebliche Aufgabe des weltlichen Regiments darin, »zeitlichen und vergänglichen Frieden, Recht und Leben« zu erhalten27. Auch darin sieht Luther eine »herrliche göttliche Ordnung«, nämlich so, dass das weltliche Regiment »aus wilden Tieren Menschen macht und Menschen davor bewahrt, dass sie wilde Tiere werden«28. Das weltliche Regiment ist also nicht einfach als säkular zu bezeichnen, sondern es soll, ebenso wie das geistliche, Gottes Willen entsprechen, allerdings auf andere Weise, nämlich durch Gesetz und Vernunft.

Bildung ist hier erforderlich, weil sich das weltliche Regiment nach dem römischen kaiserlichen Recht richten soll. Luther beschreibt damit den Übergang von einer mittelalterlichen Fehdeordnung zu einer auf geschriebenem Recht beruhenden Ordnung. Deshalb werden Juristen und Gelehrte benötigt, und auch sie können »Prophet, Priester, Engel und Heiland heißen«29.

Zumindest ansatzweise werden bei den Reformatoren aber auch genuin bildungstheoretische Begründungsformen sichtbar, die über eine bloß funktionale, von den Erfordernissen von Staat und Kirche hinausreichende Begründung von Schule und Bildung hinausführen. Am stärksten ausgeprägt sind solche Begründungsformen bei Melanchthon, dem Freund und Weggenossen Luthers.30 Denn stärker als Luther vertritt Melanchthon ein humanistisches Bildungsideal und betont den Eigenwert sprachlicher Bildung, auch ohne Rücksicht auf deren kirchlichen oder gesellschaftlichen Nutzen. Luther steht dem Humanismus zwar ebenfalls nahe und bedient sich dessen Erkenntnisse, folgt insgesamt jedoch nicht dem Anliegen einer humanistisch begründeten Eigenbedeutung von Bildung, die von allen möglichen Verwendungszwecken absieht. Allerdings finden sich auch bei Luther einzelne Formulierungen, in denen über die gesellschaftliche Funktion hinaus doch ein Eigenwert von Bildung aufscheint, auch wenn Luther sich bewusst ist, dass solche Argumente nicht auf breite Akzeptanz hoffen konnten. Auch ihm war bewusst: »Es müssen nicht alle Knaben Pfarrer, Prediger, Schulmeister werden.«31 Aber auch für diejenigen, die später ein Handwerk lernen oder als Bürger leben, seien Sprachkenntnisse nicht von Nachteil. Ein Gebildeter »kann sein Haus umso besser regieren«32. Oder: »Ich will hier davon schweigen, was für ein Vergnügen es ist, wenn ein Mann gelehrt ist, auch wenn er niemals ein Amt hätte, so dass er daheim für sich selbst allerlei lesen, mit gelehrten Leuten reden und umgehen, in fremden Landen reisen und Handel treiben kann. Denn was solches Vergnügen bereitet, bewegt vielleicht wenige Leute.«33

In diesem Zusammenhang kann sogar von einer geradezu demokratischen Tendenz in Luthers Bildungsdenken gesprochen werden, auch wenn eine demokratische Staatsform damals noch keineswegs im Blick war. Zumindest tendenziell wird das Regierungsamt in Luthers Schulschriften von der Legitimation durch adlige Geburt abgelöst. Es soll stattdessen an Voraussetzungen und Fähigkeiten gebunden sein, die durch Bildung erst erworben werden müssen: »Gott will‘s nicht haben, dass geborene Könige, Fürsten, Herren und Adel allein regieren sollen und Herren sein, er will auch seine Bettler dabei haben. Sie dächten sonst, die edle Geburt mache Herren und Regenten und nicht Gott alleine.«34

So ist die Reform von Kirche unauflöslich verbunden mit der Reform von Bildung und Schule, und aus der Kirchenreform erwächst ein nachhaltiger Impuls für einen Aufschwung des Bildungswesens, sowohl im Blick auf die Gelehrtenbildung besonders für Klerus und Staatswesen als auch in Bezug auf die Bildung des gemeinen Volkes.

Wer Luther und die Reformation als Ereignis der Bildungsgeschichte verstehen will, kann bei der Schule gleichwohl nicht stehenbleiben. Denn das Herz dieser Reformen schlägt zugleich und in gewisser Hinsicht noch mehr an anderer Stelle – bei dem neu- und wiederentdeckten persönlichen Glauben, der seinerseits die genannten Motive für Bildung gerade auch in deren weltlicher Gestalt freisetzt.

Neue Wege religiöser Bildung: Der Katechismus als elementare Form alltäglichen Lernens

Für Luthers Bemühungen um eine Erneuerung religiöser Bildung kann zunächst der Katechismus stehen. Dabei ist vor allem an den Kleinen Katechismus zu denken, der sich an Kinder und Jugendliche, aber auch an Erwachsene wendet. In heutiger Sicht gilt das Verhältnis zwischen Bildung und Katechismus allerdings eher als das einer wechselseitigen Ausschließlichkeit. Demnach gehen Bildung und Katechismus verschiedene Wege. Der Katechismus steht für das Auswendiglernen unverständlicher Inhalte – Bildung hingegen für ein Lernen mit Verstand. Doch verdankt sich dieses Negativurteil wohl weniger dem reformatorischen Anliegen als dessen späteren Folgen, die nicht immer im Sinne des Reformators ausfielen.

Worum geht es für Luther bei Katechismus und Katechismusunterricht? Auch hier steht am Anfang nicht einfach ein theologisches Programm, aus dem die religiöse Unterweisung abgeleitet würde. Den Beginn von Luthers katechetischer Arbeit markieren vielmehr Erfahrungen mit einer Wirklichkeit von Kirche und Gemeinde, wie sie bei Besuchen in Gemeinden gesammelt wurden – bei den sogenannten Visitationen, wie die mit einer Aufsichtsfunktion verbundenen Besuche (so die wörtliche Bedeutung von Visitation) bezeichnet wurden und noch immer bezeichnet werden. Um die religiöse Bildung stand es demnach schlecht, bei Gemeindegliedern ebenso wie bei einfachen Pfarrern. In Weiterführung mittelalterlicher Ansätze35 entwickelte Luther darum seine beiden Katechismen – den kleinen und den großen Katechismus – mit dem Ziel, in gleichsam elementarer Form das verfügbar zu machen, »was sie glauben, tun, lassen und wissen sollen im Christentum«36. Das Verstehen des Glaubens wird damit ausdrücklich zum Ziel der kirchlich-pädagogischen Arbeit erklärt.

ENDE DER LESEPROBE