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Brauchen Kinder Religion? Warum es so wichtig ist, mit Kindern über Gott zu sprechen
Kinder dürfen in ihren Fragen nach Gott und Glauben, nach Leben und Leiden, nach Sinn und Hoffnung nicht allein gelassen werden. Sie haben das Recht auf den Glauben als Quelle für Lebenskraft und Stärke – auch wenn Eltern mit ihren eigenen Unsicherheiten und Zweifeln zu kämpfen haben.
Diese Auffassung vertritt Friedrich Schweitzer in seinem Buch, das nun in einer erweiterten Neuausgabe erscheint. Vor dem Hintergrund aktueller Kontroversen erschließt der Autor sachkundig, warum Religion Wesentliches zur Selbstwerdung des Kindes beitragen kann. Dabei nimmt er die Probleme von Eltern und Erziehenden auf und zeigt, welche Chancen für die eigene religiöse Entwicklung darin stecken. Mit praktischen Hilfen für eine authentische und bereichernde Praxis der religiösen Erziehung in Familie, Hort und Kindergarten.
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Seitenzahl: 282
Friedrich Schweitzer, geb. 1954, Master of Theology, Dr. rer. soc., Professor für Praktische Theologie/Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, ist Autor immer wieder aufgelegter Veröffentlichungen zu Fragen der religiösen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Für Mirjam, Paul und Emily,meine inzwischen erwachsenen Kinder,von denen ich viel gelernt habeund noch immer lernen darf,und für die Kinder,die ihnen dafür vielleichtdankbar sind!
Warum dieses Buch?
In diesem Buch wird die Auffassung vertreten, dass Kinder ein Recht auf Religion und auf religiöse Erziehung besitzen. Für manche Eltern und Erzieherinnen oder Pädagogen mag dies ganz selbstverständlich sein. Doch gibt es heute gleich eine ganze Reihe von Gründen dafür, die Frage nach Religion als Recht des Kindes aufzuwerfen. Einige davon seien schon vorab genannt:
Vielfach wird von einer wachsenden Unsicherheit bei der religiösen Erziehung von Kindern berichtet. Eltern fühlen sich demnach oft unsicher, weil sie sich selbst nur wenig mit religiösen Fragen auseinandergesetzt haben, sich nun aber von ihren Kindern und von deren »großen Fragen« herausgefordert sehen. Erzieherinnen berichten von der wachsenden Vielfalt in ihren Kindergruppen und von den Schwierigkeiten, die sich daraus gerade in religiöser Hinsicht ergeben.Große Beachtung haben in der Öffentlichkeit die aktuellen Streitfragen gefunden, wie sie in der Debatte über die Beschneidung von Kindern, aber zuvor schon in der Auseinandersetzung zwischen Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft aufgebrochen sind. Vertreter des sogenannten neuen Atheismus plädieren dafür, Kinder heute nicht mehr religiös zu erziehen. Die Naturwissenschaft mache die Religion überflüssig.Schon seit Jahren gibt es in der Öffentlichkeit eine Tendenz, von Religion und religiöser Erziehung überhaupt eine Einschränkung und Belastung der kindlichen Entwicklung zu erwarten. So besteht weithin erhebliche Unsicherheit darüber, ob Religion überhaupt gut sei für Kinder oder eben schädlich. Fördert religiöse Erziehung die Selbstwerdung des Kindes? Unterstützt sie die Persönlichkeitsentwicklung oder steht sie ihr im Weg?In der Gegenwart haben sich die Vorstellungen davon, wie Erziehung aussehen soll, kräftig verändert. Der Trend geht »vom Befehlen und Gehorchen zum Verhandeln«: Die Freiheit und Selbstbestimmung der Kinder soll stärker geachtet werden. Das ist zu begrüßen. Aber was bedeutet es für religiöse Erziehung? Wird sie überflüssig, weil Kinder sich auch für einen Glauben eben nur selbst entscheiden können? Oder wäre auch dies bloß eine neue Überforderung für das Kind? Und schließlich: Wie sollen sich Kinder gegen oder für etwas entscheiden, das sie nie kennen gelernt haben?Besonders in Ostdeutschland hat die atheistische Staatserziehung in der DDR-Zeit dazu geführt, dass dort – je nach Region – nur noch 20 % oder 30 % der Bevölkerung zu einer Kirche gehören. Wie aber steht es mit den Kindern der anderen, also den Kindern von Konfessionslosen: Sollen Religion und Glaube in ihrem Aufwachsen überhaupt keine Rolle spielen? Wie steht es in diesem Fall mit der Selbstbestimmung des Kindes? Dürfen Eltern ihren Kindern Religion verbieten? Ist es richtig, wenn Eltern, Kindergärten und Horte auf jede religiöse Erziehung verzichten, um die Kinder »nicht zu beeinflussen«?Die wissenschaftliche Pädagogik in Deutschland verhält sich bei der Frage der religiösen Erziehung heute äußerst zurückhaltend. Weithin scheint sie der Auffassung zu folgen, Religion sei eben »Privatsache«, und darüber könne in der wissenschaftlichen Pädagogik ebenso wenig entschieden werden wie über Fragen des guten Geschmacks. Religion bleibt deshalb in vielen pädagogischen Büchern über Kind und Kindheit ausgespart – eine unbefriedigende Situation, die weder der Praxis der Erziehung noch dem Kind wirklich hilft. Wer sagen will, welche Erziehung den Kindern nutzt, kann die religiöse Erziehung nicht gut verschweigen.Gesellschaftliche Tendenzen dieser Art führen zu kritischen Rückfragen. Es ist neu zu prüfen, was für Kinder wirklich hilfreich ist, ob Kinder ein Recht auf Religion besitzen oder nicht und was dies für ihre Erziehung bedeutet.
Gleichzeitig gibt es Entwicklungen, die als neue Chance für religiöse Erziehung gesehen werden können:
Auch wenn Bildung und Erziehung weithin nur danach beurteilt werden, was sie für den beruflichen Erfolg im Leben bringen, wächst doch zugleich bei vielen Menschen der Wunsch, das Leben nicht auf die Karriere zu verengen. Zum Leben gehört nicht nur die finanzielle Seite, sondern es kommt immer auch darauf an, im Leben Sinn zu finden. Wer dies einmal erkannt oder schmerzhaft erfahren hat, wird auch offen sein für die »großen« Fragen der Kinder.Vielen Eltern liegt daran, dass ihre Kinder Orientierung im Leben finden und dass sie sich die dafür erforderlichen Werte aneignen können. Der Glaube ist zwar nicht einfach eine Frage von Werten, aber die religiöse Erziehung hat Folgen auch im Blick auf die Werteorientierung. Daraus erwächst in der Gegenwart ein neues Interesse daran, Kindern den Zugang zur religiösen Dimension zu eröffnen, auch bei Eltern, die sich zumindest bislang kaum mit religiösen Fragen beschäftigt haben.Viele Eltern, Erzieherinnen und Erzieher wollen sich nicht damit zufrieden geben, den Kindern einfach das zu vermitteln, was eine Kirche lehrt oder vorschreibt. Sie haben zwar Interesse an Fragen von Glaube und Religion, von Werten und von Sinn im Leben – aber sie wollen hier selbst entscheiden und ihre eigenen Wege gehen. Solche Erwachsenen stehen auch vor der Herausforderung, Kindern eine religiöse Erziehung zu bieten, die einem freiheitlich-persönlichen Anspruch gerecht wird. Gerade für sie wird es wichtig, religiöse Erziehung vom Recht des Kindes her zu begreifen und zu gestalten.Immer nachdrücklicher wird an vielen Stellen eine veränderte Haltung gegenüber Kindern gefordert. Vor allem solche Auffassungen, die dem Kind eine bloß künstliche Kinderwelt vorgaukeln wollen, werden kritisch befragt. Vieles, was angeblich »zum Schutz« des Kindes geschieht, scheint in Wahrheit eher die Erwachsenen in Schutz zu nehmen – beispielsweise vor Fragen nach dem Tod, den die Erwachsenen am liebsten verschweigen und der den Kindern doch begegnet, oder vor Fragen nach Krankheit, nach Trennung von geliebten Menschen, nach Schmerz und Einsamkeit.Das Buch erscheint nun, mehr als ein Jahrzehnt nach der Erstauflage, und sieben Jahre nach der zweiten Auflage, in einer erweiterten und überarbeiteten Form. Einige Teile sind ganz neu, einige ausgebaut. Der gesamte Text wurde aktualisiert. Daran ist ein bleibendes Interesse am Recht des Kindes auf Religion abzulesen. Tatsächlich hat das Buch eine beträchtliche Wirkung entfaltet. Die Berufung auf das Recht des Kindes auf Religion ist inzwischen in vielen Bereichen zu finden und gewinnt noch immer an Zustimmung. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch international. Mehrere Übersetzungen des Buches legen davon Zeugnis ab – bis hin zu einer japanischen und koreanischen Ausgabe. So hat das Buch mir auch viele Begegnungen erbracht und neue Erkenntnisse, die in die Überarbeitung eingeflossen sind. Die Erweiterungen gehen nicht zuletzt auch auf meine Forschungsarbeit im letzten Jahrzehnt zurück. An erster Stelle und zugleich stellvertretend für andere Projekte nenne ich hier unsere große Untersuchung zu interkultureller und interreligiöser Bildung in Kindertagesstätten, die mit Unterstützung der Stiftung Ravensburger Verlag durchgeführt werden konnte.1 Diese Untersuchung erwuchs auch aus der Zusammenarbeit mit meinem Tübinger katholischen Kollegen Albert Biesinger, mit dem ich mich auch im Anliegen dieses Buches eng verbunden weiß.2
Für wen ist dieses Buch geschrieben?
Das Buch wendet sich in erster Linie an Eltern sowie an Erzieherinnen und Erzieher, aber auch an die Träger beispielsweise von Kindergärten und Horten sowie an die Öffentlichkeit. Zugleich ist auch eine elementare Frage aller Erziehung und damit auch der Erziehungswissenschaft angesprochen, und darum können die im Folgenden dargestellten Auffassungen vielleicht auch im Bereich der Erziehungswissenschaft ein neues Nachdenken über religiöse Erziehung auslösen.
Viele der im Folgenden dargestellten Gedanken sind im Gespräch mit Erzieherinnen und Eltern entwickelt worden. Das vorliegende Buch wendet sich bewusst nicht nur an solche Eltern und Erzieherinnen, die sich im Glauben sicher sind. Es ist richtig, dass religiöse Erziehung für den christlichen Glauben unerlässlich ist, aber sie ist umgekehrt keineswegs auf diesen Glauben beschränkt. Jedes Kind hat ein Recht auf Religion – deshalb sind bei diesem Thema alle Eltern angesprochen und auch alle Erzieherinnen und Erzieher. Schließlich: Schon durch seinen Titel steht dieses Buch noch in einem weiteren Zusammenhang – dem Zusammenhang der Kinderrechtskonvention sowie allgemein dem Bestreben, den Rechten von Kindern Anerkennung zu verschaffen. Darauf wird besonders im letzten Teil des Buches ausdrücklich einzugehen sein.
Aufbau des Buches
Die fünf Hauptteile des Buches stehen für unterschiedliche Blickwinkel:
Am Anfang stehen Kontroversen in der Gegenwart, bei denen es grundsätzlich um den Sinn religiöser Erziehung geht.
Im zweiten Teil steht das Kind ganz im Zentrum – mit seinem Recht auf Religion und religiöse Erziehung.
Im dritten Teil geht es um die Erwachsenen – um Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, die dieses Recht in der Praxis wahrnehmen müssen. Ihre Schwierigkeiten mit Religion und religiöser Erziehung, aber auch die Chancen, die in ihrer Situation zu erkennen sind, müssen sorgfältig bedacht werden, wenn das Recht des Kindes auf Religion wirklich zum Tragen kommen soll.
Ob dies gelingt, entscheidet sich am Ende aber in der Praxis selbst. Deshalb werden im vierten Teil Konturen einer neuen Praxis beschrieben – nicht in Wiederholung allseits bekannter Ratschläge aus der dazu verbreiteten Literatur, sondern immer mit der Frage nach Religion als Recht des Kindes und nach den Folgerungen aus diesem Recht für eine kindgemäße religiöse Erziehung und Begleitung.
Der fünfte Teil konkretisiert die Bedeutung des Rechtes von Kindern auf Religion am Beispiel des Kindergartens. Er bietet eine weitere Probe aufs Exempel im Blick auf die Herausforderungen der Praxis – angesichts der wachsenden religiösen Vielfalt in den Einrichtungen.
Das Plädoyer dafür, das Recht des Kindes auf Religion deutlicher wahrzunehmen, verbindet dieses Buch mit der Kinderrechtsbewegung. Im letzten Teil des Buches wird der Zusammenhang zwischen Kinderrechten und dem Recht auf Religion ins Zentrum gerückt.
Dank
Dieses Buch wäre nicht geschrieben worden ohne die zahlreichen Gespräche mit Eltern, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrern, denen ich in der Elternarbeit sowie bei meinen Tätigkeiten in Kindergarten und Grundschule begegnet bin und denen ich für ihre Anregungen danken möchte. Auch die Kinder, mit denen ich in verschiedenen Bereichen arbeiten konnte, schließe ich in den Dank ausdrücklich ein. Das Buch verdankt sich zugleich dem Gespräch mit den Tübinger religionspädagogischen Kollegen Karl Ernst Nipkow und Albert Biesinger sowie mit dem ebenfalls Tübinger Kinder- und Jugendpsychiater Gunther Klosinski, auf deren zum Teil ähnlich ausgerichteter Bücher ich an dieser Stelle ausdrücklich hinweisen möchte.3 Besonderen Dank schulde ich auch meinen früheren Mitarbeiterinnen Regine Froese und Claudia Schlenker, die das Manuskript der Erstauflage kritisch gelesen und kommentiert haben. Für die Unterstützung bei den Korrekturen danke ich Daniela Rühle. In ganz anderer Weise schließlich ist dieses Buch mit meinen drei Kindern verbunden – mit Mirjam, Paul und Emily, denen ich es deshalb erneut widmen möchte.
In den letzten Jahren ist das Thema religiöse Erziehung gleich mehrfach in die Schlagzeilen geraten. Von mehreren Seiten her wurden Einwände, ja sogar grundlegende Kritik an religiöser Erziehung vorgebracht. Für Eltern und Erzieherinnen, aber auch für die gesamte Öffentlichkeit ist dadurch eine Situation der Unsicherheit entstanden, die hier an erster Stelle aufgenommen werden soll. In diesem Teil des Buches können natürlich noch nicht alle diese Fragen abschließend beantwortet werden. Sie werden uns vielmehr durch das gesamte Buch immer wieder beschäftigen. Es ist aber doch sinnvoll, diesen zum Teil drängenden Fragen und Anfragen von Anfang an nicht auszuweichen. Denn es soll ja um eine ehrliche und offene Klärung gehen. Haben Kinder ein Recht auf Religion? Und in welchem Sinne können Kinder von religiöser Erziehung profitieren?
Ist religiöse Erziehung nicht längst überflüssig geworden, sozusagen ein alter Hut, den niemand mehr braucht? Die Antwort auf diese Frage entscheidet sich nicht zuletzt daran, was Kinder von religiöser Erziehung profitieren. Lässt sich das wirklich angeben? Den allermeisten Eltern und Erzieherinnen liegt sehr daran, dass den Kindern, für die sie Verantwortung tragen, nichts vorenthalten bleibt, was sie für ihr Leben brauchen. Bei ihrem pädagogischen Handeln stellen sie deshalb die Frage in den Vordergrund, was Kinder von einem bestimmten Angebot profitieren. Und schon hier beginnt dann die Unsicherheit im Blick auf religiöse Erziehung, denn eine Antwort fällt heute vielen Menschen nicht leicht.
Im zweiten Teil des Buches werde ich die Auseinandersetzung darüber, ob Kinder Religion brauchen, genauer betrachten. Dabei werde ich auch die Rückfrage aufwerfen, ob unsere Wahrnehmung von Kindern nicht hoffnungslos verengt wird, wenn wir nur noch nach dem Brauchbaren fragen. Dennoch ist es schon an dieser Stelle hilfreich, sich klar zu machen, was Kinder von religiöser Erziehung profitieren. Auf diese Weise kann auch meine eigene Sicht transparent werden, so dass Leserinnen und Leser sich von Anfang an damit auseinandersetzen können.
Sieben Perspektiven dazu, wie Kinder von religiöser Erziehung profitieren, seien hier genannt. Sie können auch als kleine Zusammenfassung zu diesem Thema dienen:
(1) Religiöse Erziehung unterstützt die kindliche Vertrauensbildung: Aus der Psychologie ist bekannt, dass es zu den Grundaufgaben der psychischen und sozialen Entwicklung schon im frühen Kindesalter gehört, dass das Kind Vertrauen zu der es umgebenden Welt finden kann. Dabei ist natürlich vor allem an die Menschen zu denken, mit denen das Kind lebt und aufwächst – Mutter, Vater oder andere Personen, die für das Kind da sind –, aber auch an die Welt der Dinge, denen das Kind bei seinen Erkundungen der Welt begegnet. Schon hier spielt auch die religiöse Dimension eine Rolle. Denn eine Erziehung, die sich selbst aus dem Vertrauen auf Gott speist und die das Kind mit dem Glauben an einen vertrauenswürdigen Gott bekannt macht, kann die kindliche Vertrauensbildung offenbar in wesentlichen Hinsichten unterstützen. Sie verweist auf eine Grundlage für das Vertrauen, die auch dann tragfähig bleibt, wenn sich beispielsweise die Menschen um einen herum als wenig vertrauenswürdig erweisen. Die Vertrauensbildung ist zugleich die Grundlage eines weiteren Aspekts, der für die kindliche Entwicklung besonders wesentlich ist:(2) Religiöse Erziehung fördert die Widerstandskraft (Resilienz) in schwierigen Situationen: Die Frage nach Widerstandskraft oder, wie der Fachbegriff heißt: Resilienz, wird heute in der Pädagogik breit diskutiert. Dieses Interesse erwächst aus der Beobachtung, dass verschiedene Kinder auf vergleichbar schwierige Situationen des Lebens und Aufwachsens in höchst unterschiedlicher Weise reagieren: Werden die einen durch solche belastende Situationen auf Dauer geschwächt und traumatisiert, so scheinen andere fast schadlos daraus hervorzugehen. So erleiden beispielsweise manche Kinder, deren Eltern sich trennen, eine Beeinträchtigung ihrer Beziehungsfähigkeit, während das Ende einer durch Auseinandersetzungen und Streit gekennzeichneten Familiensituation für andere Kinder geradezu eine Befreiung sein kann. Ähnliches gilt für Einschränkungen in materieller Hinsicht: Manche Kinder werden dadurch etwa in ihrer schulischen Leistungsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigt, andere erzielen trotzdem gute Erfolge.Als Erklärung für die unterschiedlichen Arten und Weisen, mit belastenden Lebenslagen und Situationen umzugehen, wird auf die persönliche Widerstandskraft verwiesen. Diese Widerstandskraft ist schon bei Kindern unterschiedlich stark ausgeprägt. Für die Pädagogik entscheidend ist deshalb die Frage, wie diese Widerstandskraft im Kind gestärkt werden kann. Welche Faktoren tragen zum Aufbau von Resilienz bei? Nach der amerikanischen Resilienzforscherin Amy E. Werner gehört Religion zu den Schutzfaktoren für Kinder: »Eine religiöse Überzeugung ist ebenfalls ein Schutzfaktor im Leben von Risikokindern. Sie gibt den widerstandsfähigen Jungen und Mädchen Stabilität, das Gefühl, dass ihr Leben Sinn und Bedeutung hat, und den Glauben, dass sich trotz Not und Schmerzen die Dinge am Ende richten werden.«4 Religiöse Erziehung gibt Kindern demnach eine sichere Basis und unterstützt dadurch ihre psychische Widerstandskraft. Deshalb kann sie als ein »Schutzfaktor« bezeichnet werden.
(3) Religiöse Erziehung ermöglicht Sinnerfahrung: Ob die Welt und das eigene Leben wirklich einen Sinn haben oder eben sinnlos sind, das versteht sich nicht von selbst. Die Bibel bietet dazu eine für die kindliche Entwicklung sowie für das menschliche Leben insgesamt förderliche Sicht: Sie versteht die Welt als Gottes Schöpfung, und als Schöpfung hat die Welt einen unser eigenes persönliches Leben umgreifenden und übersteigenden Sinn. Menschliches Leben ist in der Sicht des Glaubens kein bloßer Zufall, sondern es ist von Gott gewollt, für jeden und für jede einzelne. Das ist gemeint, wenn es heißt, dass Gott den Menschen geschaffen hat (1. Mose 1). Der damit dem menschlichen Leben geschenkte Sinn ist deshalb auch nicht von dem Erfolg abhängig, den wir im Leben erzielen oder eben nicht erzielen. Er wird vielmehr von Gott im Glauben verbürgt. In diesem Glauben liegt dann auch eine wichtige Begründung für tragfähige Werte, an denen sich das eigene Leben und Handeln ausrichten kann. Davon profitieren ebenfalls schon Kinder.(4) Religiöse Erziehung unterstützt die Wertebildung: Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die Überzeugung, dass sich Gott den Menschen in Liebe zuwendet. Abzulesen ist dies am Leben und Handeln von Jesus Christus, der diese liebende Zuwendung in aller Konsequenz zum Ausdruck bringt – in seiner Hinwendung zu den Armen und Ausgeschlossenen, den Kranken und Hilflosen, den sozial und religiös Ausgegrenzten. Dies entspricht der neuen, auf die Rettung der Menschen zielenden Gerechtigkeit, die im Mittelpunkt der Bibel steht. In der Begegnung mit dieser Gerechtigkeit können Kinder Orientierung für ihr Leben gewinnen. Religion geht nicht in Werten auf, aber sie trägt bei zur Begründung von Werten. Sie gibt Kindern Orientierung für ihr Handeln. Viele Eltern sehen gerade in dieser lebensorientierenden Kraft des Glaubens die wichtigste Seite der religiösen Erziehung – angesichts einer Welt, in der die Orientierung für Eltern und Kinder zunehmend schwierig wird.(5) Religiöse Erziehung kann Kindern zu Ich-Stärke verhelfen: Für viele mag es überraschend klingen, religiöse Erziehung gerade mit Ich-Stärke und also mit einem gesunden Selbstbewusstsein in Verbindung zu bringen. In der Vergangenheit wurde religiöse Erziehung doch immer wieder mit Unterwürfigkeit, Demut, Zurückhaltung und übermäßiger Opferbereitschaft in Verbindung gebracht. Solche Haltungen werden heute aber kaum mehr vermittelt, zumindest werden sie im Christentum nicht verlangt oder empfohlen. Stattdessen soll bei der religiösen Erziehung die Ermutigung im Vordergrund stehen – eine Ermutigung, die für Kinder, aber auch für Jugendliche oder Erwachsene daraus erwächst, dass sie sich im Glauben von Gott bedingungslos anerkannt wissen können. Eine solche Anerkennung stärkt das kindliche Ich, das nach pädagogischer und psychologischer Auffassung für seine Ausbildung überhaupt auf die Anerkennung durch andere angewiesen ist. Nur dort, wo das Kind von anderen wertgeschätzt wird, kann sich ein gesundes Ich oder, wie manchmal gesagt wird: das kindliche Selbst herausbilden.Auch in dieser Hinsicht können Religion und religiöse Erziehung einen wichtigen Beitrag zur kindlichen Entwicklung leisten: In der Anerkennung durch Gott, die dem Kind durch religiöse Erziehung bekannt gemacht wird, gewinnt die von Menschen vermittelte Wertschätzung eine weiterreichende Grundlage. Und auf diese Grundlage kann sich das Kind auch dann beziehen, wenn die menschliche Anerkennung, wie es im Leben auch schon von Kindern so oft der Fall ist, immer wieder oder auch auf Dauer ausbleibt.
(6) Religiöse Erziehung eröffnet Zugänge zu einer besonderen, das Kind bereichernden Sprache und Bilderwelt: Der Zusammenhang zwischen Religion und besonderen sprachlichen und bildlichen Ausdrucksformen wird uns im Folgenden noch vielfach begegnen. Dabei sind zwei Denkrichtungen wichtig: Religion ist für ihre Mitteilung auf spezielle Ausdrucksformen angewiesen, die ihrem besonderen Gehalt entsprechen, und die religiösen Überlieferungen eröffnen zugleich Zugänge zu dieser Sprach- und Bilderwelt. Auf diese Zugänge kommt es bei der religiösen Erziehung an. Zu denken ist dabei natürlich an die biblischen Geschichten und Texte, aber auch an die Kunstgeschichte, die ja nicht nur im Falle kirchlicher Kunst zahlreiche religiöse Bezüge aufweist, bis hin zu ausdrücklich religiösen Darstellungen. Man denke nur etwa an die berühmten Rembrandt-Bilder, die auf so eindrückliche Weise Szenen aus dem Alten oder Neuen Testament vor Augen führen. Durch die Begegnung mit diesen Ausdrucksformen wird das Kind in seinen eigenen Ausdrucksmöglichkeiten bereichert, und es wird dadurch in Dimensionen seines Lebens angesprochen, die sonst nur allzu leicht unterentwickelt bleiben.(7) Religiöse Erziehung ermöglicht die Erfahrung von Gemeinschaft: In der ganzen Geschichte der Menschheit kommt es nur selten vor, dass jemand für sich allein glaubt. Im Normalfall kommt es stattdessen zu religiösen Gemeinschaftsbildungen, weil Menschen ihren Glauben mit anderen teilen und ihn auch gemeinsam leben und feiern wollen. Die Begegnung mit religiösen Traditionen enthält insofern immer auch die Chance eines gemeinsamen Glaubens oder überhaupt einer Gemeinschaft, der sich schon das Kind zugehörig fühlen kann. Es begegnet anderen Kindern, aber auch Jugendlichen und Erwachsenen und kann so sein Beziehungsnetzwerk erweitern. Auch dies unterstützt Kinder in ihrer Entwicklung.Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich also durchaus sehr konkret und genau angeben lässt, was Kinder von religiöser Erziehung profitieren. Insofern trifft es nicht zu, dass religiöse Erziehung bloß noch so etwas wie ein überflüssig gewordener Ballast wäre. Zuzugestehen ist allerdings, dass dies nur dann gilt, wenn die religiöse Erziehung tatsächlich auf die Entwicklungs- und Orientierungsbedürfnisse des Kindes eingestellt ist, was nicht immer der Fall war und auch heute leider nicht immer der Fall ist. Es gibt auch Formen der religiösen Erziehung, welche die kindliche Entwicklung einschränken und behindern. Auch davon wird noch zu reden sein. Zunächst aber soll es um weitere Einwände gegen religiöse Erziehung gehen.
Auch wenn sich durchaus ein greifbarer Nutzen religiöser Erziehung angeben lässt, kann eingewendet werden, dass eine solche Form von Erziehung auf Kosten des Glücklichseins der Kinder gehe. So wird immer wieder auf Beispiele verwiesen, die zeigen, wie Kinder unter den religiösen Vorstellungen gelitten haben, die ihnen in der Erziehung vermittelt wurden. Daraus wird dann abgeleitet, dass religiöse Erziehung zu psychischen Schwierigkeiten, Konflikten und sogar dauerhaften Schädigungen führe, die man dem Kind doch besser ersparen sollte.
In dieser Hinsicht muss zunächst klar festgestellt werden, dass religiöse Erziehung in der Vergangenheit Kinder tatsächlich oft unglücklich gemacht hat. Damit meine ich nicht nur den Missbrauch von Kindern, der auf jeden Fall und absolut zu missbilligen ist, aus theologischer ebenso wie aus rechtlicher Sicht. Im Namen Gottes wurden Kindern beispielsweise aber auch sonst moralische Vorschriften auferlegt, durch die ihr Leben eingeengt wurde, allgemein im Blick auf das Brav-Sein, aber auch etwa in körperlicher und besonders in sexueller Hinsicht. Solche Vorschriften erzeugten häufig genug auch Schuldgefühle, weil eben auch schon Kinder die Erfahrung machen, dass Menschen sich nicht immer an die Vorschriften halten. Kein Kind kann oder soll immer brav sein müssen! Umso schlimmer kann es dann sein, wenn solche Vorschriften auf Gottes Gebote zurückgeführt werden. Denn dann empfindet das Kind Schuldgefühle nicht nur im Blick etwa auf seine Eltern, sondern eben auch im Verhältnis zu Gott. Eine besonders schlimme Rolle spielten und spielen manchmal dabei auch noch heute Ängste, die aus Vorstellungen und Bildern eines strafenden Gottes, der die Menschen beständig überwacht, erwachsen können.
Aus heutiger Sicht handelt es sich bei alldem um Fehlformen der religiösen Erziehung, die unbedingt vermieden werden müssen. Gerade dann, wenn sich die religiöse Erziehung auf die Bibel beruft, kann dem Kind nicht einfach ein strafender Gott vor Augen gestellt werden. Der Gott, von dem in der Bibel erzählt wird, ist ein liebender und ein verzeihender Gott. Dieser Gott will die Kinder nicht niedermachen, sondern will sie aufrichten und ermutigen, auch angesichts von Fehlern, die das Kind gemacht hat.
Die in der Vergangenheit immer wieder auftretenden Fehlformen der religiösen Erziehung sollen und dürfen nicht verleugnet werden. Die Konsequenz daraus kann aber nicht ein allgemeiner Verzicht auf jede Form der religiösen Erziehung sein. Vielmehr müssen die Fehlformen durch positive Möglichkeiten der religiösen Erziehung ersetzt werden. Dazu gehört vor allem die eindeutige Verpflichtung darauf, dass religiöse Erziehung freiheitlich sein muss. Dem Kind darf hier nichts aufgezwungen werden, sondern Kinder sollen, je älter sie sind, zu eigenen Entscheidungen befähigt und angeleitet werden, auch im Blick auf ihren Glauben. Eine solche religiöse Erziehung will Kinder stärken. Sie steht einem glücklichen Kindsein nicht im Wege. Sie unterstützt Kinder vielmehr dadurch, dass sie sie auch angesichts allen Unglücks und Leids, angesichts von Bedrohung und Verletzung in ihrem Leben ermutigt.
In den letzten Jahren hat der so genannte neue Atheismus große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dabei geht es zumeist um das Verhältnis zwischen Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie. Die darauf bezogene Streitschrift »Der Gotteswahn« von Richard Dawkins ist nicht zufällig ein Weltbestseller geworden.5 Das ist nicht nur auf die reißerische Art der Darstellung in diesem Buch zurückzuführen, sondern auch auf die vielen Fragen, die sich Menschen in diesem Zusammenhang offenbar stellen. Das Verhältnis zwischen Glaube und Naturwissenschaft fordert Menschen immer wieder heraus. Im Blick auf Kinder und Jugendliche stellt sich die Frage, welchen Sinn die zum Teil aus dem Altertum stammenden religiösen Vorstellungen von der Welt und ihrer Entstehung heute noch haben können.
Im Hintergrund stehen dabei vielfach auch die biografischen Erfahrungen von Erwachsenen. Nicht wenige haben es als schwierig oder sogar als äußerst konflikthaft erfahren, wenn sie – vor allem im Übergang von der Kindheit ins Jugendalter – ihren Kinderglauben etwa an einen Schöpfergott, der die Welt wie ein Baumeister »gemacht« hat, mit naturwissenschaftlichen Welterklärungen wie der Evolutionstheorie konfrontiert sahen. Auf der einen Seite wollten sie gerne an ihrem Glauben festhalten, auf der anderen Seite war ihnen dies angesichts allgemein akzeptierter Einsichten der Naturwissenschaft einfach nicht mehr möglich. Solche Konflikte können auch zu persönlichen Krisen führen, und genau dies wollen die Erwachsenen ihren Kindern nun ersparen.
Die genannte Darstellung von Richard Dawkins enthält bezeichnenderweise auch ein ausführliches Kapitel zu Kindheit und zu religiöser Erziehung, die dieser Autor grundlegend in Frage stellt. Für ihn steht fest: Religion ist veraltet und überholt durch naturwissenschaftliche Welterklärungen. Einen Schöpfergott brauchen wir heute nicht mehr. Entsprechend sei es besser, Kinder und Jugendliche ganz im Geiste der Naturwissenschaften zu erziehen und die religiösen Traditionen und Vorstellungen bestenfalls noch als Gegenstand historischer Information zu behandeln.
Kann man angesichts solcher Einwände noch ein Recht des Kindes auf Religion und religiöse Begleitung vertreten? Ganz sicher wird heute kaum mehr jemand die Auffassung vertreten, dass sich eine religiöse Erziehung gegen naturwissenschaftliche Erkenntnisse wenden soll. Ein solcher Gegensatz wäre auch theologisch gesehen von vornherein verkehrt. Er geht von falschen Voraussetzungen aus. In meiner Sicht müssen sich Glaube und Naturwissenschaft keineswegs widersprechen. Der Schöpfungsglaube schließt evolutionstheoretische Erklärungen keineswegs aus. Beides lässt sich miteinander vereinbaren. Ja, man kann sogar sagen, beides muss heute miteinander vereinbart werden, weil sowohl der Schöpfungsglaube als auch die naturwissenschaftlichen Welterklärungen gleichermaßen notwendig sind.
Das Wichtigste dazu lässt sich in drei knappen Thesen festhalten:6
Religiöse Erziehung widerspricht nicht den Naturwissenschaften, sondern eröffnet Zugang zu einer anderen Sicht der Welt. Wenn von einem Widerspruch zwischen Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie ausgegangen wird, liegt der Fehler zumeist schon darin, dass die Schöpfungserzählungen der Bibel im Sinne eines historischen Berichts verstanden und damit missverstanden werden. Diese Schöpfungserzählungen wollen keine naturwissenschaftliche Welterklärung bieten. Sie beschreiben vielmehr den von Gott als dem Schöpfer der Welt gewollten Lebenszusammenhang als eine gedeihliche Ordnung, in der alle Lebewesen miteinander existieren können. Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie betrachten die Welt gleichsam mit verschiedenen Augen: In einer naturwissenschaftlichen Erklärung kann Gott keine Rolle spielen, eben weil hier alles aus innerweltlichen Ursachen erklärt werden muss. Der Schöpfungsglaube hingegen fragt nicht nach den innerweltlichen Ursachen, sondern danach, wie Gott zu dieser Welt steht und was dies für die Welt bedeutet.Religiöse und naturwissenschaftliche Weltzugänge können einander ergänzen. Die bleibende Bedeutung eines religiösen Weltzugangs lässt sich am Beispiel der Menschenbilder leicht nachvollziehen. Für die Art und Weise, wie wir Menschen wahrnehmen, sind unterschiedliche Sichtweisen erforderlich. In der Naturwissenschaft wird der Mensch im Blick auf die physiologischen Zusammenhänge wahrgenommen, die das chemische und biologische Funktionieren des menschlichen Organismus bedingen und erklären. In der Medizin ist die Einsicht in biologische und chemische Erklärungszusammenhänge unabdingbar. Zugleich ist inzwischen allgemein bekannt und akzeptiert, dass sich Heilungserfolge nie allein auf dieser Ebene erzielen lassen. Immer ist der Mensch als Ganzer betroffen, weshalb auch Gefühle, innere Einstellungen, Überzeugungen und Glaubensweisen für eine Heilung sowie für die Gesundheit insgesamt eine wichtige Rolle spielen. Vielleicht am deutlichsten ist die Notwendigkeit unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen bei zwischenmenschlichen Partnerbeziehungen. In der Liebe sehen wir den anderen Menschen mit den sprichwörtlich gewordenen »anderen Augen«. Wenn wir einen anderen Menschen mit Augen der Liebe sehen, dann erfahren wir ihn nicht als das Produkt biochemischer Abläufe, sondern als ein Wesen der Wertschätzung und als eine Persönlichkeit, mit der uns eine umfassende körperliche, geistige und seelische Beziehung verbindet. Ähnlich verhält es sich beim Schöpfungsglauben. Hier kommt es darauf an, im Menschen ein Geschöpf Gottes zu sehen und ein Ebenbild Gottes (1. Mose 1, 26f.), das deshalb eine unverlierbare Würde besitzt.Religiöse Erziehung befähigt zum Umgang mit der Spannung zwischen Glaube und Wissen. Das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft, besonders der Naturwissenschaft, wird in unserer Gegenwart vielfach als spannungsvoll erfahren. Die Fähigkeit, kompetent mit solchen Spannungen umzugehen, wird deshalb selbst zu einem Bildungsziel. Erreichen lässt sich dieses Ziel nicht dadurch, dass Religion im Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen nicht mehr zum Thema gemacht wird. Denn nur wenn die Kinder auch die Chance haben, auf mögliche Spannungen und Widersprüche zu stoßen und sich damit auseinanderzusetzen, können sie die hier erforderlichen Fähigkeiten ausbilden. Daraus folgt allerdings, dass die religiöse Erziehung keineswegs versuchen sollte, die im Verhältnis zwischen Glauben und Wissen aufbrechenden Fragen zu vertuschen. Zum Problem werden diese Fragen zumeist allerdings noch nicht in der Kindheit, wohl aber dann im Übergang zum Jugendalter, und auch die Jugendlichen sollten dann nicht den Eindruck haben, dass ihnen hier etwas verborgen oder verschwiegen worden sei. Ehrlichkeit und Offenheit sind zentrale Maßstäbe einer zeitgemäßen religiösen Erziehung!Zu den neuen Entwicklungen unserer Zeit gehört es, dass die Frage nach dem Kindeswohl immer wichtiger wird. Das Wohl des Kindes gehört zu den grundlegenden Kriterien, anhand derer nun beispielsweise bei Scheidungsprozessen, wenn die Verantwortung für Kinder dem einen oder dem anderen Elternteil zugeordnet werden muss, entschieden werden soll. Nicht die Ansprüche der Eltern sind in dieser Sicht entscheidend, sondern das Wohl des Kindes soll den Ausschlag geben. Ganz allgemein gilt, dass das Kindeswohl in Recht, Politik und Öffentlichkeit inzwischen, zumindest theoretisch, einen sehr hohen Rang einnimmt und als eigener Wert angesprochen werden kann. Dies ist gerade aus christlicher Sicht sehr zu begrüßen.
Die Berufung auf das Wohl des Kindes wird allerdings auch gegen die Religionen ins Feld geführt, besonders im Blick auf die Kindererziehung. Dabei spielt inzwischen auch die Frage des Kindesmissbrauchs eine wichtige Rolle. Ganz allgemein hat dann etwa Richard Dawkins versucht, die religiöse Erziehung insgesamt in den Umkreis von Kindesmissbrauch einzuordnen.7 Die neuerdings bekannt gewordenen Missbrauchsskandale nicht nur, aber eben auch in kirchlichen Einrichtungen für Kinder scheinen dabei die Annahme eines inneren Zusammenhangs zwischen religiöser Erziehung und Kindesmissbrauch weiter zu unterstützen. Zuletzt brach die Frage nach dem Kindeswohl in grundsätzlicher Weise bei einem Urteil zur Beschneidung muslimischer Kinder auf, das vom Kölner Landgericht im Mai 2012 gefällt wurde. In diesem Falle ging es um einen muslimischen Jungen, der infolge einer Beschneidung gefährlich erkrankt war. Das Gericht stellt in seinem Urteil fest, dass die Beschneidung »des nicht einwilligungsfähigen Knaben weder unter dem Blickwinkel der Vermeidung einer Ausgrenzung innerhalb des jeweiligen religiös gesellschaftlichen Umfeldes noch unter dem des elterlichen Erziehungsrechts dem Wohl des Kindes« entspreche.8 Dabei spielt für das Gericht der Umstand eine entscheidende Rolle, dass »der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert« werde. »Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können zuwider«. Für das Gericht besteht demnach ein grundlegender Widerspruch zwischen dem religiösen Ritual der Beschneidung, das nicht nur im Islam, sondern auch im Judentum gepflegt wird, und dem Wohl des Kindes sowie dem Recht des Kindes bzw. später des Jugendlichen, selbst eine Entscheidung im Blick auf seine Religionszugehörigkeit treffen zu können. Inzwischen hat der Deutsche Bundestag zwar eine andere gesetzliche Regelung getroffen, welche eine Beschneidung auch in Zukunft zulässt9