Bildung - Friedrich Schweitzer - E-Book

Bildung E-Book

Friedrich Schweitzer

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Beschreibung

Bildung gilt als zentrales Thema unserer Gegenwart. Dieser Band geht nicht schwerpunktmäßig von erziehungswissenschaftlichen und philosophischen Perspektiven aus, sondern er macht deutlich: Bildung ist von der Sache selbst her ein Thema der Theologie. Das beginnt bereits im Alten Testament und zieht sich durch die gesamte Geschichte des Christentums hindurch (Judentum und Christentum als Buchreligion; kirchliche Bildungstraditionen; Reformation als Bildungsbewegung (u. a.). Der Schwerpunkt liegt jedoch bei neuzeitlichen Entwicklungen, bei denen der Bildungsbegriff explizit thematisiert wird. Das Verhältnis von Bildung und Theologie betrifft jedoch auch systematische Zusammenhänge: Menschenbild, Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit, die Personalität des Menschen, seine Bestimmung sowie Fragen der Ethik lassen sich von einem theologisch vertieften Bildungsbegriff her vieldimensionaler fassen und im Gespräch über Gegenwartsfragen profilierter zum Ausdruck bringen. Schließlich wird auch der Zusammenhang von Glaube und Bildung zur Sprache gebracht. Das Buch entfaltet in allgemeinverständlicher Sprache Bildung aus historischer, systematischer und praktischer Sicht und ermöglicht so den Diskurs über aktuelle Fragen.

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Theologische Bibliothek

Herausgegeben von

Christoph Auffarth / Irene Dingel /

Bernd Janowski / Friedrich Schweitzer /

Christoph Schwöbel und Michael Wolter

Band II

Friedrich Schweitzer

Bildung

Friedrich Schweitzer

Bildung

Neukirchener Theologie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.deabrufbar.

©2014

Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Ekkehard Starke

DTP:Breklumer Print-Service

Printed in Germany

ISBN 978–3–7887–2821–2 (Print)

ISBN 978–3–7887–2822–9 (E-Book-PDF)

Vorwort

Was hat Bildung mit Religion zu tun? Trifft es zu, dass im Bildungsverständnis greifbar wird, woran sich eine Gesellschaft letztlich orientieren will – etwa in der Gestalt von Zielsetzungen, in denen sich Bilder von Mensch und Wirklichkeit sowie von Zukunft und Hoffnung Ausdruck verschaffen? Oder kann Bildung überhaupt nur noch säkular gedacht werden?

Obwohl Bildung als „Mega-Thema“ und Schl­üssel­­problem­ gilt sowie als eine Ressource für das individuelle ebenso wie für das gesellschaftliche Leben, sind dies eher ungewöhnliche Fragen. Sie stehen quer zum geläufigen Bildungsdiskurs und wirken sperrig. Zugleich bedeuten sie – so die These dieses Buches – eine Bereicherung des Bildungsdenkens, weil sie Horizonte vergegenwärtigen, die einer drohenden Verflachung und Verengung des Bildungsverständnisses entgegenwirken können.

Das Bildungsverständnis schwankt seit der Aufklärungszeit immer wieder zwischen einer entschiedenen Verpflichtung auf Rationalität und Säkularität auf der einen und religiösen Begründungen und Ausdeutungen auf der anderen Seite. Zumindest in gewisser Hinsicht schließt schon der Bildungsbegriff selbst eine religiöse Dimension ein, die immer wieder besonderes Interesse geweckt und doch zugleich auch Befürchtungen sowie Ablösungsbewegungen gegenüber allen religiösen Bestimmungen ausgelöst hat. So steht das Bildungsverständnis zwischen den Polen von Religiosität und Säkularität, von existenziellen Grundüberzeugungen und Ansprüchen auf allgemeine Rationalität. Derzeit bedingt dabei der Kontext religiös-weltanschaulicher Vielfalt in unserer Gesellschaft eine gleichsam neue Runde in der Bildungsdiskussion, die in veränderter Weise nach den religiösen Verwurzelungen unterschiedlicher Bildungsverständnisse fragen lässt, beispielsweise im Christentum und im Islam. Insofern gewinnt der Zusammenhang von Bildung und Religion an Aktualität und zieht verstärkt Aufmerksamkeit auf sich.

So freue ich mich, dass dieses Buch als zweiter Band in der Reihe „Theologische Bibliothek“ erscheinen kann. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich den Tübinger Kollegen Bernd Janowski und Christoph Schwöbel, die den Aufriss des Buches kommentiert und Anregungen zu einer früheren Fassung gegeben haben. Ebenfalls danken möchte ich unserem Tübinger religionspädagogischen Kolloquium, mit dem Teile des Manuskripts diskutiert werden konnten – mit dem Ergebnis wichtiger Anregungen, vor allem aber der Ermutigung für den Autor, das Buch tatsächlich zu Ende zu schreiben. Lara Beiermeister und Daniela Rühle waren als studentische Mitarbeiterinnen wieder bereit, die Aufgabe erster Leserinnen zu übernehmen. Für ihre Sorgfalt und Genauigkeit bin ich ihnen sehr verpflichtet. In anderer Weise bin ich der Bildungskammer der EKD verpflichtet, in der parallel zu diesem Buch die Denkschrift „Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule“ erarbeitet wurde. Nicht zuletzt danke ich dem Verlag sowie Ekkehard Starke im Lektorat für die gewohnt gute Betreuung.

Tübingen, im Frühjahr 2014Friedrich Schweitzer

I. Bildung als Thema der Theologie? Einleitende Überlegungen

Ist Bildung eine Angelegenheit des Glaubens? Was hat Religion mit dem heute maßgeblichen Bildungsdiskurs zu tun? Ein Band zu „Bildung“, der in einer „Theologischen Bibliothek“ erscheint, kann viele Fragen aufwerfen.

Dass Bildung und Glaube, Religion und Theologie zusammengehören, verstand sich allerdings lange Zeit von selbst. Das gilt ebenso für Religion als Gegenstand und Thema der Bildung wie, jedenfalls in der Vergangenheit, auch für das Interesse an Bildung insgesamt, das immer wieder auf religiöse Motive verweist. Insbesondere der Protestantismus galt als eine Quelle für ein ausgeprägtes Interesse an Bildung, das sich nicht nur an zahlreichen Biographien ablesen lässt, sondern das auch durch bildungssoziologische Studien bis weit hinein ins 20. Jahrhundert belegt wird.

In der Gegenwart ist der Zusammenhang von Bildung und Glaube, Religion und Theologie demgegenüber eher in den Hintergrund getreten. Fast könnte man von einem vergessenen Zusammenhang sprechen, der eigentlich nur noch von historischer Bedeutung erscheint und eben deshalb, weil Bildung heute vor allem mit Zukunft und Zukunftsherausforderungen assoziiert wird, nur mehr wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Doch ist dies offenbar nur die eine Seite der Medaille. Denn während der traditionelle religiöse Horizont des Bildungsverständnisses in Vergessenheit gerät, treten gerade in unserer eigenen Gegenwart Fragen und Probleme auf, die ohne den Beitrag der Theologie kaum angemessen bearbeitet oder wenigstens nicht erfolgreich gelöst werden können. Ein hervorgehobenes Beispiel für solche Probleme betrifft das Verhältnis von Glaube und Wissen. Dieses häufig als konflikthaft wahrgenommene Verhältnis ist besonders der neuzeitlichen Bildungsgeschichte eingeschrieben, in der Folge der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft, aber auch der Geschichtswissenschaft, der Soziologie und der Psychologie oder, in neuester Zeit, auch der Gehirnforschung. Alle diese Disziplinen – und es ließen sich noch weitere anführen – bieten Erkenntnisse zu Bereichen, die früher dem Glauben vorbehalten schienen oder die den Glauben selbst erklären sollen – etwa als Produkt menschlicher Wunschvorstellungen, die der aufgeklärte Mensch nicht mehr zu hegen brauche. Im Zentrum steht dabei vielfach und exemplarisch das Verhältnis zwischen Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, mit dem sich sehr unterschiedliche Auffassungen des Menschen und damit auch seiner Bildung verbinden können. Die größte öffentliche Aufmerksamkeit erhält hier die fundamentalistische Reaktion, die eine Versöhnung zwischen Glaube und Wissen prinzipiell ausschließt und die auf dem Vorrang des Glaubens vor dem Wissen beharrt. Weil der religiöse Fundamentalismus kein privat-religiöses Phänomen darstellt, sondern in Politik und Öffentlichkeit eine nachhaltige Wirkung ausübt, kann er nicht einfach auf sich beruhen bleiben. Vielmehr stellt er auch die Bildung vor die Frage, wie der Konflikt zwischen Glaube und Wissen etwa durch gebildete Reflexion zumindest abgemildert werden kann.

Fundamentalistische Reaktionen sind nicht auf eine einzelne Religion beschränkt. Sie finden sich im Christentum ebenso wie im Judentum oder im Islam sowie in anderen Religionen. Das erinnert zugleich daran, dass der Zusammenhang von Bildung und Glaube oder Religion heute im Blick auf die multireligiöse Situation in unserer Gesellschaft analysiert und erörtert werden muss. Anders als in früheren Zeiten ist dabei nicht mehr automatisch an das Christentum zu denken, jedenfalls nicht ausschließlich. Bemerkenswerterweise werden gerade dadurch die religiösen Voraussetzungen von Bildung in neuer Weise interessant und klärungsbedürftig. Solange in Deutschland und Zentraleuropa ein christlicher Hintergrund als selbstverständlich vorausgesetzt werden konnte, musste darüber kaum weiter nachgedacht werden. Dies erklärt, warum die vielfach in der Erziehungswissenschaft bis heute als maßgeblich angesehenen bildungstheoretischen Entwürfe auch in ihrer neuzeitlichen, sich nicht auf die Theologie berufenden Gestalt ganz selbstverständlich von einem christlichen Menschenbild geprägt sind. Exemplarisch abzulesen ist dies an der Wahrnehmung des Kindes, dessen für die Pädagogik weithin als fraglos gültig angesehene Hochschätzung sich im Kulturvergleich kaum ohne den Einfluss der biblischen Überlieferung und des Christentums erklären lässt. Besonders manifest ist dies für viele Kulturen des Altertums, in denen es ohne weiteres möglich war, ein nicht gewolltes Kind auszusetzen und damit einem baldigen Tod preiszugeben – ein Schicksal, das wohl besonders Mädchen traf.1

Religiös bestimmte Menschenbilder betreffen nicht nur das Kind, sondern den Bildungsprozess insgesamt, beispielsweise in seinen Zielen. Vielfach blieb dies in der Vergangenheit eine selbstverständliche Voraussetzung, über die nicht weiter diskutiert werden musste. In einer multireligiösen Situation hingegen verlieren religiöse Prägungen ihre Selbstverständlichkeit. Genauer gesagt werden solche Prägungen in ihrer keineswegs alternativlosen Bestimmtheit allererst sichtbar und damit neu klärungs- und begründungsbedürftig.

Solche Beobachtungen machen auch verständlich, warum wir überhaupt von einem Zusammenhang zwischen Bildung und Glaube, Religion und Theologie sprechen müssen. Im Folgenden wird nach der Bedeutung des christlichen Glaubens gefragt, der das westliche Bildungsverständnis entscheidend beeinflusst hat. Zugleich reicht die religiöse Dimension nicht erst seit heute über das Christentum hinaus, sowohl im Blick auf individuelle Glaubensüberzeugungen, die sich selbst nicht ohne weiteres als christlich oder kirchlich verstehen, als auch hinsichtlich nicht-christlicher Religionen. In der Theologie schließlich begegnen wir der Disziplin, die sich in wissenschaftlicher Weise mit dem Verständnis des christlichen Glaubens sowie anderer religiöser Überzeugungen befasst. Die Expertise dieser Disziplin soll in den nachfolgenden Kapiteln zur Geltung kommen.

Beispielsweise wird der in dem biblischen Buch Sprüche Salomos enthaltene Satz „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis“ (Spr 1,7) in der Geschichte des Bildungsdenkens immer wieder zitiert. Er gehört zur biblischen Weisheitsliteratur. Schon in Sprüche 1,2 heißt es: „um zu lernen Weisheit und Zucht und zu verstehen verständige Rede“. Was aber ist damit genau gemeint? Welche Art von Weisheit wird hier versprochen? Und was hat das mit Bildung zu tun? Eine Klärung solcher Fragen, die für die Geschichte des Bildungsdenkens von erheblicher Bedeutung waren, wird immer wieder auch die Theologie als Gesprächspartner ins Spiel bringen. Doch kann es nicht bei historischen Zusammenhängen bleiben, wenn auch für unsere Gegenwart plausibel werden soll, dass die Theologie in weiterführender Weise zum Bildungsverständnis beitragen kann. Der historische Sachverhalt besitzt zwar auch im Falle der Geschichte des Bildungsverständnisses ein eigenes Gewicht. Er bleibt eindrucksvoll und kann inspirierend wirken, aber Konsequenzen für unsere Gegenwart ergeben sich nach heutiger Auffassung daraus zumindest nicht in unmittelbarer Weise. Deshalb ist diese Darstellung von vornherein nicht allein historisch ausgerichtet, sondern fragt zugleich nach Sachzusammenhängen im Blick auf die Gegenwart.

Bildung als Thema der Theologie verstehen zu wollen kann allerdings auch Befürchtungen auslösen, und dies sowohl in der Erziehungswissenschaft als auch in der Theologie selbst. Denn theologische Bestimmungen des Bildungsverständnisses sind in der Erziehungswissenschaft nicht einfach nur vergessen. Vielmehr werden sie, mit dem Anspruch auf pädagogische Autonomie, also auf eine von religiösen Bestimmungen und Autoritäten unabhängige Erziehungswissenschaft, vielfach auch ausdrücklich abgelehnt. Die Erziehungswissenschaft der Gegenwart will sich nicht von religiösen Überzeugungen oder Weltanschauungen leiten lassen, sondern möchte ihr eigenes Bildungsverständnis begründen.

Wird erziehungswissenschaftlich jede Form einertheologischen Kolonisierungentschieden abgelehnt, so steht dem auf Seiten der Theologie die komplementäre Befürchtung einerPädagogisierung des Glaubensgegenüber. Eine solche Pädagogisierung wurde in der Vergangenheit besonders im Blick auf das Menschenbild wahrgenommen, das sich ganz unvermeidlich mit einer Bildungstheorie verbindet. Das für den christlichen Glauben leitende Verständnis der Vollendung des Menschen, so der theologische Einwand, widerspreche jedem Versuch, diese Vollendung als Resultat eines pädagogischen Bildungshandelns zu verstehen. Dabei würden die menschlichen Möglichkeiten in unangemessener Weise idealisiert. In der Sicht des Glaubens kann nur Gott selbst den Menschen vollenden.

Angesichts dieser doppelten Befürchtung sei schon an dieser Stelle hervorgehoben, dass im Folgenden beides konsequent vermieden werden soll – eine theologische Bevormundung der Erziehungswissenschaft ebenso wie eine idealistische Entgrenzung der Pädagogik. Stattdessen gehe ich davon aus, dass Erkenntnisgewinne gerade dann zu erwarten sind, wenn beide Perspektiven, die der Erziehungswissenschaft und die der Theologie, in ihrem jeweils eigenen Recht gewahrt und berücksichtigt werden. Denn unter dieser Voraussetzung wird es erst möglich, denselben Sachverhalt – in unserem Falle also Bildung – aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und Neues zu entdecken. So gesehen ist es gerade die bleibende Perspektivendifferenz, die auch für das Bildungsthema neue Einsichten erbringen kann.

Unter dieser Voraussetzung ist von vornherein ausgeschlossen, dass Bildung nun beispielsweise als „eigentlich theologisches“ Thema herausgestellt oder dass hier überhaupt theologische Besitzansprüche erhoben werden sollen. Auch wenn im Folgenden etwa auf die religiösen oder theologischen Wurzeln des Bildungsbegriffs hinzuweisen ist, liegt das Ziel keineswegs in einer Art ohnehin nicht aussichtsreichen „Heimholung“ im besserwisserischen Gestus der Überlegenheit. Stattdessen soll es durchweg darum gehen zu zeigen, wie eine theologische Perspektive das Bildungsverständnis bereichern kann.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Bildungsdiskussion durch ein neues Interesse an empirischen Befunden und Einsichten geprägt. Dafür steht die empirische Bildungsforschung, die als Disziplin in den letzten Jahren, nicht zuletzt im Anschluss an die PISA-Untersuchungen, weithin einen enormen Aufschwung erfahren hat. Auch vor diesem Hintergrund könnte die Intention der vorliegenden Darstellung missverstanden werden. Der Versuch, Bildung als Thema der Theologie zu begreifen, verweist zwar von Anfang an darauf, dass sich das Bildungsverständnis nicht mit empirischen Untersuchungen allein klären lässt. Insofern geht es tatsächlich um Aspekte und Dimensionen von Bildung, die heute leicht übergangen werden. Es wäre aber keineswegs sinnvoll, darin eine Alternative zu empirischen Zugangsweisen sehen zu wollen. Denn zum einen lässt sich der Zusammenhang zwischen Bildung und Religion durchaus auch empirisch untersuchen; und zum anderen gilt auch im Blick auf die empirische Bildungsforschung meine bereits oben formulierte These, dass es um eine theologische Bereicherung und nicht um einen theologischen Besitzanspruch gehen muss.

Damit ist zugleich die Theologie nicht nur angesprochen, sondern mit einer Anforderung konfrontiert, die sich nicht immer von selbst versteht. Im Blick auf die Theologie soll deutlich werden, dass das Thema Bildung keineswegs als ein Spezialthema anzusehen ist, das etwa nur die Disziplin der Religionspädagogik betrifft. Im Folgenden beziehe ich mich bewusst auf alle Disziplinen der Theologie – vom Alten und Neuen Testament über die Kirchengeschichte bis hin zur Systematischen Theologie und Religionswissenschaft. Alle diese Disziplinen tragen mit ihren Erkenntnissen zum Bildungsverständnis in seinen verschiedenen Voraussetzungen und Dimensionen bei. Dies begründet zugleich die Auffassung, dass alle diese Disziplinen – und damit die Theologie insgesamt – das Bildungsthema stärker aufnehmen sollten, als es in der Vergangenheit weithin der Fall war. Denn offenbar werden bei diesem Thema Fragen verhandelt, die konstitutiv zum Gegenstand der Theologie gehören. Darüber hinaus bieten sich hier Chancen einer interdisziplinären Kooperation mit anderen Wissenschaften, die sich auf das Bildungsverständnis beziehen.

Zu manchen Zeiten – vor allem im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts, dessen Entwicklungen das Bild von Theologie in der Wissenschaft bis heute vielfach zu prägen scheinen – hat sich die Theologie allerdings besonders auf die Formulierung grundlegender Anfragen an den Bildungsbegriff konzentriert. Im Vordergrund stand dabei der bereits genannte Verdacht einer Idealisierung und einer Überhöhung der menschlichen Möglichkeiten im Sinne einer Vervollkommnung durch Bildung. Diese theologische Bildungskritik ist in der Literatur mehrfach dargestellt worden und soll deshalb hier nicht erneut zu einem eigenen Thema gemacht werden.2Dafür spricht auch die Beobachtung, dass diese Form der theologischen Fundamentalkritik inzwischen überholt ist. Sie war auf eine durch den Idealismus geprägte pädagogische Diskussionslage bezogen, die es in dieser Form heute nicht mehr gibt, und sie folgt einer theologischen Sichtweise, die sich als wenig gesprächsfähig erwiesen hat. Der kritische Akzent meiner eigenen Darstellung erwächst von vornherein nicht aus einer Ablehnung des Bildungsbegriffs, sondern aus dem Ziel, das Bildungsverständnis theologisch zu präzisieren und zu erweitern. Bildung wird dadurch nicht zu einer Glaubensfrage, wird aber als ein Thema erkennbar, zu dessen reicherem Verständnis auch die Theologie beizutragen vermag.

Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch der Aufbau des Bandes erläutern:

• Das Verhältnis von Bildung und Theologie soll im Folgenden zunächst als ein geschichtlicher Zusammenhang in Erinnerung gerufen werden. Angefangen bei den religiösen Wurzeln schon des Bildungsbegriffs selbst über biblische und christentumsgeschichtliche Entwicklungen bis hin zu unserer eigenen Gegenwart kann so die These begründet werden, dass sich das Bildungsverständnis, wie es bis heute zumindest hintergründig wirksam geblieben ist, ohne seinen biblischen und christlichen Hintergrund gar nicht erfassen lässt.•Über diesen geschichtlichen Befund hinaus soll in einem weiteren Teil gezeigt werden, dass die Zusammenhänge zwischen Bildung und Glaube, Religion und Theologie einebleibende sachliche Bedeutungbesitzen. Entsprechend wird hier die Auffassung vertreten, dass eine Bildungstheorie, die ihre eigene Thematik umfassend klären möchte, an theologischen Fragen kaum vorbeigehen kann. Zumindest müsste dafür auf eine mögliche Bereicherung des Bildungsverständnisses verzichtet und ein empfindlicher Verlust an Wahrnehmungs- und Klärungsfähigkeit in Kauf genommen werden.• Nach heutigem Verständnis sind solche Argumente freilich erst dann überzeugend, wenn sich daraus auch praktische Konsequenzen ergeben. Mitunter wird in der Erziehungswissenschaft ausdrücklich gegen theologische Bestimmungsversuche von Bildung eingewendet, dass es sich dabei bestenfalls um eine Rhetorik handele, die in praktischer Hinsicht weithin folgenlos bleibe. Darüber zu streiten lohne sich deshalb nicht mehr. Gegenüber solchen Auffassungen muss die These belegt werden, dass die bewusste Wahrnehmung des Zusammenhangs von Bildung und Glaube, Religion und Theologie gerade auch für die Praxis Konsequenzen zeitigt, die keineswegs als gleichgültig abgetan werden können – nicht zuletzt aus erziehungswissenschaftlicher Sicht.• Am Ende lässt sich die Absicht meiner Darstellung anhand der Frage nach den Grenzen noch einmal bündeln und weiter zuspitzen, indem der doppelte Zusammenhang von Entgrenzung und Begrenzung des Bildungsverständnisses im Blick auf Transzendenz pointiert wird. Denn der Bezug auf Transzendenz verspricht beides, sowohl ein erweitertes Verständnis von Bildung als auch die Identifikation einer heilsamen Grenze – als Möglichkeit der Unterbrechung jener Steigerungslogik, die dem Bildungsbegriff vor allem in der Neuzeit eingeschrieben ist.

Der – mögliche – Gewinn einer solchen Darstellung kann nach mehreren Seiten hin verdeutlicht werden. Gesellschaftlich gesehen verspricht eine solche Klärung Transparenz im Blick auf das biblisch-christliche Bildungsverständnis, das dann neben das Verständnis anderer Religionen und Weltanschauungen gestellt und mit diesem verglichen werden kann. In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation gilt das vor allem im Blick auf den Islam, der in Deutschland und in Europa eine nachhaltige Präsenz gewonnen hat und mit dem sich auch Bildungsfragen verbinden. Für die Erziehungswissenschaft kann es gewinnbringend sein, sich die eigenen Wurzeln und Prägungen vor Augen zu führen und bewusster auch mit solchen Fragen umzugehen, die trotz – oder wegen – ihres religiösen Charakters auch für eine sich selbst säkular verstehende Erziehungswissenschaft bedeutsam bleiben. Für die Theologie schließlich kann es darum gehen, die Bedeutung des Bildungsthemas über den Bereich der praktischen Gestaltung und also der Religionspädagogik oder der Praktischen Theologie hinaus als ein biblisches, historisches und systematisch-theologisches Thema in den Blick zu nehmen.

Voraussetzung für alle diese Überlegungen und Klärungen, auch dies muss schon an dieser Stelle klar hervorgehoben werden, ist der Versuch, in einer doppelten Spur zu denken. Zum einen wird es – für viele besonders naheliegend – umreligiöse Bildunggehen und damit um solche Bildungsprozesse, deren Inhalt etwa im Religionsunterricht ausdrücklich Religion ist. Zum anderen aber – und dies ist vielleicht überraschend – muss durchweg dasBildungsverständnis insgesamtin den Blick genommen werden. Thema der Theologie ist Bildung nicht nur bei der religiösen Bildung, die dann neben anderen Bildungsbereichen etwa von Sprache, Naturwissenschaft, Kunst und Geschichte zu sehen ist, sondern auch hinsichtlich der Gesamtausrichtung und Begründung von Bildung selbst. Eben dies ist gemeint, wenn das einem bestimmten Bildungsverständnis zugrunde liegende Menschenbild angesprochen wird. Im Folgenden wird die Frage nach der übergreifenden Ausrichtung des Bildungsverständnisses im Vordergrund stehen. Da sich diese Ausrichtung aber immer auch mit bestimmten Auffassungen religiöser Bildung verbindet, kann auch diese Spur nicht außer Betracht bleiben.

Schließlich soll am Ende dieser Einleitung meine eigene Perspektive transparent gemacht werden. Zum einen sehe ich mich als promovierter Erziehungswissenschaftler und habilitierter Theologe beiden Disziplinen verpflichtet, der Erziehungswissenschaft wie der Theologie, auch wenn im Folgenden notwendig die theologische Perspektive im Vordergrund stehen muss. Zum anderen ist meine Sichtweise durch das Christentum und also ausdrücklich durch die christliche Theologie bestimmt, genauer gesagt, durch die evangelische Theologie. Andere Religionen, die ebenfalls eine ausgeprägte Bildungsbedeutung gewonnen haben – besonders genannt seien vor allem das Judentum und der Islam, daneben der Konfuzianismus und der Buddhismus – werden nicht gleichermaßen berücksichtigt, auch wenn der multireligiöse Horizont unserer Gegenwartssituation durchweg im Blick bleiben soll. Hinsichtlich eines heute gewiss anzustrebenden interreligiösen Bildungsdialogs lässt sich die vorliegende Darstellung als ein erster Schritt verstehen – als Klärung der christlichen Voraussetzungen, neben die ausdrücklich andere Klärungen treten sollen, über die dann gemeinsam diskutiert werden kann. An zentralen Stellen, die vor allem die für unsere Gegenwart bezeichnende Begegnung mit religiös-weltanschaulicher Pluralität betreffen, soll auch herausgearbeitet werden, welche Aufgaben sich daraus für das Bildungsverständnis ergeben.

Im Folgenden muss ein sehr weitgespannter thematischer Umkreis aufgenommen werden. Ich selbst habe mich mehr als 30 Jahre lang mit entsprechenden Fragen befasst und vielfach auch dazu publiziert. In dieses Buch gehen so gesehen zahlreiche Vorarbeiten ein, die ich auch dort, wo ich mich auf frühere Veröffentlichungen stütze, nicht immer in der Form des Selbstzitats kennzeichne.3Dem Ziel der vorliegenden Reihe entsprechend, die nicht nur ein Fachpublikum ansprechen soll, wurden die weiteren Literaturhinweise ebenfalls stark beschränkt. Vertretbar ist dies beim Thema Bildung auch deshalb, weil dazu umfangreiche Darstellungen allgemeiner Art vorliegen und dort auch entsprechende Literaturhinweise leicht zu finden sind.4Die Bibel wird im Folgenden nach der aktuellen Luther-Übersetzung zitiert, der Koran in der Wiedergabe von Abu-r-Rid.¯a› Muhammad ibn Ahmad ibn Rassoul.

1Vgl. etwaWeber, Jesus und die Kinder;Müller,In der Mitte;Bunge (Hg.),The Child.

2Vgl. zuletzt ausführlichPreul,Evangelische Bildungstheorie, 33ff.

3Stellvertretend verweise ich aufSchweitzer,Pädagogik und Religion;ders.,Religionspädagogik;ders.,Menschenwürde und Bildung sowie als Sammelbandders. (Hg.),Der Bildungsauftrag des Protestantismus.

4Vgl. bes.Schaarschmidt,Der Bedeutungswandel der Begriffe „Bildung“ und „bilden“;Lichtenstein,Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs;Dohmen,Bildung und Schule;Schilling,Bildung als Gottesbildlichkeit;Vierhaus,Art. Bildung;Koselleck,Einleitung;Bollenbeck,Bildung und Kultur.Diese Darstellungen stehen im Folgenden auch dann im Hintergrund, wenn sie nicht immer wieder eigens zitiert werden.

II. Geschichtliche Zusammenhänge

Wenn Bildung in theologischer Perspektive thematisiert werden soll, bietet sich zunächst die Rückfrage nach geschichtlichen Zusammenhängen an. Denn der Bildungsbegriff steht in einem historisch weit zurückreichenden Horizont, vor dem sich die religiösen Bezüge des Bildungsverständnisses besonders klar erschließen lassen.

Der Bildungsbegriff selbst weist religiöse Wurzeln auf und geht auf einen ausgesprochen religiösen Entstehungskontext zurück. Darauf wird im Folgenden eigens einzugehen sein. Zugleich stellt sich im Blick auf die geschichtlichen Zusammenhänge aber das Problem, dass die mit dem Begriff bezeichnete Sache nicht erst mit dieser Bezeichnung entsteht. Deshalb muss zunächst geklärt werden, wie Begriffe und Sachen sich in diesem Falle zueinander verhalten und was dies für unsere Untersuchung bedeutet.

1. Begriffe und Sachen

Wer sich mit bildungsgeschichtlichen Entwicklungen und Zusammenhängen befasst, stößt früher oder später unweigerlich auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Begriffen und Sachen. Begriffe weisen oft eine ganz bestimmte Geschichte auf. Bei vielen wissenschaftlichen Begriffen kann man geradezu von einer Erfindung sprechen. Sie tauchen erst zu einer bestimmten Zeit in Sprache und Literatur auf und gewinnen dann mitunter doch eine solche Selbstverständlichkeit, dass es kaum mehr möglich scheint, zwischen Sache und Begriff zu unterscheiden.

Besonders leicht lässt sich dies etwa an dem heute geläufigen Begriff der Identität nachvollziehen. Inzwischen wird ganz selbstverständlich von einer persönlichen Identität, einer nationalen Identität, einer ethnischen Identität usw. gesprochen. Vor dem 20. Jahrhundert hätte dies kaum jemand verstanden. Denn niemand sprach damals von einer solchen „Identität“. Aber man wird doch kaum sagen können, dass deshalb auch alle Fragen und Probleme, die heute mit dem Identitätsbegriff assoziiert werden, vor dem Aufkommen des Identitätsbegriffs gar nicht vorhanden waren. Die Sache ist hier offenbar älter als der Begriff.

Ähnlich verhält es sich auch mit dem Bildungsbegriff.5Noch im späten 18. Jahrhundert konnte der Philosoph Moses Mendelssohn feststellen, dass der Bildungsbegriff noch recht neu sei und von den meisten Menschen außerhalb der Wissenschaft kaum verstanden werde: „Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge, sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe versteht sie kaum“.6Der allgemeine Gebrauch des Bildungsbegriffs geht demnach erst auf das 18. und 19. Jahrhundert zurück. Bemerkenswert ist auch, dass der Bildungsbegriff vor dem 14. Jahrhundert überhaupt nicht nachweisbar ist. Es handelt sich um eine Wortschöpfung, die offenbar auf die deutsche Mystik zurückgeht.

Ist daraus zu schließen, dass es Bildung vor dem 14. Jahrhundert oder gar vor dem 19. Jahrhundert gar nicht gegeben hat? Diese Auffassung vermag kaum einzuleuchten. Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben auch lange davor schon gelernt, sie haben Schulen und andere Bildungseinrichtungen besucht und also genau das getan, was heute als „sich bilden“ bezeichnet wird. Die Sache ist auch in diesem Falle älter als der Begriff.

Zumindest ein Stück weit gilt also, dass die Sachen oder Sachverhalte ganz unabhängig von den Begriffen zu existieren scheinen. Der Bildungsbegriff lässt sich bekanntlich nur in wenige andere Sprachen übersetzen, aber deshalb lässt sich noch lange nicht behaupten, dass Bildung ausschließlich in Deutschland zu finden sei.

Mit dem Theologen und Erziehungsphilosophen Friedrich Schleiermacher begann man das Verhältnis zwischen Begriff und Sache im Bereich der Pädagogik auch so auszudrücken, dass die Praxis hier grundsätzlich „viel älter“ ist als die Theorie.7 Lange bevor es eine Theorie der Erziehung im wissenschaftlichen Sinne gegeben hat, wurde in der Praxis erzogen, gleichsam „schon immer“. Doch mit Bedacht fügt Schleiermacher dem hinzu, dass die Praxis „mit der Theorie eine bewusstere“ werde.8 Begriffe und Theo­rien treten demnach nicht einfach zu einer bestehenden Praxis hinzu, um diese gedanklich, mit Hilfe eines Begriffs oder einer Theorie, geistig zu verdoppeln. Durch die begriffliche Fassung und die dadurch ermöglichte theoretische Durchdringung verändert sich vielmehr auch die Sache selbst. Sie wird anders verstanden, anders ausgelegt und dann, in der Folge, eben auch vielfach anders gestaltet. Genau dies lässt sich auch für den Bildungsbegriff behaupten. Die Bildungspraxis ist älter als jede Bildungstheorie, aber indem diese Praxis als Bildung verstanden und reflektiert wird, wird sie auch selbst anders. Sie wird einem veränderten Anspruch unterstellt, und dies zieht auch praktische Konsequenzen nach sich. Deshalb ist es wichtig, im Folgenden auf beides zu achten, auf die Sache ebenso wie auf den Begriff der Bildung.

Damit ist eine erste Klärung erreicht, an der wir uns orientieren können. Zugleich ist aber noch eine weitere Unterscheidung zu bedenken, die sich auf das Verhältnis zwischen historischen Voraussetzungen und deren wirkungsgeschichtlicher Bedeutung bezieht. Immer wieder kommt es vor, dass sich erst in späterer Zeit zeigt, welche Folgen sich aus einer bestimmten Entscheidung oder Veränderung ergeben. Als beispielsweise Jean-Jacques Rousseau im Jahre 1762 seinen berühmten Erziehungsroman „Emile“ veröffentlichte9, konnte noch niemand wissen, dass sich die moderne Pädagogik später jahrhundertelang auf dieses Buch als Gründungsurkunde berufen würde. Zugespitzt kann man sagen, dass sich dieser Roman erst durch die Wirkungsgeschichte als eine Voraussetzung für spätere Entwicklungen erwies. Dem Buch selber war das nicht sofort anzumerken. Heute muss es aufgrund seiner Wirkungsgeschichte als eine solche Voraussetzung angesehen und erschlossen werden.

Solche nicht immer leicht zu durchschauenden Zusammenhänge zwischen historischen Voraussetzungen und wirkungsgeschichtlicher Bedeutung sind auch für das Verhältnis zwischen Theologie und Bildung zu berücksichtigen. Aus der Wirkungsgeschichte heraus erweisen sich bestimmte theologische Sichtweisen, die zunächst kaum etwas mit Bildung zu tun zu haben schienen, dann doch bildungsgeschichtlich als höchst bedeutsam. Das lässt sich etwa am Beispiel der biblischen Schöpfungserzählungen am Anfang der Bibel (Gen 1f.) besonders eindrücklich nachvollziehen. Denn obwohl in diesen Texten von Bildung oder Erziehung nicht ausdrücklich die Rede ist, besteht doch ein überaus enger Zusammenhang zwischen der biblischen Schöpfungstheologie und dem späteren Verständnis von Bildung. Das gilt sogar bis hin zum Begriff der Bildung selbst, der nicht nur in einem allgemeinen Sinne religiöse Wurzeln aufweist, sondern ganz direkt mit dem ersten Kapitel der Bibel und den dort zu findenden Aussagen über den Menschen – die Gottebenbildlichkeit des Menschen – verbunden ist. Deshalb kann mit guten Gründen die Auffassung vertreten werden, dass es ohne das biblische Schöpfungsverständnis kaum möglich gewesen wäre, den Bildungsbegriff in der uns heute vertrauten Form zu konzipieren. Anders ausgedrückt zeigt sich die Bildungsbedeutung des biblischen Schöpfungsglaubens in der Wirkungsgeschichte und muss anhand dieser Geschichte erschlossen werden.

Wenn hinter die Begriffe auf die Sachen vor den Begriffen zurückgegriffen werden soll, muss freilich ein bestimmtes Verständnis zugrunde gelegt werden, weil eine nicht am Bildungsbegriff orientierte Darstellung sonst ins Grenzenlose zerfließt. Von welchem Bildungsverständnis also werden die im Folgenden weit in die Geschichte zurückgreifenden Beobachtungen geleitet?

Einen hilfreichen Ausgangspunkt bietet hier der Historiker Reinhart Koselleck, der drei Merkmale nennt, die in seiner Sicht für den spezifisch deutschen, vom Sprachgebrauch in anderen Ländern unterscheidbaren Bildungsbegriff kennzeichnend sind: erstens der „Autonomieanspruch, die Welt sich selbst einzuverwandeln“ – das unterscheide Bildung grundsätzlich von Erziehung; zweitens der Bezug auf eine „Gesellschaft, die sich primär durch ihre mannigfaltige Eigenbildung begreift“ und also nicht mehr einfach von politisch-hierarchischen Bestimmungen her; und drittens die Rückbindung der „kulturellen Gemeinschaftsleistungen“ an eine „persönliche Binnenreflexion“10. Diese drei Merkmale lassen sich, Koselleck zufolge, erst ab etwa der Zeit nach 1800 finden. Insofern können sie nicht in frühere Epochen zurückverfolgt und deshalb zunächst auch nicht einfach als Orientierung für den Versuch genutzt werden, Bildung als Sachverhalt vor dem Begriff zu identifizieren. Sie stellen aber sicher, dass das mit dem Bildungsbegriff Gemeinte tatsächlich im Blick ist. Damit ist ebenfalls gesagt, dass die genannten Merkmale zumindest in einer früheren Form auch dort zu finden sein müssen, wo der Begriff der Bildung noch fehlt. Sonst könnte es nicht einleuchten, einen früher zu findenden Sachverhalt überhaupt mit dem Bildungsverständnis in Verbindung zu bringen. In dieser Spannung schlage ich eine Art Mittelweg vor: Bildung als Sachverhalt soll im Folgenden anhand des von Koselleck genannten Bezugs auf einen menschlichen „Autonomieanspruch“ sowie eine „persönliche Binnenreflexion“ etwa von Sozialisation oder Erziehung unterschieden werden. Dies entspricht auch erziehungswissenschaftlichen Auffassungen in unserer Gegenwart, die hier etwa von Selbstbestimmung und von der Bildung des Selbst sprechen.11 Bezeichnend für ein solches Bildungsverständnis ist auch, dass es sich entschieden von jeder Gleichsetzung von Bildung mit Schule löst. Bildung meint Welterschließung, und diese beginnt in der frühesten Kindheit.

2. Der Bildungsbegriff und seine religiösen Wurzeln

Der Bildungsbegriff gilt als eine Besonderheit der deutschen Sprache. Er stellt einerseits eine sprachgeschichtliche Neubildung dar und weist andererseits eine lange Geschichte auf.12 Viele Sprachen, etwa die romanischen Sprachen oder das Englische, kennen mit education nur einen Begriff als Übersetzung für „Erziehung“ und „Bildung“ (zumindest die skandinavischen Sprachen und das Russische unterscheiden hier allerdings, was häufig übergangen wird). Dies bedeutet freilich nicht, dass das mit Bildung Gemeinte sich in anderen Sprachen gar nicht wiedergeben ließe. Es muss aber umschrieben werden, und teilweise wird im Englischen dann auch auf das Fremdwort aus dem Deutschen (Bildung) oder aus dem Griechischen (Paideia) zurückgegriffen.

Wie ist der Bildungsbegriff entstanden? Welche Wurzeln lassen sich erkennen? Der Ursprung des deutschen Bildungsbegriffs liegt im Spätmittelalter, und hier in der religiösen Mystik. Den sprachgeschichtlichen Befunden zufolge fließen im Bildungsbegriff mehrere Bedeutungsmöglichkeiten zusammen, die sich in drei Gruppen zusammenfassen lassen, jeweils mit lateinischen Begriffen im Hintergrund: „‚Bild‘, ‚Abbild‘, ‚Ebenbild‘ (imago)“, „‚Nachbildung‘, ‚Nachahmung‘ (imitatio)“, aber auch „‚Gestalt‘ (forma) und vor allem ‚Gestaltung‘ (formatio)“.13

Besonders deutlich wird der religiöse Gehalt des Bildungsbegriffs in der dreifachen Unterscheidung zwischenEntbilden, EinbildenundÜberbilden. Denn hier wird der Bildungsprozess unmittelbar auf das Verhältnis des Menschen zu Gott bezogen. Für die Mystik besteht das höchste und letzte Bildungsziel darin, sich von Gott überbilden zu lassen, neu zu werden aus dem Verhältnis zu Gott – das entspricht ganz dem für die Mystik leitenden Gedanken einer Vereinigung mit Gott (unio mystica). Ein sich in Gott Hineinbilden und Überbildet-Werden wird der Überzeugung der Mystik zufolge aber erst möglich, wenn der Mensch sich von den weltlichen Bindungen und Vorstellungen, die ihn bestimmen, gelöst hat, um auf diese Weise frei oder leer zu werden. Dies ist die Aufgabe der Entbildung als Voraussetzung für eine Überbildung durch Gott. Insofern bezeichnen die drei Begriffe – Entbilden, Einbilden, Überbilden – drei Momente in einem Prozess der Erneuerung und Verwandlung des Menschen durch Gott. Allerdings ist dabei nicht an einen pädagogischen Prozess zu denken und auch nicht an eine Bekehrungssituation. Es geht vielmehr um ein Handeln Gottes am Menschen. Folgendes Zitat aus Meister Eckharts „Buch der göttlichen Tröstung“ lässt das gut erkennen:

„Und wie vorhin vom Leer-Sein oder Bloß-Sein gesagt wurde, dass die Seele, je lauterer, entblößter und ärmer sie ist und je weniger Kreaturen sie hat und je leerer an allen Dingen sie ist, die Gott nicht sind, um so reiner Gott und um so mehr in Gott erfasst und mehr eins mit Gott wird und in Gott schaut und Gott in sie von Antlitz zu Antlitz, wie in einem Bilde überbildet, wie Sankt Paulus sagt“.14

Um zu verstehen, warum der Aspekt des Bildes für diesen Prozess der inneren Verwandlung so wichtig ist und was damit gemeint war, muss man sich den doppelten Ursprung des zugrunde liegenden Verständnisses von Bild und Bildung klarmachen. In der Mystik fließen hier zwei Traditionen ineinander, nicht im Sinne unabhängiger Einflussgrößen, sondern als ein doppelt bestimmtes semantisches Feld: Auf der einen Seite ist es das biblische Verständnis von Gottebenbildlichkeit nach Gen 1,26f. („Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“) sowie im Sinne des von Meister Eckhart direkt genannten Paulus im Neuen Testament („wir werden verklärt in sein Bild“, 2 Kor 3,18), und auf der anderen Seite sind es die von Platon ausgehenden Vorstellungen im Blick auf die Ideen, an denen die Seele des Menschen im Sinne von Urbildern teilhat. Der in der Mystik beschriebene Prozess, für den dann der neue Begriff der Bildung steht, führt in dieser Sicht zu der wahren Gestalt des Menschen, die ebenso als Urbild wie als bestimmendes Vorbild aufgefasst werden kann.

Dass der Bildungsbegriff so deutlich religiöse Wurzeln aufweist, ist als Beleg für die These, dass Bildung als Thema der Theologie verstanden werden kann, bereits als sprachgeschichtlicher Befund von hohem Interesse. Der auf den Ursprung des Bildungsbegriffs bezogene Befund wäre jedoch nur von musealem Erinnerungswert, wenn sich damit nicht auch für die weitere geschichtliche Entwicklung des Bildungsverständnisses maßgebliche Voraussetzungen verbinden würden. Solche Voraussetzungen lassen sich schon an dieser Stelle in mehreren Hinsichten namhaft machen:

•Durch den grundlegenden Bezug des Bildungsbegriffs auf die jedem Menschen eigene Gottebenbildlichkeit enthält der Bildungsbegriff eine religiös begründete egalitäre Bedeutung. Bildung in diesem Sinne kann keine Angelegenheit nur für eine gesellschaftliche Elite sein, sondern muss als Recht jedes einzelnen Menschen verstanden werden. Im Mittelalter konnte sich eine solche, an der Gleichheit aller Menschen ausgerichtete Vorstellung aufgrund der damaligen sozialen Voraussetzungen im Aufbau der ständischen Gesellschaft, allerdings kaum durchsetzen. Dass sie zumindest in späterer Zeit dennoch auch geschichtlich wirksam wurde, und zwar deutlich vor der Einführung moderner Formen von Demokratie, zeigt sich etwa im 17. Jahrhundert bei dem evangelischen Theologen und BildungsphilosophenJohann Amos Comenius. Denn Comenius begründet sein programmatisch aufalleMenschen (omnes) bezogenes Bildungsverständnis ausdrücklich von der Gottebenbildlichkeit her: „Wo Gott keinen Unterschied gemacht hat, da soll auch der Mensch keine Schranken aufrichten.“15