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Eine kurze Geschichte von jedem, der jemals gelebt hat E-Book

Adam Rutherford

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Beschreibung

Wussten Sie, dass jeder von uns Karl den Großen zu seinen Vorfahren zählen kann? Dass Neandertaler mitnichten eine eigene Spezies sind, genetisch so etwas wie Rasse gar nicht existiert und die Rothaarigen allen Unkenrufen zum Trotz nicht aussterben werden? Wo kommen wir her? Was ist der Mensch? Seit das Genom, der komplette Erbgut-Satz eines Menschen, hunderttausendfach entschlüsselt («sequenziert») worden ist, erobert die Genforschung immer weitere Felder. Das Neueste: Weil unserem Genom auch die Evolution unserer Spezies eingeschrieben ist, schreiben Genforscher jetzt an der Seite von Archäologen und Historikern auch Menschheitsgeschichte. Sie haben dabei überraschende Erkenntnisse gewonnen. Und manches Wissen von gestern erweist sich als Mythos, zumal inzwischen auch das Genmaterial sehr alter Knochenfunde «zum Sprechen» gebracht werden kann. Ein Science-Schmöker für jedermann, der sich für dieses neue Wissensfeld interessiert, zugleich gibt der Autor eine beiläufige Einführung für jedermann in die Vererbungslehre. 150 Jahre nach Darwin gibt Rutherford einen ausgezeichneten Überblick darüber, was wir inzwischen wissen können, und auch darüber, was wir eben nicht wissen. «Eine brillante, maßgebliche, überraschende, fesselnde Einführung in die Humangenetik. Wenn Sie wenig über die Geschichte des Menschen wissen, werden Sie verzaubert sein. Wenn Sie viel über die Geschichte des Menschen wissen, werden Sie verzaubert sein. So gut ist das.» Brian Cox «Meisterhaft, lehrreich und entzückend.» Peter Frankopan «Inspirierend und unterhaltsam.» Richard Dawkins

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Seitenzahl: 586

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Adam Rutherford

Eine kurze Geschichte von jedem, der jemals gelebt hat

Was unsere Gene über uns verraten

Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Coralie Wink

Über dieses Buch

Wussten Sie, dass jeder von uns Karl den Großen zu seinen Vorfahren zählen kann? Dass Neandertaler mitnichten eine eigene Spezies sind, genetisch so etwas wie Rasse gar nicht existiert und die Rothaarigen allen Unkenrufen zum Trotz nicht aussterben werden?

 

Wo kommen wir her? Was ist der Mensch? Seit das Genom, der komplette Erbgut-Satz eines Menschen, hunderttausendfach entschlüsselt («sequenziert») worden ist, erobert die Genforschung immer weitere Felder. Das Neueste: Weil unserem Genom auch die Evolution unserer Spezies eingeschrieben ist, schreiben Genforscher jetzt an der Seite von Archäologen und Historikern auch Menschheitsgeschichte. Sie haben dabei überraschende Erkenntnisse gewonnen. Und manches Wissen von gestern erweist sich als Mythos, zumal inzwischen auch das Genmaterial sehr alter Knochenfunde «zum Sprechen» gebracht werden kann.

 

Ein Science-Schmöker für jedermann, der sich für dieses neue Wissensfeld interessiert, zugleich gibt der Autor eine beiläufige Einführung für jedermann in die Vererbungslehre. 150 Jahre nach Darwin gibt Rutherford einen ausgezeichneten Überblick darüber, was wir inzwischen wissen können, und auch darüber, was wir eben nicht wissen.

 

 

«Eine brillante, maßgebliche, überraschende, fesselnde Einführung in die Humangenetik. Wenn Sie wenig über die Geschichte des Menschen wissen, werden Sie verzaubert sein. Wenn Sie viel über die Geschichte des Menschen wissen, werden Sie verzaubert sein. So gut ist das.»

Brian Cox

 

«Meisterhaft, lehrreich und entzückend.»

Peter Frankopan

 

«Inspirierend und unterhaltsam.»

Richard Dawkins

Vita

Dr. Adam Rutherford, geboren Mitte der 70er Jahre in Ipswich, ist Science-Autor und Radiojournalist. Er hat Genetik am University College London studiert und gehörte zu einem Team, das die genetischen Ursachen einer Form von Kinderblindheit identifizierte. Er schrieb und schreibt zahlreiche Serien und Radiofeatures für die BBC, darüber hinaus schreibt er für die Science-Seite des Guardian.

Inhaltsübersicht

WidmungVorbemerkung des AutorsEinleitungTeil I Wie wir entstanden sindKapitel 1 Geil und mobilLesen lernenDer Tod kann hinfort über ihn nicht herrschenEin Zahn und eine FingerspitzeEin Geist aus der VergangenheitKapitel 2 Die erste europäische UnionLoschbour, Luxemburg, vor 8000 JahrenMilch (und Honig)Blond und blauäugigDie Roten kommenDie Briten kommenBláskógabyggð, Island, 930 n. Chr.Leben auf einer kleinen InselEin ungebetener GastDie Körper ausgrabenDer Schwarze TodDer langsame Auszug aus AfrikaKapitel 3 Als wir Könige warena) Der König lebt weiterb) Richard III., 6. AktDie falsche Identifizierung von Jack the RipperDie Wiederbestattung Richards III.c) Der König ist tot …Ohne Inzucht läuft es besserZwei Zigeuner, schwarz und greulich …Teil II Wer wir heute sindKapitel 4 Das Ende des RassebegriffsOktober 1981, Capel St. Mary, SuffolkRassengenetikHitchhiking, Surfen und SweepenWas ist unter «Rasse» zu verstehen?Kapitel 5 Die erstaunlichste Karte, die die Menschheit je hervorgebracht hatCold Spring Harbor, New York, Mai 2000Das Rätsel der fehlenden HeritabilitätDiese Wissenschaft braucht SieKapitel 6 SchicksalKimsey Mountain, Polk County, Tennessee, 13. Oktober 2006Holland, West-Niederlande, November 1944Kapitel 7 Eine kurze Einführung in die Zukunft der MenschheitEpilogDanksagungGlossarWissenschaftliche Artikel und weiterführende LiteraturRegisterAbbildungsnachweise

Steve Jones war mein wissenschaftlicher Lehrer und Mentor am University College London und darüber hinaus. Am ersten Tag seiner Einführungsvorlesung in Genetik 1994 bot er jedem von uns «armen» Studenten an, uns beim Kauf seines Lehrbuchs The Language of the Genes seinen eigenen Autorenanteil in Höhe von 55 Pence zu erstatten. Ich forderte diese 55 Pence ein. Im Lauf der Jahre hat Steve mich intellektuell wahrscheinlich mehr beeinflusst als irgendjemand anders, und in vieler Hinsicht ist dieses Buch – mit seiner Erlaubnis – eine Fortsetzung seines Klassikers. Als ich im Jahr 2012 zu einem Vortrag vor der British Humanist Association eingeladen wurde, hielt Steve die Einführungsrede. Er meinte scherzhaft, so hoffe ich, dass er das deutliche Gefühl habe, ich warte nur auf seinen Tod, damit ich sein Lebenswerk vollends übernehmen könne. Da er indes noch nicht tot ist sowie als Dank für die 55 Pence, widme ich dieses Buch

 

Steve Jones

Vorbemerkung des Autors

Wissenschaft erfordert Zusammenarbeit. Es gibt keine einsamen Genies, niemals böse Genies und auch nur ganz selten ketzerische Genies. Fast die gesamte wissenschaftliche Forschung wird von ganz normalen Menschen geleistet, die im Team mit anderen aus mehr oder weniger ähnlichen Forschungsgebieten zusammenarbeiten. Sie bauen Wissen «auf den Schultern von Riesen» auf, wie Isaac Newton einst meinte, als er einen Ausspruch des im 11./12. Jahrhundert lebenden Philosophen Bernhard von Chartres zitierte. Chartres bezog sich auf den griechischen Mythos des riesenhaften, zeitweilig blinden Jägers Orion, der weiter sah als andere, weil er einen Zwerg auf seine Schultern setzte.

Die Wissenschaft in diesem Buch ist vielleicht stärker auf Zusammenarbeit gegründet als die meisten anderen Fächer, da es hier um die Einführung einer neuen Disziplin, der Genomik, in ältere Disziplinen geht, namentlich in die Archäologie, Paläoanthropologie, Medizin und Psychologie. Die Liste der Autoren kann bei genetischen Fachartikeln Dutzende, Hunderte und gelegentlich sogar Tausende Namen umfassen. Die Zeiten, als wohlhabende viktorianische Privatgelehrte ihr Erbe einsetzen konnten, um der Natur ihre Geheimnisse zu entreißen, sind schon lange Geschichte.

Viele Menschen haben mich beim Schreiben dieses Buches unterstützt, und ich habe zahlreiche wissenschaftliche Artikel zu Rate gezogen, die im Anhang aufgeführt sind. Größtenteils habe ich jedoch weder spezielle Literaturverweise noch einzelne Forscher im Text erwähnt, um den Erzählfluss nicht zu stören. An einem Großteil der Untersuchungen ist Mark Thomas vom University College London beteiligt, und ich bin ihm sehr dankbar für seine jahrelange Unterstützung und Freundschaft. Das junge Gebiet der Paläogenetik wird zurzeit nur von ein paar Laboren intensiv betrieben, doch da die Techniken immer besser und einfacher anwendbar werden und die Datenfülle wächst, breitet es sich rasant aus. Einige der Erzählungen in diesem Buch stützen sich auf die Arbeiten von Svante Pääbo, Turi King und das Richard-III.-Projekt, Joe Pickrell, David Reich, Josh Akey, Joachim Burger, Graham Coop, Johannes Krause sowie einiger anderer Wissenschaftler, die mir alle direkt oder indirekt geholfen haben. Sie haben die Arbeit gemacht, ich die etwaigen Fehler im Buch. Auf Seite 425 findet sich ein Glossar, in dem einige der technischen oder wenig leserfreundlichen Begriffe erklärt sind, die Genetiker gern benutzen.

Einleitung

In einer fernen Zukunft sehe ich die Felder für noch weit wichtigere Untersuchungen sich öffnen. […] Licht wird auf den Ursprung der Menschheit und ihre Geschichte fallen.

Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten, Kapitel 14: Allgemeine Wiederholung und Schluss, 1859

Diese Geschichte handelt von Ihnen. Es geht darum, wer Sie sind und wie Sie entstanden sind. Es ist Ihre ureigenste Geschichte, denn die Geschichte des Lebens, die sich in Ihrer Existenz manifestiert, ist einzigartig, so wie es für jeden Menschen gilt, der jemals das Licht der Welt erblickt hat. Und es ist gleichzeitig unsere gemeinsame Geschichte, denn als Botschafter für die Gesamtheit unserer Art sind Sie gleichzeitig typisch und außergewöhnlich. Trotz unserer Unterschiede sind alle Menschen bemerkenswert eng miteinander verwandt. Unser Familienstammbaum ist gestutzt und sieht mit seinen gewundenen Verästelungen überhaupt nicht wie ein Baum aus. Dennoch sind wir seine Frucht.

Bis heute haben etwa 107 Milliarden moderne Menschen existiert, auch wenn diese Zahl davon abhängt, wann genau man zu zählen beginnt. Sie alle – jeder von uns – sind enge Vettern, denn unsere Art hat einen einzigen gemeinsamen Ursprung, der in Afrika liegt. Es ist schwer, die richtigen Worte zu finden, um auszudrücken, was das wirklich bedeutet. Damit ist beispielsweise kein einzelnes Paar gemeint, ein hypothetischer Adam und eine hypothetische Eva. Wir denken eher an Familien, Stammbäume, Genealogien und Vorfahren und versuchen, uns die ferne Vergangenheit in derselben Weise vorzustellen. Wer waren meine Vorfahren? Vielleicht ist Ihr Familienstammbaum einfach und übersichtlich, oder er ist wie bei mir recht unordentlich mit Ranken, die sich wie alte Drähte in einer Schublade ineinander verheddern. Aber so oder so, jedermanns Vergangenheit wird früher oder später ein verworrenes Durcheinander.

Wir alle haben zwei Eltern, und unsere Eltern hatten zwei Eltern, und deren Eltern hatten zwei Eltern, und so weiter. Wenn man so fortfährt bis zum Zeitpunkt, als England zum letzten Mal erobert wurde, das heißt bis zum Jahr 1066, so führt diese Verdopplung einer jeden Generation zu insgesamt mehr Menschen, als jemals gelebt haben, und zwar um viele Milliarden mehr. In Wahrheit laufen unsere Ahnenlinien aber wieder zusammen, die verschlungenen Zweige bilden Schleifen und verschmelzen miteinander, und so sind alle Menschen, die jemals gelebt haben, nicht so sehr Teil eines Stamm-«Baums», sondern vielmehr eines komplizierten «Netzes» aus Ahnen. Wir müssen nur ein paar Dutzend Jahrhunderte zurückgehen, um festzustellen, dass der größte Teil der heute lebenden sieben Milliarden Menschen von einer Handvoll Personen abstammt, etwa der Bevölkerung eines Dorfes entsprechend.

Geschichte ist das, was wir dokumentiert haben. Da wir verstehen möchten, wer wir sind und woher wir kommen, haben wir seit Jahrtausenden die Geschichte unserer Vergangenheit und Gegenwart überliefert – in Malereien und Skulpturen, in Wort und Schrift. Nach allgemeinem Konsens beginnt Geschichte mit den ersten Schriftzeugnissen. Davor liegt die Vorgeschichte. Um das Ganze in seiner Perspektive zu sehen: Das Leben auf der Erde existiert seit rund 3,9 Milliarden Jahren. Die Art Homo sapiens, zu der wir gehören, tauchte erst vor rund 200000 Jahren in Ostafrika auf. Die Schrift wurde vor etwa 6000 Jahren in Mesopotamien entwickelt, irgendwo in der Region, die wir heute den Nahen Osten nennen.

Zum Vergleich: Das Buch, das Sie gerade lesen, ist rund 111000 Wörter oder 780000 Buchstaben lang (einschließlich Leerzeichen). Würde dieses Buch die Zeitspanne repräsentieren, seit der irdisches Leben existiert, stünde jeder Buchstabe einschließlich der Leerzeichen für rund 5000 Jahre. Die Existenz des anatomisch modernen Menschen auf der Erde entspräche genau der Länge dieses Teilsatzes.

Die Zeit, in der wir Geschichte schriftlich niedergelegt haben, ist wie aus Sicht der Evolution ein Flügelschlag und entspräche einem einzigen Buchstaben bzw. Satzzeichen von der Breite dieses Punktes ‹.›.

Und wie lückenhaft diese Geschichte ist! Dokumente verschwinden, lösen sich auf, zerfallen. Sie werden von der Witterung ausgewaschen, von Insekten oder Bakterien aufgefressen, zerstört, versteckt, verschleiert oder überarbeitet. Und dabei haben wir noch nicht die Subjektivität historischer Unterlagen berücksichtigt. Wir können uns nicht einmal definitiv darüber einigen, was in den letzten zehn Jahren geschehen ist. Zeitungen berichten über Ereignisse aus einer eindeutig verzerrten Perspektive. Kameras zeichnen Bilder auf, die von Menschen bearbeitet werden, und zeigen nur, was die Linse einfängt, häufig ohne jeden Kontext. Die Menschen selbst sind höchst unzuverlässige Zeugen, was die objektive Wirklichkeit angeht. Wir tappen unbeholfen umher.

Durchaus möglich, dass die genauen Details der Ereignisse am 11. September 2001, als die Türme des World Trade Center zerstört wurden, wegen widerstreitender Berichte und des Chaos in diesen schrecklichen Stunden im Dunkeln bleiben werden. Die Aussagen von Zeugen vor Gericht sind notorisch fehlerhaft und bedürfen genauer Überprüfung. Gehen Sie ein paar Jahrhunderte zurück, und es gibt keine zeitgenössischen Belege für die Existenz von Jesus Christus, dem vermutlich einflussreichsten Menschen in der Menschheitsgeschichte. Die meisten Geschichten über sein Leben wurden Jahrzehnte nach seinem Tod von Leuten verfasst, die ihm niemals begegnet sind. Heutzutage würden wir solche Berichte, wenn sie uns als historische Belege präsentiert würden, ernsthaft in Frage stellen. Selbst die Berichte, auf die sich Christen berufen, die Evangelien, sind widersprüchlich und haben sich im Lauf der Zeit unwiederbringlich verändert.

Damit soll keinesfalls die Geschichtswissenschaft (oder das Christentum) diskreditiert werden. Die Berichte sollen nur vor Augen führen, wie nebulös die Vergangenheit ist. Bis vor kurzem wurde sie vorwiegend in religiösen Texten, in Dokumenten über geschäftliche Transaktionen und in den Unterlagen über königliche Abstammungslinien überliefert. In modernen Zeiten haben wir das entgegengesetzte Problem – viel zu viele Informationen und fast keine Möglichkeit, sie zu verwalten. Bei jedem Kauf, den Sie online tätigen, bei jeder Internet-Suche hinterlassen Sie Spuren, die von Unternehmen im Netz abgeschöpft werden können. Bücher, Sagen, mündliche Überlieferungen, Inschriften, Archäologie, das Internet, Datenbanken, Film, Radio, Festplatten, Tonbänder. Wir fügen diese Informationsschnipsel zusammen, um die Vergangenheit zu rekonstruieren. Und nun ist auch die Biologie zu einem Teil dieser enormen Informationsüberflutung geworden.

Das Zitat am Anfang dieses Kapitels ist die einzige Stelle in seinem Werk Über die Entstehung der Arten, wo Darwin auf den Menschen verweist. Es steht ganz am Ende, als wolle es uns auf einen weiteren Band neugierig machen. Seine Theorie der Abstammung wird in veränderter Form auch Licht auf unsere eigene Geschichte werfen. Fortsetzung folgt.

Diese Zeit ist nun gekommen. Es gibt nun eine weitere Möglichkeit, unsere Vergangenheit zu lesen und unsere Ursprünge zu erhellen. Jeder Mensch trägt eine einzigartige Saga in seinen Genen – episch, einzigartig und verschlungen. Vor rund zehn Jahren, 50 Jahre nach der Entdeckung der Doppelhelix, haben unsere Fähigkeiten zur Entzifferung der DNA derart zugenommen, dass wir unsere Erbsubstanz inzwischen als historische Quelle benutzen können, als einen Text, über den wir nachgrübeln können. Unser Genom, unsere Gene und unsere DNA bergen einen Bericht über die Reise des Lebens auf der Erde in sich – vier Milliarden Jahre Versuch und Irrtum, die zu uns, zu Ihnen, geführt haben. Unser Genom ist die Gesamtheit unserer DNA, drei Milliarden «Buchstaben» (Basenpaare) stark. Die Art und Weise – durch die (biologisch gesehen) geheimnisvolle Sache mit dem Sex –, wie sich das Genom zusammenfügt, führt dazu, dass jedes, also auch Ihr Genom ein Unikat ist. Nicht nur, dass dieser genetische Fingerabdruck Ihnen allein gehört, sondern er unterscheidet sich auch von jedem Genom der 107 Milliarden Menschen, die bisher gelebt haben. Das gilt selbst dann, wenn Sie einen eineiigen Zwilling haben, denn die Genome eineiiger Zwillinge sind zwar im Augenblick der Empfängnis identisch, entwickeln sich aber auseinander, sobald sich die Embryonen getrennt haben. Um es mit den Worten von Dr. Seuss zu sagen:

Heute bist du du! Das ist wahrer als wahr!

Niemand ist da, der mehr du ist als du!

Das Spermium, das Sie entstehen ließ, begann sein Leben ein paar Tage vor Ihrer Empfängnis in den Hoden Ihres Vaters. Ein einziges von Milliarden Spermien bohrte sich in eine Eizelle hinein, eine von wenigen hundert, die Ihre Mutter besaß. Wie in einer russischen Puppe war diese Eizelle herangewachsen, während ihre Trägerin in Ihrer Mutter heranwuchs, doch reif wurde sie erst während ihres letzten Menstruationszyklus. Dann schlüpfte sie aus einem der Eileiter und verließ ihren komfortablen Entstehungsort. Beim Kontakt mit der Eizelle setze das erfolgreiche Spermium eine chemische Substanz frei, mit der es die Membran der Eizelle auflöste, und bohrte sich ins Innere, wobei es seinen Peitschenschwanz abwarf. Sobald das Spermium im Inneren angelangt war, errichtete die Eizelle eine unüberwindliche Barriere, die das Eindringen weiterer Spermien verhinderte. Das Spermium war wie die Eizelle ein Unikat, und aus der einmaligen Kombination dieser beiden sind Sie entstanden. Selbst die Eintrittsstelle für das Spermium war einmalig. Die Eizelle Ihrer Mutter war annähernd rund, sodass das Spermium überall hätte andocken können. Den zufällig bestimmten Punkt, an dem es eindrang, machte es damit aber zu etwas Besonderem. Von diesem Punkt aus wanderten chemische Substanzen in Wellen durch die befruchtete Eizelle und den Embryo und legten den Bauplan für Ihren Körper – Kopf an der einen Seite, Schwanz an der anderen. Von anderen Organismen wissen wir, dass das erfolgreiche Spermium – wenn es von der gegenüberliegenden Seite gekommen wäre – zur Entwicklung eines seitenverkehrt orientierten Embryos geführt hätte – und so ist es vermutlich auch bei uns Menschen.

Das genetische Material Ihrer Eltern, ihr Genom, war bei der Bildung von Spermium und Eizelle gemischt und dann hälftig aufgeteilt worden. Ihre Eltern wiederum hatten von Ihren Großeltern zwei Chromosomensätze erhalten, und durch das Mischen dieser Chromosomensätze entstand eine Kombination, die es noch nie zuvor gegeben hat und auch nie wieder geben wird. Zusätzlich haben Ihre Eltern Sie mit einer geringen Menge «ungemischter» DNA ausgestattet. Falls Sie ein Mann sind, besitzen Sie ein Y-Chromosom, das über die Spermien weitgehend unverändert von Ihrem Vater und von dessen Vater und so fort an Sie weitergegeben wurde. Dabei handelt es sich um ein unterentwickeltes, verkümmertes Stückchen DNA, das nur wenige Gene und eine Menge genetischer Überreste trägt. Auch die Eizelle Ihrer Mutter besaß ein paar eigene, ringförmige DNA-Strukturen, die aber nur in ihren Mitochondrien vorkommen, den winzigen «Kraftwerken», die die Zelle mit Energie versorgen. Mitochondrien haben also ein eigenes Mini-Genom. Weil aber alle Mitochondrien einer befruchteten Eizelle aus der Eizelle selbst stammen, werden sie nur über die mütterliche Linie weitervererbt. Gemeinsam machen Y-Chromosom und Mitochondrien-DNA nur einen kleinen Teil Ihrer Gesamt-DNA aus, doch ihre klare Abstammungslinie ist von Nutzen, wenn man ein Merkmal über Ahnenlinien und den Lauf der Geschichte zurückverfolgen möchte. Der größte Teil Ihrer DNA fand jedoch zusammen, als die DNA Ihrer Eltern neu gemischt wurde, und deren DNA beim Mischen der großelterlichen DNA. Dieser Prozess läuft jedes Mal ab, wenn ein Mensch entsteht; die Kette, deren vorläufiges Endglied Sie sind, ist ununterbrochen.

Mama und Papa, die versau’n dich,

vielleicht nicht mit Absicht, aber sie tun’s,

verpassen dir ihre eigenen Macken

und extra für dich noch ein paar dazu.

Ich will die psychologischen oder elterlichen Aspekte von Philip Larkins Gedicht nicht kommentieren, aber vom biologischen Standpunkt gesehen liegt er goldrichtig. Jedes Mal, wenn ein Spermium oder eine Eizelle entsteht, bringt das Mischen neue Varianten hervor, individuelle Muster für die Menschen, die sie beherbergen. Sie erben die DNA Ihrer Eltern in einzigartigen Kombinationen, und im Lauf dieses Vorgangs, der so genannten Meiose, entstehen auch einige brandneue genetische Varianten nur für Sie. Einige davon werden später weitergegeben, falls Sie Kinder haben sollten, und diese Kinder werden zudem ihre eigenen Varianten erwerben.

Auf diese Unterschiede in Populationen kann die Selektion einwirken, und anhand dieser Unterschiede können wir den Weg der Menschheit zurückverfolgen, während unsere Vorfahren Länder und Meere durchstreiften und innerhalb vieler tausend Jahre schließlich jeden Winkel der Erde besiedelt haben. Genetiker sind plötzlich zu Historikern geworden. Ein einzelnes Genom enthält eine riesige Menge an DNA-Sequenzen, mehr als genug, um einen Menschen zu programmieren. Aber die Genomik ist eine vergleichende Wissenschaft. Betrachtet man die Genome von zwei unterschiedlichen Menschen, so enthalten diese eine große Menge unterschiedlicher Information. Sämtliche menschlichen Genome beherbergen die gleichen Gene, doch diese können sich allesamt leicht unterscheiden, was erklärt, warum wir alle uns unglaublich ähneln und doch völlig einzigartig sind. Durch einen Vergleich dieser Unterschiede können wir Rückschlüsse darauf ziehen, wie nahe diese beiden Personen miteinander verwandt sind und wann im Lauf der Evolution sich diese Unterschiede entwickelt haben. Heute können wir diese Vergleiche auf die gesamte Menschheit ausdehnen, solange es uns gelingt, DNA aus ihren Zellen zu extrahieren.

Als 2001 unter großer Medienaufmerksamkeit das erste «vollständige» menschliche Genom publiziert wurde, handelte es sich in Wahrheit um einen lückenhaften vorläufigen Datensatz mit einem Großteil des genetischen Materials einiger weniger Menschen. Um so weit zu kommen, hatten viele hundert Wissenschaftler fast ein Jahrzehnt an dem Projekt gearbeitet, und die Kosten hatten in der Größenordnung von drei Milliarden Dollar gelegen, rund ein Dollar pro DNA-Basenpaar. Nur 15 Jahre später sind die Dinge deutlich einfacher geworden, und die Menge an Genomen einzelner Individuen ist inzwischen unüberschaubar. Während ich dies schreibe, gibt es rund 150000 komplett sequenzierte menschliche Genome sowie verwertbare Proben von Millionen Menschen aus der ganzen Welt. Große medizinische Unterfangen mit passenden Namen wie «The Hundred Thousand Genome Project» («Das 100000-Genome-Projekt») zeigen, wie leicht wir inzwischen die Daten gewinnen können, die wir alle in unseren lebenden Zellen beherbergen. In Großbritannien wird ernsthaft erwogen, das Genom sämtlicher Neugeborenen zu sequenzieren. Und diese Projekte sind nicht auf die offizielle Wissenschaft oder die staatliche Gesundheitsfürsorge (National Health Service) beschränkt: Jeder kann in ein Teströhrchen spucken und erhält später von etlichen kommerziellen Unternehmen eine Auflistung der wichtigen Abschnitte seines eigenen Genoms, die uns alles Mögliche über seine Eigenschaften, Geschichte und Krankheitsrisiken erzählen, und das alles nur für eine Handvoll Euro.

Inzwischen besitzen wir die Genome von vielen hundert Menschen, die schon lange tot sind, und können diese Genome in das große Ganze einfügen. 2014 wurden die Knochen eines englischen Königs, Richards III., zusammen mit etlichen anderen archäologischen Funden ausgegraben und identifiziert (Kapitel 3), doch zum Mediencoup wurde das Ganze erst durch die königliche DNA. Die Könige und Königinnen der Vergangenheit sind uns durch ihren Stand bekannt, denn die Geschichte wird von ihren Taten und ihrem Leben dominiert. Zwar hat die Genetik die Erforschung von Monarchen bereichert, doch die DNA ist die ultimative Gleichmacherin, und unsere neu erworbene Fähigkeit, kleinste Details der Vergangenheit offenzulegen, hat sich zu einer Methode entwickelt, Menschen, Länder und Wanderungen von jedermann zu untersuchen. Wir können alles prüfen, bestätigen oder widerlegen und die Geschichte des gemeinen Volkes erkunden, nicht nur diejenige der damaligen Machthaber. Einige Nobodys der Vergangenheit gehören dadurch plötzlich zu den wichtigsten Menschen, die jemals gelebt haben. DNA ist universell, und einer königlichen Linie anzugehören, könnte dem Betreffenden, wie wir noch sehen werden, göttliche Rechte über Untertanen und die weltlichen Besitztümer verleihen, die mit ererbter Macht einhergehen, doch Evolution, Genetik und Sex scheren sich nicht um Nationalitäten, Grenzen und das ganze Machtgerangel.

Und wir können noch weiter schauen. Die Erforschung von früheren Zeiten beschränkte sich einst auf alte Zähne, Knochen und die geisterhaften Spuren ihres Lebens im Staub. Inzwischen können wir jedoch sogar tatsächlich die genetische Information von Frühmenschen, wie den Neandertalern und anderen ausgestorbenen Vertretern unserer ausgedehnten Familie, gleich einem Puzzle zusammensetzen, und diese Menschen weisen uns einen neuen Weg dorthin, wo wir heute stehen. Wir können ihre DNA lesen, und sie verrät uns Dinge, die wir auf andere Weise nie erfahren hätten – wir können beispielsweise ableiten, was ein Neandertaler riechen konnte. Selbst nach vielen Epochen lassen uns DNA-Proben tief in unsere Vorgeschichte zurückblicken und haben die Geschichte unserer Evolution grundlegend umgeschrieben. Die Vergangenheit mag ein fernes, fremdes Land sein, doch ihre Landkarten trugen und tragen wir seit eh und je in uns.

Die Menge an Daten, die diese neue Wissenschaft generiert, ist überwältigend: Jede Woche werden neue Forschungsergebnisse publiziert, die das bisherige Wissen auf den Kopf stellen. Während der letzten Phasen der Arbeit an diesem Buch verschob sich der Zeitpunkt der großen Auswanderung aus Afrika um 10000 Jahre nach vorne, als in China 47 moderne Zähne entdeckt wurden. Dann, in der Endphase des Schreibens, bewegte sich dieser Zeitpunkt durch die Entdeckung von Homo-sapiens-DNA in einem 100000 Jahre alten Neandertalergrab um weitere 20000 Jahre zurück. Diese Zahlen sind mit dem Maßstab der Evolution gemessen nicht besonders groß, in geologischen Dimensionen gesehen nur ein Wimpernschlag. Aber diese Zeitspanne ist viel länger als die gesamte schriftlich niedergelegte Geschichte des Menschen, und so bewegt sich der Boden ständig und dramatisch unter unseren Füßen.

 

Die erste Hälfte des Buches handelt davon, wie die Vergangenheit mit Hilfe der Genetik neu geschrieben wird, beginnend mit dem Zeitpunkt, als es mindestens vier Menschenarten auf der Erde gab, bis zu den europäischen Königen zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte beschäftigen wir uns damit, wer wir heute sind und was die Erforschung der DNA im 21. Jahrhundert über Familien, Gesundheit, Psychologie, Rasse und unser Schicksal sagt. Beide Teile basieren auf DNA-Befunden, die wie Texte sind, auf die wir uns genauso stützen können wie auf die historischen Quellen, auf die wir uns seit Jahrhunderten bezogen haben: Archäologie, Gesteine, alte Knochen, Legenden, Chroniken und Familiengeschichten.

Auch wenn das Studium von Vorfahren und Vererbung so alt ist wie die Menschheit, ist die Genetik eine junge Wissenschaft mit einer vergleichsweise kurzen und schwierigen Geschichte. Die Humangenetik wurde entwickelt, um Menschen zu vermessen und zu vergleichen und die Unterschiede zwischen ihnen anschließend unter dem Mäntelchen der Wissenschaft zur Rechtfertigung von Rassentrennung und Unterdrückung zu benutzen. Die Entstehung der Genetik ist gleichbedeutend mit der Geburt der Eugenik, auch wenn dieser Begriff gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht dieselbe schlimme Bedeutung hatte wie heute. Es gibt kaum ein umstritteneres Thema in den gesamten Naturwissenschaften als Rasse – Menschen unterscheiden sich voneinander, und die Gewichtung dieser Unterschiede führte zu einigen der tiefsten Spaltungen und grausamsten, blutigsten Handlungen unserer Geschichte. Wie wir noch sehen werden, hat die moderne Genetik gezeigt, dass wir das ganze Konzept der Rasse weiterhin völlig falsch verstehen.

Menschen lieben es, Geschichten zu erzählen. Wir sind eine Art, die sich nach Geschichten verzehrt, vor allem nach Erklärungen und einem Weg, Zusammenhänge und die unbeschreibliche Komplexität des Menschseins zu verstehen. Als wir begannen, das Genom zu entziffern, wollten wir diese Erklärungen finden, die die Rätsel von Geschichte, Kultur und individueller Identität fein säuberlich lösen und uns präzise darüber Auskunft erteilen, wer wir sind und warum.

Unsere Wünsche wurden nicht erfüllt. Das menschliche Genom stellte sich als weitaus interessanter und komplizierter heraus, als irgendjemand erwartet hatte, einschließlich all der Genetiker, die heute, eine Dekade nach dem angeblichen Abschluss des Humangenom-Projekts, mehr zu tun haben als je zuvor. Diese Komplexität und unser Mangel an Verständnis werden uns erst allmählich bewusst und finden Eingang in unsere Diskussionen über Genetik. Früher sprachen wir über Blut und Blutlinien, um eine Verbindung zu unseren Vorfahren herzustellen und unsere Familienidentität zu beschreiben. Aber es geht nicht länger um Blut, sondern um Gene. DNA ist zum Inbegriff für unser Los geworden, ein roter Faden, der sich durch unser Lebensschicksal zieht. Aber das ist nicht der Fall. Wissenschaftler aller Fachrichtungen sind der Meinung, ihr Gebiet sei in den Medien besonders schlecht repräsentiert, doch als Wissenschaftler und Autor bin ich der Meinung, dass die Humangenetik mehr als alle anderen Disziplinen dazu prädestiniert ist, missverstanden zu werden – meiner Meinung nach deshalb, weil wir kulturell darauf programmiert sind.

Die Wissenschaft kann zeigen, dass vieles in der Welt nicht so ist, wie es uns erscheint, ob es sich um Kosmologie, Molekularbiologie, Atomphysik oder die Physik des Subatomaren handelt. Diese Gebiete liegen uns fern, sie sind abstrakt und unterscheiden sich deutlich von der Art und Weise, wie wir über Familien, Vererbung, Rasse, Intelligenz und Geschichte reden. Der Ballast, den wir in dieser Hinsicht mitschleppen, ist beispiellos. Zwischen dem, was die Wissenschaft herausgefunden hat, und der Art, wie wir über Familien und Rassen sprechen, klafft eine riesige Lücke, weil, wie wir noch sehen werden, die Dinge nicht so sind, wie wir dachten.

Auch um die DNA ranken sich viele Mythen und Legenden. Genetiker können uns zweifellos sagen, wer unsere nächsten Verwandten sind, und können so viele Rätsel unserer fernen Vergangenheit lösen. Aber Sie persönlich haben viel weniger mit Ihren Vorfahren gemein, als Sie vielleicht glauben, und es gibt Leute in Ihrer Familie, von denen Sie überhaupt keine Gene geerbt haben und die daher genetisch kaum mit Ihnen verwandt sind, obgleich Sie im genealogischen Sinne definitiv von ihnen abstammen. Ich werde Ihnen zeigen, dass uns die Genetik trotz allem, was Sie vielleicht gelesen haben, nicht sagen kann, wie schlau Ihre Kinder werden oder welchen Sport sie ausüben sollten oder welches Geschlecht sie als Partner bevorzugen werden oder wie sie sterben werden oder warum manche Leute schwere Verbrechen und Morde begehen. Genauso wichtig wie das, was die Genetik uns sagen kann, ist, was sie uns nicht sagen kann.

Es ist unsere DNA, die den Bauplan für ein so ausgetüfteltes Gehirn enthält, das in der Lage ist, Fragen nach seiner eigenen Herkunft zu stellen und die nötigen Werkzeuge zu entwickeln, um den Verlauf unserer Evolution zu ergründen. In der DNA, diesem seltsamen Molekül, haben sich im Lauf der Zeit Veränderungen angesammelt, sind aufgezeichnet worden und haben Jahrtausende geduldig gewartet, bis wir eines Tages die Fähigkeiten haben, diese Aufzeichnungen zu lesen. Und jetzt ist es so weit. Jedes Kapitel in diesem Buch erzählt eine andere Geschichte über historische Epochen, über Gene, über verlorene und gewonnene Schlachten, über Invasoren, Marodeure, Mord und Totschlag, Migration, Landwirtschaft, Krankheiten, Kaiser und Könige und immer wieder über abweichendes Sexualverhalten.

Dieses Buch ist vor allem ein Geschichtsbuch. Einige der hier erzählten Storys behandeln die Geschichte der Genetik – mit all ihren Wendungen und ihrer dunklen Vergangenheit. Sie wurden ins Buch aufgenommen, damit wir verstehen, wie wir zu dem Wissen kamen, das wir jetzt erst wirklich entdecken. Viele Geschichten handeln von Nationen, Populationen und Menschen, einige davon bekannt ob ihrer Berühmtheit oder ererbten Macht, doch meistens geht es um die anonymen Massen. Wir können die Knochen anonymer Männer, Frauen und Kinder untersuchen, die zufällig unter ungewöhnlichen Umständen starben und deren Leben wir forensisch aufarbeiten, weil diese Knochen so gut erhalten sind, dass wir DNA aus ihnen extrahieren können.

Biologie ist das Studium dessen, was lebt, und daher auch, was stirbt. Sie ist gleichzeitig wundervoll und chaotisch und dabei unpräzise und entzieht sich jeder Definition. Wenn man am Anfang beginnen möchte – was wie ein guter Ausgangspunkt erscheinen könnte –, gerät man gleich in Schwierigkeiten.

Teil IWie wir entstanden sind

Kapitel 1Geil und mobil

Es gibt keinen Anfang, keine Mitte, kein Ende, keine Gewissheit, keine Moral, keine Beweggründe, keine Wirkungen. Was wir in unseren Büchern lieben, sind die Tiefen vieler wunderbarer Augenblicke, alle gleichzeitig gesehen.

Kurt Vonnegut, Schlachthof 5

Vonnegut hatte zur Hälfte recht. Es gibt definitiv keinen Anfang, und wenn es ein Ende gibt, so ist es nicht in Sicht. Wir befinden uns stets in der Mitte, und wir sind fehlende Bindeglieder – missing links. Genauso, wie es keinen absoluten Punkt gab, an dem Ihr Leben begann, gab es keinen Moment der Schöpfung, aus dem unsere Spezies hervorging, keinen Lebensfunken, keinen Odem, den Gott in die Nase eines aus dem roten Staub der Erde geformten Adam blies, kein Schlupf aus einem kosmischen Ei. So läuft das. Nichts Lebendes ist festgelegt, und alle Geschöpfe sind vierdimensional; sie existieren im Raum und auch in der Zeit.

Leben ist Wandlung: Die einzigen Lebewesen, die wirklich statisch sind, sind bereits tot. Unsere Eltern hatten Eltern, und diese hatten ihrerseits Eltern, jeweils zwei, und so weiter, durch die ganze Geschichte und Vorgeschichte hindurch. Wenn man immer weiter zurückgeht, werden uns unsere Vorfahren allmählich und unvermeidlich immer fremder, über Menschenaffen zu gewöhnlichen Affen, erst zweibeinig, dann vierbeinig, rattenartige Säuger und ungeschlachte Landbewohner und noch weiter zurück watende Meeresgeschöpfe und Fische und primitive Urtiere, und vor rund zwei Milliarden Jahren brauchte man nicht einmal zwei Elternteile, sondern es reichte, wenn sich eine Zelle einfach teilte, sodass aus eins zwei wurde. Schließlich, zu Beginn des Lebens vor rund vier Milliarden Jahren, würde man in einen Felsen am Meeresgrund schauen, ins Innere eines heißen, blubbernden hydrothermalen Schlotes. Diese geologisch langsame, schrittweise Veränderung ist wie eine Farbenkarte, wo sich das Weiß Pixel um Pixel zu Schwarz verändert, ob es der Übergang von Reptilien zu Säugern ist oder vom vierbeinigen zum aufrechten Gang. Gelegentlich wird die Mischung mit einem Farbklecks aufgepeppt, aber die meiste Zeit hindurch bewegte sich die Evolution Ihrer Vorfahren im Kriechgang statt in Sprüngen[*] und wirkte insgesamt eher Grau in Grau.

Das Leben auf der Erde schreitet seit der Zeit der hydrothermalen Schlote kontinuierlich fort, und wir sind ein Punkt in diesem grauen Kontinuum. Rufen Sie sich das bekannte Bild eines dicht behaarten, pavianartigen Menschenaffen auf allen vieren ins Gedächtnis, auf den von links nach rechts ein stark gebeugter, dann ein weniger stark gebeugter Menschenaffe und schließlich ein aufrecht gehender, moderner bärtiger humanoider Menschenaffe wie wir folgt, der in der Hand einen Speer mit Feuersteinspitze trägt und das rechte Bein verschämt so anwinkelt, dass wir seine «unanständigen» Werkzeuge des biologischen Wandels nicht sehen müssen. Dieses symbolträchtige Bild impliziert etwas, das, wie wir inzwischen wissen, nicht stimmt. Wir wissen einfach nicht, welche Linie der Menschenaffen zu uns führte. Wir kennen viele der Geschöpfe auf dem Weg zu uns, doch die Landkarte ist voller Lücken und verschmierter Stellen. Die zweite falsche Annahme ist, es gebe in unserer Evolution eine Richtung, die zu unserem zweibeinigen Gang, unserem großen Gehirn, unseren Werkzeugen und unserer Kultur geführt hat. Mit dem Speer im Bild soll der Fortschritt symbolisiert werden, vom Einfachen zu einer unvermeidlichen Modernisierung in eine aufrechte Zukunft, in eine unausweichliche kognitive Revolution des Geistes.

Tatsächlich sind wir nicht mehr oder weniger durch die Evolution entwickelt als jeder andere Organismus auch. Einzigartigkeit wird schrecklich überbewertet. Wir sind nicht einzigartiger als jede andere Organismenart; jeder von uns ist einzigartig daran angepasst, seinen Genen optimale Chancen zu geben, unter den gegenwärtig herrschenden Umständen bis in alle Ewigkeit weitergegeben zu werden. Auch mit dem ganzen Gerüst der Evolution und einem modernen Verständnis von Evolution und Genetik ist es unmöglich, sich einen 20-stufigen Fortschritt der Menschenaffen von links nach rechts vorzustellen, ganz zu schweigen von diesen fünf klar definierten Einzelsprüngen. Es gibt kein Maß für das Fortschreiten der Evolution, und unser früherer Sprachgebrauch, in dem von «höheren» und «niedrigeren» Arten die Rede war, ist wissenschaftlich inzwischen ohne jede Bedeutung.

Charles Darwin benutzte diese zu seiner Zeit üblichen Begriffe[*], als er 1859 die Mechanismen für die Abstammung der Arten umriss. Damals gab es kaum Belege für andere aufrechte Menschenaffen, ob mit oder ohne Speer. Darwin wusste nicht, wie diese Abwandlungen von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kennen wir die Muster, durch die Merkmale von Eltern an ihre Nachkommen vererbt werden. In den 1940er Jahren stellte sich heraus, dass die DNA das Molekül ist, das diese Information von Generation zu Generation übermittelt. Seit 1953 wissen wir, dass DNA in Form einer Doppelhelix vorliegt, was ihr die besondere Fähigkeit verleiht, sich selbst zu kopieren und diesen Kopien zu ermöglichen, Zellen wie diejenige zu erzeugen, aus der Sie stammen. Und seit den 1960er Jahren ist bekannt, auf welche Weise die DNA für Proteine codiert und dass alles Leben eine Proteinbasis hat. Diese Titanen der Wissenschaft – Gregor Mendel, Francis Crick, James Watson, Rosalind Franklin und Maurice Wilkins – standen auf den Schultern ihrer Vorläufer und ihrer Kollegen und wurden ihrerseits zu den Riesen, von deren Schultern alle Biologen später in die Zukunft sehen konnten. Die Lösung dieser Rätsel war der Stoff für die großen Wissenschaftsstorys des 20. Jahrhunderts, und zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren die Prinzipien der Biologie etabliert. Durch das Entziffern des allgemeingültigen genetischen Codes und das «Aufdröseln» der Doppelhelix sind eine Reihe einfacher Regeln der Biologie für uns sichtbar geworden. Diese Regeln stellten sich jedoch später als höchst komplex heraus, wie wir gleich sehen werden.

Aber davon konnte Darwin noch nichts wissen. Als er 1871 sein zweites großes Werk, Die Abstammung des Menschen, veröffentlichte, war seine Hauptfrage,

ob der Mensch, wie jede andere Species, von irgendeiner früher existierenden Form abstammt …

Damals war gerade einmal eine Handvoll Neandertaler-Fossilien bekannt: ein Schädel aus Belgien, ein weiterer aus Gibraltar und ein Haufen Knochen aus Westdeutschland. Bereits 1837 hatte Darwin in seinem Notizbuch eine Version eines evolutionären Stammbaums skizziert, der zeigt, wie sich aus einem Ast des Lebens unter Einfluss der Selektion als Reaktion auf sich verändernde Umweltbedingungen zwei und mehr Äste entwickeln. Wie diese frühen Menschenaffen in den menschlichen Stammbaum passten, war völlig unbekannt.

«Ich denke», schrieb er in seiner unverwechselbaren, schwer zu entziffernden Handschrift darüber, führte den Gedanken aber niemals zu Ende. So entstand im 19. Jahrhundert allmählich die Vorstellung, dass wir neben allen Tieren Teil eines Kontinuums sind – eine Art, die «gezeugt, nicht geschaffen» wurde. Heutzutage verschließen nur Ignorante willentlich die Augen vor der Tatsache, dass wir uns aus gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben. Die Bilder der dauerlächelnden Schädel unserer lange verstorbenen Vorfahren sind Allgemeingut und gelangen auf die Titelseiten, wenn wieder einmal behauptet wird, eine neue Art sei entdeckt worden. Dutzende Beweislinien belegen unbestreitbar, dass wir Menschenaffen sind und mit anderen Menschenaffen – wie Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans – einen gemeinsamen Vorfahren teilen.

Manchmal heißt es, man könne sämtliche Exemplare der menschlichen Frühevolution auf einem großen Tisch oder in einem einzigen Sarg unterbringen, um darzustellen, wie spärlich die Fossilbelege sind. Das stimmt ebenfalls nicht. Wir verfügen buchstäblich über Tausende alter fossiler Knochen aus der ganzen Welt, viele davon gefunden in Ostafrika, der Wiege der Menschheit, viele auch in Europa, und je emsiger wir suchen, desto mehr finden wir. Für Darwin standen wir jedoch effektiv allein am Ende eines rätselhaften Astes unseres Stammbaums.

Aber trotz aller Ausdauer von Archäologen, die ihr Leben damit verbringen, mit Hilfe von Zahnbürsten und Pinzetten in Erdlöchern, Höhlen oder alten staubigen Flussbetten nach Fossilien zu graben, gibt es nicht auch nur annähernd genug Exemplare, um so etwas wie ein vollständiges Bild zu liefern und die Entwicklung des Menschen nachvollziehen zu können. Was es gibt, sind einzelne Fossilien, die nach gemeinsamen Merkmalen wie der Form der Überaugenwülste, dem Bogen eines Fußgewölbes, den Höckern ihrer Backenzähne usw. in Gruppen angeordnet werden. Diese Fossilien wurden danach datiert, wo sie gefunden wurden, nach der Bodenschicht und den Gegenständen und Spuren, die in der Nähe entdeckt wurden – Werkzeuge, Hinweise auf Kochfeuer oder auf Jagden.

Wenn die Fossilien jung genug sind, kann man sie auch über das Verhältnis von radioaktiven Kohlenstoffisotopen bestimmen, die mit gesetzmäßiger Geschwindigkeit zerfallen und nach dem Tod nicht mehr über den Stoffwechsel eines lebenden Organismus nachgeliefert werden. Es handelt sich um gute, solide Wissenschaft, so umstritten und widerspenstig, wie Forschung oft ist, doch die Analyse alter Knochen ist präzise, komplex und höchst raffiniert. In den bald 200 Jahren seit Entdeckung der ersten anderen Menschenart hat unser Verständnis dafür, wie wir wurden, was wir sind, zweifellos unglaublich zugenommen, doch unsere Sicht dieses Wegs hat sich verändert und entwickelt sich ständig weiter. Jahrzehntelang war das eingangs erwähnte Bild, das vom tierähnlichen Menschenaffen über den menschenartigen Menschaffen zum affenartigen Menschen führt, in Museen rund um die Welt wie auch in Lehrbüchern zu finden – eine hübsche klare Evolutionslinie, die uns sagt: So sind wir dahin gekommen, wo wir sind. In Down House in der englischen Grafschaft Kent, wo Darwin einstmals emsig und gewissenhaft die beste Idee ausarbeitete, die jemals formuliert wurde, kann man noch immer Kaffeebecher mit dem Bild kaufen.

Als ich jung war und mich in den 1980er Jahren in die Naturwissenschaften verliebte, sah der evolutionäre Baum genau so wie das Bild auf den Kaffeebechern aus. Damals sammelte mein Vater für mich Artikel aus den Zeitschriften New Scientist und Scientific American mit ordentlichen Verzweigungsdiagrammen, die suggerierten, dass sich eine Art in eine andere umwandelte oder in zwei Arten aufspaltete, während die anderen plumpen Affenmenschen unterwegs ausstarben. Das Bild erschien umso klarer, je weniger Fossilbelege wir hatten. Bis Ende des 20. Jahrhunderts waren immer mehr Arten und Exemplare des Menschen aufgetaucht, und die einstmals klaren Stammbaumlinien wurden undeutlicher, die Äste des Stammbaums wurden dicker, weniger eindeutig und wirkten dazu stärker gestutzt.

Vielleicht ist es an der Zeit, die seit langem verwendete Metapher vom phylogenetischen Baum des Lebens aufzugeben und sicherlich auch das Bild, das von Menschenaffen zum Affen-Menschen führt. Heutzutage ist es schwierig, diesen Baum als Strauch, Gestrüpp oder überhaupt etwas Baumartiges zu bezeichnen. Vielmehr wird es in graphischer Form eher als eine Reihe von aufwärts tropfenden Klecksen repräsentiert, die nach oben in das Becken fließen, das uns repräsentiert, Flüsse, Bäche und Rinnsale, von denen einige ins Meer gelangen, während andere auf dem Weg versickern (siehe nächste Seite). In einer alternativen Version werden die Homo-Knochenfunde in ihren Spezies-Clustern dargestellt, die ältesten unten und wir, die einzig überlebende Art, an der Spitze, wobei die Ausdehnung der Cluster die geographische Verbreitung der Funde symbolisiert. Dabei muss man akzeptieren, dass die Verbindungslinien gestrichelt, also hypothetisch, sind. Wenn das eine Detektivgeschichte wäre, hätten wir die Leichen, doch die Indizien sind spärlich und oft zusammenhanglos. Der Fall ist alles andere als gelöst.

1 Das unklare phylogenetische «Gestrüpp» der Menschheit. Alte Knochen haben zusammen mit neuen Analysen alter DNA dazu geführt, dass das, was einmal ein stolzer, ordentlich verzweigter Baum war, massiv gestutzt und als wurzelloses Gestrüpp neu gepflanzt wurde. Die breiten Kleckse stellen einzelne Homo-Arten dar, und die gepunkteten Linien repräsentieren den sexuell bedingten Genfluss zwischen ihnen. Je mehr wir erfahren, desto undurchsichtiger wird das Bild.

Wir sind völlig fasziniert von uns selbst, und das mit einem gewissen Recht. Wir sind nur eine weitere Tierart, doch die einzige, die sich so weit entwickelt hat, dass sie ihre eigene Existenz hinterfragt, in den Spiegel blickt und hineinblinzelt. Zahllose Bücher sind über die Herkunft unserer Art geschrieben worden, doch diese Story beschäftigt sich speziell nur mit denjenigen, deren Vergangenheit und vergangene Beziehungen wir rekonstruieren können, wobei wir das neueste Werkzeug der Paläoanthropologen benutzen, die DNA. Dieses Molekül hat unser Verständnis der menschlichen Geschichte in beispielloser Weise revolutioniert, und zwar in der kurzen Zeitspanne seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Wissenschaftler zögern nach eigenem Bekunden, neue Ergebnisse zu veröffentlichen, da sie befürchten, diese wären nicht binnen Jahren oder Monaten, sondern innerhalb von Wochen oder gar Tagen überholt. Den Überblick zu behalten, ist nicht einfach, denn die Erforschung der menschlichen Evolution gleicht einer ständigen Revolution. Das Bild, das zeigt, wie wir Menschen zu dem wurden, was wir sind, ist detaillierter als je zuvor, doch wir haben noch einen langen Weg vor uns. Vorweg hier ein kurzer Abriss der bisherigen Ereignisse. Beginnen wir aber nicht am Anfang, denn es gab keinen Anfang, sondern etwas willkürlich beim Gang auf zwei Beinen, der Bipedie.

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Bipede Menschenaffen streiften bereits vor mindestens vier Millionen Jahren über die Erde. Tatsächlich können alle Menschenaffen auf zwei Beinen laufen, doch uns geht es um habituelle Bipedie – den aufrechten Gang als primäres Fortbewegungsmittel. Die aufrechte Haltung war ein entscheidender Schritt in unserer eigenen Evolution, denn sie fiel mit einer Reihe anatomischer Veränderungen zusammen, von denen sie einige verursacht hat, wie Lage und Form der Wirbelsäule, die Art der Verbindung zwischen Schädel und Wirbelsäule und so fort. Warum das geschah, ist umstritten, und es gibt viele Theorien: Einige betonen eine erhöhte Bewegungseffizienz durch eine aufrechte Haltung, andere meinen, dies sei eine Anpassung an das Leben in der Savanne statt auf Bäumen, noch andere machen Klimaveränderungen im Rift Valley dafür verantwortlich. Die berühmteste Vertreterin dieser frühen bipeden Hominiden ist Lucy, die vor rund 3,2 Millionen Jahren geboren wurde. Vierzig Prozent ihres fossilisierten Skeletts (eine Menge bei derart alten Überresten) wurden 1974 von Donald Johanson gefunden und nach dem Beatles-Song «Lucy in the Sky with Diamonds» benannt, der in jener schicksalsträchtigen Nacht im Basiscamp der Forscher im Awash-Tal in Äthiopien immer wieder lief. Lucy war eine der ersten Vertreterinnen der Art Austrolopithecus afarensis, die entdeckt wurde. Wir wissen nicht, ob diese Art zu unseren direkten Vorfahren gehört. Was wir wissen, ist, dass es damals noch viele andere Primaten gab, und Lucy sieht so aus, als sei sie näher mit uns verwandt als mit irgendeiner anderen Primatenart.

Die systematische Klassifizierung von Tieren ist oft schwierig und unbefriedigend, aber um die Geschichte unserer Spezies zu erzählen, müssen wir uns damit beschäftigen und auf das Beste hoffen. Das heutige Klassifizierungssystem wurde im 18. Jahrhundert von dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné eingeführt, und es kennzeichnet Lebewesen durch zwei lateinische Namen: einen für die Gattung (Genus) und einen für die Art (Spezies).[*] Eine Stieleiche heißt taxonomisch Quercus robur. Es gibt eine Wespe namens Lalapa lusa und eine Schnecke auf den Fidschi-Inseln namens Ba humbugi. Enema pan ist ein Nashornkäfer. Die Erdkröte heißt Bufo bufo, was ein wenig einfallslos erscheinen mag, weil es lateinisch für «Kröte Kröte» steht, aber eine Menge häufiger Tiere tragen solche Doppelnamen, auch das Weichtier Extra extra sowie unser Mit-Menschenaffe Gorilla gorilla.[*] Vielleicht besitzen Sie zu Hause ein Exemplar von Felis catus; dieser wissenschaftliche Name enthält zumindest zwei verschiedene Begriffe für «Katze». Lucys Art, Australopithecus afarensis, lässt sich in etwa mit «Südlicher Affe aus Afar» übersetzen. Und es gibt noch andere Spezies «südlicher Affen» – sediba, amanensis und africanus. Phylogenetisch ältere Menschenaffen werden in Gattungen mit Namen wie Sivapithecus (Shivas Affe, die Fundstelle lag in Indien), Ardipithecus (Bodenaffe) und Gigantopithecus (wirklich großer Affe) gestellt.

Wir gehören zur Gattung Homo und zur Art sapiens – Homo sapiens, der weise Mensch. Das ist die Kurzfassung. Es gibt in der Biologie ein Äquivalent zu den Adressen, wie sie Kinder gerne aufschreiben, wenn sie immer weiter von der Straße zur Stadt zum Land zum Kontinent zur Hemisphäre zum Sonnensystem und schließlich bis zur Milchstraße gehen. Über Gattung und Art stehen mehrere taxonomische Rangstufen, sodass wir präzise im Universum des Lebendigen verortet sind:

Domäne: Eukaryota (komplexes Leben)

Reich: Animalia (Tiere)

Stamm: Chordata (Tiere mit einem zentralen Achsenstab [Chorda], z.B. einer Wirbelsäule)

Klasse: Mammalia (Säugetiere)

Ordnung: Primates (Affen, Menschenaffen, Tarsier und noch ein paar mehr)

Unterordnung: Haplorhini (Trockennasenprimaten)

Familie: Hominidae (Große Menschenaffen)

Ab hier dreht sich alles in diesem Buch um die Gattung Homo. Neandertaler werden als Homo neanderthalensis bezeichnet –  die Menschen aus dem Neandertal in Deutschland, Homo habilis – der geschickte Mensch.

Damit gehören Sie zu einem seltsam exklusiven Club. Die Mitgliedschaft in einer Gattung zeigt nicht notwendigerweise eine Verwandtschaft zwischen den Mitgliedern an, sondern besagt lediglich, dass die Mitglieder einander stärker ähneln als den Lebewesen, die nicht zu dieser Gattung gehören. Das ist das beste System, das wir haben. Auch die Definition des Artbegriffs steckt voller Probleme – am weitesten akzeptiert ist die Definition, dass zwei Arten als eigenständig gelten, wenn sie keine fruchtbaren Nachkommen miteinander zeugen können. Zebroide, Liger, Maultiere, Maulesel, Grolabären[*] sind alle relativ seltene, relativ gesunde Hybriden. Aber keiner dieser Hybriden kann fruchtbare Nachkommen erzeugen. Wir werden bald sehen, warum diese Artdefinition für Menschen keineswegs adäquat ist.

Nach der gegenwärtigen Konvention werden etwa sieben Arten in die Gattung Homo gestellt, und ich werde sie als «menschlich» bezeichnen. Das ist nicht unumstritten, doch eines der Hauptprobleme der Taxonomie ist, dass wir uns bei dem Versuch, Dinge zu benennen, bemühen zu beschreiben, wie sie sind, und dabei nicht immer die grundsätzlich zeitabhängige Natur des Lebens berücksichtigen – nämlich, dass Evolution universell und ein Wandel im Lauf der Zeit die Norm ist. Denken Sie daran, dass das Objekt der evolutionären Veränderung die DNA ist, doch die systematischen Klassifizierungen sind davon unabhängig.

Vorerst wollen wir jedoch Arten als eigenständige Gruppen von Tieren ansehen, die sich so stark unterscheiden, dass sie keine fertilen Nachkommen miteinander zeugen können, und in der Gattung Homo gab es davon mindestens sieben solche Arten.[*] Arten, von denen wir fossile Überreste aus der Epoche besitzen, die vor einer Million Jahren begann, können als archaische Menschen bezeichnet werden, und davon gibt es ein paar. Homo ergaster, Homo heidelbergensis, Homo antecessor und noch ein paar weitere aus dieser Zeit stammen von verschiedenen Fundstellen und weisen subtile anatomische Unterschiede auf. Man nimmt an, dass sie sich alle aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben: Homo erectus, dem aufrechten Menschen. All diese Arten haben es ausgezeichnet verstanden, die Welt zu bevölkern, doch bislang glauben wir nicht, dass sie uns DNA hinterlassen haben, die wir extrahieren könnten, und in diesem Buch geht es darum, die Spuren der Vergangenheit mit Hilfe von DNA-Analysen zu verfolgen. Die meisten anderen Arten haben (bisher) auch noch keine DNA-Proben geliefert, wahrscheinlich, weil sie zu alt sind oder an Orten gestorben sind, die zu heiß für eine Konservierung ihrer DNA waren; um unsere Beziehung zu ihnen zu verstehen, können wir daher nur Fossilien und paläoarchäologische Befunde heranziehen.

Das Fundament der menschlichen Evolution geriet 2003 mit der Entdeckung einer kleinen Frau auf der indonesischen Insel Flores ins Wanken. In einer Höhle mit dem Namen Liang Bua wurden die Skelettreste eines nur metergroßen weiblichen Wesens und Teile von mindestens acht weiteren Menschen ausgegraben. Sofort wurden diese Miniaturmenschen, die den wissenschaftlichen Namen Homo floresiensis erhielten, als Hobbits bezeichnet, und obgleich ihre Füße groß waren, spricht nichts dafür, dass sie besonders stark behaart waren. Anscheinend lebten sie noch vor relativ kurzer Zeit, vor 13000 Jahren, in dieser feuchten Höhle, also nur ein paar Jahrhunderte vor Beginn des Ackerbaus. Diese kleinen Menschen bereiteten ihre Nahrung über Feuer zu und rösteten wahrscheinlich das Fleisch von Riesenratten und Stegodonten (eine Art Zwergelefant), die zur gleichen Zeit lebten.

Wer waren diese kleinen Menschen? Wie die ersten Artikel in der Fachzeitschrift Nature deutlich machten, war ihre Anatomie der unsrigen so ähnlich, dass man sie in die Gattung Homo stellen sollte, aber doch so unähnlich, dass sie eine eigene Art darstellten. Eine lautstarke Minderheit von Wissenschaftlern kritisierte dies und behauptete, sie seien wie wir, nur krank und durch irgendeine spekulative pathologische Veränderung stark geschrumpft. Down-Syndrom, Mikrozephalie, Laron-Syndrom und endemischer Kretinismus wurden vorgeschlagen, doch die Indizien für all diese Thesen sind wenig überzeugend. Inselpopulationen entwickeln sich oft zu extrem großen oder kleinen Formen, da die Kräfte der Selektion unter Umständen begrenzt und spezifisch für die insulare Isolation sind. Und tatsächlich teilten die «Hobbits» ihre Insel mit ungewöhnlich großen Nagern sowie kleinen Flusspferden und Zwergelefanten. Sie alle sind inzwischen ausgestorben, doch höchstwahrscheinlich war Homo floresiensis eine eigenständige Menschenart und teilte sich wahrscheinlich irgendwann in den letzten zwei Millionen Jahren einen gemeinsamen Vorfahren mit uns, doch aufgrund der Lebensbedingungen auf einer Tropeninsel hatte seine Körpergröße stark abgenommen.

Aus den Fossilien dieser kleinen Menschen ließ sich jedoch leider keine DNA extrahieren.[*] Die Knochen waren nicht fossilisiert und weich wie nasse Pappe. 2009 wurde ein Versuch unternommen, eine DNA-Probe aus einem Zahn zu gewinnen, dessen Außenseite hart ist und daher einen gewissen Schutz vor dem Alterungsprozess bietet. Der Versuch schlug fehl, und die DNA der Flores-Menschen ist im Meer der Zeit untergegangen. Vielleicht reichten die tropische Hitze und Feuchtigkeit aus, um im Lauf von Jahrtausenden alle DNA in den Zähnen und zerfallenden Knochen zu zerstören. Das ist jammerschade, denn es gab hitzige Diskussionen über die Herkunft dieser Menschen, und DNA-Proben hätten den Streit sofort beilegen können. Ihr Inselstatus, Lage und Begrenztheit ihrer Verbreitung und ihre körperlichen Merkmale lassen vermuten, dass die «Hobbits» von Flores nicht zu unseren Vorfahren gehörten, sondern entfernte Cousins und Cousinen waren. Wie dem auch sei, die Zahl der Menschenarten, die bis in die vergangenen 50000 Jahre lebte, ist plötzlich von zwei auf drei gestiegen, und die «Hobbits» und ihre bizarren riesigen und zwergenhaften Inselmitbewohner sind zu Recht berühmt. Über Nacht sah unser Planet plötzlich ein wenig wie Mittelerde aus.

Lesen lernen

Und dieser Trend verstärkte sich, als die Technik, die DNA zu lesen, weitere Fortschritte machte. Mehr als hundert Jahre lang wurde das Studium der Humanevolution von Knochen sowie ein paar Werkzeugen dominiert – Anatomie und Kultur. Das Lesen der DNA ist tatsächlich eine Form von Anatomie auf einer molekularen Ebene; die DNA enthält Hinweise darauf, wie Knochen geformt sind und wie die Evolution sie geformt hat. Der Wunsch, eine Technik zu entwickeln, mit der sich DNA lesen lässt, ging primär auf das Bestreben zurück, Krankheiten besser zu verstehen, aber es war klar, dass die Entschlüsselung des Genoms auch Licht auf die menschliche Geschichte werfen würde.

Hier ein kurzer Abriss, wie wir lernten, DNA zu «lesen». Was die zeitgenössische Genetik angeht, so war 1997 die größte wissenschaftliche Unternehmung der Geschichte in vollem Gange. Viele hundert Wissenschaftler – darunter auch frühere Konkurrenten – hatten sich zu einem Team zusammengeschlossen und verfolgten ein gemeinsames Ziel: der Welt ein vollständig ausgelesenes menschliches Genom mit jedem einzelnen «Buchstaben» der DNA, also allen drei Milliarden Basenpaaren, zu präsentieren. Die Geschichte des Humangenom-Projekts wird in Kapitel 5 erzählt, aber in diesem Zusammenhang ist das Wichtigste, dass es sich um ein internationales Großprojekt handelte, dessen Ziel es war, das Entziffern der DNA-Buchstaben einfach und billig zu machen. Durch dieses Projekt sollten Medizin, Evolutionsforschung und das Wissen darum, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, revolutioniert werden. Die DNA-Analyse wurde von dem bescheidenen englischen Genie Fred Sanger Ende der 1970er Jahre entwickelt. Sanger benutzte dazu einen Prozess, der die ursprüngliche DNA-Sequenz millionenfach kopierte. Um das zu tun, müssen die Zutaten das Alphabet enthalten, das man kopieren will; die DNA besteht nur aus vier verschiedenen «Buchstaben», die man in der Fachsprache als Basen (auch Nukleotidbasen oder DNA-Basen) bezeichnet – A, T, C und G. Zudem braucht man ein Enzym, dessen Job einfach darin besteht, die Basen der DNA zu kopieren und miteinander zu verknüpfen, eine so genannte Polymerase. Dann gibt man all diese Zutaten in ein Röhrchen, stellt die richtige Temperatur ein, damit sich die Doppelhelix in zwei Einzelstränge trennt, die wiederum als Matrize (Schablone) für die Basen dienen, die den nun fehlenden Strang nachbilden sollen. Das Polymerasemolekül arbeitet sich an der Matrize entlang und fügt den jeweils nächsten Buchstaben an, ganz ähnlich wie eine Schreibmaschine, die eine Textzeile kopiert. Am Ende befinden sich Millionen Kopien der ursprünglichen Matrize im Röhrchen. Jeder einzelne der DNA-Buchstaben ist chemisch mit dem vorausgehenden wie auch dem folgenden Buchstaben verbunden. Bei der DNA-Sequenzierung wird nicht nur der korrekte molekulare Buchstabe angefügt, sondern auch ein paar, die als Stoppzeichen dienen, so wie Punkte das Ende eines Satzes anzeigen.

Da im Lauf des Prozesses so viele Kopien entstehen und da die Stoppzeichen nach dem Zufallsprinzip eingefügt werden, hat man schließlich einen Mix von DNA-Molekülen vorliegen, deren Stopp überall erfolgen kann, bei

j

je

jed

jede

jedem

jedem e

jedem ei

jedem ein

jedem einz

jedem einze

jedem einzel

jedem einzeln

jedem einzelne

jedem einzelnen

jedem einzelnen B

jedem einzelnen Bu

jedem einzelnen Buc

jedem einzelnen Buch

jedem einzelnen Buchs

jedem einzelnen Buchst

jedem einzelnen Buchsta

jedem einzelnen Buchstab

jedem einzelnen Buchstabe

jedem einzelnen Buchstaben

jedem einzelnen Buchstaben.

Eine DNA-Sequenzierung ist eine Rekonstruktion. Man stellt Millionen von Kopien her, die bei jedem Buchstaben abbrechen können. Dann ordnet man sie der Länge nach. Die DNA ist ein Molekül, das eine negative elektrische Ladung trägt; das heißt, wenn man sie in ein Gefäß mit Salzwasser gibt und daran eine Spannung anlegt, wandert die DNA zur positiven Elektrode. Die Wandergeschwindigkeit des Moleküls hängt von seiner Masse ab, die von der Länge des DNA-Fragments bestimmt wird – lange Stücke wandern langsamer als kurze. Wenn man daher die DNA statt in Wasser in ein Gel (mit einer ähnlichen Konsistenz wie Fruchtgelee) gibt, um ihre Wandergeschwindigkeit zu verlangsamen, und eine elektrische Spannung am Gel anlegt, dann trennen sich die DNA-Fragmente sehr präzise nach ihrer Länge auf, ähnlich, als siebe man Erde nach Krumengröße.

Bei dieser Methode gibt es noch einen weiteren Trick. Das Alphabet der DNA weist, anders als das deutsche Alphabet mit seinen 30 Buchstaben, nur vier Buchstaben auf. Also nimmt man das ursprüngliche Gen und teilt es auf vier Teströhrchen auf. In jedes gibt man alle Ingredienzien, doch in das erste Röhrchen gibt man zusätzlich einige «A-Basen», die chemisch so modifiziert sind, dass sie die Kette anhalten und keine weiteren Basen angehängt werden können. In das zweite Röhrchen gibt man wiederum alles Nötige plus Ketten-beendende C-Basen, und entsprechend verfährt man in Röhrchen drei und vier mit den «T» und den «G». Nach Abschluss der Reaktion hat man ein Röhrchen, das alle DNA-Fragmente enthält, die auf A enden, ein zweites, in dem alle DNA-Fragmente auf C enden, ein drittes auf T und ein viertes auf G. Wenn man diese vier Testansätze auf dem Elektrophorese-Gel an vier Positionen aufträgt, wandern die Einzelbestandteile mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in vier Bahnen zum Pluspol, trennen sich im Gel ihrer Größe nach auf, und die Position jedes Fragments wird als Bande in der jeweiligen Bahn deutlich.

 

Die A-Spalte sieht so aus (auch wenn die «Buchstaben» nur Banden auf dem Gel sind):

*****AA**A*****A******A*A***A*

Und die T-Spalte so:

**T*T**T**T*T*T*T*T*T****T*T**

Und die C-Spalte so:

C**C****C**C*********C*C**C**C

Und die G-Spalte so:

*G***********G***G*G**********

Legt man diese vier Diagramme übereinander, werden die Sternchen durch die jeweiligen Buchstaben ersetzt, und man erhält eine vollständige DNA-Sequenz.

CGTCTAATCATCTGTATGTGTCACATCTAC

Wenn Sie im Fernsehen Wissenschaftler sehen, die Röntgenbilder hochhalten, auf denen in Bahnen angeordnete schwarze Banden zu sehen sind, dann geht es um derartige Elektrophoresebilder. Es handelt sich um eine Sequenz von DNA-Basen frisch aus einer Ihrer Körperzellen, die vier Milliarden Jahre lang nicht entziffert werden konnten, sich aber heute so leicht entschlüsseln lassen, dass es nur ein paar Minuten dauert und nicht viel kostet. Es ist eine unglaublich clevere Art der DNA-Sequenzierung, und Fred Sanger erhielt für diese Methode völlig zu Recht einen zweiten Nobelpreis in Chemie.[*]

In den 1990er Jahren wurde Sangers Methode weiterentwickelt, verbessert und automatisiert – damals wollte man im Lauf des Humangenom-Projekts drei Milliarden Basen sequenzieren. In Kapitel 5 werden Sie erfahren, warum diese Aufgabe so gigantisch war, ihre Bewältigung Jahre dauerte und Milliarden Dollar kostete. Als ich in den 1990er Jahren Student war, schickte ich gereinigte Proben kurzer DNA-Stücke an eine spezielle Sequenzierungsabteilung und musste ein paar Tage auf die Resultate warten (die Ergebnisse waren nicht in Form von Röntgenbildern, sondern von Computerdateien). Inzwischen verfügen die meisten Labors über ihre eigenen Sequenziergeräte, und diese spucken innerhalb weniger Stunden Megabytes an Daten aus. Zudem sind neue Methoden entwickelt worden, die Sangers Sequenzierungsverfahren nicht völlig ersetzt haben, aber schneller und billiger sind, und wer heute eine Karriere als Genetiker einschlägt, wird die Sanger-Technik wahrscheinlich nie einsetzen. Es gibt bereits Sequenziergeräte, die kleiner als ein Päckchen Karten sind und die man direkt via USB-Port an einen Laptop anschließen kann; daher kann man diese Geräte auch im Feld einsetzen und die Genome von Pflanzen und Tieren in freier Wildbahn analysieren. All diese Techniken speisen die Revolution in der Genetik für jeden heute lebenden Menschen. Seit der Jahrtausendwende können wir dasselbe für Menschen tun, die schon vor langer Zeit gestorben sind.

Der Tod kann hinfort über ihn nicht herrschen

In einer Grube im Boden lag ein Mann, und er war definitiv tot. Entweder hatte ihn seine Familie in dieses Grab gelegt oder er war direkt an dieser Stelle gestorben, ohne zu wissen, dass er einer der wichtigeren Menschen in der Menschheitsgeschichte war. Posthum – sehr posthum – veranlasste dieser Mann zwei Dinge: Erstens befeuerte seine Anwesenheit in dieser Höhle die Erforschung der Frühmenschen. Dort, in der Nähe von Düsseldorf, war vermutlich seine Heimat, und dort hatte er wohl vor rund 40000 Jahren gelebt. Die Kleine Feldhofer Grotte gibt es heute nicht mehr; sie wurde von Steinbrucharbeitern im 19. Jahrhundert entdeckt und später zerstört. Der Eingang lag ein paar Meter über dem Talboden, eine mannshohe Öffnung, die in eine drei mal fünf Meter große Felshöhle mit hoher Decke führte. In den 1850er Jahren wurden von Amateurdetektiven und später in diesem Jahrhundert bei Ausgrabungen der verschütteten Fundstelle Tausende von Artefakten gefunden, darunter die Überreste von mindestens drei Personen. Die Steinbrucharbeiter entdeckten 1856 einige fossile Knochen – ein handtellergroßes Schädelfragment, zwei Oberschenkelknochen, mehr Armknochen, als ein einzelner Mensch benötigt, sowie Schulterblatt- und Rippenfragmente – und händigten sie einem lokalen Anthropologen aus.

Die Überbleibsel dieses Menschen waren nicht die ersten (es handelte sich wahrscheinlich um das dritte bisher entdeckte Menschenskelett, das nicht zur Art Homo sapiens gehörte), doch dieses Exemplar wurde zum sogenannten «Typusexemplar» – so nennen wir das Exemplar, das die Art definiert und mit dem alle übrigen verglichen werden. Der Artname richtet sich offiziell nach dem Typusexemplar, und für unsere Belange wurde er, ganz gleich, wie er zu Lebzeiten geheißen hatte, als «Neandertaler 1» bekannt. Mit der offiziellen Identifizierung dieses Mannes wurde das Gebiet der Paläoanthropologie – die Erforschung früher Menschenformen – aus der Taufe gehoben.

Doch Neandertaler 1 durfte nicht in Frieden ruhen. Einhundertfünfzig Jahre später hatte er einen weiteren großen Auftritt. Er spendete seine DNA. In der kalten Feldhofer Grotte waren seine Überreste vergleichsweise gut vor der Witterung und wilden Tieren und vor allem vor hungrigen Bakterien geschützt gewesen, die alle nur zu leicht jedes Indiz für seine Existenz im Lauf der Zeit vernichtet hätten. Stattdessen blieben die Neandertaler-Knochen dank der besonderen Umstände so unberührt, wie es bei jemandem, der 40000 Jahre tot ist, nur sein kann. Und so kam es, dass er der erste Nicht-Homo-sapiens-Mensch war, der in einen höchst exklusiven Club aufgenommen wurde. Eingebettet in den langsam zerfallenden Zellen dessen, was vermutlich sein Wurfarm gewesen war, befanden sich die Moleküle, die die Herkunft getreulich von der Vergangenheit in die Zukunft tragen.

Wir modernen Menschen sind nicht die einzigen Teilnehmer am Humangenom-Projekt. Auf den ersten Blick erstaunlich, doch auch sechs nichtmenschliche Arten nahmen daran teil. Ein Genom ist viel nützlicher, wenn man es mit einem anderen vergleichen kann, und das schließt Genome von anderen Arten ein. Daher gehörten zu den ersten Lebewesen, die neben uns in den Genom-Club aufgenommen wurden, die häufigsten biologischen Modellorganismen – die Taufliege (Drosophila melanogaster), die Ratte und die Maus, ferner unser nächster Primatenverwandter, der Schimpanse, und ein Ausreißer, die Honigbiene (es handelt sich um ein soziales Wesen, und die allermeisten Mitglieder eines Stocks pflanzen sich gar nicht fort, sondern dienen der Königin, mit der sie genau die Hälfte ihrer DNA teilen). Die Genome all dieser Arten sollten bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts komplett übersetzt, entziffert und interpretiert sein.

Im Jahr 1997 legte ein in Leipzig arbeitender schwedischer Forscher mit genau derselben Methode, die für die heutigen Menschen entwickelt wurde, still und leise den Grundstein für ein neues, wirklich revolutionäres Arbeitsgebiet – die Paläogenetik. Svante Pääbo hatte sich den rechten Oberarmknochen von Neandertaler 1 aus dem Rheinischen Landesmuseum in Bonn ausgeliehen. Mit einer Präzisionssäge schnitt er ein wenige Zentimeter langes Stück aus der Mitte heraus und legte frei, was früher einmal weiches Knochenmark mit Blut- und Immunzellen gewesen war. Das Knochenmark ist der Entstehungsort neuer Zellgenerationen, weshalb sich die Zellen dort sehr häufig teilen und ihr genetisches Material damit stark vermehren. Dort lag die erste Schatztruhe der Neandertaler-DNA.

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Die DNA