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Professor Hollando, Nobelpreisträger im Fach Medizin, hat als Hirnforscher einen genetischen Schalter entdeckt, der sowohl für körperliches wie seelisches Leiden – Schmerzen, Angst, Depressionen – verantwortlich ist. Eine Entdeckung, die Medizingeschichte schreiben könnte … Carolin ist von Cesare Hollando nicht nur als Wissenschaftler fasziniert und folgt ihm zur Preisverleihung nach Stockholm. Sie will unbedingt in den engeren Arbeitskreis seiner Studenten aufgenommen werden. Da ihr Bruder Robert gerade zum Hauptkommissar befördert wurde, bittet sie Hollando als ehemaligen Profiler um Rat in einem mysteriösen Fall von Frauen, die alle auf rätselhafte Weise ihr Gedächtnis verloren haben. Sie können sich weder an ihre Namen erinnern, noch was mit ihnen passiert ist. Der Körper einer Frau ist voller blauer Flecke. Eine andere macht dauernd obszöne Bemerkungen. Ein drittes Opfer war bei der Vernehmung kahl geschoren. Besonders verstörend: Das rechte Auge eines vierten Opfers wurde über dem Altar der Kirche St. Maria Magdalena an einer Angelschnur gefunden … Doch bei Roberts Nachforschungen gerät Carolin selbst ins Visier des Täters. Der entpuppt sich als Gegner mit unerwarteten Fähigkeiten. Das Böse scheint ein nie da gewesenes Hochfest raffinierter Grausamkeiten zu zelebrieren … Schon bald geht es nicht mehr nur um Sieg und Niederlage und Carolins Überleben, sondern um die Deutungshoheit zweier geistiger Giganten – Täter und Opfer – über den wahren Charakter der menschlichen Natur. Copyright © 1/2019: Peter Schmidt
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Seitenzahl: 319
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Peter Schmidt
Eine Studentin
Thriller
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Inhaltsverzeichnis
Titel
ZUM BUCH
TEIL I
Preisverleihung
1
8. Dezember, Karolinska-Institut Stockholm
2
Vorstellungsgespräch
3
Vier Frauen
4
Vorlesung
5
Stelldichein
6
Institut
7
Arbeitskreis
8
9
Zweifel
10
Seminar
11
12
Liste
13
14
Auf der Spur
15
Die Schlinge zieht sich zu
16
17
18
Auf der Suche
19
Robert
20
Spiegeldecke
21
Implantat
22
Der erste Tag
23
Zweiter Tag
24
Dritter Tag
25
26
27
Zweite Stufe
28
Hoffnung …
29
Das Spiel ist aus
30
Amelie
31
Beerdigung
32
Amelies Heimkehr
33
Starker Wille
34
35
36
37
Endloses Leiden
Impressum neobooks
Peter Schmidt
________________
Eine Studentin
Thriller
Auch als Taschenbuch lieferbar
ISBN: 978-1717843135
Druck & Vertrieb:
Amazon EU SARL 80807 München
Amazon: portofreie Lieferung
Neopubli-Ausgabe, 10997 Berlin
VLB, Stationärer Buchhandel: ISBN: 978-3-746779-73-7KNV-verfügbar: Großhandel Titelnummer: 74805973
Copyright © 1/2019:
Peter Schmidt
Professor Hollando, Nobelpreisträger im Fach Medizin, hat als Hirnforscher einen genetischen Schalter entdeckt, der sowohl für körperliches wie seelisches Leiden – Schmerzen, Angst, Depressionen – verantwortlich ist. Eine Entdeckung, die Medizingeschichte schreiben könnte …
Carolin ist von Cesare Hollando nicht nur als Wissenschaftler fasziniert und folgt ihm zur Preisverleihung nach Stockholm. Sie will unbedingt in den engeren Arbeitskreis seiner Studenten aufgenommen werden.
Da ihr Bruder Robert gerade zum Hauptkommissar befördert wurde, bittet sie Hollando als ehemaligen Profiler um Rat in einem mysteriösen Fall von Frauen, die alle auf rätselhafte Weise ihr Gedächtnis verloren haben. Sie können sich weder an ihre Namen erinnern, noch was mit ihnen passiert ist.
Der Körper einer Frau ist voller blauer Flecke. Eine andere macht dauernd obszöne Bemerkungen. Ein drittes Opfer war bei der Vernehmung kahl geschoren.
Besonders verstörend: Das rechte Auge eines vierten Opfers wurde über dem Altar der Kirche St. Maria Magdalena an einer Angelschnur gefunden …
Doch bei Roberts Nachforschungen gerät Carolin selbst ins Visier des Täters. Der entpuppt sich als Gegner mit unerwarteten Fähigkeiten. Das Böse scheint ein nie da gewesenes Hochfest raffinierter Grausamkeiten zu zelebrieren …
Schon bald geht es nicht mehr nur um Sieg und Niederlage und Carolins Überleben, sondern um die Deutungshoheit zweier geistiger Giganten – Täter und Opfer – über den wahren Charakter der menschlichen Natur.
„Dass nun ein solcher verderbter
Hang“ (zum Bösen) „im Menschen
verwurzelt sein müsse, darüber
können wir uns, bei der Menge
schreiender Beispiele, welche uns
die Erfahrung an den Taten der
Menschen vor Auge stellt,
den förmlichen Beweis
ersparen.“
Immanuel Kant
Als sie Cesare Hollando zum ersten Mal sah, war es wie ein befreiender Gewitterregen – oder als stürzten Regenfluten von den Bergen und rissen alles gleichermaßen in die Tiefe, Mensch und Tier, Haus und Hof, Gut und Böse – wie um endlich reinen Tisch zu machen …
Professor Hollando schrieb gerade Medizingeschichte. Er stand am Rednerpult, den Zeigestock auf einer Tabelle aus der Hirnforschung. Auf der Videoleinwand hinter ihm war überlebensgroß sein Gesicht zu sehen: eine Mischung aus wachem Intellektuellen, braungebranntem Skilehrer – und verschlagenem Pokerspieler.
Laut Statuten hielten Nobelpreisträger vor der eigentlichen Preisverleihung im Karolinska-Institut eine Vorlesung über ihre Arbeit.
Carolin war ihm bis nach Stockholm gefolgt, und sie würde alles daran setzen, an seinen weiteren Forschungen mitzuarbeiten, selbst wenn sie dafür den Rest ihrer weiblichen Konkurrentinnen umbringen musste.
Schon bei der Antrittsvorlesung in Deutschland sollte der Saal voller Studentinnen gewesen sein, die ihn anhimmelten wie einen neuen Gott im Olymp der Wissenschaften, Cesare Hollando, der mit gerade einmal vierundvierzig Jahren den Nobelpreis für Medizin erhielt.
Eine eigentümliche Faszination ging von ihm aus. Es war die Art, wie er sprach. Als sei ihm das Interesse der Medien eher lästig, als gehe ihn das Theater um seine Person nichts an. Manchmal verharrte sein Zeigestock sekundenlang auf den Daten der Tabelle, wie versunken in seine Forschungen, als arbeite er selbst hier noch weiter.
Komm wieder auf den Boden der Tatsachen zurück!, ermahnte sie sich. Es ist auch nur ein ganz gewöhnlicher Kerl. Vermutlich ist er im Bett genauso langweilig wie alle anderen …
Trotzdem konnte sie kaum den Blick von ihm lassen. Es waren seine Augen, die ihm den Ruf eingetragen hatten, ein Frauenversteher zu sein, was auch immer das genau bedeuten sollte.
„Professor Hollando“, meldete sich ein Journalist im Saal. „Erlauben Sie vorab eine Frage zur Person?“
„Gern, wenn sie nicht zu intim ist?“
„Sie lehren als Deutscher an einer deutschen Universität, aber Ihr Name klingt eher italienisch?“
„Oh, deswegen bin ich noch keineswegs italienischer Abstammung“, erklärte Hollando lächelnd. „Es scheint, dass einer meiner Großväter in ferner Vergangenheit uns diesen Namen vererbt hat. Ich spreche übrigens weder Italienisch noch war ich jemals in Italien. Meine verstorbene Mutter – eine Deutsche – muss dann wohl geglaubt haben, dass Cesare gut zu unserem italienischen Nachnamen passe.“
„Und könnten Sie uns“ – dabei blickte sich der Journalist fragend im Saal um – „eine auch für Laien verständliche Erläuterung geben, was im Kern Ihren Fortschritt in der Hirnforschung ausmacht?“
„Gern, dazu sind wir ja heute hier zusammengekommen?
Wie wir alle nur zu oft leidvoll erfahren müssen, ist es vor allem der Schmerz, der uns zu schaffen macht, Schmerz im weitesten Sinne verstanden. Denn schmerzvoll sind auch Trauer, Depression, Traumata. Lange Zeit glaubte man, für gewöhnlichen Schmerz seien allein die Schmerzrezeptoren des Körpers zuständig.
Meine Entdeckung besteht nun darin, dass es so etwas wie einen genetischen Schalter im Gehirn gibt, den sogenannten Aversio-Genetic-Toggle-Switch –, der sowohl für körperliche Schmerzen wie auch das ganze Spektrum seelischer Belastungen zuständig ist. Lassen Sie mich dazu kurz ein wenig in Fachchinesisch verfallen …
Schmerzrezeptoren, Mandelkerne, unser gesamtes Gefühlssystem, werden ohne einen solchen genetischen Schalter gar nicht aktiv. Es bietet sich also an, ihn durch gezielte Beeinflussung ein- oder abzuschalten. Versuche im Research Department of Neuroscience (RDN) – so der Name meines Instituts – sind äußerst vielversprechend.“
„Was dann wohl eine der preiswürdigsten Entdeckungen in der Geschichte des Nobelpreises wäre?
Handelt es sich bei Ihrer Entdeckung um einen ähnlichen Mechanismus wie beim sogenannten Dream-Gen, das kanadische Forscher unlängst bei Mäusen gefunden haben?“
„Mit dem entscheidenden Unterschied, dass dabei lediglich ein Gen entfernt wurde, wodurch es zu erhöhter Dynorphin-Produktion kam. Dynorphin ist ein vom Körper erzeugtes Opioid, vergleichbar dem Opium. Es wurde also nicht der eigentliche Schmerz ein- oder abgeschaltet, sondern lediglich ein Betäubungsmittel aktiviert.“
„Nehmen Sie mit Ihrer Entdeckung den Schmerzmittelproduzenten nicht die Geschäftsbasis?“
„In gewissem Sinne, ja. Wahrscheinlich wird die Pharmaindustrie demnächst einen Killer auf mich ansetzen, wenn ihre Geschäfte in den Keller gehen …“
„Bedeuten Ihre Forschungen, Professor Hollando, wir Menschen werden demnächst ein völlig schmerzfreies Leben führen?“
„Oh, nein …“, wehrte Hollando lächelnd ab. „Ganz ohne Schmerzen dürften wir auch in Zukunft nicht auskommen. Stellen Sie sich nur mal vor, was passiert, wenn sich Ihre volle Blase nicht mehr meldet?“
Lacher im Saal …
„Negative Gefühle werden für eine Vielzahl von Lebensvorgängen benötigt, wie Flucht und Kampf oder als Hinweis auf Erkrankungen. Und ohne Trauer würden wir uns beim Tod naher Verwandter auch nicht ganz intakt fühlen, oder?
Da halten wir es doch lieber mit der alten östlichen Weisheit: Selbst Buddha hatte Schmerzen …“
Nach Hollandos Vorlesung kehrte Carolin ohne Umweg zum Flughafen zurück.
Für die eigentliche Preisverleihung durch den schwedischen König würde es wegen des begrenzten Platzes im Konserthuset kaum freie Karten geben. Die meisten Plätze waren für ehemalige Preisträger und die Mitglieder des Nobelpreis-Komitees reserviert.
Als sie in Düsseldorf landete, stand ihr Bruder am Ausgang neben der Zolltheke und winkte ihr mit einer Zeitung zu.
Robert war überzeugter Junggeselle und gerade zum Hauptkommissar befördert worden – zur Überraschung seiner Kollegen, die geglaubt hatten es werde Paul Broder, für den es dann nur zum Stellvertreter reichte.
Nach dem Tod ihrer Eltern liebte Robert es immer noch, sich an den gedeckten Tisch zu setzen. Vielleicht war Carolin ja jetzt so etwas wie ein Mutterersatz für ihn …
So jung und schlaksig – mageres Gesicht und schelmische Augen – war es schwer, sich Robert als Kommissar vorzustellen. Aber der harmlose Schein trog. Eigentlich sah er ein wenig schwindsüchtig aus. Vielleicht, weil er zu viele Jahre in dunklen Büros verbracht hatte.
Draußen schien es, als wenn der Himmel auf die Landebahnen stürzte. Laternenmasten wackelten im Wind und von den fernen Hügeln Richtung Rhein breitete sich eine dunkle Wolkendecke aus.
„Lass uns erst mal ins Flughafen-Café gehen“, schlug Robert vor. „Bei dem Wetter bleiben wir noch im Stau stecken.“
Er bestellte wie immer nur einen Espresso.
„Sieh dir das mal an“, sagte er und reichte ihr die Zeitung. „Etwas Seltsames geht momentan in der Stadt vor. Es werden immer mehr Frauen aufgegriffen, die ihr Gedächtnis verloren haben …“
Carolin erinnerte sich, dass Robert vor ihrem Abflug eine junge Frau erwähnt hatte, die nur mit einem blauen Unterrock und dünner Bluse bekleidet am Flussufer unterhalb der Universität aufgegriffen worden war – bei Frost, während auf dem Wasser Eisschollen trieben. Ein Polizeibeamter hatte sie beim morgendlichen Lauftraining entdeckt.
„Schon der dritte Fall, seit du nach Stockholm geflogen bist“, sagte Robert. “Und jetzt auch noch ein vierter. Grauenhaft, diese Sache mit dem Auge …“
Die erste Frau war etwa zwanzig Jahre alt. Als Carolin ihr Bild in der Zeitung sah, erstarrte sie. Es war Manuela, eine Kommilitonin …
Sie studierte Theaterwissenschaften und Medizin – anscheinend, ohne sich für ein Fach entscheiden zu können.
Einmal hatte Manuela sich von Carolin ein paar Euro geliehen, um in der Cafeteria bezahlen zu können. Angeblich, weil ihr Portemonnaie im Handschuhfach des Wagens lag. Carolin erinnerte sich nicht, das Geld jemals zurückbekommen zu haben.
Auf dem Foto sah Manuela stark abgemagert aus. Doch das eigentlich Verstörende war die Schlagzeile:
JUNGE FRAU OHNE GEDÄCHTNIS AN
FLUSSUFER AUFGEFUNDEN
Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wo sie wohnte und wie sie hieß.
Amnesie, das wusste Carolin aus dem Studium, konnte durch einen Unfall, zum Beispiel ein Hirn-Schädel-Trauma, aber auch durch Schlaganfall oder verschiedene andere Krankheiten ausgelöst werden. Manchmal blieben die Ursachen auch völlig unbekannt.
Das ist Manuela Winter – nein, Winters“, berichtigte sie. Sie hat dasselbe Seminar belegt wie ich.“
„Dann solltest du unbedingt deine Angaben zu Protokoll geben. Bisher tappen wir nämlich noch völlig im Dunkeln. Von Seiten ihrer Universität – kann sein, aus dem Universitätssekretariat – gibt es einen Hinweis, sie könnte sich momentan irgendwo in den USA aufhalten“
„Heißt das, man hat dir den Fall übertragen, Robert? Gratuliere …“
„Nicht mir allein, ein ganzer Stab arbeitet daran. Also bitte keine Vorschusslorbeeren.“
„Na, wenn das kein Karrieresprung ist …“
„Die Presse läuft Sturm wegen der rätselhaften Vorfälle. Unsere Telefone klingeln Tag und Nacht.“
„Dann zieh einfach den Stecker aus der Wand …“
„Leichter gesagt als getan. Es gibt da ein paar Politiker, die uns genau auf die Finger schauen, schon wegen des Echos in den Medien. Diese Frauen haben nicht nur ihr Gedächtnis verloren. Der Körper der einen ist voller blauer Flecke. Eine andere war bei der Vernehmung kahlköpfig und am ganzen Körper rasiert.“
„Rasiert, wozu?“
„Keine Ahnung. Eine andere macht dauernd obszöne Bemerkungen.“
„Vielleicht, weil sie etwas Schreckliches erlebt hat?“
„Eine Vergewaltigung?“
„Oder so was Ähnliches.“
„Dafür haben wir bisher keinerlei Hinweise gefunden. Wenn man die Frauen anspricht, hat man den Eindruck, sie verstehen einen gar nicht. Es dauert immer eine Zeitlang, bis man eine halbwegs plausible Antwort bekommt.“
„Aber dann reden sie wieder normal?“
„Nein. Sie wirken eher geistesabwesend.“
Woran erinnert mich das aus meinen Seminaren?, überlegte Carolin. Beim Studium von Krankenberichten hatte sie schon viel mit seltsamem Verhalten zu tun gehabt. Das gehörte zur Ausbildung. Aber was bedeuteten in der Neurologie verzögerte Reaktionen beim Sprechen?
„Wir haben jetzt vier Fälle ohne jeden Anhaltspunkt“, sagte Robert.
Sie sah sich noch einmal die Fotos in der Zeitung an.
„Was ist mit der vierten Frau? Sieht aus, als wenn ihr … ein Auge fehlt?“
Carolin hob die Zeitung ins Licht, um besser sehen zu können. Oder lag es nur am schlechten Druck? Nein, es war kein Fehler. Es war eindeutig eine leere Augenhöhle.
„Robert …?“
Keine Antwort.
„Gibt es etwas, über das du nicht mit mir reden willst?“
„Ihr fehlt ein Auge, ja …“
„Was bedeutet das?“
„Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, darüber zu reden – so kurz nach deiner Rückkehr.“
„Heißt das, du willst mich schonen? Schon mal was von Resilienz gehört?“
„Mentale Abhärtung … oder so ähnlich.“
„Resilienz ist in unserem Fach besonders wichtig, weil ständig ziemlich üble Dinge auf uns zukommen. Einige brechen deswegen sogar ihr Studium ab. Und ein geöffnetes Gehirn, wenn wir im Limbischen System mit dem Skalpell Teile des Cerebrums oder des Fornix cerebri freilegen, ist auch nicht gerade appetitlich.“
Robert nickte nur unmerklich und schwieg.
„Irgendwas nicht in Ordnung?“
„Ihr rechtes Auge hängt an einer Angelschnur – Miniaturhaken Größe 24, so die Bezeichnung im Katalog für Zubehör – über einem Kirchenaltar.“
„Ihr Auge hängt … wo?“, fragte sie.
Ihr Bruder gab keine Antwort.
„Robert …?
„Spielt es denn eine Rolle, wo?“
„Ja, wieso nicht …“
„Es hängt über dem Kruzifix am Altar St. Maria Magdalena, das ist eine Kirche hier in der Nähe. Das Auge darf erst nach der Spurensicherung abgenommen werden. Die Sicherung von genetischem Material erfordert immer besondere Vorkehrungen, deshalb ist der Zutritt bis auf Weiteres gesperrt.“
„Aber wer hängt denn ein Auge über einen Kirchenaltar – und wozu?“
„Keine Ahnung.“
„Hört sich das nicht nach durchgeknalltem Psychopathen an?“
„Wir haben noch nicht den geringsten Hinweis, was dahintersteckt.“
Als sie das Café verließen, winkte Robert einem vorüberfahrenden Wagen zu …
Carolin konnte nicht erkennen, wer am Steuer saß – vielleicht eine seiner zahllosen Freundinnen. Ihr Bruder war trotz seines schwächlichen Aussehens eine Art Frauenheld. Was denn auch sonst bei einem Kerl, der jede Nacht mit einer großkalibrigen Waffe ins Bett ging?
Auf dem Parkplatz öffnete er das Handschuhfach und nahm ein Farbfoto heraus.
„Sind deine Nerven stark genug, dir das hier anzusehen?“
„Was?“, fragte sie argwöhnisch.
„Na, das Auge …“
Sie musste sich übergeben, als sie das Foto sah. Es kam so plötzlich und war ein so starker Reflex, dass sie nur noch die Wagentür aufstoßen konnte und sich auf den Parkplatz erbrach. Robert reichte ihr ein Taschentuch …
Aber da stolperte sie auch schon mit weichen Knien auf ein Gesträuch nahe der Landebahn zu. Sie streckte tastend ihre Arme aus, als sei sie plötzlich erblindet …
Der Sturm hatte nachgelassen, doch die röhrenförmigen Windanzeiger aus rot-weißen Stoffhüllen flatterten immer noch waagerecht in der Luft. Hinter dem Drahtzaun weit draußen landete mit wiegenden Tragflächen ein Langstreckenflieger.
Großer Gott! – das Bild mit dem am Perlonfaden hängenden Auge war sofort wieder da, als sie die Augen schloss …
Aus der Pupille bog sich die winzige Spitze eines Angelhakens bis in den weißen Augapfel hinein, ohne irgendeine Blutspur zu hinterlassen, chirurgisch sauber durchtrennt. Und dahinter – unscharf wegen der Einstellung des Objektivs und wie malerisch arrangiert – war schemenhaft das Bildnis des Gekreuzigten zu erkennen.
Sie kannte die Kirche von früher, weil dort ein historischer Pilgerweg verlief und sie oft mit ihren Eltern hier gewesen war. Das Kreuz im Chorraum von St. Maria Magdalena war um 1300 in den Pyrenäen entstanden.
Robert stieg aus und legte den Arm um ihre Schultern.
„Geht’s wieder …?“, fragte er.
„Professor Hollando gründet einen Arbeitskreis ausgewählter Studenten“, sagte Carolin während der Rückfahrt. Sie war froh, das Thema wechseln zu können. „In den muss ich unbedingt aufgenommen werden.“
„Deshalb bist du zur Preisverleihung nach Stockholm geflogen?“, fragte Robert. „Um ihn darauf anzusprechen?“
Sie hatte kaum Zeit, zu antworten …
Er beschleunigte so stark, dass sie den Rahmen der Rückenlehne im Schaumstoff spürte. Ihr Bruder liebte schnelles Fahren. Der Antrieb seines Zweisitzers war mit 12-Zylindern und 800 PS kein normaler Motor, sondern eher ein Raketentriebwerk.
Dann kam eine enge Kurve und sie holte tief Luft …
„Nein, man hat mir schon vor Abflug einen Vorstellungstermin gegeben. Ich wollte einfach dabei sein und sehen, wie Hollando auf mich wirkt.“
„Und – wie wirkt er auf dich?“
Sie gab keine Antwort.
„Carolin …?“
„Geht dich das was an?“
„Na, ich will doch, dass meine kleine Schwester glücklich wird.“
„Beeindruckend, mehr oder weniger.“
„Du willst einen Nobelpreisträger, hab ich recht?“
„Und du wirst bald Polizeipräsident.“
„Ausgezeichnete Idee …“ Robert lachte. „Glaubst du denn, dass dein Charme ausreicht, ihn um den Finger zu wickeln?“
„Hollando ist ziemlich schwierig, ein harter Brocken. Intellektuell und in jeder Hinsicht. Keine Ahnung, ob er mich akzeptiert.“
„Akzeptiert als Studentin? Oder als Frau?“
„Kommt drauf an.“
„Du bist gerade dabei, das herauszufinden?“
„Ich habe noch keinen Menschen kennengelernt, der ihm intellektuell das Wasser reichen könnte, Robert. Mit so einem Mann ins Bett zu gehen, ist noch mal eine völlig andere Sache. Darüber denke ich erst gar nicht nach. Ich muss höllisch aufpassen, dass ich bei meinem Vorstellungsgespräch kein dummes Zeug rede.“
„War der Kerl nicht ursprünglich Dominikaner? Und ist erst neuerdings zu den Zisterziensern übergelaufen?“
„Er ist immer noch Mönch und Dominikaner und zu niemandem übergelaufen. Cesare wohnt nur vorübergehend in der Zisterzienserabtei, wo er übrigens sehr gastfreundlich aufgenommen wurde. Davor lebte er im Dominikanerkloster St. Albert in Leipzig.“
„Im Kloster, aha. Das heißt, ohne Frauen? Und Cesare … du nennst ihn also schon beim Vornamen?“
„Es ist wichtig für mich, den Job zu bekommen.“
„Wird doch wohl nicht wieder eine deiner berüchtigten Schicksalsphantasien sein?“
Carolin winkte verächtlich ab. „Mach dich ruhig lustig über mich. Ich sehe eben manchmal Zeichen und Hinweise – echte Anzeichen als Ratschläge für mein künftiges Leben, keine Hirngespinste.“
„So? Welche Zeichen sind es denn diesmal?“, fragte Robert und legte grinsend seinen Arm um ihre Schultern.
„Ein Dreieck zwischen den Hochhaustürmen der Universität, dem alten Zisterzienserkloster einen Hügel weiter und dem Haus unserer Eltern.“
„Das meinst du nicht im Ernst?“
„Es ist ein Dreieck“, wiederholte sie. „Luftlinie wenige hundert Meter. Sieh es dir mal auf der Karte an. Die Schenkel aller Linien sind gleich lang. Glaubst du, so was ist Zufall?“
„Lieber Himmel …“ Robert schüttelte ungläubig den Kopf. „Bei deiner Neigung zum Aberglauben könntest du auch im Kaffeesatz lesen.“
Er stoppte an einer dunklen Hausfassade, über deren Schaufenster eine defekte Neonreklame flackerte.
„Was ist los?“, fragte sie.
„Du sprichst doch fließend Italienisch. Geh mal in die Pizzeria und besorg uns was zum Abendessen.“
„Wieso, weil es besser schmeckt, wenn man auf Italienisch bestellt?“
„Wäre ja möglich, dass der Pizzabäcker deinem Charme erliegt…“
„Du meinst das Lokal da drüben? Sieh dir die Bruchbude doch mal an. Die Schaufensterscheibe ist mit einem Tuch verhängt.
„Vielleicht heißt der Pizzabäcker ja Cesare wie dein Professor …“
Das Haus ihrer verstorbenen Eltern war ein massiver Felssteinbau aus dem siebzehnten Jahrhundert. Im Garten standen alte Apfelbäume.
Sie liebten diesen Ort über alles, auch wenn sie aus einem unbestimmten Gefühl ungern darüber sprachen. Vielleicht war es so etwas wie Respekt vor der Vergangenheit.
Durch die Dachfenster sah man den Stausee und etwas weiter seitlich auf den Hügeln die Hochhaustürme der Universität. Kurze Zeit vor dem Tod ihrer Eltern hatte man das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt.
Aber Robert wusste, wie man sich über Vorschriften hinwegsetzte. Anders als sein Stellvertreter Paul Broder, der so etwas kaum gewagt hätte, ließ er es einfach in Nacht- und Nebelaktionen von einem befreundeten Bauunternehmer sanieren.
Das hätte ihn zwar seine Beförderung zum Hauptkommissar kosten können, doch in der Beziehung war er kaum weniger skrupellos als die Verbrecher, die er jagte.
Genau genommen war sie Cesare Hollando gar nicht zum ersten Mal bei seinem Vortrag in Stockholm begegnet, sondern schon früher in einem vollgestopften Fahrstuhl der Universität, wenn auch nur flüchtig, für wenige Sekunden.
Studenten stiegen ein und aus und es war die plötzliche Nähe zu einem dunkelhaarigen Hünen, die sie völlig unvorbereitet traf. Als gerate man in irgendetwas Mysteriöse – wie ein rätselhaftes Magnetfeld …
„Das ist Professor Hollando“, hörte sie einen Studenten hinter sich flüstern. „Unser kommender Nobelpreisträger und künftiger Lehrstuhlinhaber für Neurowissenschaften.“
Obwohl Carolin im Gedränge so gut wie nichts von ihm sah, war es, als stehe auf einmal ihr Herz still. Und einen Moment später, als sich in der zweiten Etage die Fahrstuhltür öffnete, flüchtete sie – wie um ihr Leben zu retten – ins Treppenhaus und lehnte sich aufatmend an die Wand.
Was war das denn? Doch nicht etwa ein Anfall von Klaustrophobie?
Jetzt im selben Fahrstuhl, kurz vor ihrem Vorstellungsgespräch, fühlte sie plötzlich wieder die gleiche Beklemmung. Als würde sie, sobald sie Hollando erst einmal gegenübersaß, kein Wort herausbringen.
Dabei war sie immer stolz darauf gewesen, nicht besonders ängstlich zu sein. Robert nannte sie gern – wenn auch mit ironischem Unterton – „meinen unbesiegbaren weiblichen Gefechtsstand“ und lobte ihre Furchtlosigkeit und dass sie durch kaum etwas aus der Fassung zu bringen war.
Gib dir selbst einen Tritt in den Hintern, ermahnte sie sich. Das ist die Chance deines Lebens!
Du stehst schon fast im Vorzimmer. Und da sitzt auch nur irgendeine bebrillte Schleiereule, die sich nach deinem Termin erkundigt …
Doch in Cesare Hollandos Institut gab es gar kein Vorzimmer. Als sie ohne anzuklopfen die Tür öffnete, saß er kaum fünf Meter entfernt am Schreibtisch, versunken in das Studium von Papieren. Der Raum war überraschend karg eingerichtet. An der einen Wand ein schwarz-weißes Wappen mit Dominikanerkreuz, an der anderen eine Kopie des Heiligen Dominikus von Tizian.
„Nein, nein, Sie sind nicht falsch“, murmelte Hollando, ohne aufzublicken – als könne er ihre Gedanken lesen. „Ich richte mich gerade erst ein. Andererseits schätze ich auch die Einfachheit, wie es sich für einen Dominikaner gehört.“
„Man sagt, Sie bewohnten nur ein winziges Zimmerchen drüben im Kloster?“
„Obwohl man bei einem Professor meiner Besoldungsstufe eher an eine opulente Dienstvilla denken würde? Ja, ich lebe bei den Zisterziensern, allerdings nur vorübergehend.“
„Carolin Meyers, wenn ich mich vorstellen darf?“
Hollando sah prüfend in eine Liste und nickte.
„Und nun sind Sie hier wegen der Arbeitsgruppe? Ihr Gesicht kommt mir übrigens bekannt vor. Waren sie im Karolinska-Institut?“
Carolin erstarrte … Großer Gott, sie war ihm dort aufgefallen …
„Hab im Universitätssekretariat einen der letzten Studienplätze für Ihre Seminare ergattert, weil das Angebot wegen zu großer Nachfrage begrenzt werden musste. In Ihre Arbeitsgruppe aufgenommen zu werden, würde mir einen Traum erfüllen.“
„Einen Traum, aha. Und was, glauben Sie, befähigt Sie in meinem Arbeitskreis mitzuarbeiten? Unter so vielen hoch qualifizierten Studenten?“
Irgendetwas war in seinen Augen, das sie nicht einordnen konnte.
„Nehmen Sie doch Platz, Carolin ….“
„Ja, gern.“
„Also …? Warum sollte ich Sie in meine Arbeitsgruppe aufnehmen?“
„Weil ich besser bin als alle anderen.“
Ihre Antwort schien ihn zu amüsieren. Hollando lehnte sich im Sessel zurück und faltete die Hände über dem Bauch.
„Sie glauben also nach zwei Semestern Neurowissenschaften, Sie seien anderen Studenten überlegen? Was macht Sie so sicher?“
„Stellen Sie mir eine Frage, Professor.“
Er nickte versonnen und blätterte in seinen Notizen. Aber nichts geschah. Als existiere sie plötzlich nicht mehr für ihn …
Hollando schien mit seinen Gedanken an irgendeinem fernen Ort zu weilen. Doch was viel schlimmer war – sie hatte nicht die geringste Ahnung, mit welcher Frage er sie gleich auf die Probe stellen würde.
Carolin schob langsam ihr rechtes Bein übers linke Knie – ihr heller Kattunrock bewegte sich ein paar Zentimeter in Richtung Oberschenkel – und dabei bemerkte sie, dass sein Blick ihrer Bewegung folgte und kurz auf ihren Beinen ruhte.
Also schwul ist er schon mal nicht, dachte sie. Alles halb so schlimm …
„Wenn Sie jemand fragte, welche generelle Intention wir Menschen im Leben haben, Carolin, was würden Sie darauf antworten? Gleichgültig, ob wir uns dessen immer bewusst sind oder nicht. Ungewöhnliche Frage, zugegeben. Aber versuchen Sie Ihre Antwort möglichst auf den Punkt zu bringen.“
„Sie meinen einen generellen Nenner? Etwas, dass auf alle Aktivitäten im Leben zutrifft? Nur einen Nenner oder mehrere?“
„Was auch immer Sie als Antwort für richtig halten …“
„Dann würde ich mich für das Positiv- und Negativsein des Lebens entscheiden, im weitesten Sinne. Auch wenn es ziemlich philosophisch klingt und als Definition noch etwas vage wirkt. Man müsste genauer erläutern, worum es sich dabei handelt.“
Hollando lehnte sich zurück – und nickte.
„Ausgezeichnet, Ihre Antwort überrascht mich …“
„Was nicht weiter schwierig war, weil ich weiß, dass Sie als Vorsitzender die Ethikkommission leiten. Da es mich interessiert, habe ich Ihre Publikationen zum Thema studiert.“
„Inzwischen hat jemand anders den Vorsitz. Hab’s aufgegeben, weil es zu viel Zeit kostet. Und Positiv- und Negativsein haben auch mit Moral zu tun?“
„Als Gut und Böse, laut Ihrer Definition. Aber Positiv- und Negativsein im Leben sind natürlich viel mehr, als solche abstrakten Begriffe ausdrücken können – eben auch Glück, Lust, Spaß und Freude, Lebensqualität, Leiden, Schmerz, Trauer und Depression.“
„Und das lernt man an unserer Universität in den Neurowissenschaften?“, fragte er.
„Nein, nur wenn man umfassend informiert sein will.“
„Seltsam vielseitige Neugier bei einer jungen Frau wie Ihnen, oder?“
„Finden Sie? Nicht jedem Gesicht sieht man sofort an, ob es ein Dummerchen ist.“
Hollando wiegte nachdenklich den Kopf. Es sah aus, als versuche er ein Grinsen zu unterdrücken.
„Ich beginne zu verstehen, was Sie damit meinten, Sie seien besser als alle anderen Kandidaten …“
„Für einen Dominikanermönch ist die kritische Analyse unserer gesellschaftlichen Probleme sicher eines der wichtigsten Anliegen überhaupt. Es war also nicht allzu schwierig, mich darauf vorzubereiten.“
Hollando lehnte sich mit verschränkten Armen im Drehstuhl zurück – anscheinend besaß das Ding einen Wippmechanismus – und beugte sich gleich darauf unerwartet nach vorn, die rechte Hand über den Schreibtisch ausgestreckt …
„Nennen Sie mich ab jetzt doch einfach Cesare, Carolin! Auf gute Zusammenarbeit in meiner Arbeitsgruppe …“
Sie verspürte ein leichtes Zittern im rechten Arm, als sie kurz mit den Fingerspitzen seine Handfläche berührte.
„Übrigens liegen Sie ganz richtig und ich bin weiterhin Dominikanermönch und keineswegs abtrünnig geworden“, sagte er. „Auch wenn die Zisterzienser mich freundlich aufgenommen haben, weil ihr Kloster so nahe bei der Universität liegt.“
Ja, ich weiß, dachte sie. Aber nett von dir, das noch mal zu erwähnen. Ganz so, als wären wir bald beste Freunde …
Carolin fand es faszinierend, wie ihr Bruder an seinen Job heranging. Er schien ein wirklich begabter Ermittler zu sein. Falls man es nicht als zwanghafte Detail- und Spurenverliebtheit bezeichnen wollte. Von seinem Hang, alle nur denkbaren Theorien über einen Tathergang zu entwickeln, ganz abgesehen. Er nannte es Möglichkeitenanalyse, ein Begriff, den er in der Wissenschaftstheorie aufgeschnappt hatte. Und der erfolgreichste Ermittler war immer jener, der frühzeitig alle möglichen Abläufe und Motivationen erwog.
Wenn sie beim Frühstück waren, berichtete er ihr manchmal über den letzten Stand seiner Ermittlungen. Er saß nicht etwa in seiner eigenen Wohnung eine Etage tiefer, sondern lieber bei ihr im Halbdunkel unter der Dachschräge.
Seine Hände umklammerten eine Kaffeetasse und von seinem Platz aus, einem Tisch aus der Zeit Martin Luthers, konnte man unten das Seeufer mit der Staumauer und Al's Dorado See-Kiosk sehen. Die Sonne schob sich gemächlich über den Hügel, als arbeite sie alle Parzellen aus Wiesen und Laubwald nach einem festlegten Plan ab.
Eine der vier Frauen ohne Gedächtnis war inzwischen verstorben. Man hatte ihr Auge genetisch abgeglichen. Der Gerichtsmediziner vermutete eine Infektion, die von der Augenhöhle ins Gehirn gelangt war. Die Art, wie das Auge entfernt worden war, deutete dagegen eher auf Gewalteinwirkung hin.
Allerdings schien Roberts Vorgehen gar nicht erlaubt zu sein. Er lud die überlebenden Frauen ohne Gedächtnis der Reihe nach in den Verhörraum – und jagte den Rest des Kommissariats in die Mittagspause, damit es keine Zeugen für seine Verhöre gab.
„Gönnt euch mal ein gutes Essen auf meine Kosten. Wir haben in den letzten Tagen vergeblich Daten gesammelt wie Köter, die an jedem Laternenpfahl schnüffeln. Und was ist dabei herausgekommen?“
Es gab zwar Videoaufnahmen von den Verhören der Frauen. Doch die Filme wurden unter Verschluss gehalten und Robert behielt seine Geheimnisse für sich, falls es welche gab. Nur bei ihr wollte er eine Ausnahme machen.
„Aber du sagst niemandem etwas davon, Carolin?“
„Und warum erzählst du es ausgerechnet mir?“
„Weil ich mit jemandem darüber reden muss.“
„Was passiert denn, wenn man von deinen – na ja, Verhörmethoden erfährt?“
„Es könnte mich in Schwierigkeiten bringen.“
Robert zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte tief den Rauch und blies ihn gedankenverloren zur Decke.
„Großer Gott …“
„Sag nicht dauernd ‚großer Gott’, Carolin. Sag zwischendurch einfach mal ‚lieber Himmel’ …“
„Hast du nicht kürzlich mit dem Rauchen aufgehört?“
„Diese Frauen reden nur, wenn man sie unter Druck setzt. Es ist, als seien sie blockiert – irgendwie umprogrammiert.“
Robert schob seine Kaffeetasse beiseite und ging hinüber zum Schrank.
Das untere Fach war abgeschlossen und er zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Hinter der Schranktür befand sich – wie Carolin jetzt erst entdeckte – ein Schließfach.
„Schau dir das mal an“, sagte er und legte ein Video in das Abspielgerät auf der Anrichte.
„Was denn, du hast Beweismaterial aus dem Büro mitgenommen? Ist das denn gestattet?“
Robert gab keine Antwort. Er drückte die Taste und drehte am Lautstärkeregler. Dann wandte er sich lächelnd nach ihr um … und so wurde sie seine einzige Vertraute bei den Ermittlungen.
„Wir haben inzwischen alle Opfer identifiziert“, sagte Robert. „Das vierte erst dank deiner Hilfe.
Die Frau mit den blauen Flecken am Körper, die gerade verstorben ist, war Nonne in einem Kloster bei Köln und nur zu Besuch in der Stadt. Ihr Name ist Elisabeth Herschel. Im Orden wurde sie Beta genannt. Es gibt keinen Hinweis auf einen Liebhaber – was ja auch bei jemandem, der sein Leben Gott geweiht hat, eher nicht zu erwarten ist …
Manuela Winters, deine Kommilitonin, dürfte das erste der vier Opfer gewesen sein, denn seitdem sie verschwunden ist, hat sie nach Auskunft von Studienkollegen außerordentlich stark abgenommen. So etwas wäre nicht in einer Woche möglich gewesen. Sie ist das Opfer, das andauernd obszöne Sätze wiederholt, sobald sie mit sich allein ist. Zwanghaft, wohl eine Art Tick.
Das dritte Opfer ist eine Bürger- und Frauenrechtlerin namens Erika Haard – du musst dir all die Namen übrigens nicht merken, Carolin, ich erwähne sie nur der Vollständigkeit halber. Sie hat gelegentlich in den Medien mit unkonventionellen Äußerungen über Menschenrechte Aufmerksamkeit erregt.
Die vierte Frau ist, wie wir durch Hinweise dank des Fotos in der Presse wissen, ein bekanntes Mannequin namens Vanessa Roth. Sie hat mit führenden Modeschöpfern zusammengearbeitet.“
„Ist Vanessa Roth die Frau, der man den Kopf geschoren hat?“
„Und nicht nur den Kopf“, sagte er. „Einer attraktiven und auf ihr Äußeres bedachten Frau wie ihr muss das besonders wehgetan haben.“
„Gibt es denn Zeichen für sexuellen Missbrauch?“
„Nein, bislang haben wir dafür keine Hinweise gefunden.“
„Nonne, Studentin, Bürgerrechtlerin und Mannequin – schon merkwürdig, oder?“, fragte Carolin.
„Ja, es könnten zufällige Opfer gewesen sein, die nichts miteinander verbindet.“
„Außer dass es junge, gut aussehende Frauen sind?“
„Falls es sich immer um denselben Täter handelt – was ich wegen ihres Gedächtnisverlustes vermute –, scheiden Frauen in aller Regel aus. Es sei denn, als Mittäterinnen, die ihrem Partner verfallen sind.“
„Oder wesensverwandt?“
„Schau dir mal an, wie viel Zeit sie brauchen, um auf Fragen zu antworten“, sagte Robert. Er spulte den Film zurück, bis die Frau mit dem kahlen Kopf erschien.
Vanessa Roth trug ein abgetragenes graues Kleid, vom Glanz eines Mannequins war nicht mehr viel übrig. Um ihre Augen lag ein fahler Schatten und ihr Blick war seltsam leer und unstet. Sie schien Robert gar nicht wahrzunehmen, obwohl er vor ihr stand.
„Ich habe dich etwas gefragt“, sagte er und griff blitzschnell und unerwartet nach ihrem Hals …
Sein Griff musste schmerzhaft sein, denn sie verzog das Gesicht.
Großer Gott, dachte Carolin entsetzt.
„Wie ist dein Vorname?“
„Ich … weiß nicht …“
„Vielleicht Vanessa?“
„Ja, Vanessa.“
„Und weiter?“
Sie schüttelte hilflos den Kopf.
„Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du Vanessa Roth heißt? Du warst mal ein berühmtes Mannequin. Erinnerst du dich wieder daran?“
„Ja.“
„Und wenn ich dich das in einer Stunde noch einmal frage? Wie lautet dann dein Name? Vanessa Roth, oder?“
„Ja, ich …“
„Wo befandest du dich, bevor du dein Gedächtnis verloren hast? War jemand bei dir? Vielleicht ein Mann?“
„Ein Mann?“
„Ja, ein Mann, oder zwei oder mehrere Männer. Wie sahen sie aus? Groß oder klein, alt oder jung?“
„Ich erinnere mich an keinen Mann …“
„Und wo genau ist das alles passiert? Vielleicht in einem Haus? Falls ja, beschreib mir, wie die Räume aussahen. Und versuch dich an die Adresse zu erinnern.“
Vanessa schüttelte hilflos den Kopf. Dann brach sie unvermittelt in Tränen aus …
„Kein Problem, alles in Ordnung“, sagte er und griff beruhigend nach ihrem Oberarm. „Wir klären schon noch, wer dich so zugerichtet hat. Dafür sind wir da.“
Dabei blickte er kurz in die Kamera und schüttelte unmerklich den Kopf.
Als Vanessa sich abwenden wollte, drehte er sie blitzschnell und unerwartet mit einer groben Handbewegung in seine Richtung. „Und jetzt sag mir auf der Stelle, wer der verdammte Kerl war …“
„Geht das nicht zu weit?“, protestierte Carolin. „Bitte schalte den Film ab, ich kann mir das nicht länger ansehen …“
Robert drückte achselzuckend ein paar Tasten und rief ein anderes Video auf.
„So ging’s mir mit allen drei Frauen. Kein Fortschritt, keine Indizien, keine Hinweise. Wir finden nichts, das auf den Täter hinweist. Womöglich gibt es gar keinen Täter und es kursiert gerade nur so etwas wie ein Lebensmittelvirus in der Stadt, der ein paar Frauenhirne durcheinander gebracht hat?“
„Unsinn …“, sagte Carolin.
„Also hab ich einen zweiten Versuch gestartet und sie alle drei allein in einem Raum zusammengebracht, ohne Zeugen. Schau dir die Aufnahme mal genau an …“
„Allein? Wozu denn allein?“, fragte Carolin.
„Wäre doch möglich gewesen, dass sie sich untereinander austauschen, wenn sie nicht verhört werden.“
„Du meinst, sie verheimlichen dir etwas?“
„Unser Job ist es schließlich, allen denkbaren Vermutungen nachzugehen.“
„Ja, richtig, deine sogenannte Möglichkeitenanalyse aus der Wissenschaftstheorie. Aber ob das auch beim Menschen mit seinen unendlich vielen Motivationen funktioniert? Wenn das mal keine Illusion ist.“
Als erste betrat Carolins Kommilitonin Manuela Winters den Verhörraum. Robert geleitete sie an den Tisch und bat sie, sich zu setzen. Er stellte ihr ein Glas Wasser hin und bot ihr eine Zigarette an. Aber sie schien gar nicht wahrzunehmen, was er von ihr wollte.
Manuela sah erschreckend abgemagert aus. Ihre Bewegungen waren fahrig und ihr Blick wirkte genauso leer wie der Vanessas.
Die eine Hälfte ihres weißen Kragens war abgerissen und an ihrer rechten Schläfe befand sich ein blauer Fleck, der gerade alle Farben des Regenbogens annahm.
Großer Gott!, dachte Carolin … oder lieber Himmel. Er wird sie doch nicht beim Verhör geschlagen haben?
„Ich lasse sie erst mal eine halbe Stunde warten, um sie mürbe zu klopfen, ehe die nächste in den Verhörraum kommt“, erläuterte Robert. „Vielleicht fangen sie ja einfach aus purer Langeweile an, miteinander zu plaudern. Die Pausen habe ich natürlich herausgeschnitten …
Nein, der blaue Fleck an Manuela Winters Schläfe stammt nicht von mir, falls du das denkst?“, fügte er grinsend hinzu. „Den hatte sie schon, als sie unten am Fluss aufgegriffen wurde. Steht alles im Protokoll des Beamten, der sie beim morgendlichen Lauftraining entdeckt hat.“
Als die Bürgerrechtlerin Erika Haard an die Reihe kam, erinnerte sich Carolin, sie schon einmal in einer Fernsehdiskussion gesehen zu haben.
Der Moderator zitierte damals Charles Bukowski, wohl um sie zu provozieren:
„Feminismus existiert doch nur, um hässliche Frauen in die Gesellschaft zu integrieren.“
Worauf sie antwortete: „Kluge Frauen widersprechen hässlichen Männern nicht.“
Auffallend war, dass die beiden Frauen kein Wort miteinander sprachen. Erika Haard nickte nur kurz, als sie den Raum betrat, blickte sich suchend um und setzte sich dann an das gegenüberliegende Ende des Tischs.
„Wieso sprechen die beiden nicht miteinander?“, fragte Carolin.
„Weil sie sich nicht kennen.“
„Aber Erika Haard weiß inzwischen, wer sie ist?“
„Wir haben es ihr gesagt, nachdem sie durch Fotos identifiziert werden konnte.“
„Hat sie denn jemanden, der sich um sie kümmert?“
„Nein, sie lebt allein. Ihre Freundin – es war wohl eine lesbische Beziehung – hat sie verlassen. Dann ein Secondhand-Shop in Paris – vielleicht als Flucht. Gescheiterte Beziehung zu einem Farbigen. Alkoholprobleme. Später hat sie wieder die Kurve gekriegt. Und dann zuletzt diese üble Geschichte mit ihrem Gedächtnisverlust. Ohne fremde Hilfe wäre sie momentan kaum lebensfähig.“
„Wie schrecklich …“
„Den anderen geht es auch nicht besser.“
„Jetzt beugt sie sich vor und flüstert Manuela etwas zu“, sagte Carolin. „Aber es ist nicht zu verstehen …“
„Wir haben die Tonaufnahme im Labor verstärkt. Sie sagt nur: Scheiße, ich hab meine Zigaretten vergessen …“
„Na, wenigstens daran kann sie sich noch erinnern.“
„Mich wundert, wieso man weiter ganz normal redet, wenn man sein Gedächtnis verloren hat“, sagte Robert.
„Amnesie bedeutet nicht schon Sprachverlust. Meist bleibt die Sprachfähigkeit erhalten. Andernfalls sind oft das Broca-Areal oder das Wernicke-Zentrum im Gehirn beschädigt.“
„Erklärt das auch, wieso die Frauen ihr Gedächtnis verloren haben?“
„Nein, wohl eher nicht. Aber ich könnte Professor Hollando danach fragen.“
„Hab mich mal kundig gemacht. Der Mann war ja früher ein ziemlich angesehener Kriminalist, bevor er ins Fach Hirnforschung wechselte?“
„Ach, davon wusste ich nichts?“
„Versuch ihn doch mal zu überreden, uns in der Sache zu helfen.“
„Du meinst, als Profiler?“
„Wir nennen das operative Fallanalytiker“, sagte Robert. „Dabei geht’s weniger um psychologische Täterprofile, sondern was man aus den Fakten folgert. Nonne, Studentin, Bürgerrechtlerin und Mannequin – nach welchen Kriterien hat er seine Opfer ausgewählt? Und was bedeutet das herausoperierte Auge über dem Altar?“
„Ich kann ihn ja mal fragen“, sagte Carolin. „Aber versprich dir nicht zu viel davon.“
Als Vanessa Roth den Raum betrat, blickten Erika und Manuela nur kurz auf. Die drei Frauen schienen sich nicht zu kennen. Vanessa Roth trug immer noch dasselbe abgetragene graue Kleid. Sie zog den Rock über den Knien zurecht und fragte:
„Was will man von uns?“
„Keine Ahnung“, sagte Manuela. „Dieser Kerl stellt mir dauernd Fragen, die ich nicht beantworten kann.“
„Geht mir genauso“, sagte Erika Haard. „Er will wissen, wo ich wohne und ob ich mich an Paris erinnere. Er fragt mich, mit wie vielen Niggern ich dort geschlafen habe.“
Carolin starrte ihren Bruder ungläubig an. „Um Gottes willen, geht das nicht zu weit?“
Robert stoppte den Film und hob beschwichtigend die Hände.
„Das gehört zum Job, Carolin. Wir haben beim Verhörtraining gelernt, möglichst emotionale Fragen zu stellen, um ebenso emotionale Antworten zu provozieren. Starke Gefühle wie Empörung könnten helfen, alte Erinnerungen zu reaktivieren.“
Die erste Seminarstunde nach Hollandos Rückkehr war enttäuschend. In der Menge der Studenten schien er Carolin gar nicht wahrzunehmen …