Eine Stunde hinter Mitternacht - Hermann Hesse - E-Book
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Hermann Hesse

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Beschreibung

Hesses erste Schritte als Schriftsteller - neu aufgelegt

In Eugen Diederichs fand der junge Hermann Hesse Ende des 19. Jahrhunderts einen Verleger, der bereit war, sein erstes Buch zu veröffentlichen. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von neun kleinen Prosadichtungen, in denen er beeinflusst vom neuromantischen Trend schwärmerisch märchenhafte und traumähnliche Szenerien beschreibt.

Vor Erscheinen schrieb Diederichs an Hesse: "Also, wenn ich offen gesagt, wenig Glauben an den geschäftlichen Erfolg des Buches habe, so habe ich doch desto mehr Überzeugung von seinem literarischen Wert."

Für den am Schriftsteller interessierten Leser ist dieses Büchlein ein Beispiel seines frühen Schaffens.

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Seitenzahl: 97

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Über das Buch

»Die Nacht kam schnell und schlug den schweren Mantel der Finsternis um meine Trauer und blickte herrlich aus tausend tröstenden Augen auf meine langsame Heimfahrt.«

Bei diesem Buch von Hermann Hesse handelt es sich um eine Sammlung von neun kleinen Prosadichtungen, in denen er beeinflusst vom neuromantischen Trend seiner Zeit schwärmerisch märchenhafte und traumähnliche Szenerien beschreibt. In Eugen Diederichs fand der junge Schriftsteller einen Verleger, der sein erstes Prosabuch 1899 veröffentliche.Dieses Büchlein ist ein Zeugnis von Hesses frühem Schaffen.

Hermann Hesse

EINE STUNDE HINTER MITTERNACHT

Diederichs

INHALT

Geleitwort (Zur Neuauflage von 1941)

EINESTUNDEHINTERMITTERNACHT

Der Inseltraum

Albumblatt für Elise

Die Fiebermuse

Incipit Vita Nova

Das Fest des Königs

Gespräche mit dem Stummen

An Frau Gertrud

Notturno

Der Traum vom Ährenfeld

Nachwort

Streute ewiger Lenz dort nicht auf stiller FlurBuntes Leben umher? Spann nicht der Frieden dortFeste Weben? Und blühteDort nicht ewig, was einmal wuchs?

NOVALIS

GELEITWORT (ZUR NEUAUFLAGE VON 1941)

Die »Stunde hinter Mitternacht« erschien im Verlage Eugen Diederichs in Leipzig, »hergestellt von W. Drugulin im Juni des Jahres 1899«, ein kleines, ungemein sorgfältig gesetztes, gedrucktes und geschmücktes Buch, den Sammlern meiner frühen Bücher wohlbekannt, wenn auch manchen nur dem Titel nach, denn ich kenne einige, die es jahrelang vergeblich in den Antiquariaten gesucht haben. Die kleinen Prosadichtungen, aus denen es besteht, sind in den Jahren 1897 bis 1899 in Tübingen entstanden. Ich stand damals im Briefwechsel mit einer jungen norddeutschen Dichterin; sie hatte mir nach dem Lesen eines Gedichtes von mir, das sie in einer verschollenen Zeitschrift fand, geschrieben, und hieß Helene Voigt. Gesehen hatten wir uns nie, doch hatte sie mir vor kurzem geschrieben, daß sie sich mit dem jungen Verlagsbuchhändler Eugen Diederichs verlobt habe. Und da ich von diesem Verleger, dessen erste Bücher in Florenz erschienen waren, mehrere interessante und neuartig ausgestattete Bücher kennengelernt hatte, namentlich seine dreibändige Ausgabe der Werke von Jacobsen, machte ich den Versuch und schickte ihm mein Manuskript. Er wußte nichts von mir, und mein kleines Buch paßte nicht so ganz in die Richtung seines Verlages, und so verdanke ich es wohl hauptsächlich der Befürwortung durch seine Braut und junge Frau, daß er sich dennoch zum Verlag des Buches entschloß. Er vermißte in meinen »Skizzen«, wie er die Prosastücke nannte, »das Befreiende«, und fuhr fort: »Also, wenn ich, offen gesagt, wenig Glauben an den geschäftlichen Erfolg des Buches habe, so habe ich doch desto mehr Überzeugung von seinem literarischen Wert.« Er schlug eine Auflage von sechshundert Stück vor und schrieb in einem zweiten Brief, nachdem ich mich mit allen seinen Vorschlägen einverstanden erklärt hatte: »Daß ich sechshundert absetze, darauf rechne auch ich nicht, aber ich hoffe, daß es schon durch die Ausstattung allein auffallen wird und der unbekannte Name des Autors dadurch paralysiert wird.«

Von den wenigen Besprechungen, die mein Büchlein nach seinem Erscheinen erfuhr, waren nur zwei von einem gewissen Gewicht, die eine von Wilhelm von Scholz, die andere von Rilke. Der geschäftliche Erfolg blieb richtig aus, im ersten Jahre wurden dreiundfünfzig Stück abgesetzt. Einige Jahre später dann, als ich durch andere Bücher bekannt geworden war, wurde die kleine Auflage natürlich rasch vollends erschöpft. Inzwischen aber hatte meine eigene Einstellung zu dem Buch sich geändert, und ich veranlaßte den Verleger, von einem Neudruck abzusehen, der denn auch bis heute unterblieben ist.

Was den Titel meines ersten Prosabuches betrifft, so war seine Bedeutung mir selbst wohl klar, nicht aber den meisten Lesern. Das Reich, in dem ich lebte, das Traumland meiner dichterischen Stunden und Tage, wollte ich damit andeuten, das geheimnisvoll irgendwo zwischen Zeit und Raum lag, und ursprünglich sollte es »Eine Meile hinter Mitternacht« heißen, doch klang mir das gar zu unmittelbar an die »Drei Meilen hinter Weihnachten«, des Märchens, an. So kam ich auf die »Stunde hinter Mitternacht«.

Daß das Buch später aus der Liste meiner Bücher verschwand und einige Jahrzehnte lang verschwunden blieb, hatte seine biographischen Gründe. In den Prosastudien der »Stunde hinter Mitternacht« hatte ich mir ein Künstler-Traumreich, eine Schönheitsinsel geschaffen, sein Dichtertum war ein Rückzug aus den Stürmen und Niederungen der Tageswelt in die Nacht, den Traum und die schöne Einsamkeit, und es fehlte dem Buch nicht an ästhetenhaften Zügen. Wilhelm von Scholz meinte in seinem Aufsatz darüber, es stehe sehr unter dem Einfluß von Maeterlinck und Stefan George. Was Maeterlinck betrifft, hatte er recht, ich hatte den »Schatz der Armen« und den »Tintagiles« gelesen. Von George dagegen war mir, als mein Buch erschien, noch keine Zeile bekannt, ich habe die ersten Verse von ihm – es waren die Hirtengedichte – erst einige Monate später in Basel kennengelernt. Und wenn mir in jenen frühen Dichtungen Maeterlincks, so sehr ich sie damals liebte, eine gewisse künstliche Dämmerung, eine etwas kränkliche, in sich selbst verliebte Form der Introversion gelegentlich verdächtig wurde, denn gerade diese Gefahr bestand auch für mich und meine Dichtung, so lernte ich bald darauf in dem beginnenden George-Kult eine andere, mir noch fatalere Art des Ästhetentums kennen, die Pflege eines geheimbündlerischen Pathos, einer überheblichen Cliquen-Esoterik, die ich gefühlsmäßig von Anfang an ablehnte. Manche Äußerungen des Hermann Lauscher in der Erzählung »Lulu«, welche wenige Monate nach dem Erscheinen der »Stunde hinter Mitternacht« geschrieben ist, geben darüber Auskunft, wie denn der »Lauscher« überhaupt ein Versuch war, mir ein Stück Welt und Wirklichkeit zu erobern und den Gefahren einer teils weltscheuen, teils hochmütigen Vereinsamung zu entkommen. Der nächste Schritt auf diesem Wege, ein das Gesunde, Natürliche und Naive schon beinah überbetonender Schritt, war dann der »Peter Camenzind«, in dem ich tatsächlich eine Art von Befreiung fand, der mir aber durch seinen unerwartet raschen und breiten Erfolg auch mehr als genug geschadet hat.

Heute nun scheint mir die »Stunde hinter Mitternacht« für den Leser, dem es um das Verständnis meines Weges zu tun ist, mindestens ebenso wichtig wie Lauscher und Camenzind.

(1941)

EINE STUNDE HINTER MITTERNACHT

DER INSELTRAUM

Eine langhin gewölbte, sanfte Welle hob meinen Kahn mit dem gerundeten Bug auf das Gestein. Ein schiffbrüchiger Träumer verließ die Ruderbank und dehnte die Arme dem stummen Lande entgegen. Mein purpurner Mantel war mürbe geworden und warf von den Hüften abwärts weiche, demütige Falten. Meine Arme und mein Hals waren von Rudern und Fasten mager geworden, mein Haar war lang gewachsen und bog sich in dichter Fülle in den Nacken. In dem dunkelgrünen, stillen Gewässer der Bucht lag mein Spiegelbild gebreitet, und ich sah, daß auf der langen Fahrt alles an mir anders geworden war, brauner, schlanker und biegsamer. Auf meinen Wangen hatten grausame Stunden Denkmale ihrer Gefahren und Niederlagen und Überwindungen geschaffen. Alle Morgen ohne Sonne, an denen ich mit wunden Gliedern an mein Fahrzeug geklammert hing, alle Stürme, die mir die Abgründe des Meeres zeigten, hatten sich mir in Ecken und Furchen mit tiefer Schrift auf Wangen und Hals geschrieben.

Aber meine Augen standen klar in weiten Höhlen, mit wachsamen Kinderblicken. Sie hatten viele Nächte durchwacht und nach den ewigen Sternen gesucht und die farbigen Nächte des Meeres aufmerksam durchdrungen nach aufsteigenden Segeln oder Gestaden. Sie hatten viele Tage lang keinen Staub gesehen und selten nur mit lächelnder Sehnsucht von ferne das Grün vorübergleitender Wälder und den Rauch aus fernen, verborgenen Städten gestreift. Nun lachten sie hell und groß mich aus dem glatten Spiegel an.

Und nun tranken sie den lange entbehrten Anblick der weißen Steine, der bräunlichen Erde, der Gräser und Gebüsche. Ich sah die Luft um die Gebüsche wie einen feinen, weißlichen Rand, denn ich war lange der Luft entwöhnt, welche über Erde und Grünem ist. Meine Nüstern sogen mit scheuer Lust den vollen, zärtlichen Duft der Wiese und des nackten Bodens, und mein Fuß trat stark und schonend zugleich auf das köstliche Gut des festen Erdreiches.

Ein Wind kam lässig vom Lande zu mir geflogen. Er trug einen Geruch von Waldkraut und einen leisen Duft aus entfernten Gärten. Da reckte ich in süßer Wonne ihm beide Arme weit entgegen und fühlte mit Lust seinen weichen Hauch meinen Fingern und Händen entlang und an meinen Schläfen hin gleiten, die der schneidenden Seewinde gewohnt waren.

Ich zog mein graues Boot auf den Sand und strich mit der Rechten über die harte Wölbung des Bordes, die von meinen klammerenden Händen geglättet war. Darauf wandelte ich landeinwärts bis zu dem hohen Gebüsche, das dicht und ringförmig wie eine Mauer stand und sich weiter erstreckte, als meine Blicke reichten. Ich ging der grünen Hecke entlang und freute mich des warmen, bläulichen Schattens, der von grüngoldenen Lichtern durchwirkt war. Mein Gang führte über eine Wiese mit weichen Gräsern, welche allmählich höher wurden und mit seidenen Blüten meine Knie berührten. Die grasige Fläche lag im hellen Sonnenlicht, nur der Rand, den ich entlang schritt, war von den hohen Büschen mit einem gleichmäßigen Schattenbande gesäumt.

Indem ich weiterschritt und eine linde Müdigkeit meine Knie leicht befing, tat sich zu meiner Linken ein schmaler Eingang, einem Tore ähnlich, in die Gebüsche auf. Ich erblickte ein grünes Dunkel, von einem Muschelpfad durchschnitten, und im Hintergrunde ragende Baumkronen. Der Eingang aber war durch eine künstlich gewundene Blumenkette verboten. Ich stand eine Weile, und meine Augen badeten sich in dem zarten Dämmer und erfreuten sich an der Stufenfolge sanfter Farben. Denn von der lichtgrünen Hecke bis zu den halbsichtbaren Geheimnissen des innersten Haines zerfloß das Grün in tausend Schatten; das Auge folgte begierig dem mählich vertieften Dunkel bis zu den entferntesten, braunen Waldfarben und kehrte mit neuer Lust zu dem gelblichen Licht der besonnten Wiese zurück.

Ich löste die Blumenkette in fröhlichem Übermut von den rundköpfigen Pfeilern, daß der Eingang offenlag, und schlang das rote und weiße Gewinde um Hals und Hüften, so daß ich wie zu einem Sommerfeste geziert war. Darauf ging ich behutsamen Schrittes dem halben Dunkel entgegen. Ich fand ein genaues Kreisrund aus dem Dickicht geschnitten, mit dichten Wänden von jungen Stämmen und Büschen, und auch der schmale Pfad war künstlich durch das wilde Gehölz gehauen. Durch die Wipfel überhängender Bäume sank ein braun und grünes Licht. In dem runden Aushau war die Erde mit hellem Sande bestreut, und zwei schmale halbrunde Sitzbänke aus Marmor standen einander gegenüber. Eine tiefe Waldstille lag darauf. Ich wandte mich und folgte dem Pfad, der in die Tiefe des Haines führte. Mein Haupt ward von dem ungewohnten Dufte schwer, und ich hörte das Klingen meines raschen Blutes.

Als ich einige Zeit gegangen war, wuchs die Schwere meiner Knie, und ich ersehnte einen Ort, zu ruhen. Indem bog sich mein Weg und wurde breiter, und die auf beiden Seiten schnell zurücktretenden Waldwände gönnten den Anblick eines lichten Raumes, welcher sich weit ausdehnte und wie ein Garten anzusehen war. Viele breite und schmale Wege, oft von Gebüsch gesäumt, schlangen sich um Rasenflächen und um Beete, in welchen Rosen und andere vielfarbige Blumen in Pracht und Fülle wohlgepflegt und ohne braune Blätter standen. In der Mitte des ebenen Gartens erblickte ich edle Gruppen alter Bäume, hinter denen ein Bau, Palast oder Tempel, aus Marmor in dämmerndem Weiß sich zeigte.

Eine niedrige Bank, von großen Zypressen ganz beschattet, zog mich an. Ich setzte mich in den weichen Rasen und lehnte das Haupt mit darunter gekreuzten Armen gegen den steinernen Sitz, wie ich zuweilen in stillen Nächten an meiner Ruderbank gelegen hatte. Ich schaute hoch über mir den weiten Himmel in wunderbarer Bläue und wenige kleine, blanke Flaumwölklein ruhig stehend, dann schloß ich die Augen und ergötzte mich an dem roten Schimmer, der mir durch die Lider drang. Darauf neigte der Gott des Schlafes sich über mich und löste mir wohltätig die müden Glieder.