Eine unglaubliche Welt - Sabine von der Wellen - E-Book

Eine unglaubliche Welt E-Book

Sabine von der Wellen

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Beschreibung

In Ankum verschwinden Kinder. Einfach so. Spurlos. Gerrits Schwester Nina ist das einzige Mädchen unter den Vermissten und Gerrit hat eine dunkle Ahnung, dass eine Katze mit dem Verschwinden zu tun hat. Auch er folgt dem Tier und bricht an einer Senke in einem Waldstück in den Erdboden ein, wo einst ein Fluch ein Gasthaus im Erdreich versenkte. Gerrit landet in einem Höhlenlabyrinth und gerät zwischen die Fronten der unterirdisch lebenden Völker, die in einen Krieg über die Macht in ihrer Welt verstrickt sind. Gerrit erkennt bald, dass Mut alleine oft nichts ausreicht, sondern dass Vertrauen und Freundschaft das höchste Gut sind. Und er erfährt, dass die Kinder aus Ankum sich auch in dieser Welt befinden. Gerrit macht sich auf die Suche nach ihnen und hofft seine Schwester retten zu können, die wie er, zu einem Spielball zwischen den Mächten geworden ist.

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Seitenzahl: 592

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Sabine von der Wellen

Eine unglaubliche Welt

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die verschwundenen Kinder

Der Katze auf der Spur

Eine unglaubliche Welt

Im Tal des Lichts

Im Lande Tendors

Ein weiterer Auserwählter

Der Weg ins Unbekannte

Nina und Berie

Der Verrat

Der Kriegszug

Der Untergang

Impressum neobooks

Die verschwundenen Kinder

Gleißendes Mondlicht fällt durch ein kleines Dachfenster in das Kinderzimmer, dessen Wände mit einer bunten Rennwagentapete beklebt sind. Die sonst so grellen Farben leuchten nur schwach und geben dem sonst so unruhig wirkenden Bild, ständig durch das Zimmer preschender Rennwagen, ein klein wenig Ruhe.

„Warte …, wo bist du?“, raunt eine Stimme im Schlaf und ein Körper wälzt sich in dem Kiefernbett unter dem Fenster hin und her. „Warte doch!“, stammelt es unter der hellblauen Decke, die zu beben scheint. „Nina! Warte auf mich!“

Gerrit schnellt hoch. Seine Haare kleben ihm schweißnass an der Stirn und sein Schlafanzug hängt ihm feucht am Leib. Starr blickt er in die dämmrige Dunkelheit des vom Mondlicht erhellten Zimmers.

Seine Decke sinkt zu Boden und sofort spürt er die Kälte der Nacht, die durch seinen Schlafanzug dringt. Das reißt ihn vollends in die Wirklichkeit.

„Wieder dieser Traum!“, denkt er und zieht die Decke auf das Bett zurück. Zitternd rollt er sich hinein und schließt die Augen.

Erneut sieht er die Gestalt aus seinem Traum vor sich, das Gesicht umrahmt von üppig blonden Locken und die blauen Augen, die ihm traurig entgegenstarren, wobei kleine Kinderfinger das seidige Fell einer Katze umklammern.

Wie jedes Mal, wenn er diesen Traum hat, fleht sie ihn an: „Bitte, Gerrit, hol mich wieder nach Hause.“

Er hatte das schon oft geträumt und es erscheint ihm mittlerweile so, als wenn seine kleine Schwester Nina ihn dringender ruft. Er weiß, in dieser Nacht wird er nicht mehr schlafen können. Wie immer lässt der Traum die Geschichte um seine Schwester wieder neu in ihm aufleben.

Erneut überrollt ihn die tiefe Traurigkeit und gibt ihm das Gefühl, dass er etwas unternehmen muss. Immer stärker setzt sich in ihm der Glaube fest, dass sie tatsächlich nach ihm ruft und dass das nicht nur ein Traum ist.

Er ist jetzt dreizehn Jahre alt, kein kleiner Junge mehr! Er spürt, dass es an der Zeit ist, die Dinge nicht mehr einfach hinzunehmen. Inzwischen kommt es ihm sogar so vor, als sei er als einziger dem Schicksal der anderen Kinder entronnen und vielleicht genau aus diesem Grunde auch der einzige, der herausfinden kann, was eigentlich mit ihnen geschehen war.

Sein Blick fällt auf seinen Radiowecker, den er zu seinem letzten Geburtstag von seiner Mutter bekommen hatte. Ein Geschenk, dass er aus tiefstem Herzen verabscheut, denn es symbolisiert einen weiteren Schritt seiner Mutter, sich ihm zu entziehen.

Seit Nina vor zwei Jahren spurlos verschwand, scheint es in diesem Haus keine Freude mehr zu geben. Außerdem kommt es Gerrit jeden Tag aufs Neue so vor, als seien seine Eltern mit Nina verschwunden. Er fühlt sich allein und verlassen. Keiner nimmt Notiz von ihm - und dann noch dieser Radiowecker!

„Jetzt kannst du morgens immer allein aufstehen“, hatte Mama zu ihm gesagt und ihn kurz an sich gedrückt. Doch das war nur ein winziger Moment gewesen und sie schien sofort wieder hinter ihrer Wand aus Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit zu verschwinden. Dafür hielt er diesen Radiowecker in der Hand, der ihr nun noch die wenigen Minuten abnimmt, die sie sich sonst morgens für ihn genommen hatte, um ihn zu wecken.

Es ist kurz nach fünf. Gerrit atmet auf. Nur eine schlaflose Stunde, bis er sowieso aufstehen muss. Eine Stunde wird er überstehen, zumal sein Entschluss schon lange feststeht. Er wartet nur noch auf ein Zeichen und hofft, der Mut wird ihn dann nicht verlassen. Obwohl er weiß, dass er mit seinem Entschluss seinen Eltern vollends das Herz brechen wird, gibt es für ihn kein Zurück mehr. Er kann mit der Ungewissheit und den ständig an ihm nagenden Selbstzweifeln nicht mehr leben. Wenn er recht behält, dann wird es eine Möglichkeit geben, die ihm zeigt, was aus Nina und den anderen Kindern geworden ist. Er braucht nur den Mut, den Zeichen zu folgen und sich der Ungewissheit zu stellen, mag sie ihm auch letztendlich den Tod vor Augen führen.

Am folgenden Sonntag ist der vierte Advent. Gerrit sitzt mit seinen Eltern am Frühstückstisch und zwischen der Butter und den Eiern prangt ein wunderschöner Adventskranz mit vier leuchtenden Kerzen.

Weihnachten steht vor der Tür und Gerrit graust es allein bei dem Gedanken daran.

In diesem Haus ist Weihnachten, Ostern oder der elfte September, Ninas Geburtstag, zu Tagen des Grauens geworden. Das sind die schwarzen Tage, an denen Nina allen besonders fehlt. An diesen Tagen überrollt sie die Erinnerungen an das Mädchen wie ein tonnenschwerer LKW und der Schmerz über ihren Verlust lebt wieder neu auf.

„Reichst du mir mal die Butter rüber?“, fragt sein Vater über den kleinen Tisch hinweg.

Sein braunes Haar ist in den letzten zwei Jahren sehr schnell grau geworden und seine blauen Augen blicken ihre Umwelt nur noch wie durch einen trüben Schleier an. Er hat seit Ninas Verschwinden bestimmt zwanzig Kilo abgenommen.

Gerrit muss oft daran denken, wie stark und gewaltig ihm sein Vater früher immer vorgekommen war. Nun scheint er in sich zusammenzufallen - zu schrumpfen wie ein Luftballon, in den man eine Nadel gestochen hatte.

Gerrit reicht ihm die Butter und nimmt sich noch eine Tasse Kakao. Seine Mutter pellt gerade ihr Ei, um es, wie jeden Sonntagmorgen, auf ihr Toast zu schneiden. Sie trägt ihre blonden Locken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was das schmale Gesicht noch unterstreicht. Auch sie hat einige Pfunde verloren. Aber sie war schon immer sehr schmal und daher fällt es bei ihr nicht so auf. Ihr Gesicht scheint jedoch für immer alle Farbe verloren zu haben und wirkt so weiß und transparent wie ihr Haar, auf das sie früher immer besonders stolz war und das alle auch an Nina so geliebt hatten.

Aus dem Radio auf der Fensterbank dringt gedämpft Weihnachtsmusik herüber.

Gerrit muss daran denken, wie sie früher selbst Weihnachtslieder sangen. Doch das gibt es schon lange nicht mehr. Nichts gibt es hier mehr als tristen, traurigen Alltag.

Die Weihnachtsmusik verstummt und ein Sprecher kündigt die Neun Uhr Nachrichten an. Gerrit sieht auf seine Armbanduhr und vergleicht die Zeit. Ansonsten scheint keiner am Tisch auch nur Notiz von der Stimme aus dem Radio zu nehmen.

Er trinkt seinen Kakao aus und setzt sich zurück. Dieses Jahr fragen sie nicht mal, was er sich zu Weihnachten wünscht. Aber er wünscht sich auch nichts. Auf jeden Fall nichts, was man kaufen kann. Wie hätte er auch erklären sollen, dass ihm etwas Wärme, einmal in den Arm nehmen, mal wieder ein gemeinsames Fußballspiel ansehen oder einfach nur wieder die Teilnahme seiner Eltern am Leben unterm Tannenbaum am liebsten wäre?

„… seit gestern in Ankum verschwunden“, dringt ein Nachrichtenfetzen aus dem Radio an sein Ohr und er horcht augenblicklich auf. Sein Herzschlag setzt einen Moment aus.

„Er wurde zuletzt auf einem Fahrradweg außerhalb des Ortes gesehen, der in Richtung Tütingen führt. Er trug eine schwarze Jacke mit gelben Streifen und eine blaue Jeans und fuhr ein blaues Mountainbike. Dies ist bereits der achte Fall in den letzten drei Jahren. Sieben Jungen und ein Mädchen werden im Raum Ankum vermisst und die Polizei steht vor einem Rätsel. Wer sachdienliche Hinweise geben kann oder ein blaues Mountainbike gefunden hat, wende sich bitte an die örtliche Polizei oder an jede andere Dienststelle.“

Gerrit erstarrt vollends. Er nimmt schnell die Hände vom Tisch, damit keiner bemerkt, wie sie zu zittern beginnen. Verstohlen schaut er in die Gesichter seiner Eltern, die sich leichenblass einen Blick zuwerfen. Die Welt scheint stehen zu bleiben. Gerrit kommt es so vor, als seien alle Geräusche verstummt. Seiner Mutter treten Tränen in die Augen und er weiß, dass er einem annähernd netten Weihnachten nun endgültig lebe wohl sagen kann.

Er springt auf und verlässt die Küche. Auf der Treppe nimmt er zwei Stufen auf einmal. Er hat das Gefühl, nur noch weg zu wollen. In seinem Zimmer angekommen, knallt er die Tür hinter sich zu. Das ist scheinbar das einzige Geräusch im ganzen Ort.

Er wirft sich auf sein Bett und schlägt mit den Fäusten auf seine Bettdecke ein.

Verdammt, es ist wieder passiert! Wieder ist ein Kind aus dem Ort spurlos verschwunden und er hatte nichts bemerkt. Er war wieder nicht zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Er hatte wieder eine Chance verpasst, endlich zu tun, was getan werden muss.

Gerrit mag gar nicht daran denken, dass es vielleicht diesmal einer seiner Klassenkameraden sein könnte oder der Junge von nebenan.

Er weiß genau, was nun passiert. Bald wird die Polizei wieder jeden Winkel in Ankum auf den Kopf stellen und die Wälder durchkämmen. Die Erwachsenen werden sich auf dem Kirchplatz versammeln, um große Suchaktionen zu starten. Flugzeuge mit Wärmebildkameras werden über den Ort knattern und die Menschen müssen trostlos und erschüttert zusehen, weil wieder nichts gefunden wird. Abermals werden einige Familien ihre Sachen packen und für immer fortziehen. Wieder darf kein Kind mehr allein vor die Tür gehen. Wieder gibt es eine Familie, die bleich und starr zu Hause sitzt und mit ihrem Schicksal hadert. Wieder gibt es ein Kind weniger.

Gerrit seufzt auf. Wenn ihm doch nur jemand glauben würde! Vielleicht wäre dieser Junge dann noch bei seiner Familie. Aber ihm glaubt keiner. Alle halten ihn für verrückt.

Wenn er doch nur beweisen könnte, dass diese verdammte Katze …

Durch das aufgekippte Fenster hört er eine Anzahl von Autos, die sich in der Straße und den nahen Nebenstraßen postieren. Autotüren werden zugeschlagen und Befehle gegeben. Jetzt kommen sie wieder und suchen den Jungen, als würde einer aus dem Ort Kinder zum Frühstück verspeisen.

Es ist schon seltsam, dass es sich auch diesmal wieder um einen Jungen handelt, den sie suchen. Nina war das einzige Mädchen, das verschwunden ist.

„Hoffentlich keiner, den ich kenne“, betet Gerrit im Stillen. Er starrt in stummem Entsetzen auf seine geballten Fäuste. Erneut überkommt ihn das ungute Gefühl, dass er der einzige ist, der dem Verschwinden der Kinder auf die Spur kommen kann. Doch er hat schreckliche Angst. Wenn sie nun alle tot sind, dann wird er es auch sein, sobald er sich auf die Suche nach ihnen macht. Doch was ist schrecklicher? So zu leben wie bisher und zuzusehen, wie immer mehr Kinder sich einfach in Luft auflösen oder endlich etwas zu unternehmen.

Aber er ist doch selbst fast noch ein Kind. Warum sind die Erwachsenen nicht in der Lage, der Sache auf den Grund zu gehen?

Er hatte versucht, ihnen klar zu machen, dass vielleicht diese Katze der Schlüssel zu allem ist. Doch die hatte niemand außer ihm je gesehen und darum glaubte ihm keiner, dass dieses Tier mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben könnte. Die Erwachsenen halten alle für tot und als er versucht hat, ihnen seine Träume zu schildern, in denen er Nina lebend sieht, brachte man ihn kurzerhand zu einem Psychiater, der ihn „ach so gut“ verstand und alles für die Auswirkung des schrecklichen Traumas hielt, das durch das Verschwinden seiner Schwester heraufbeschworen worden war.

Es klingelt an der Tür und Gerrit erhebt sich schwerfällig von seinem Bett. Er tritt an das kleine Fenster und sieht hinaus.

Einige Polizeiwagen stehen an der Straße. Im Nachbarhaus verschwinden gerade zwei uniformierte Männer durch die Haustür.

Es klingelt erneut und Gerrit verlässt sein Zimmer. Er weiß, dass seine Eltern nicht aufmachen können. Sie werden bestimmt wieder viele Stunden einfach nur dasitzen und zu keiner Reaktion fähig sein.

Er öffnet unten die Haustür und sieht auf zwei verlegen dreinblickende Polizeibeamte. Einer ist der Dorfpolizist Knut, bei dem Gerrit vor zwei Wochen noch die Fahrradprüfung bestanden hatte.

„Hallo Gerrit. Sind deine Eltern auch zu Hause?“

Gerrit nickt nur.

„Wir müssen leider alle Häuser durchsuchen. Könntest du deinen Vater oder deine Mutter holen?“

„Ich glaube nicht“, meint Gerrit nur und öffnet weit die Tür.

Die Polizeibeamten sehen an ihm vorbei direkt in die Küche, wo seine Eltern immer noch wie Wachsfiguren dasitzen.

„Gerrit, es tut uns schrecklich leid! Aber wir müssen alle Häuser durchsuchen“, meint der Polizist und wendet betroffen den Blick ab.

Es ist nicht das erste Haus, in das er an diesem Morgen geht und in dem spürbare Totenstille herrscht. Es ist schrecklich, gerade die Häuser durchsuchen zu müssen, aus dem auch schon ein Kind verschwunden ist. Doch man hatte ihm diese Häuser zugeteilt, weil er die Leute gut kennt. Kein toller Job!

„Wer ist es?“, fragt Gerrit betreten und weiß gar nicht so recht, ob er das überhaupt wissen will.

„Thomas Mehring“, meint der mittelgroße Polizeibeamte hinter dem Dorfpolizisten Knut. Dabei sieht er betroffen auf seine Schuhe. Noch nie hatte er so etwas wie hier erlebt. Schon wieder ist ein Kind verschwunden und schon wieder gibt es nicht die leiseste Spur oder einen Verdacht. Noch nie war die Polizei so machtlos gewesen. Das achte Kind in den letzten drei Jahren, und keines der Verbrechen wurde je aufgeklärt.

Gerrit nickt kurz und sein Magen scheint einem Fußballspieler auszuweichen, der ihn für einen Ball hält.

Thomas Mehring! Der Junge aus seiner Basketballmannschaft, der erst vor drei Wochen neu zu ihnen ins Team gestoßen war. Ein außerordentlich guter Spieler! Gerrit hatte sich am letzten Montag beim Training noch die Flasche Wasser mit ihm geteilt. Und nun …?

„Kommen Sie doch einfach rein und machen Sie ihre Durchsuchung. Meine Eltern werden schon nichts dagegen haben.“

Die beiden Polizeibeamten starren mit unsicherem Blick auf die Gestalten in der Küche und treten ins Haus. Dann teilen sie sich auf und sehen in jeden Raum, vom Dachboden bis zum Keller.

Gerrit geht unterdessen in sein Zimmer zurück und blickt aus tränenverschleierten Augen niedergeschlagen an die Wand. Thomas Mehring! Er war so ein guter Spieler!

Er sieht ihn vor sich, wie er ihm breit grinsend die Flasche gereicht hatte. Sein Trikot sah genauso dreckig und verknittert aus, wie Gerrits und seine Knie waren genauso aufgeschürft gewesen. Er hatte dunkles, wirres Haar, das sich wohl nur triefend Nass bändigen ließ.

„Was gibt es dieses Jahr bei dir zu Weihnachten?“, hatte er Gerrit gefragt.

„Keine Ahnung.“

„Ich wünsche mir eine Katze“, hatte Thomas noch schnell gesagt, bevor der Trainer hereingestürmt kam und die beiden wieder auf das Spielfeld holte.

Eine Katze!

Wieder sieht Gerrit das blasse Gesicht seiner Schwester Nina vor sich. „Ich will wieder nach Hause!“, und er denkt wieder an die Katze auf ihrem Arm.

Gerrit kennt die Katze, die Nina in seinen Träumen umklammert hält. Nie wieder wird er sie vergessen. Sie spukt Tag und Nacht in seinem Kopf herum, unheilbringend und für ihn der Schlüssel zum Verschwinden der Kinder.

Sie war eine besonders große Katze, mit derart leuchtend grünen Augen, wie Gerrit sie noch nie gesehen hatte. Ihr Fell war wuschelig, grau und mit schwarzen Streifen darin, die wie Ornamente wirkten.

Ja, Gerrit kennt diese Katze und war ihr schon begegnet.

Als er vor zwei Jahren bei einem Klassenkameraden den Nachmittag verbrachte, saß sie plötzlich auf dessen Gartenmauer und sah Gerrit an. Er dachte damals, dass sie Andreas gehört und streichelte sie. Als dieser dann mit einem Eis aus dem Haus kam, war sie schnell verschwunden.

Aber am Abend, als er auf dem Heimweg war, hatte sie mitten auf dem Fahrradweg gesessen.

Gerrit war angehalten und vorsichtig auf sie zugegangen, denn irgendetwas an dem Tier machte ihm Angst. Er war sowieso kein großer Katzenfreund. Sein Traum war immer ein Hund gewesen, so ein Colli wie Lessie oder ein Berner Sennenhund oder Golden Retriever.

„Hallo, Miezekatze! Was machst du denn hier, so weit weg von zu Hause?“

Er hatte ja zu diesem Zeitpunkt noch gedacht, sie gehöre Andreas.

Schnurrend hatte sie sich erhoben und war um seine Beine gestrichen, woraufhin er sie gestreichelt hatte. Sie war sogar schnurrend und nach Streicheleinheiten lechzend auf seinen Schoß geklettert, als er sich hinhockte.

Doch Gerrit hatte an diesem Tag nicht viel Zeit gehabt. Aber als er sein Fahrrad besteigen wollte, begann die Katze fürchterlich zu mauzen und zu jammern.

Er war trotzdem weggefahren, wollte aber am nächsten Tag nach ihr sehen und ihr etwas zum Fressen mitbringen.

Tatsächlich hatte die Katze am folgenden Tag fast an derselben Stelle auf ihn gewartet. Er hatte sie gefüttert und sie sich von ihm ihre Streicheleinheiten geholt.

Das war in etwa der Punkt gewesen, an dem Gerrit zum ersten Mal in seinem Leben dachte, dass auch Katzen unglaublich tolle Tiere sind. Doch dann war sie plötzlich unruhig geworden und von seinem Arm heruntergesprungen. Und sie war losgelaufen und hatte immer wieder geschaut, ob er ihr auch folgte. Und er tat es, weil sie sofort jämmerlich zu mauzen begann, wenn er ihr nicht mehr folgen wollte.

Sie hatte ihn damals zu dem alten Gasthaus in Tütingen gelockt, wo es den Schotterweg gibt, der zu den Tischteichen führt, von denen seine Mutter immer die Forellen kaufte. Dann war sie von der Hauptstraße in eine Nebenstraße eingebogen, die Gerrit damals noch nicht kannte.

Er weiß noch genau, dass ihm vor zwei Jahren das Ganze ziemlich unheimlich vorkam, denn zu dem Zeitpunkt beklagten drei Familien das Verschwinden ihrer Kinder.

Er war der Katze aber dennoch ein Stück gefolgt, bis es ihm zu dumm wurde. Da sie ihn auch nicht mehr an sich herankommen ließ, bis auf ein paar Meter, war er irgendwann stehen geblieben.

Das hatte die Katze erneut mit lautem Gejammer honoriert. Aber Gerrit hatte sein Fahrrad unten auf dem Fahrradweg zurückgelassen und befürchtete, dass es ihm jemand klauen könnte. Daher war er zurückgelaufen, was vielleicht sein Glück war.

Doch am nächsten Tag war er wieder mit einer Tüte voller Leckereien zu der alten Gaststätte geradelt. Dabei hatte er immer wieder Ausschau nach der Katze gehalten und sie tatsächlich auf einem Holzstoß, nicht weit von der Stelle, wo er sie am vorangegangenen Tag stehen gelassen hatte, sitzen gesehen.

Er war zu ihr gegangen und sie hatte sich erneut von ihm streicheln lassen. Doch dann war sie wieder unruhig geworden und wollte auf den Boden gesetzt werden.

Gerrit hatte sich damals gedacht, dass sie ihm vielleicht ein Nest mit kleinen Katzen zeigen wollte, die sie selbst nicht mehr ernähren konnte. Für den Fall hatte er in einer Tüte auf seinem Gepäckträger eine kleine Schüssel und eine Flasche Katzenmilch, die er vor seiner Tour aus dem großen Einkaufsladen gegenüber der Schule geholt hatte.

Als die Katze merkte, dass er ihr folgen wollte, lief sie schnell und zielstrebig dem Wald entgegen, der am Ende der schmalen Straße begann.

Wie leichtgläubig er ihr gefolgt war!

Er kann sich sehr gut vorstellen, dass auch andere Kinder vor ihm das getan hatten … und nach ihm seine Schwester ebenfalls.

Doch die Polizei hatte ihm die Geschichte nicht abgekauft. Dass eine Katze Kinder so weit aus dem Ort lockt, hielten sie für schwachsinnig.

Doch Gerrit ist sich sicher, dass es da einen Zusammenhang gibt. Aber nur er weiß, mit welch einer Beharrlichkeit sie ihn hinter sich hergelockt hatte.

Die Katze war an diesem Tag in die Querstraße eingebogen, die am Waldrand entlangführt. In diesem Wald war er als kleiner Junge mit seinem Vater hin und wieder zum Pilze suchen gegangen und an diesem Tag sollte er der Katze in den Wald folgen.

Der Weg, auf dem sie in den Wald gelaufen war, war sandig und schwer mit dem Fahrrad zu befahren und Gerrit hatte keine große Lust, ihr dort hinein zu folgen. Er war sich nicht sicher, ob er aus dem Wald auch wieder herausfinden würde. Sein Vater hatte ihm einmal erklärt, dass dieses Waldgebiet sehr groß ist. So war er stehengeblieben.

Daraufhin hatte die Katze erneut herzzerreißend gejammert.

„Ich kann dir nicht weiter folgen. Das geht nicht!“, hatte er ihr noch mit einem schlechten Gewissen zugerufen, als könne sie ihn verstehen.

In dem Moment war das Auto seines Nachbarn die Straße hochgefahren und neben ihm angehalten.

„Was machst du denn hier?“, hatte er erbost zu hören gekommen.

Gerrit war es natürlich unangenehm gewesen, dass er von seinem Nachbarn dort draußen erwischt worden war. Er wusste, dass seine Eltern fürchterlich toben würden, wenn sie davon wüssten. Der ganze Ort war damals sowieso schon genug in Aufruhe, weil man immer noch nicht die verschwundenen Kinder gefunden hatte.

„Ich habe mich, glaube ich, verfahren. Ich wollte zu einem Klassenkameraden“, hatte Gerrit seinen Nachbarn angelogen und Stefan war kurzerhand ausgestiegen, hatte Gerrits Fahrrad in den Kofferraum geworfen und Gerrit auf den Beifahrersitz gepflanzt. „Nah, dann ist es ja gut, dass ich hier gerade vorbeigekommen bin.“

Vielleicht war es das wirklich!

Er lieferte Gerrit zu Hause ab, der bedröppelt in sein Zimmer geschlichen war. Er hatte damals wegen der armen Katze ein wirklich schlechtes Gewissen gehabt.

Als Nina mit ein paar Keksen in sein Zimmer kam, erzählte er ihr von dem Tier und er sagte ihr auch, dass die Katze ihm vielleicht ihre Babys zeigen wolle. Und Nina hatte sich genau nachgefragt, wo er alles wegen dem Tier herumgekurvt war. Doch er hatte sich an diesem Abend nichts dabei gedacht.

Am nächsten Tag hatte Gerrit sein Training und konnte nicht nach dem Tier sehen. Doch er tröstete sich damit, dass er am darauffolgenden Tag wieder Zeit hätte.

Als er nach dem Training nach Hause kam, hatte er sich nichtsahnend an seine Hausaufgaben gesetzt und war danach zum Abendessen gegangen, zu dem seine Mutter gutgelaunt gerufen hatte.

Bis zu dem Zeitpunkt war ihre Welt noch in Ordnung. Dass sich das in kürzester Zeit ändern kann und das Schicksal da schon längst seinen Lauf genommen hatte, ohne dass irgendjemand noch etwas daran ändern konnte, erfüllt Gerrit noch jetzt mit einer Fassungslosigkeit, die ihn erkennen lässt, wie unberechenbar das Leben ist.

„Wo steckt Nina heute nur? Sie müsste doch schon längst zu Hause sein“, hatte seine Mutter gesagt und sein Vater war nach draußen gegangen, um sie zu rufen. Aber er fand Nina nicht. Auch nicht, als er die Straßen des Ortes abfuhr.

Seine Mutter hatte sich unterdes die Finger wund telefoniert. Aber keiner wusste, wo Nina steckte.

Gerrit hatte das ganze Haus nach ihr abgesucht und bemerkt, dass die Tüte mit der Katzenmilch nicht mehr an dem Platz lag, an dem er sie am Abend zuvor hingelegt hatte. Da war ihm ein schrecklicher Verdacht gekommen.

Er war damals mit pochendem Herzen und einer schrecklichen Angst um seine Schwester zu seinen Eltern gegangen und hatte ihnen von der Katze erzählt, die er bei Andreas gesehen hatte und die wohl irgendwo ihre Jungen versteckt hielt, die sie ihm zeigen wollte. Er deutete an, dass Nina sie vielleicht suchen gegangen war, weil er ihr von dem Tier erzählt hatte.

Er war daraufhin von seinem Vater ins Auto gezerrt worden und der fuhr mit ihm die Strecke ab. Die ganze Fahrt über hatte Gerrit sich die Beschimpfungen seines Vaters anhören müssen, die immer mehr mit bösen Worten bespickt wurden, je weiter Gerrit seinen Vater in Richtung Wald führte.

„Was, so weit bist du gestern gefahren?“, hatte sein Vater gerade getobt, als sie auf die Straße einbogen, die direkt am Wald vorbeiführte, und sie Ninas Fahrrad an einem Baum gelehnt dort stehen sahen, wo die Katze Gerrit in den Wald zu locken versucht hatte.

Er wird niemals den Blick vergessen, den sein Vater ihm in diesem Augenblick zuwarf.

Sie waren ausgestiegen und hatten Ninas Namen in den Wald gerufen. Gerrits Vater war weit in den Wald hineingelaufen, ohne von Nina etwas zu sehen oder zu hören.

Auch die Feuerwehr und Polizei, die sein Vater zur Verstärkung angefordert hatte, fanden Nina nicht. Auch die Katze blieb verschwunden. Es gab noch nicht einmal verwertbare Spuren, die überhaupt darauf hinwiesen, dass Nina den Wald betreten hatte. Auch die Theorie von der kinderlockenden Katze wurde bald mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan und eine neue Theorie schien sich zu erhärten. Demnach hatte ein Autofahrer sie an der Stelle mitgenommen, an der man ihr Fahrrad gefunden hatte. Warum sie allerdings so weit gefahren war, wusste keiner zu sagen. Vielleicht auf der Suche nach einer Phantomkatze, von der ihr Bruder ihr erzählt hatte.

Aber mit wie viel Nachdruck das Tier versucht hatte, Gerrit in den Wald zu locken, das weiß nur er selbst. Niemals wieder wurde er das Gefühl los, dass eigentlich er es hätte sein sollen, der der Katze damals folgen sollte - und nicht seine Schwester Nina.

Er hätte an ihrer Stelle verschwinden sollen, wie all die anderen Jungen.

Der Katze auf der Spur

Über dem Ort liegen erneut Trauer und Schrecken. Wieder ist ein Kind verschwunden und wieder findet man keine Spur von ihm. Gerrit hatte die letzten Basketballtrainings ausfallen lassen. Er kann einfach nicht mehr dort hingehen, seit Thomas Mehring verschwunden ist. Er fühlt sich schuldig, weil er selbst noch nicht den Mut gefunden hat, nach der Katze zu suchen, um ihr bis zum Ende zu folgen. Er fürchtet sich davor, was er entdecken wird und was ihm dann bevorsteht.

Doch seine Träume lassen ihn nachts kaum mehr zur Ruhe kommen. Er hat niemanden, mit dem er reden kann und es gibt niemanden, der ihn versteht. Seine Eltern scheinen immer weniger am Leben teilnehmen zu wollen. Tief in seinem Inneren glaubt er, dass sie ihm die Schuld an Ninas Verschwinden geben und dass sein Schicksal sie deswegen auch nicht mehr interessiert.

Weihnachten verlief noch trostloser als im letzten Jahr. Er bekam zwar Schlittschuhe, die er sich eigentlich immer gewünscht hat, doch der See, der den Ort schmückt, war in diesem Winter bisher nicht einmal zugefroren. Das erscheint ihm wie eine Bestrafung.

Sylvester vergeht wie jeder andere Tag. Es gibt kaum jemanden im Ort, der diesen Tag feiern, geschweige denn um Mitternacht den nächtlichen Himmel mit lauten Raketen und bunter Lichterpracht erhellen will.

Ankum scheint in einem trostlosen und verängstigten Dornröschenschlaf gefallen zu sein. Kein Kind darf mehr allein auf die Straße gehen und viele werden nach den Ferien sogar täglich in die Schule gebracht und wieder abgeholt.

Gerrits Eltern gehen nach wie vor ihrer Arbeit nach und allmählich ist er froh, dass sie erst spät abends nach Hause kommen. Denn nichts ist ihm unangenehmer, als sie so traurig und weltentrückt zu sehen. Das erhöht nur seine Schuldgefühle.

Seine Mutter sitzt abends wieder stundenlang auf Ninas Bett, den Blick starr ins nirgendwo gerichtet. Sein Vater verkriecht sich im Keller und baut angeblich an einem Modelschiff, das nie fertig zu werden scheint. Sie sind zu Marionetten geworden, wie so viele andere Eltern in Ankum auch.

Aber so achtet auch niemand darauf, dass er an den Nachmittagen immer öfter sein Fahrrad schnappt und durch die Gegend fährt. Die, die ihn sehen und das für Unverstand halten, sagen nichts. Es scheint fast so, als wären manche froh, dass er es ist, der als Köder allein durch die Gegend fährt und somit die eigenen Kinder verschont bleiben.

Ja, als Köder! Gerrit sieht sich mittlerweile auch schon so.

Er hat Angst! Doch etwas in ihm treibt ihn voran. Er will die Katze finden, sich vergewissern, dass es sie immer noch gibt und sie daher immer noch der Schlüssel zum Verschwinden der Kinder sein kann. Und was, wenn er sie findet? Er weiß es nicht.

So wird es Frühjahr. Die Sonderkommission der Polizei arbeitete bisher erfolglos an der Aufklärung der Fälle. Immer und immer wieder wurden Befragungen durchgeführt, die nichts erbrachten. Auch Thomas Mehring bleibt verschwunden.

Im April, als die ersten warmen Sonnenstrahlen das Land zum Leuchten bringen, fährt Gerrit auf seinem Fahrrad zu seiner Tante Angelika. Sie wohnt in der Lerchenstraße, gleich neben dem Imbiss. Seine Mutter hatte ihm ein paar Tischdecken mitgegeben, die er seiner Tante bringen soll.

Als er an ihrer Tür klingelt, reißt sie diese in großer Erwartung auf und nimmt ihm freudig strahlend die Decken ab.

„Ach Gerrit, das ist aber nett, dass du die vorbeibringst. Ich hatte das ein klein wenig gehofft.“

Breit grinsend zieht sie ihn ins Haus, wobei ihr langes, wallendes Gewand um sie herum zu schweben scheint.

Tante Angelika trägt, seit sie in Japan Urlaub machte, nur noch seltsame Gewänder in grell bunten Farben. Sie wirkt darin immer wie ein Papagei. Dazu steckt sie ihr Haar zu einem Knoten auf, der kein Härchen entwischen lässt und aus dem immer irgendwelche seltsamen Stäbe in bunten Farben staken. Ihre schwarz gefärbten Haare glänzen stets ölig und ein seltsamer Geruch von Orangen und Vanille umgibt sie.

„Kannst du mit mir zu den Fischteichen fahren, bei denen deine Mama immer die geräucherten Forellen kauft? Ich bekomme heute Abend Besuch und will sie mit dieser Köstlichkeit überraschen. Aber leider weiß ich nicht genau, wo das ist. Du weißt das doch bestimmt.“

„Nah klar!“, antwortet er seiner Tante und freut sich, dass jemand seine Hilfe braucht. Es tut gut, wenigstens einmal als wichtig angesehen zu werden.

So lässt Tante Angelika auch alles stehen und liegen und geht mit ihm hinaus zu dem alten, klapprigen Golf, der sie schon seit mehr als fünfzehn Jahre durch ihr Leben begleitet. Tante Angelika ist der Meinung, dass sie niemals ein anderes Auto fahren kann.

„Wenn ihn mir der TÜV eines Tages stilllegt, dann werde ich auf die Busse umsteigen müssen“, sagte sie einmal.

So fahren sie bald auf einer langen, geraden Straße aus dem Ort heraus. Gerrit kennt die Strecke mittlerweile wie im Schlaf. Hier führt der Fahrradweg entlang, den er in den letzten Monaten so oft auf der Suche nach der Katze abgefahren war.

„Dort, bei der nächsten Einfahrt gegenüber dem Gasthaus müssen wir rechts abbiegenden“, erklärt er, und seine Tante fährt auf den Schotterweg.

„Das nennst du Straße?“, murrt sie und wirft ihm einen misstrauischen Blick zu. „Meinst du wirklich, dass wir hier richtig sind?“

Doch Gerrit braucht nicht zu antworten. Hinter der nächsten Biegung erblickt man schon das glänzende Wasser der ersten Tischteiche.

„Ach Gerrit, du bist einfach toll! Das hätte ich ja nie gefunden!“ Tante Angelika wirft einen schmatzenden Luftkuss in Gerrits Richtung.

Der kann die Hitze in seinen Wangen regelrecht spüren. Schon lange hatte ihn keiner mehr gelobt. Er hatte fast schon vergessen, wie sich das anfühlt.

Sie fahren auf den Parkplatz und steigen aus. Die Sonne schimmert in dem grünen Wasser der Teiche und an einem sieht man einen Mann mit einem Kescher und Stiefeln, die ihm bis zu den Oberschenkeln reichen, fischen.

Unschlüssig sieht Tante Angelika sich um, bis sie schnurstracks und mit wehendem Gewand auf ein kleines Häuschen zuläuft.

„Ich bleibe beim Wagen“, ruft Gerrit ihr nach. Er möchte lieber sehen, was der Mann mit dem Kescher aus dem Teich zieht. Doch er kann aus dieser Entfernung nicht ausmachen, was der so eifrig aus dem Wasser zu fischen versucht.

Bald darauf kommt seine Tante freudig strahlend zurück. Sie hat eine Tüte unter dem Arm und wuselt Gerrit durch das Haar. „Nah, können wir wieder?“

Sie steigen in den alten, klapprigen Golf und fahren über den Schotterweg zur Hauptstraße zurück. Mit auf dem weichen Untergrund durchdrehenden Reifen biegt Tante Angelika auf die Hauptstraße ein, was Gerrit grinsend quittiert. Genau ihnen gegenüber liegt auf der Anhöhe das alte Gasthaus und oben auf der Mauer, neben einem alten, verrosteten Kinderkarussell, sitzt … die Katze!

Gerrit blickt erschrocken auf die kleine Gestalt, die scheinbar genauso zurückgafft. Es reißt ihn fast von seinem Sitz, als er durch das Heckfenster versucht, das Tier nicht aus den Augen zu verlieren. Aber seine Tante fährt mit durchgetretenem Gaspedal in einem irren Tempo nach Ankum zurück. Dabei pfeift sie gut gelaunt vor sich hin.

Die Katze verschwindet damit schnell aus Gerrits Sichtfeld und sein Herz klopft ihm bis zum Hals. Ein merkwürdiger Gedanke macht sich in ihm breit, der ihn plötzlich erschrocken zusammenfahren lässt. Ein neues Kind ist dran!

Nein, diesmal wird er das nicht zulassen.

„Tante Angelika, hast du die Katze bei der Kneipe gesehen?“, sprudelt es aus ihm hervor.

Mit gerunzelter Stirn sieht seine Tante ihn argwöhnisch an. „Nein, welche Katze?“ Ihre Augen verengen sich und Gerrit muss beunruhigt feststellen, dass sie ihn seltsam mustert. So sagt er lieber nichts mehr, denn ihm fällt im selben Augenblick ein, dass sie es gewesen war, die seinen Eltern damals den Psychologen empfohlen hatte. Bei ihm musste er zehn Sitzungen absitzen, in denen er alles über sich und sein Verhältnis zu seiner um ein Jahr jüngeren Schwester Nina erzählen sollte. Außerdem versuchte er herauszufinden, ob in Gerrits tiefstem Inneren ein übermäßiger Wunsch nach einem Haustier vorhanden ist, der die Geschichte mit der Katze heraufbeschwor.

Gerrit kam sich damals vor wie auf der Anklagebank. Doch alle anderen schienen von diesem Arzt begeistert zu sein und meinten auch, dass sich danach Gerrits „Zustand“ schon sehr gebessert hätte.

So ein Quatsch! Dabei hatte er doch nur allen begreiflich machen wollen, dass die Katze etwas mit dem Verschwinden seiner Schwester zu tun haben könnte und dass sie ihn damals regelrecht zum Wald gelockt hatte.

Dieser oberschlaue Doktor meinte dazu nur, dass er sich diese Hirngespinste ausdenkt, um Ninas Verschwinden besser verkraften zu können und er eine Katze in den Vordergrund seiner Verdrängung rücken lässt, weil das besser zu verkraften ist und weniger Angst macht.

Aber sein Schlusspladoie war eindeutig.

„Schließlich locken Katzen keine Kinder in einen Hinterhalt und lassen sie dann auch noch so unauffindbar verschwinden“, war sein abschließender Kommentar in seinem Bericht und Gerrit musste ihm widerwillig recht geben, sonst hätte er noch ein paar Sitzungen mehr aufgebrummt bekommen.

Nun scheint Tante Angelikas Blick zu sagen: „Ist es wieder soweit? Müssen wir Dr. Meer wieder aufsuchen? Armer Junge!“

Bei ihr zu Hause angekommen, schleppt sie ihn ohne Wenn und Aber mit ins Haus und braut ihm einen heißen Kakao.

Gerrit will schnell wieder los, sich auf sein Fahrrad schwingen und die Katze suchen. Aber irgendwie hat Tante Angelika wohl das Gefühl, ihm noch einiges Gutes tun zu müssen.

Der Kakao ist unglaublich heiß und die nun vor ihm abgestellten Plätzchen riesengroß.

„So mein Junge. Nun trink erst mal in Ruhe deinen Kakao und iss die Plätzchen. Du wirst mir viel zu dünn!“ Sie lächelt ihm zu und trinkt selbst einen schrecklich riechenden Tee aus undefinierbaren Wurzeln und Blättern.

Gerrit verbrüht sich zweimal den Mund und gibt es somit auf, das Zeug so heiß hinunterzuwürgen. Doch er schiebt sich zwei Plätzchen in den Mund, damit seine Tante ihn dann auch wirklich gehen lässt. Doch erst endlos lange zwanzig Minuten später entlässt sie ihn endlich.

„Du fährst sofort nach Hause, ja?“, ruft sie ihm noch hinterher und Gerrit winkt ihr zu, ein: „Nah, klar!“, rufend.

Wie ein Wahnsinniger kurvt er über die Straßen aus dem Ort heraus. Auf dem Fahrradweg durch Tütingen gibt er alles, was er an Kraft aufbringen kann und sieht bald schon das alte Gasthaus vor sich auftauchen.

Der Schweiß läuft ihm den Rücken hinunter, als er seine Geschwindigkeit noch einmal erhöht. Er hofft inständig, dass die Katze noch an ihrem Platz sitzt.

Und dann sieht er sie. Erst als kleiner Punkt und dann immer größer werdend. Sie sitzt noch immer an dem Karussell, an dem er sie vom Auto aus gesehen hatte. Doch sie sieht nicht zu ihm, sondern zu einem kleinen Mädchen, dessen Eltern wohl in der Gaststätte zum Essen eingekehrt sind.

Die Katze erhebt sich gemächlich und stolziert zu dem Mädchen, die sie gleich auf den Arm nimmt und streichelt.

Gerrit ist wie von Sinnen. Ohne nachzusehen, ob ein Auto kommt, rast er über die Straße, fährt den steilen Weg hoch, der zu dem Gasthaus führt und springt noch während der Fahrt vom Fahrrad, das scheppernd in einem Busch landet.

Er rennt über die gepflasterte Terrasse und sieht das Mädchen, das gerade die Katze herunterlassen will, an der Tür stehen.

„Das ist meine Katze!“, schreit er und kommt keuchend vor dem Mädchen zum Stehen.

Die sieht ihn nur ängstlich an. „Ist ja schon gut. Ich wollte sie doch nur mal streicheln.“

„Die kann man nicht streicheln!“, zischt er aufgebracht und erkennt sofort, was für einen Unsinn er da redet.

Die Katze sieht Gerrit mit ihren grünen Augen seltsam an, so als wundert sie sich darüber, dass ausgerechnet er zu ihr kommt.

Schnell nimmt Gerrit dem Mädchen die Katze ab und lässt sie, als wäre sie aus heißem Eisen, zu Boden gleiten. Irgendwie hat er Angst vor dem Tier und will sie nicht einmal auf dem Arm behalten.

Das Mädchen hebt die Nase und stolziert beleidigt durch die Tür in das Gasthaus.

„Du hast Glück gehabt“, denkt Gerrit und sieht ihr nach. Dann wendet er sich der Katze zu, die ihn immer noch anstarrt. „Na los, du Vieh! Zeig mir, was du mir damals schon zeigen wolltest“, flüstert er nur hörbar für die Katze, die sich sofort erhebt und in Bewegung setzt, als hätte sie ihn verstanden.

Gerrit läuft zu seinem Fahrrad und folgt ihr. Tatsächlich hat er das Gefühl, als weiß sie genau, dass er ihr folgen wird. Sie dreht sich kein einziges Mal nach ihm um.

Wieder überquert er die Straße, fährt ein Stück den Fahrradweg entlang und biegt dann links in den schmalen, geteerten Weg ein. Angst beschleicht ihn, ob er wohl das Richtige tut.

Die Katze läuft in einem schnellen Gang die Straße entlang, vorbei an Häusern, bei denen Gerrit einen Moment glaubt, es wäre besser, wenn er jemandem eben Bescheid sagt. Doch er hat Angst, dass das Tier ihm dann davonläuft. Das will er auf gar keinen Fall riskieren.

Er wünscht sich, dass jemanden in einem der Gärten ist, den er auf sich und die Katze aufmerksam machen kann. Doch da ist niemand und außerdem hatte er der Polizei damals erzählt, dass seine Schwester der Katze auf diesem Weg gefolgt sein könnte.

Die hatten aber nichts herausgefunden, außer dass der arme Gerrit offenbar eine Schraube locker hat und vom Wunschdenken getrieben, dass eine Katze mit dem Verschwinden seiner Schwester zu tun hat, sich Geschichten ausdachte.

Gerrit sieht schon bald die Querstraße und den dunklen Wald, der sich vor der nun schnell untergehenden Sonne dieses Apriltages abhebt. Mit Erschrecken fällt ihm ein, dass es schon spät ist und es bald dunkel sein wird. Er bremst sein Fahrrad unschlüssig ab. Soll er der Katze wirklich weiter folgen?

Die scheint sich nicht nach ihm umzusehen und rennt die Querstraße hinab. Bald wird er sie nicht mehr sehen können.

Er gibt sich einen Ruck und treibt sein Fahrrad erneut an. Schnell folgt er dem Tier und holt bald wieder auf. Kurz darauf fährt er direkt am Wald vorbei, das graue Fell nicht aus den Augen lassend. Jeden Moment wird sie an die Stelle kommen, an der sie ihn damals vergeblich in den Wald locken wollte, und an der er und sein Vater Ninas Fahrrad gefunden hatten.

Tatsächlich bleibt die Katze stehen und sieht ihn an.

Gerrit fährt dicht an sie heran und steigt vom Fahrrad.

„Hier haben wir damals Ninas Fahrrad gefunden. Wo hast du sie hingebracht?“, flüstert er der Katze zu und starrt wütend und ängstlich in die grünen Augen des Tieres. Sein Blick fällt auf einen der Baumstämme und er sieht in Gedanken das rote Fahrrad daran lehnen.

Die Katze dreht sich um und hebt ihren buschigen Schwanz in die Höhe. Hoch erhobenen Hauptes stolziert sie weiter … in den Wald hinein.

Gerrit sieht ihr blass hinterher. Er hat schreckliche Angst, ihr in den Wald zu folgen, weiß aber, dass er sie bald aus den Augen verliert, wenn er sich nicht beeilt.

Weil es zu dämmern beginnt, kann er die Katze bald nur noch als Schatten ausmachen. So nimmt er allen Mut zusammen und folgt ihr.

Doch nun achtet er darauf, dass er genügend Abstand zu ihr hält. Auch wandert sein Blick ständig umher, denn er befürchtet, dass dort irgendwo jemand auf ihn lauert.

Die Katze führt ihn immer tiefer in den Wald hinein und Gerrit versucht sich den Weg zu merken, den er geht. Bis jetzt waren sie nur auf Wegen geblieben, was ihn einigermaßen beruhigt. Doch er weiß nicht, wie lange er jetzt schon hinter dem Tier herschleicht und er muss langsam dichter zu ihr aufschließen, um sie in dem immer dunkler werdenden Wald überhaupt noch sehen zu können.

Plötzlich bleibt die Katze stehen, mauzt einmal und springt dann von dem Weg in das dichte Buschwerk des Waldes hinein.

Gerrit macht einige große Sätze zu der Stelle hin, wo die Katze unter fast bis zum Boden reichenden Tannenzweigen hindurch verschwunden ist und starrt in das Unterholz. Er blickt durch den Wirrwarr von Baumstämmen, die von dichten Zweigen der ersten Tannenreihe fast verdeckt werden und überlegt, was er tun soll. Doch dann sieht er in einiger Entfernung die grünen Augen der Katze funkeln und beschließt, ihr weiter zu folgen. Er kriecht erst unter den bis zum Boden reichenden Ästen hindurch und kommt dann wieder auf die Füße. Die Fichten dahinter ragen auf dürren Stämmen zum Himmel empor. Farn und umgestürzte Bäume verbergen immer wieder den Weg der Katze und die in einigen Metern Höhe dichten Äste der Bäume verschlucken fast vollkommen das letzte Tageslicht.

Gerrit folgt dem Schatten, der ab und zu vor ihm zu erkennen ist. Einen Augenblick sieht er noch die grünen Augen, die ihn anstarren, dann ist der Schatten verschwunden.

Gerrit bleibt wie angewurzelt stehen. Wo ist die Katze plötzlich hin?

Seine sowieso schon schrecklich angespannten Nerven vibrieren. Sein Magen beginnt sich zu drehen und zu wenden und will Tante Angelikas Kakao und Plätzchen nicht länger in sich behalten. Seine Augen können keine Gefahr ausmachen, aber alles in ihm schreit nach Flucht.

Er muss sich zusammenreißen. Hier gibt es nichts, was ihm gefährlich werden kann. Er ist hier mit dieser Katze allein und was kann eine Katze ihm schon tun?

Langsam schleicht er weiter. Seine Nerven sind wie Drahtseile gespannt und seine Augen weit aufgerissen, als könne er so besser und schneller alles sehen. Denn, obwohl er sich einzureden versucht, dass die Katze ihm nichts antun kann, irrt immer wieder der Gedanke durch seinen Kopf, dass den anderen Kindern doch auch etwas geschehen war.

Er horcht angestrengt in die Stille des Waldes hinein, immer auf dem Sprung, jederzeit die Flucht zu ergreifen. Immer tiefer senkt sich die Dunkelheit über den Wald und nimmt ihm die Sicht. Doch er schleicht vorsichtig weiter und steht plötzlich vor einem dunklen, baumlosen Platz.

Es braucht einige Zeit, bis er erkennt, dass es eine große, tiefe Mulde ist, die sich vor ihm auftut. Als er näherkommt, glitzert in etwa drei Meter Tiefe etwas auf und Gerrit weiß, dass es sich um ein funkelndes, grünes Augenpaar handelt.

Die Katze!

Der Junge sieht sich verängstigt um. Spinnenweben legen sich auf sein Haar und Schweißtropfen rinnen ihm in die Augen. Er wischt sie schnell weg und starrt wieder zu der Katze hinunter, die nun anfängt zu mauzen, als wolle sie ihn rufen. In dem Moment kracht es über ihm in den Bäumen und mit lautem Krächzen erhebt sich ein Eichelhäher in die Luft, um allen Waldbewohnern mitzuteilen, dass er einen Eindringling ausfindig gemacht hat.

Gerrit erschrickt dermaßen, dass er sich umdreht und kopflos davonrennt.

Er hört das jämmerliche Schreien der Katze, bleibt aber keine Sekunde stehen. Er rennt, als wäre der Teufel hinter ihm her und meint, dass ihm hundert Füße folgen. Doch das ist nur das Echo seiner eigenen panischen Schritte.

Die Tannen mit den tief liegenden Zweigen ragen vor ihm auf und er stürzt sich im Tiefflug darunter her. Krachend landet er auf dem schlammigen Weg. Seine Hand schmerzt ihm, aber er springt sofort auf und rennt weiter, mit der anderen Hand die Spinnweben aus seinen blonden Haaren wischend. Immer wieder sieht er sich gehetzt um, doch es scheint ihm keiner zu folgen, außer den schrecklichen Schreien der Katze, die jammert, als würde sie über eine verloren gegangene Beute trauern.

In dieser Nacht kann Gerrit lange nicht einschlafen. Er liegt in seinem Bett und starrt an die Decke. Er wird heute Nacht die Lampe brennen lassen müssen, denn er hat Angst vor der Dunkelheit. Schließt er die Augen, dann sieht er die Katze vor sich, die ihn mit ihren giftgrünen Augen aus dem dunklen Loch im Wald anstarrt. Dann beginnen seine Hände wieder zu zittern und ihm bricht der Schweiß aus, als hätte er die Grippe.

Was soll er jetzt nur machen? Nie wieder will er der Katze folgen! Nie wieder!

So liegt er da und grübelt vor sich hin. Wenn er nun der Polizei zeigt, wohin die Katze ihn gebracht hat? Werden sie ihm glauben? Werden sie dort etwas finden?

Gerrit weiß es nicht. Doch eines ist ihm klar. Erzählt er jemanden von dem, was er noch vor ein paar Stunden erlebt hat, dann wird er keinen Schritt mehr aus dem Haus machen dürfen. Und was dann?

Dann wird die Katze sich ein neues Opfer suchen. Eines, dass ihr unwissend folgen wird und in die Falle tappt.

Was ist das nur für eine seltsame Mulde gewesen, in die diese Katze ihn locken wollte? Warum hatte niemand etwas von so einem Krater im Wald erwähnt?

Die Suchkräfte hatten diese Gegend mehrfach nach den Kindern abgesucht. Nein, wenn dort eines der Kinder läge, dann hätte man es auch gefunden.

Er wirft sich auf die Seite und starrt an die Wand. In seinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Was, wenn die Katze eigentlich doch nichts mit dem Verschwinden der Kinder zu tun hat? Vielleicht ist sie wirklich nur ganz harmlos und hat dort unten im Loch ihre Jungen versteckt? Wenn sie vielleicht doch nur seine Hilfe brauchte, weil eines der Jungen nicht mehr aus dem Loch herauskommt?

Er wirft sich energisch auf die andere Seite und zieht die Decke frierend hoch. Alles in ihm sagt ihm, dass er sich nicht irren kann. In seinen Träumen sieht er immer wieder Nina mit dieser Katze auf dem Arm. Das kann doch nicht nur ein unbedeutender Albtraum sein? Es muss mehr sein. Wie soll er sonst je herausfinden, was mit ihr passiert war? Und das muss er wissen. Er muss der Sache mit dieser Mulde im Wald schleunigst auf den Grund gehen. Aber mit Bedacht und Schläue.

So beschließt er, gleich am nächsten Tag in den Wald zu gehen und sich diesen dunklen Krater genauer anzusehen. Er wird einen anderen Weg nehmen, damit ihm die Katze nicht begegnet. Denn auf die will er dort besser nicht treffen. Vorsichtshalber.

Am nächsten Tag bringt Gerrit seine Schultasche nach Hause, isst seine Linsensuppe aus der Mikrowelle schnell auf und schwingt sich kurz darauf auf sein Fahrrad. Er hatte den ganzen Vormittag in der Schule kaum an etwas anderes denken können und wollte so gerne jemanden von seiner Fahrt in den Wald erzählen. Auch zur Absicherung, damit jemand weiß, wo gesucht werden muss, sollte er doch verschwinden. Aber er hatte Angst, dass ihn jemand verraten wird. Außerdem hat er keinen so guten Freund, dem er vertraut. Er wünscht sich mehr denn je einen an seiner Seite, der vielleicht sogar mit ihm zusammen diese angsteinflößende Tour unternehmen würde. Doch er gilt, seit dem Verschwinden seiner Schwester, als verrückter Einzelgänger, dem keiner Beachtung schenkt.

So fährt er allein durch den Nieselregen über Feldwege und enge Straßen, von denen er hofft, sie werden ihn von der anderen Seite her zu dem Wald führen. Da er seinen Nachbarn damals dort angetroffen hatte, muss diese hügelige Straße irgendwo herkommen.

Gerrit muss daran denken, wie der ihn in sein Auto gezerrt und nach Hause befördert hatte und ihm somit das Leben rettete und dass deshalb seine Schwester in die Falle getappt war.

Gerrit fährt an einer viel befahrenen Straße entlang Richtung Alfhausen, bis er bald auf eine Querstraße trifft, die ihn wieder nach Westen führt.

Er müht sich einen schrecklich hohen Hügel hoch und fährt dann augenblicklich in ein Waldstück hinein, von dem er inständig hofft, es handelt sich nicht schon um seinen Wald. Alles in ihm drängt zur Umkehr und will sich nur schwer davon abbringen lassen, diesen Fluchtgedanken sofort umzusetzen.

Er kommt an einem Hof mit sauber gemähten Grünstreifen am Weg vorbei und muss mit Entsetzen feststellen, dass nach den kleinen, im sauberen Grün stehenden Ostbäumen, die asphaltierte Straße in einen Schlackeweg mündet.

Gerrit bleibt stehen. Er muss hier falsch sein. Das kann doch nicht der richtige Weg sein?

Doch dann gibt er sich einen Ruck. Wenn das hier nicht der richtige Weg ist, dann kann ihm auch nichts passieren. Also kann er beruhigt noch ein Stück weiterfahren, bevor er umkehrt und es morgen noch einmal versucht.

So fährt er fast schon erleichtert den Schlackeweg weiter, kommt bald aus dem Waldstück heraus und sieht auf wunderschöne gelbe Rapsfelder. Es riecht süßlich und lautes Summen von Insekten liegt in der Luft. Die Erde scheint nach dem Regen zu dampfen und die Sonne tritt schwach hinter ein paar sich lichtenden Wolken hervor.

Gerrit fährt über den mit Pfützen übersäten Weg weiter und genießt einen Moment das schöne Leuchten der Felder und die wärmenden Sonnenstrahlen.

Als sein Blick nach vorne fällt, tritt er erschrocken in die Bremse und steigt vom Fahrrad, das mitten in einer Pfütze zum Stehen kommt. Doch das bemerkt Gerrit nicht, denn hinter den Feldern erscheint riesengroß und mächtig der Wald. Von hier aus kann Gerrit die Querstraße erahnen und weiß, dass sie direkt am Wald entlangführt. Mit klopfendem Herzen ist er sich plötzlich sicher, dass er seine Straße gefunden hat.

Nun bemerkt er die Nässe, die sich durch den Stoff seiner Schuhe frisst und macht schnell einen Schritt vorwärts ins Trockene.

„Verdammt!“, flucht er leise und weiß selbst nicht, ob er das sagt, weil seine Füße nass sind oder weil er den Weg doch noch gefunden hat. Er hatte sich schon so sehr damit abgefunden, die Tour am nächsten Tag noch einmal zu fahren, dass er jetzt fast geschockt ist, dass er nun doch sein Vorhaben beenden muss. Fast wie ein böses Omen schieben sich wieder Wolken vor die Sonne und lassen die Welt in Sekundenschnelle trist und grau wirken.

Gerrit schwingt sich mit gemischten Gefühlen auf sein Fahrrad und fährt langsam weiter. An der Querstraße bleibt er erneut stehen und sieht mit Erschrecken fast direkt vor sich die Stelle, an der sein Nachbar ihn damals ins Auto gepackt und wo er mit seinem Vater Ninas Fahrrad gefunden hatte. Unschlüssig bleibt er stehen. Er sucht förmlich nach einem Grund, sein Vorhaben doch noch abbrechen zu können. Aber ihm fällt in diesem Moment beim besten Willen keiner ein.

So versteckt er sein Fahrrad hinter einem Busch und läuft schnell, immer wieder sich nach der Katze umsehend, durch das Unterholz in den Wald.

Er versucht so leise wie möglich zu sein und den Waldweg nicht aus den Augen zu verlieren. Bald schon kommt er an eine Abzweigung und steht einige Augenblicke unschlüssig da. Doch dann beschließt er, dass er besser auf dem Weg gehen kann, als so laut durch das Unterholz zu poltern. Katzen haben sehr gute Ohren! Sie wird ihn bestimmt sonst hören.

So schleicht er weiter, jederzeit bereit, sich ins Unterholz zu werfen, wenn ihm irgendetwas Verdächtiges begegnet. Den Weg wieder zu finden, bereitet ihm zusätzliche Mühe. Aber schon bald entdeckt er die aufgewühlte Erde, in der er am vorherigen Tag, bei seinem Hechtsprung unter der Tanne hindurch, gelandet war.

Gerrit duckt sich mit wild klopfendem Herzen und späht unter den niedrigen Ästen hindurch. Er kann nichts ausmachen, was ihm Angst macht und was er dann natürlich sofort zum Anlass nehmen würde, einfach aus dem Wald zu laufen. So nimmt er allen Mut zusammen und klettert durch die Tannenfront. Nun muss er wieder durch das dichte Unterholz gehen und dort verursachen seine Füße einen Krach, der ihm selbst so laut wie von einer wildgewordenen Elefantenherde vorkommt.

Unschlüssig seinen Weg suchend, steht er plötzlich, wie durch Zauberhand, an der schräg vor ihm abfallenden Kuhle.

Gerrit kann gerade noch seine Schritte bremsen, abgelenkt von dem plötzlichen Gezeter des auffliegenden Eichelhähers über ihm. Diesmal bringt der Gerrit nicht dazu, einfach wegzulaufen.

Der sieht mit großen Augen in das gähnende Loch, das nun bei Tageslicht gar nicht so erschreckend aussieht. Die Kuhle ist vielleicht drei Meter tief und die Seiten so sacht abfallend, dass sie ihm nun ausgesprochen ungefährlich vorkommen. Fast will er sich schon einen Dummkopf schelten, weil er diesem Loch noch am Vorabend so viel Bedeutung beigemessen hatte, dass er nicht schlafen konnte, als ihm von der anderen Seite der Kuhle etwas entgegenblinkt.

Gerrit geht vorsichtig um die Senke herum zur anderen Seite, wobei er einen umgefallenen Baumstumpf überklettern muss, und steht kurz darauf vor einem verrosteten Schild. Voller Erstaunen versucht er die Worte auf dem rostigen Blech zu entziffern.

Der Alkenkrug

Als in uralten Zeiten das Dorf Alfhausen nicht mehr als zwölf Häuser besaß, machten sich an Sonn- und Feiertagen die Alfhausener auf den Weg über die Westerholter Heide nach Merzen in die Kirche.

Hier an dieser Stelle soll zu der Zeit eine Hütte gestanden haben, die „Der Krug“ genannt wurde. Die Kirchengänger kehrten auf ihrem langen Weg hier ein, um sich an einem Krug Bier zu laben.

Der Wirt, der Alke genannt wurde, war kein gottesfürchtiger Mann. Er war nur auf seinen Gewinn aus und hielt die Leute davon ab, pünktlich sein Haus zu verlassen und die Kirche zu besuchen.

Da nun der Wirt schon häufig verwarnt worden war und doch keine Besserung herbeiführte, strafte ihn zuletzt Gottes Hand.

Seine Hütte versank eines Tages samt Scheune in der Erde und hinterließ diese Kuhle, die seit dem „Alkenkuhle“ genannt wird.

Gerrits Augen tränen von dem angestrengten Lesen und er wuselt sich erschrocken durch sein kurzes Haar. „Mensch, das ist ja ein Ding“, murmelt er und sieht sich schnell um, ob er auch wirklich noch allein ist. Doch nichts und niemand außer ihm scheint hier zu sein.

Ein versunkenes Haus … die Katze …, das kommt ihm recht unheimlich vor.

Doch dann überlegt er, wie alt diese Geschichte von dem Alkenkrug wohl sein mag und warum es erst seit drei Jahren verschwundene Kinder gibt. Da kann es unmöglich einen Zusammenhang geben, oder?

Gerrit ist verwirrt. Soll er in die Kuhle hinuntersteigen?

Er hat Angst, nicht wieder hinaus zu können. Schließlich verdeckt dichtes Laub den Boden und er weiß nicht, was sich darunter befindet. Aber er beschließt, am nächsten Tag wiederzukommen und ein Seil mitzubringen. Damit wird er sich an einem der Bäume sichern und somit kann ihm auch nichts passieren.

Mit diesem Gedanken geht er den Weg zurück, den er gekommen war und freut sich, auch diesmal der Katze nicht zu begegnen. Er fährt erneut über den Schlackeweg nach Hause und hofft, dass die Katze sich nicht unterdes ein neues Opfer gesucht hat. Oder ist sie unschuldig und sucht wirklich nur jemanden, der ihre Katzenkinder aus der Kuhle holen soll? Vielleicht gibt es eine kleine Höhle, in der sie festsitzen, dem verhungern nah!

Dieser Gedanke bestärkt Gerrit darin, am nächsten Tag in die Kuhle hinabzusteigen. Er muss das nachprüfen. Unbedingt.

Am nächsten Morgen wird den Kindern aus Gerrits Klasse mitgeteilt, dass ihre Klassenlehrerin auf der Fahrt zur Schule einen Unfall hatte. Nicht weiter schlimm, aber sie muss für zwei Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben.

Durch die Klasse geht ein beglücktes Raunen, denn sie sollten am nächsten Tag einen Aufsatz schreiben. Doch es freut sie weniger, dass sie Frau „Elcharsch“ als Vertretung bekommen. Die Kinder nennen sie so, weil sie ein mächtiges Gesäß besitzt und sich Elcharsch auf ihren wirklichen Namen Melchbarsch reimt.

Planlos und konfus versucht diese Lehrerin nun, den ihr vor wenigen Minuten aufgebürdeten Unterricht zu gestalten. So ist sie dann auch nicht gerade unglücklich, als Gerrit sich meldet und sie nach einer Sage befragt, die sich um den Alkenkrug rankt.

Gerrit weiß gar nicht so recht, was ihn in dem Moment reitet, dass er die Lehrerin danach fragt. Wahrscheinlich ist es das drängende Gefühl, einfach mit irgendjemandem über diese Sache zu sprechen. So läuft er wenigstens nicht Gefahr, zu viel von seinen Vorhaben zu verraten oder auf Gegenwehr zu stoßen.

„Oh, das ist eine ganz besondere Sage“, ruft Frau Melchbarsch in die Klasse und setzt sich auf den ergeben quietschenden Lehrerstuhl. „Weiß denn jemand schon etwas darüber?“

Zu Gerrits Erstaunen zeigen einige Finger nach oben.

Aber Kai scheint es am meisten darauf anzulegen, etwas zu berichten. Er steht sogar auf, um sich besser Gehör zu verschaffen, und erklärt: „Mein Opa hat mir mal erzählt, dass es einen Wirt gab, der die Leute zum Bier saufen, statt zum Kirchengang, nötigte und darum mit Haus und Hof im Erdboden versunken ist.“

Das ist nichts Neues für Gerrit. Doch dass sich nach dessen Bericht immer noch ein Arm hektisch in der Luft bewegt, macht Gerrit stutzig.

Frau „Elcharsch“ nimmt Saskia dran, die mit hochroten Wangen die Geschichte eines Bauern vorträgt, der eines Nachts den Alke herausgefordert haben soll.

„Denn wenn man um Mitternacht dreimal: „Alke kum heruss“ ruft, kommt er in Gestalt eines Feuerreifens aus dem Loch geschossen und verbrennt dich.“ Saskias Augen leuchten ehrfürchtig, doch alle anderen aus der Klasse halten das für Schabernack.

Gerrit sitzt nur da und starrt Saskia an. „Ein Feuerreifen, das aus dem Loch kommt …“, denkt er und ihm läuft ein Schauer den Rücken hinunter.

„Ihr braucht gar nicht zu lachen“, schnauzt Saskia ihre Klassenkameraden in dem Moment auch schon an. „Mein Vater hat mir gezeigt, wo der Feuerreifen einschlug, als dieser Bauer ihn herausforderte“, ruft sie trotzig aus.

Stille bricht über die Klasse herein und Saskia freut sich, nun die ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben.

„Also, dieser Bauer hatte ein sehr schnelles Pferd, mit dem er vor dem Feuerreifen floh. Doch was ihn eigentlich rettet, war …“ Saskia sieht sich um, ob auch wirklich alle vor Spannung erstarren, „… sein Dielentor. Mit letzter Kraft sprang das Tier über die untere Hälfte des Dielentors in die Diele des alten Bauernhofes und das Rad prallte davor ab. Ich selbst habe die Spur des Reifens gesehen“, bringt sie mit stolzgeschwellter Brust ihre Geschichte zu Ende.

Einen Moment herrscht in der Klasse angespanntes Schweigen. Dann klatscht Elcharsch zweimal in die Hände und ruft: „Nah, das war ja eine aufregende Geschichte, der wir aber mal nicht zu viel Gewicht beimessen wollen. Denn ihr solltet niemals vergessen, dass das alles nur eine Sage ist. So, dann holt mal euer Lesebuch heraus und wir schauen, ob sich darin nicht auch etwas Aufregendes finden lässt.“

Die Kinder kramen unter Buhrufen und Stöhnen ihre Lesebücher aus ihren Taschen und der Rest der Stunde wird in Zeitlesen investiert, bei dem jeder mal drankommt und versucht, so viel und so fehlerfrei zu lesen, wie möglich.

Als Gerrit an der Reihe ist, weiß er gar nicht, wo sie in der Geschichte sind, denn ihm spuken immer noch die Bilder des Feuerrades durch den Kopf und der Alke, der vielleicht statt auf ein Feuerrad auf eine Katze umgestiegen ist. Ihm gruselt der Gedanke, obwohl es doch nur eine Sage ist - eine nicht bewiesene Geschichte. Eine äußerst unglaubwürdige noch dazu, denn wohin soll ein ganzes Haus schon verschwinden? Und bedenkt man, was heut zu Tage in der Welt geschieht, dann hätte der liebe Gott mit seinen Bestrafungen alle Hände voll zu tun. Mal ganz davon abgesehen, dass er scheinbar lieber unschuldige Kinder bestraft, denn Nina hatte nie jemandem etwas zuleide getan.

„Also alles Quatsch!“, versucht Gerrit sich zu beruhigen. Doch sein Blick wandert immer wieder zu Saskia hin, die weiterhin mit geröteten Wangen dasitzt. „Ich habe den Abdruck des Feuerreifens selbst gesehen!“, hört er sie in Gedanken immer wieder sagen und jedes Mal läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

Am Nachmittag sitzt Gerrit in seinem Zimmer auf dem Bett, unschlüssig vor sich hin sinnend, was er nun glauben und tun soll. Er ist in seinen Gefühlen immer noch hin und hergerissen. Soll er in die Kuhle klettern und sie näher erforschen, so wie er es noch am Vortag geplant hatte? Wenn wirklich etwas an dieser Legende dran ist, heißt das, dass sich die Erde unter ihm auftun kann?

Ach! Was für ein Blödsinn! Noch nie hatte es jemanden gegeben, der von etwas Derartigem berichtete, außer diesem Bauern, und das ist schon Generationen her. Außerdem, wieso sollten jetzt Kinder in einem solchen Loch verschwinden, wo doch Jahrhunderte nie etwas passiert ist?

Und was könnte dann die Katze damit zu tun haben? Warum verschluckt das Loch sie nicht?



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