Eine unglaubliche Welt - Sabine von der Wellen - E-Book

Eine unglaubliche Welt E-Book

Sabine von der Wellen

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Beschreibung

In Ankum verschwinden Kinder. Einfach so. Spurlos. Gerrits Schwester Nina ist das einzige Mädchen unter den Vermissten und Gerrit hat eine dunkle Ahnung, dass eine Katze mit dem Verschwinden zu tun hat. Auch er folgt dem Tier und bricht an einer Senke in einem Waldstück in den Erdboden ein, wo einst ein Fluch ein Gasthaus im Erdreich versenkte. Gerrit landet in einem Höhlenlabyrinth und gerät zwischen die Fronten der unterirdisch lebenden Völker, die in einen Krieg über die Macht in ihrer Welt verstrickt sind. Gerrit erkennt bald, dass Mut alleine oft nichts ausreicht, sondern dass Vertrauen und Freundschaft das höchste Gut sind. Und er erfährt, dass die Kinder aus Ankum sich auch in dieser Welt befinden. Gerrit macht sich auf die Suche nach ihnen und hofft seine Schwester retten zu können, die wie er, zu einem Spielball zwischen den Mächten geworden ist.

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Sabine von der Wellen

Eine unglaubliche Welt

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die verschwundenen Kinder

Der Katze auf der Spur

Eine unglaubliche Welt

Im Tal des Lichts

Im Lande Tendors

Die Auserwählten

Nina und die Macht des Steins

Der Verrat

Die Hohepriesterin und die Herrscherin Tendoriens

Die Entscheidung

Impressum neobooks

Die verschwundenen Kinder

Gleißendes Mondlicht fiel durch ein kleines Dachfenster in das Kinderzimmer, dessen Wände mit einer bunten Rennwagentapete beklebt waren. Die sonst so grellen Farben leuchteten nur schwach und gaben dem sonst so unruhig wirkenden Bild der ständig durch das Zimmer preschender Rennwagen ein klein wenig Ruhe.

“Warte ..., wo bist du?”, raunte eine Stimme im Schlaf und ein Körper wälzte sich in dem Kiefernbett unter dem Fenster hin und her.

“Warte doch!”, stammelte es unter der hellblauen Decke, die nun zu beben schien. “Nina! Warte auf mich!”

Gerrit schnellte hoch. Seine Haare klebten ihm schweißnass an der Stirn und sein Schlafanzug hing ihm feucht am Leib. Starr blickte er in die dämmrige Dunkelheit des vom Mondlicht erhellten Zimmers.

Seine Decke sank zu Boden und sofort spürte er die Kälte der Nacht, die durch seinen Schlafanzug drang. Das riss ihn vollends in die Wirklichkeit.

“Wieder dieser Traum!”, dachte er und zog die Decke auf das Bett zurück. Zitternd rollte er sich hinein und schloss die Augen. Wieder sah er das Gesicht aus seinem Traum vor sich, umrahmt von üppigen blonden Locken. Blauen Augen starrten ihm traurig entgegen. Die zarten Finger umschlossen das seidige Fell einer Katze. Wie jedes Mal, wenn er diesen Traum hatte, flehte ihn das Mädchen an: „Bitte, Gerrit, hol mich wieder nach Hause!”

Er hatte das schon oft geträumt. Es schien ihm mittlerweile, als ob seine kleine Schwester Nina ihn dringender rief.

In dieser Nacht wird er nicht mehr schlafen können. Wie immer ließ der Traum die Geschichte um seine Schwester wieder neu in ihm aufleben. Erneut überrollte ihn die tiefe Traurigkeit und gab ihm das Gefühl, dass er etwas unternehmen musste. Immer stärker setzte sich in ihm der Glaube fest, dass sie tatsächlich nach ihm rief und dass das nicht nur ein Traum war.

Er war jetzt dreizehn Jahre alt, kein kleiner Junge mehr! Er spürte, dass es an der Zeit war, die Dinge nicht mehr einfach hinzunehmen. Inzwischen kam es ihm sogar so vor, als sei er als einziger dem Schicksal der anderen Kinder entronnen und vielleicht genau aus diesem Grunde auch der Einzige, der herausfinden konnte, was eigentlich mit ihnen geschehen war.

Sein Blick fiel auf seinen Radiowecker, den er zu seinem letzten Geburtstag von seiner Mutter bekommen hatte. Ein Geschenk, dass er aus tiefsten Herzen verabscheute, denn es symbolisierte einen weiteren Schritt seiner Mutter, sich ihm zu entziehen. Seit Nina vor zwei Jahren spurlos verschwunden war, schien es in diesem Haus keine Freude mehr zu geben. Außerdem kam es Gerrit jeden Tag aufs Neue so vor, als seien seine Eltern mit Nina verschwunden. Er fühlte sich alleine und verlassen. Keiner nahm Notiz von ihm und dann noch dieser Radiowecker …

“Da kannst du jetzt morgens immer alleine aufstehen”, hatte Mama zu ihm gesagt und ihn kurz an sich gedrückt. Doch das war nur ein winziger Moment gewesen und sie schien sofort wieder hinter ihrer Wand aus Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit zu verschwinden. Dafür hielt er diesen Radiowecker in der Hand, der ihr nun noch die wenigen Minuten abnahm, die sie sich sonst morgens für ihn genommen hatte, um ihn zu wecken.

Es war kurz nach fünf. Gerrit atmete auf. Nur eine schlaflose Stunde, bis er sowieso aufstehen musste. Eine Stunde würde er überstehen, zumal sein Entschluss schon lange feststand. Er wartete nur noch auf ein Zeichen und hoffte, der Mut würde ihn dann nicht verlassen. Obwohl er wusste, dass er mit seinem Entschluss seinen Eltern vollends das Herz brechen würde, gab es für ihn kein zurück mehr. Auch er konnte mit der Ungewissheit und den ständig an ihm nagenden Selbstzweifeln nicht mehr Leben. Wenn er recht behielt, dann würde es eine Möglichkeit geben, die ihm zeigte, was aus Nina und den anderen Kindern geworden war. Er brauchte nur den Mut, dem Zeichen zu folgen und sich der Ungewissheit zu stellen, mochte sie ihm letztendlich sogar den Tod vor Augen führen.

Der nächste Sonntag war der vierte Advent. Gerrit saß mit seinen Eltern am Frühstückstisch. Zwischen der Butter und den Eiern prangte ein wunderschöner Adventskranz mit vier leuchtenden Kerzen. Weihnachten stand vor der Tür und Gerrit grauste es alleine bei dem Gedanken daran. In diesem Haus wurde Weihnachten, Ostern, oder der elfte September, Ninas Geburtstag, zu einem wahren Debakel. Das waren die schwarzen Tage, an denen Nina allen besonders fehlte. An diesen Tagen überrollte sie die Erinnerungen an das Mädchen wie ein tonnenschwerer LKW und der Schmerz über ihren Verlust lebte wieder neu auf.

“Reichst du mir mal die Butter rüber?”, fragte sein Vater über den kleinen Tisch hinweg. Sein braunes Haar war in den letzten zwei Jahren sehr schnell grau geworden und seine blauen Augen blickten ihre Umwelt nur noch wie hinter einem trüben Schleier an. Auch hatte er seit Ninas Verschwinden bestimmt zwanzig Kilo abgenommen. Gerrit musste oft daran denken, wie stark und gewaltig ihm sein Vater früher immer vorgekommen war. Nun scheint er in sich zusammenzufallen, zu schrumpfen wie ein Luftballon, in den man eine Nadel gestochen hatte.

Gerrit reichte ihm die Butter und nahm sich noch eine Tasse Kakao. Seine Mutter pellte gerade ihr Ei, um es, wie jeden Sonntagmorgen, auf ihr Toast zu schneiden. Sie trug ihre blonden Locken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was das schmale Gesicht noch unterstrich. Auch sie hatte einige Pfunde verloren. Aber sie war schon immer sehr schmal gewesen und daher fiel es bei ihr nicht so auf. Ihr Gesicht schien jedoch für immer alle Farbe verloren zu haben und wirkte so weiß und transparent wie ihr Haar, auf das sie früher immer besonders stolz gewesen war und das alle auch an Nina so geliebt hatten.

Aus dem Radio auf der Fensterbank drang gedämpft Weihnachtsmusik herüber.

Gerrit musste daran denken, wie sie früher selbst Weihnachtslieder gesungen hatten. Doch das gab es schon lange nicht mehr. Nichts gab es hier mehr, als tristen, traurigen Alltag.

Die Weihnachtsmusik verstummte und ein Sprecher kündigte die Neun-Uhr Nachrichten an. Gerrit sah auf seine Armbanduhr und verglich die Zeit. Ansonsten schien keiner am Tisch auch nur Notiz von der Stimme aus dem Radio zu nehmen.

Er trank seinen Kakao aus und setzte sich zurück. Dieses Jahr hatten sie noch nicht mal danach gefragt, ob er sich irgendetwas Besonderes zu Weihnachten wünschte. Aber er wünschte sich auch nichts. Auf jeden Fall nichts, was man kaufen konnte. Wie hätte er auch erklären sollen, dass ihm eine Tüte voll Wärme, eine halbe Stunde in den Arm nehmen, mal wieder ein gemeinsames Fußballspiel ansehen oder einfach nur wieder die Teilnahme seiner Eltern am Leben unterm Tannenbaum am liebsten wäre.

“... seit gestern in Ankum verschwunden!”, drangen nun die Nachrichtenfetzen aus dem Radio an sein Ohr und er horchte augenblicklich auf. Sein Herzschlag setzte einen Moment aus.

“Er wurde zuletzt auf einem Fahrradweg außerhalb des Ortes gesehen, der in Richtung Tütingen führt. Er trug eine schwarze Jacke mit gelben Streifen und eine blaue Jeans und fuhr ein blaues Mountainbike. Dies ist bereits der achte Fall in den letzten drei Jahren. Sieben Jungen und ein Mädchen werden im Raum Ankum vermisst und die Polizei steht vor einem Rätsel. Wer sachdienliche Hinweise geben kann oder ein blaues Mountainbike gefunden hat, wende sich bitte an die örtliche Polizei oder an jede andere Dienststelle!”

Gerrit erstarrte vollends. Er nahm schnell die Hände vom Tisch, damit keiner bemerkte, wie sie zu zittern begannen. Verstohlen schaute er in die Gesichter seiner Eltern, die sich leichenblass einen Blick zuwarfen. Die Welt schien stehen zu bleiben. Gerrit kam es so vor, als seien alle Geräusche verstummt. Seiner Mutter traten Tränen in die Augen und er wusste, dass er einem annähernd netten Weihnachten nun endgültig Lebewohl sagen konnte.

Er sprang auf und verließ die Küche. Auf der Treppe nahm er zwei Stufen auf einmal. Er hatte das Gefühl, nur noch weg zu wollen. In seinem Zimmer angekommen, knallte er die Tür hinter sich zu. Das war scheinbar das einzige Geräusch im ganzen Ort.

Er warf sich auf sein Bett und schlug mit den Fäusten auf seine Bettdecke ein.

Verdammt, es war wieder passiert! Wieder war ein Kind aus dem Ort spurlos verschwunden und er hatte nichts bemerkt. Er war wieder nicht zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Er hatte wieder eine Chance verpasst, endlich zu tun, was getan werden musste.

Gerrit mochte nicht daran denken, dass es vielleicht diesmal einer seiner Klassenkameraden sein könnte oder der Junge von nebenan.

Er wusste genau, was nun passierte. Bald wird die Polizei wieder jeden Winkel in Ankum auf den Kopf stellen und die Wälder durchkämmen. Die Erwachsenen werden sich wieder auf dem Parkplatz hinter dem Kino treffen, um große Suchaktionen zu starten. Flugzeuge mit Wärmebildkameras werden über den Ort knattern und die Menschen müssen trostlos und erschüttert zusehen, weil wieder nichts gefunden werden wird. Abermals werden einige Familien ihre Sachen packen und für immer fortziehen. Wieder darf kein Kind mehr alleine vor die Tür. Wieder gab es eine Familie, die bleich und starr zu Hause saß und mit ihrem Schicksal haderte. Wieder gab es ein Kind weniger!

Gerrit seufzte. Wenn ihm doch nur einmal jemand glauben würde! Vielleicht wäre dieser Junge dann noch bei seiner Familie. Aber ihm glaubte keiner! Alle hielten ihn für verrückt.

Wenn er doch nur beweisen könnte, dass diese verdammte Katze …

Durch das aufgekippte Fenster hörte er eine Anzahl von Autos, die sich in der Straße und den nahen Nebenstraßen postierten. Autotüren wurden zugeschlagen und Befehle gegeben. Jetzt kamen sie wieder und suchten den Jungen, als würde einer aus dem Ort Kinder zum Frühstück verspeisen.

Es war schon seltsam, dass es sich auch diesmal wieder um einen Jungen

handelte, den sie suchten. Nina war das einzige Mädchen, das verschwunden war.

“Hoffentlich keiner, den ich kenne!”, betete Gerrit im Stillen vor sich hin. Er starrte im stummen Entsetzen auf seine geballten Fäuste. Wieder überkam ihn das ungute Gefühl, er wäre der Einzige, der dem Verschwinden der Kinder auf die Spur kommen könnte. Doch er hatte schreckliche Angst! Wenn sie nun alle Tod waren, dann würde er es auch sein, sobald er sich auf die Suche nach ihnen machte. Doch was war schrecklicher? So zu leben wie bisher und zuzusehen, wie immer mehr Kinder sich einfach in Luft auflösten oder endlich etwas zu unternehmen?

Aber er war doch selbst fast noch ein Kind! Warum waren die Erwachsenen nicht in der Lage der Sache auf den Grund zu gehen?

Er hatte versucht, ihnen klarzumachen, dass vielleicht diese Katze der Schlüssel zu allem war. Doch die hatte niemand außer ihm je gesehen und darum glaubte ihm keiner, dass dieses Tier mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben könnte. Die Erwachsenen hielten alle für Tod und als er versucht hatte ihnen seinen Traum zu schildern, in der er Nina lebend sah, brachte man ihn kurzerhand zu einem Psychiater, der ihn ja “ach so gut” verstand und alles für die Auswirkung des schrecklichen Traumas hielt, das durch das Verschwinden seiner Schwester heraufbeschworen worden war.

Es klingelte an der Tür und Gerrit erhob sich von seinem Bett. Er trat an das kleine Fenster und sah hinaus. Entlang der Straße standen einige Polizeiwagen. Im Nachbarhaus verschwanden gerade zwei uniformierte Männer in der Haustür. Es klingelte erneut und Gerrit verließ sein Zimmer. Er wusste, dass seine Eltern nicht aufmachen konnten. Sie würden bestimmt wieder viele Stunden einfach nur dasitzen und zu keiner Reaktion fähig sein.

Er öffnete unten die Haustür und fand zwei verlegen dreinblickende Polizeibeamte vor. Einer war der Dorfpolizist Knut, bei dem Gerrit vor zwei Wochen noch die Fahrradprüfung bestanden hatte.

“Hallo Gerrit! Sind deine Eltern auch zu Hause?”

Gerrit nickte nur.

“Wir müssen leider alle Häuser durchsuchen. Könntest du deinen Vater oder deine Mutter holen?”

“Ich glaube nicht!”, meinte Gerrit nur und öffnete weit die Tür. Die Polizeibeamten sahen durch den Flur direkt in die Küche, wo seine Eltern immer noch wie Wachsfiguren dasaßen.

“Oh, Gerrit, es tut uns schrecklich leid! Aber wir müssen alle Häuser durchsuchen”, meinte der Polizist und wandte betroffen den Blick ab.

Es war nicht das erste Haus, in das er an diesem Morgen kam und in dem spürbar eine Totenstille herrschte. Es war schrecklich, gerade die Häuser durchsuchen zu müssen, aus dem auch schon ein Kind verschwunden war. Doch man hatte ihm diese Häuser zugeteilt, weil er die Leute gut kannte. Kein toller Job!

“Wer ist es?”, fragte Gerrit betreten und wusste gar nicht so recht, ob er es überhaupt wissen wollte.

“Thomas Mehring!”, meinte der mittelgroße Polizeibeamte hinter dem Dorfpolizisten Knut. Dabei sah er betroffen auf seine Schuhe. Noch nie hatte er so etwas wie hier erlebt. Schon wieder war ein Kind verschwunden und schon wieder gab es nicht die leiseste Spur oder einen Verdacht. Noch nie war die Polizei so machtlos gewesen. Das achte Kind in den letzten drei Jahren, und keines der Verbrechen war aufgeklärt worden.

Gerrit nickte kurz und sein Magen schien einem Fußballspieler auszuweichen, der ihn für einen Ball hielt.

Thomas Mehring! Der Junge aus seiner Basketballmannschaft, der erst vor drei Wochen neu zu ihnen ins Team gestoßen war. Ein außerordentlich guter Spieler! Gerrit hatte sich am letzten Montag beim Training noch die Flasche Wasser mit ihm geteilt. Und nun ...?

“Kommen Sie doch einfach rein und machen Sie ihre Durchsuchung! Meine Eltern werden schon nichts dagegen haben!”

Die beiden Polizeibeamten starrten mit unsicherem Blick auf die Gestalten in der Küche und traten ins Haus. Dann teilten sie sich auf und sahen in jeden Raum, vom Boden bis zum Keller.

Gerrit ging unterdessen in sein Zimmer und blickte aus tränenverschleierten Augen betroffen an die Wand.

Thomas Mehring! Er war so ein guter Spieler!

Er sah ihn vor sich, wie er ihm breit grinsend die Flasche gereicht hatte. Sein Trikot sah genauso dreckig und verknittert aus, wie Gerrits und seine Knie waren genauso aufgeschürft gewesen. Er hatte dunkles, wirres Haar auf dem Kopf, das sich wohl nur triefend Nass bändigen ließ. “Nah, was gibt es dieses Jahr bei dir zu Weihnachten?”, hatte er Gerrit noch gefragt.

“Keine Ahnung!”

“Ich wünsche mir eine Katze!”, hatte Thomas noch schnell gesagt, bevor der Trainer hereingestürmt kam und die beiden wieder auf das Spielfeld holte.

Eine Katze!

Wieder sah Gerrit das blasse Gesicht seiner Schwester Nina vor sich. “Ich will wieder nach Hause!”, und er dachte wieder an die Katze auf ihrem Arm.

Gerrit kannte die Katze, die Nina in seinen Träumen trug. Nie wieder würde er sie vergessen. Sie spukte Tag und Nacht in seinem Kopf herum, unheilbringend und für ihn der Schlüssel zum Verschwinden der Kinder.

Es war eine besonders große Katze, mit derart leuchtend grünen Augen, wie Gerrit es noch nie gesehen hatte. Ihr Fell war wuschelig, grau und mit schwarzen Streifen darin, die wie Ornamente wirkten. Ja, Gerrit kannte diese Katze.

Als er vor zwei Jahren bei einem Klassenkameraden den Nachmittag verbrachte, saß sie plötzlich auf der Gartenmauer und sah Gerrit an. Er dachte damals, dass sie Andreas gehörte und streichelte sie. Als dieser dann mit einem Eis aus dem Haus kam, war sie plötzlich verschwunden.

Am Abend auf dem Heimweg saß sie mitten auf dem Fahrradweg. Er hielt an und ging vorsichtig auf sie zu, denn irgendetwas an dem Tier machte ihm Angst. Er war sowieso kein großer Katzenfreund! Sein Traum war immer ein Hund gewesen, so ein Colli wie Lessie oder ein Berner Sennenhund oder Golden Retriever.

“Hallo, Miezekatze! Was machst du denn hier, so weit weg von zu Hause?”

Er dachte zu diesem Zeitpunkt ja noch, sie gehöre Andreas.

Schnurrend erhob sie sich und strich um seine Beine. Er streichelte sie und sie kletterte auf seinen Schoß, schnurrend und nach Streicheleinheiten lechzend. Doch Gerrit hatte nicht viel Zeit und so setzte er sie auf den Weg zurück und bestieg sein Fahrrad. Da fing die Katze fürchterlich an zu mauzen und zu jammern. Er fuhr trotzdem weg, schwor sich aber, am nächsten Tag nach ihr zu sehen und ihr etwas zum Fressen mitzubringen.

Tatsächlich saß die Katze am folgenden Tag fast an derselben Stelle und schien auf ihn zu warten. Er fütterte sie und sie kletterte wieder auf seinen Schoß und schien von seinen Streicheleinheiten gar nicht genug bekommen zu können. Das war in etwa der Punkt, dass Gerrit zum ersten Mal in seinem Leben dachte, dass auch Katzen unglaublich tolle Tiere sind. Doch dann wurde sie plötzlich unruhig und sprang von seinem Arm herunter. Sich immer wieder nach ihm umsehend stolzierte sie den Fahrradweg entlang. Als sie sah, dass er ihr nicht folgte, fing sie wieder jämmerlich an zu schreien. So lief Gerrit zu ihr und nahm sie wieder auf den Arm. Doch sie sprang wieder auf die Erde hinab und lief weiter den Weg entlang. Nach einigen Metern blieb sie wieder stehen und sah sich nach Gerrit um. Wieder jammerte sie, bis er zu ihr ging und sie streichelte. Abermals lief sie den Fahrradweg weiter und so gelangte Gerrit zu der Überzeugung, dass sie ihm etwas zeigen wollte. Sie blieb nicht mehr jammernd stehen, sondern sah sich nur kurz um, ob er ihr auch wirklich nachkam.

Bald darauf folgte der Fahrradweg der Straße in eine Kurve hinein, an deren linken Seite ein Waldstück begann. Auf der anderen Seite lugte durch die Stämme alter Eichen ein Gasthaus hervor, das etwas oberhalb der Straße auf einer Anhöhe saß, wie ein altes Hexenhaus.

Gerrit folgte der Katze weiter und sah in einen Schotterweg hinein, von dem er wusste, dass dort im Wald die Fischteiche lagen, von denen seine Mutter immer die Forellen kaufte. Er musste sich beeilen, wollte er die Katze nicht aus den Augen verlieren, die nun zügig dem Weg folgte. Hundert Meter weiter bog sie von der Hauptstraße in eine Nebenstraße ein, die Gerrit nicht kannte. Ihm wurde das Ganze langsam etwas unheimlich. Zumal er genau wusste, dass er sich eigentlich nicht alleine so weit außerhalb des Ortes bewegen durfte. Schon zu der Zeit beklagten drei Familien das Verschwinden ihrer Kinder!

“Grovern” stand auf einem kleinen, grünen Schild. Oft schon war er mit seinen Eltern und seiner Schwester hier vorbeigefahren. Diese Straße hatte er aber nie wissentlich wahrgenommen.

Er folgte der Katze an einem großen Bauernhof vorbei und an Häusern mit wunderschön angelegten Gärten. Doch das Tier lief immer weiter. Es ließ ihn nicht dichter an sich herankommen, als auf ein paar Meter.

Gerrit hatte bald keine Lust mehr und blieb stehen. Das honorierte die Katze mit lautem Gejammer. Dummerweise hatte er sein Fahrrad unten auf dem Fahrradweg gelassen und bekam es mit der Angst zu tun, jemand könnte es klauen, wenn es so lange herrenlos an der Straße stand.

“Also hör mal, Miezekatze! Weiter gehe ich jetzt nicht mehr mit. Ich muss erst mein Fahrrad holen, ja?”

So hatte er sich umgedreht und war den Weg zurückgelaufen, gefolgt von dem jämmerlichen Mauzen der Katze. Als er bei seinem Fahrrad ankam, beschloss er, wieder zurückzufahren und zu sehen, ob sie noch da war. Aber er fand sie nicht mehr. Enttäuscht fuhr er nach Hause.

Am nächsten Tag radelte er mit einer Tüte voller Leckereien wieder auf dem Fahrradweg zu der alten Gaststätte. Dabei hielt er immer Ausschau nach der Katze. Als er bei dem Schild “Grovern” ankam, blieb er unschlüssig stehen. Doch das Tier schien nirgends zu stecken. Er fuhr in die schmale Straße hinein, die ihn wieder von der Hauptstraße wegführte, bis zu dem Punkt, an dem er die Katze am Tag zuvor zurückgelassen hatte und fand sie tatsächlich auf einem Holzstoß sitzend. Sie schien auf ihn gewartet zu haben und erwartete voller Ungeduld seine Streicheleinheiten.

Doch bald schon lief sie wieder voran und nun folgte ihr Gerrit bereitwillig. Er hatte sich schon ausgemalt, dass sie ihm wahrscheinlich ein ganzes Nest kleiner Katzen zeigen wollte, die sie selbst nicht mehr ernähren konnte. Für den Fall klemmten in einer Tüte auf seinem Gepäckträger eine kleine Schüssel und eine Flasche Katzenmilch, die er vor seiner Tour aus dem großen Einkaufsladen gegenüber der Schule geholt hatte.

Die Katze wurde schneller, sobald sie merkte, dass Gerrit ihr wirklich folgen wollte. Die schmale Straße führte über seichte Hügel einem Wald entgegen. Wieder kam er an ein paar Häusern vorbei, fuhr anschließend durch schöne rapsgelbe Felder und kam bald darauf auf eine schmale Querstraße.

Wie leichtgläubig er ihr gefolgt war!

Er konnte sich sehr gut vorstellen, dass auch andere Kinder vor ihm das getan hatten ... und nach ihm seine Schwester ebenfalls.

Doch die Polizei hatte ihm die Geschichte nicht abkaufen wollen. Dass eine Katze Kinder so weit aus dem Ort lockte, hielten sie für Schwachsinn.

Doch Gerrit war sich sicher, dass es da einen Zusammenhang gab. Aber nur er wusste, mit welch einer Beharrlichkeit sie ihn hinter sich hergelockt hatte.

Die Katze bog in die Querstraße ein, die so weit das Auge reichte der hügeligen Landschaft an einem Wald entlang folgte. In diesen Wald war er öfters als kleiner Junge mit seinem Vater gegangen, um Pilze zu suchen.

Gerrit war der Katze weiter gefolgt, bis sie auf einen Waldweg einbog. Der Weg war sandig und schwer mit dem Fahrrad zu befahren. Er hatte allmählich auch keine große Lust mehr, ihr dort hinein zu folgen, denn er war sich nicht sicher, ob er aus dem Wald auch wieder herausfinden würde. Sein Vater hatte ihm damals erklärt, dass dieses Waldgebiet sehr groß ist. Außerdem kam es ihm langsam etwas seltsam vor, dass die Katze so weit weg ihre Jungen haben sollte. So blieb er stehen und sah auf das nun wieder jaulende Tier hinunter. Ihre Augen funkelten wild und sie jammerte herzzerreißend.

“Ich kann da nicht mit hineinkommen! Das geht nicht!”, hatte er zu ihr damals mit einem schlechten Gewissen gesagt, als könne sie ihn verstehen.

In dem Moment kam ein Auto die Straße hochgefahren und hielt neben ihm an.

“Was machst du denn hier?” Aus einem dicht bewachsenes Gesicht sahen ihn die blauen Augen seines Nachbarn aufgebracht an.

Gerrit war es natürlich unangenehm, dass er von ihm hier draußen erwischt worden war. Er wusste, dass seine Eltern fürchterlich toben würden, wenn sie davon erfuhren. Der ganze Ort war sowieso schon genug in aufruhe, weil man immer noch nicht die verschwundenen Kinder gefunden hatte.

“Ich habe mich, glaube ich, verfahren. Ich wollte zu einem Klassenkameraden!”, log Gerrit und Stefan stieg aus und packte sich das Fahrrad in den Kofferraum.

“Nah, dann ist es ja gut, dass ich hier gerade vorbeigekommen bin.”

Er lieferte Gerrit zu Hause ab, der bedröppelt in sein Zimmer geschlichen war. Er hatte damals wegen der armen Katze ein schrecklich schlechtes Gewissen gehabt.

Als Nina mit ein paar Keksen in sein Zimmer kam, erzählte er ihr von dem Tier, das ihm wohl ihre Babys zeigen wollte und wo er alles wegen ihr herumgekurvt war. Nina war entzückt. Sie liebte Katzen.

Am nächsten Tag musste Gerrit zum Training und war traurig, nicht nach dem Tier sehen zu können. Doch er tröstete sich damit, dass er am darauf folgenden Tag wieder Zeit hätte. Als er nach dem Training nach Hause kam, setzte er sich an die Hausaufgaben. Danach rief seine Mutter auch schon zum Abendessen.

Bis zu dem Zeitpunkt war seine Welt noch in Ordnung gewesen. Dass sich das in den nächsten Minuten ändern würde und das Schicksal schon längst seinen Lauf genommen hatte, ohne das irgendjemand noch etwas daran ändern konnte, erfüllt Gerrit noch jetzt mit einer Fassungslosigkeit, die ihn erkennen lässt, wie unberechenbar das Leben ist.

“Wo steckt Nina heute nur? Sie müsste doch schon längst zu Hause sein!”, meinte seine Mutter noch und sein Vater ging nach draußen und rief nach ihr. Erbost über das zu spät sein von dem Mädchen beschlossen sie schon anzufangen. Doch auch nach dem Essen kam Nina nicht. Gerrits Vater setzte sich ins Auto und suchte die Straßen nach ihr ab. Aber ohne Erfolg. Seine Mutter telefonierte sich unterdes die Finger wund. Aber keiner wusste, wo Nina steckte.

Gerrit suchte das Haus nach ihr ab und bemerkte, dass die Tüte mit der Katzenmilch nicht mehr an dem Platz lag, an dem er sie am Abend zuvor hingelegt hatte. Da kam ihm ein schrecklicher Verdacht.

Er ging zu seinen Eltern und erzählte ihnen von der Katze, die er bei Andreas gesehen hatte und die wohl irgendwo ihre Jungen versteckt hielt, die sie ihm zeigen wollte. Er deutete an, dass Nina sie vielleicht suchen gegangen war, weil er ihr von dem Tier erzählt hatte.

Nervös und gereizt zerrte sein Vater ihn damals zum Auto und fuhr mit ihm die Strecke ab. Die ganze Fahrt über hatte Gerrit sich die Beschimpfungen seines Vaters anhören müssen, die immer mehr mit bösen Worten bespickt wurde, je weiter Gerrit seinen Vater in Richtung Wald führte.

“Was, bis da hin bist du gestern alleine gefahren?”, tobte der, als sie auf die Straße einbogen, die direkt am Wald vorbeiführte. Das war das Letzte, was er sagte, bevor sie Ninas Fahrrad an einem Baum gelehnt dort stehen sahen, wo die Katze Gerrit am Vortag noch in den Wald zu locken versucht hatte.

Der wird niemals den Blick vergessen, den sein Vater ihm in diesem Augenblick zugeworfen hatte.

Vor dem dunklen Wald stehend riefen sie Ninas Namen. Gerrits Vater lief noch in den Wald hinein und kam nach einiger Zeit keuchend und mit unglaublich sorgenvoller Miene wieder heraus. Er hatte von Nina nichts gefunden.

Auch die Feuerwehr und Polizei, die sein Vater zur Verstärkung angefordert hatte, fand Nina nirgends. Auch die Katze blieb verschwunden. Es gab noch nicht einmal verwertbare Spuren, die überhaupt darauf hinwiesen, dass Nina den Wald betreten hatte. Auch die Theorie von der kinderlockenden Katze wurde bald mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan und eine neue Theorie schien sich zu erhärten. Demnach hatte ein Autofahrer sie an der Stelle mitgenommen, an der man ihr Fahrrad gefunden hatte. Warum sie allerdings so weit gefahren war, wusste keiner zu sagen. Vielleicht auf der Suche nach einer Phantomkatze, von der ihr Bruder ihr erzählt hatte?

Doch wie sehr dieses Tier mit Nachdruck versucht hatte, Gerrit in den Wald zu locken, das wusste nur er selbst. Niemals wieder wurde er das Gefühl los, dass eigentlich er es hätte sein sollen, der der Katze damals folgen sollte, und nicht seine Schwester Nina …

Der Katze auf der Spur

Über dem Ort lagen erneut Trauer und Schrecken. Wieder war ein Kind verschwunden und wieder fand man keine Spur von ihm. Gerrit hatte die letzten Basketballtrainings ausfallen lassen. Er konnte einfach nicht mehr dort hingehen, seit Thomas Mehring verschwunden war. Er fühlte sich schuldig, weil er selbst noch nicht den Mut gefunden hatte, nach der Katze zu suchen, um ihr bis zum Ende zu folgen. Er fürchtete sich davor, was er entdecken könnte und was ihm dann bevorstehen würde.

Doch seine Träume ließen ihn nachts kaum mehr zur Ruhe kommen. Er hatte niemanden, mit dem er reden konnte und es gab niemanden, der ihn verstand. Seine Eltern schienen immer weniger am Leben teilnehmen zu wollen. Tief in seinem Inneren glaubte er, dass sie ihm die Schuld an Ninas Verschwinden gaben und dass sein Schicksal sie deswegen auch nicht mehr interessierte.

Weihnachten verlief noch trostloser, als im letzten Jahr. Er bekam zwar Schlittschuhe, die er sich eigentlich immer gewünscht hatte, doch der See, der den Ort schmückt, war in diesem Winter noch nicht einmal zugefroren gewesen. Das schien ihm wie eine Bestrafung!

Sylvester war ein Tag wie jeder andere gewesen. Es gab kaum jemanden im Ort, der diesen Tag feiern, geschweige denn überhaupt um Mitternacht den nächtlichen Himmel mit lauten Raketen und bunter Lichterpracht erhellen wollte.

Ankum schien in einem trostlosen und verängstigten Dornröschenschlaf gefallen zu sein. Kein Kind durfte mehr alleine auf die Straße gehen und viele wurden nach den Ferien sogar täglich in die Schule gebracht und wieder abgeholt.

Gerrits Eltern gingen nach wie vor ihrer Arbeit nach und allmählich war er froh, dass sie erst spät abends nach Hause kamen. Denn nichts war ihm unangenehmer, als sie so traurig und weltentrückt zu sehen. Das erhöhte nur seine Schuldgefühle.

Seine Mutter saß abends wieder stundenlang auf Ninas Bett, den Blick starr ins nirgendwo gerichtet. Sein Vater verkroch sich viel im Keller und baute angeblich an einem Modelschiff, das nie fertig zu werden schien. Sie waren zu Marionetten geworden, so wie viele andere Eltern in Ankum auch.

Aber so achtete wenigstens niemand darauf, dass er an den Nachmittagen immer öfter sein Fahrrad schnappte und durch die Gegend fuhr. Die, die ihn sahen und das für Unverstand hielten, sagten jedoch nichts. Es schien fast so, als wären manche froh, dass er es war, der als Köder alleine durch die Gegend fuhr und somit die eigenen Kinder verschont blieben.

Ja, als Köder! Gerrit sah sich mittlerweile auch schon so. Er hatte Angst! Doch etwas in ihm trieb ihn voran. Er wollte die Katze finden, sich vergewissern, dass es sie immer noch gab und sie daher immer noch der Schlüssel zum Verschwinden der Kinder sein konnte. Und was, wenn er sie fand? Er wusste es nicht.

So wurde es Frühjahr. Die Sonderkommission der Polizei arbeitete weiterhin erfolglos. Immer und immer wieder wurden Befragungen durchgeführt, die nichts erbrachten. Auch Thomas Mehring blieb verschwunden.

Im April, als die ersten warmen Sonnenstrahlen das Land zum Leuchten brachten, fuhr Gerrit auf seinem Fahrrad zu seiner Tante Angelika. Sie wohnte in der Lerchenstraße, gleich neben dem Imbiss. Seine Mutter hatte ihm ein paar Tischdecken mitgegeben, die er seiner Tante bringen sollte.

Als er an ihrer Tür klingelte, riss sie diese in großer Erwartung auf und nahm ihm freudig strahlend die Decken ab.

“Gerrit! Das ist aber nett, dass du die vorbeibringst! Ich hatte das ein klein wenig gehofft!”

Breit grinsend zog sie ihn ins Haus, wobei ihr langes, wallendes Gewand um sie herum zu schweben schien. Tante Angelika trug, seit sie in Japan Urlaub gemacht hatte, nur noch seltsame Gewänder in grell bunten Farben. Sie wirkte darin immer wie ein Papagei. Dazu steckte sie ihr Haar zu einem Knoten auf, der kein Härchen entwischen ließ und aus dem immer irgendwelche seltsamen Stäbe in bunten Farben stacken. Ihre schwarz gefärbten Haare glänzten stets ölig und ein seltsamer Geruch von Orangen und Vanille umgab sie.

“Ach Gerrit, könntest du mit mir zu den Fischteichen fahren, bei denen deine Mama immer die geräucherten Forellen kauft? Ich bekomme heute Abend noch Besuch und wollte sie mit dieser Köstlichkeit überraschen. Aber leider weiß ich nicht so recht, wo das ist! Du weißt das doch bestimmt?”

“Nah klar!”, antwortete er seiner Tante und freute sich, dass wirklich mal jemand seine Hilfe brauchte. Es tat gut, wenigstens einmal wieder als wichtig angesehen zu werden.

So ließ Tante Angelika auch alles stehen und liegen, und sie gingen hinaus zu dem alten, klapprigen Golf, der sie schon seit mehr als fünfzehn Jahre durch ihr Leben begleitet. Tante Angelika war der Meinung, dass sie niemals ein anderes Auto fahren kann.

“Wenn ihn mir der TÜV eines Tages stilllegt, dann werde ich auf die Busse umsteigen müssen”, sagte sie einmal.

So fuhren sie bald auf einer langen, geraden Straße aus dem Ort heraus. Gerrit kannte die Strecke mittlerweile wie im Schlaf. Hier führt der Fahrradweg entlang, den er in den letzten Monaten so oft auf der Suche nach der Katze abgefahren war.

“Dort, bei der nächsten Einfahrt gegenüber dem Gasthaus müssen wir rechts abbiegenden“, erklärte er, und seine Tante fuhr auf den Schotterweg.

“Das nennst du Straße?”, fragte sie und sah ihn misstrauisch an. “Meinst du wirklich, dass wir hier richtig sind?”

Doch Gerrit brauchte nicht zu antworten. Hinter der nächsten Biegung sah man schon das glitzernde Wasser der ersten Tischteiche.

“Ach Gerrit, du bist einfach toll! Das hätte ich ja nie gefunden!”, schmunzelte sie und schmatze einen Luftkuss in Gerrits Richtung. Der errötete und kam sich recht seltsam vor. Schon lange hatte ihn keiner mehr gelobt. Er hatte fast schon vergessen, wie sich das anfühlt.

So fuhren sie auf den Parkplatz und stiegen aus. Die Sonne schimmerte in dem grünen Wasser der Teiche und an einem sah man einen Mann mit einem Kescher und Stiefeln, die ihm bis zu den Oberschenkeln reichten, fischen.

Unschlüssig sah Tante Angelika sich um, bis sie schnurstracks und mit wehendem Gewand auf ein kleines Häuschen zuschritt.

“Ich bleibe beim Wagen”, rief Gerrit ihr nach, denn er wollte zusehen, was der Mann mit dem Kescher fing. Doch er konnte aus dieser Entfernung nicht ausmachen, was der so eifrig aus dem Wasser zog.

Bald darauf kam die Tante freudig strahlend wieder. Sie hatte eine Tüte unter dem Arm und wuselte Gerrit durch das Haar.

“Nah, können wir wieder?”

So stiegen sie in den klapprigen Golf und fuhren über den Schotterweg zur Hauptstraße zurück. Mit auf dem weichen Untergrund durchdrehenden Reifen bogen sie auf die Hauptstraße ein, was Gerrit grinsend quittierte. Genau ihnen gegenüber lag auf der Anhöhe das alte Gasthaus und oben auf der Mauer, neben einem alten verrosteten Kinderkarussell saß ... die Katze.

Gerrit blickte erschrocken auf die kleine Gestalt, die scheinbar genauso zurückgaffte. Es riss ihn fast von seinem Sitz, als er durch das Heckfenster versuchte, das Tier nicht aus den Augen zu verlieren. Aber seine Tante fuhr mit durchgetretenem Gaspedal in einem irren Tempo nach Ankum zurück. Dabei pfiff sie gut gelaunt vor sich hin.

Die Katze verschwand schnell aus Gerrits Sichtfeld und sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Ein merkwürdiger Gedanke machte sich in ihm breit, der ihn plötzlich erschrocken zusammenfahren ließ: “Ein neues Kind ist dran!”

Nein, diesmal würde er das nicht zulassen!

“Tante Angelika, hast du die Katze bei der Kneipe gesehen?”, sprudelte es aus ihm hervor.

Mit gerunzelter Stirn sah seine Tante ihn argwöhnisch an.

“Nein, welche Katze?” Ihre Augen verengten sich und Gerrit musste beunruhigt feststellen, dass sie ihn seltsam musterte. So sagte er lieber nichts mehr, denn ihm fiel im selben Augenblick ein, dass sie es gewesen war, die seinen Eltern damals den Psychologen empfohlen hatte. Bei ihm musste er zehn Sitzungen absitzen, in denen er alles über sich und sein Verhältnis zu seiner um ein Jahr jüngeren Schwester Nina erzählen sollte. Außerdem versuchte er herauszufinden, ob in Gerrits tiefstem Inneren ein übermäßiger Wunsch nach einem Haustier vorhanden war, der die Geschichte mit der Katze heraufbeschworen hatte.

Gerrit kam sich damals vor wie auf der Anklagebank. Doch alle anderen schienen von diesem Arzt begeistert zu sein und meinten auch, dass sich danach Gerrits “Zustand” schon sehr gebessert hätte.

So ein Quatsch! Dabei hatte er doch nur allen begreiflich machen wollen, dass die Katze etwas mit dem Verschwinden seiner Schwester zu tun haben könnte und dass sie ihn damals regelrecht zum Wald gelockt hatte.

Dieser oberschlaue Doktor meinte dazu nur, dass er sich diese Hirngespinste ausdachte, um Ninas Verschwinden besser verkraften zu können und im Verborgenen der Wunsch nach einem Tier dazu beitrug.

“Schließlich lockten Katzen keine Kinder in einen Hinterhalt und ließen sie dann auch noch so unauffindbar verschwinden!”, war sein abschließender Kommentar und Gerrit musste ihm widerwillig recht geben, sonst hätte er noch ein paar Sitzungen mehr aufgebrummt bekommen.

Nun schien Tante Angelikas Blick zu sagen: “Ist es wieder so weit? Müssen wir Dr. Meer wieder aufsuchen? Armer Junge!”

Bei ihr zu Hause angekommen, schleppte sie ihn ohne Wenn und Aber mit ins Haus hinein und braute ihm einen heißen Kakao.

Gerrit wollte schnell verschwinden, sich auf sein Fahrrad schwingen und die Katze suchen. Aber irgendwie hatte Tante Angelika wohl das Gefühl, ihm noch einiges Gutes tun zu müssen.

Der Kakao war unglaublich heiß und die nun vor ihm abgestellten Plätzchen riesengroß.

“So mein Junge. Nun trink erst mal in Ruhe deinen Kakao und iss die Plätzchen. Du wirst mir viel zu dünn!” Sie lächelte ihm zu und trank selber einen schrecklich riechenden Tee aus undefinierbaren Wurzeln und Blättern.

Gerrit verbrühte sich zweimal den Mund und gab es somit auf, das Zeug so heiß hinunterzuwürgen. Auch schob er sich zwei Plätzchen in den Mund, damit seine Tante ihn dann auch wirklich gehen ließ. Das geschah dann auch nach zwanzig endlos langen Minuten.

“Du fährst sofort nach Hause, ja?”, rief sie ihm noch hinterher und Gerrit winkte ihr zu und antwortete: “Nah, klar!”

Wie ein Wahnsinniger kurvte er über die Straßen aus dem Ort heraus. Auf dem Fahrradweg durch Tütingen gab er alles, was er an Kraft aufbringen konnte und sah bald schon das alte Gasthaus vor sich auftauchen.

Der Schweiß lief ihm über den Rücken bis in seinen Hosenbund, als er seine Geschwindigkeit noch einmal erhöhte. Er hoffte inständig, die Katze möge noch an ihrem Platz sitzen.

Und dann sah er sie. Erst als kleiner Punkt und dann immer größer werdend. Sie saß noch immer an dem Karussell, an dem er sie vom Auto aus gesehen hatte. Doch sie sah nicht zu ihm, sondern zu einem kleinen Mädchen, dessen Eltern wohl in der Gaststätte zum Essen eingekehrt waren.

Die Katze erhob sich gemächlich und stolzierte zu dem Mädchen, die sie gleich auf den Arm nahm und streichelte.

Gerrit war wie von Sinnen! Ohne nachzusehen, ob ein Auto kam, raste er über die Straße, fuhr den steilen Weg hoch, der zu dem Gasthaus führte und sprang noch während der Fahrt vom Fahrrad, das scheppernd in einen Busch landete.

Er rannte über die gepflasterte Terrasse und sah das Mädchen, das gerade die Katze herunterlassen wollte, an der Tür stehen.

“Das ist meine Katze!”, schrie er und kam keuchend vor dem Mädchen zum Stehen.

Die sah ihn nur ängstlich an. “Ist ja schon gut. Ich wollte sie doch nur mal streicheln!”

“Die kann man nicht streicheln!”, schrie er aufgebracht und erkannte sofort, was für einen Unsinn er da redete.

Die Katze sah Gerrit mit ihren grünen Augen seltsam an, so als wunderte sie sich darüber, dass ausgerechnet er zu ihr kam. Schnell nahm Gerrit dem Mädchen die Katze ab und ließ sie, als wäre sie aus heißem Eisen, zu Boden gleiten. Irgendwie hatte er Angst vor dem Tier und mochte sie nicht einmal auf dem Arm behalten. Das Mädchen hob die Nase und stolzierte beleidigt durch die Tür in das Gasthaus.

“Du hast Glück gehabt!”, dachte Gerrit und sah ihr nach. Dann wandte er sich der Katze zu, die ihn immer noch anzustarren schien.

“Na los, du Vieh! Zeig mir, was du mir damals schon zeigen wolltest!”, flüsterte er nur hörbar für die Katze, die sich sogleich erhob und in Bewegung setzte, als hätte sie ihn verstanden.

Gerrit lief zu seinem Fahrrad und folgte ihr. Tatsächlich hatte er das Gefühl, als wüsste sie genau, dass er ihr folgen würde. Sie drehte sich kein einziges Mal nach ihm um.

Wieder überquerte er die Straße, fuhr ein Stück den Fahrradweg entlang und bogen dann links in den schmalen geteerten Weg ein. Wieder kam Gerrit an dem Schild “Grovern” vorbei und Angst beschlich ihn, ob er wohl das Richtige tat.

Die Katze lief in einem schnellen Gang die Straße entlang, vorbei an Häusern, bei denen Gerrit einem Moment glaubte, es wäre besser, wenn er jemanden eben Bescheid sagen würde. Doch er hatte Angst, das Tier würde ihm dann davonlaufen. Das wollte er auf gar keinen Fall riskieren.

Er wünschte sich, er würde jemanden in einem der Gärten sehen, den er auf sich und die Katze aufmerksam machen konnte. Doch da war niemand und außerdem hatte er der Polizei auch damals erzählt, dass seine Schwester wohl der Katze auf diesem Weg gefolgt war. Die hatten aber nichts herausgefunden, außer dass der arme Gerrit offenbar eine Schraube locker hat und vom Wunschdenken, ein Tier haben zu wollen, gelenkt wurde.

Gerrit sah schon bald die Querstraße und den dunklen Wald, der sich vor der nun schnell untergehenden Sonne dieses Apriltages abhob. Mit Erschrecken fiel ihm ein, dass es schon spät war und es bald dunkel sein würde. Er bremste sein Fahrrad unschlüssig ab. Sollte er der Katze wirklich weiter folgen?

Die schien sich nicht nach ihm umzusehen und rannte die Querstraße hinab, sodass er sie bald nicht mehr sehen konnte. Er gab sich einen Ruck und trieb sein Fahrrad erneut an. Schnell folgte er dem Tier und holte bald wieder auf. Nun fuhr er direkt am Wald vorbei, das graue Fell nicht aus den Augen lassend. Jeden Moment würde sie an die Stelle kommen, an der sie ihn damals vergeblich in den Wald locken wollte, und an der er und sein Vater Ninas Fahrrad gefunden hatten. Tatsächlich blieb die Katze stehen und sah ihn seltsam an. Gerrit fuhr dicht an sie heran und stieg vom Fahrrad.

“Hier haben wir damals Ninas Fahrrad gefunden. Wo hast du sie hingebracht?”, flüsterte er der Katze zu und starrte wütend und ängstlich in die grünen Augen des Tieres. Sein Blick fiel auf einen der Baumstämme und er sah in Gedanken das rote Fahrrad daran lehnen.

Die Katze drehte sich um und hob ihren buschigen Schwanz in die Höhe. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte sie weiter ... in den Wald hinein.

Gerrit sah ihr blass hinterher. Er hatte schreckliche Angst, ihr in den Wald zu folgen, wusste aber, dass er sie bald aus den Augen verlor, wenn er sich nicht beeilte.

Im Wald wurde es zunehmend dunkler und er konnte die Katze bald nur noch als Schatten ausmachen. So nahm er allen Mut zusammen und folgte ihr. Doch nun achtete er darauf, dass er genügend Abstand zu ihr hielt. Auch wanderte sein Blick ständig umher, denn er befürchtete, dass dort irgendwo jemand auf ihn lauerte.

Die Katze führte ihn immer tiefer in den Wald hinein und Gerrit versuchte sich den Weg zu merken, den er ging. Bis jetzt waren sie nur auf Wegen geblieben, was ihn einigermaßen beruhigte. Doch er wusste nicht, wie lange er jetzt schon hinter dem Tier herschlich. Er musste auch langsam dichter zu ihr aufschließen, um sie in dem immer dunkler werdenden Wald überhaupt noch sehen zu können.

Plötzlich blieb die Katze stehen, mauzte einmal und sprang dann von dem Weg in das dichte Buschwerk des Waldes hinein. Gerrit machte einige große Sätze zu der Stelle hin, wo die Katze verschwunden war und starrte in das Unterholz. Er blickte durch den Wirrwarr von Baumstämmen, die von dichten Zweigen einer Tanne etwas verdeckt wurden und überlegte, was er tun könnte. Doch dann sah er in einiger Entfernung die grünen Augen der Katze funkeln und beschloss, ihr weiter zu folgen. Er kroch erst unter den fast bis zum Boden reichenden Ästen der Tannen hindurch und kam dann wieder auf die Füße. Die Fichten dahinter ragten auf dürren, zweiglosen Stämmen zum Himmel empor. Farn und umgestürzte Bäume verbargen immer wieder den Weg und die in einigen Metern höhe dichten Äste der Bäume verschluckten fast vollkommen das letzte Tageslicht.

Gerrit folgte dem Schatten, der ab und zu vor ihm zu erkennen war. Einen Augenblick sah er noch die grünen Augen, die ihn anstarrten, dann war der Schatten verschwunden.

Gerrit blieb wie angewurzelt stehen. Wo war die Katze nur hin? Seine sowieso schon schrecklich angespannten Nerven fingen an zu vibrieren. Sein Magen begann sich zu drehen und zu wenden und wollte Tante Angelikas Kakao und Plätzchen nicht länger bei sich behalten. Seine Augen konnten keine Gefahr ausmachen, aber alles in ihm schrie nach Flucht!

Er musste sich zusammenreißen. Hier gab es nichts, was ihm gefährlich werden konnte. Er war hier alleine mit dieser Katze und was konnte eine Katze ihm schon tun?

Langsam schlich er weiter. Seine Nerven waren wie Drahtseile gespannt und seine Augen weit aufgerissen, als könne er so besser und schneller alles sehen. Denn, obwohl er sich einzureden versuchte, dass die Katze ihm nichts antun konnte, irrte immer wieder der Gedanke durch seinen Kopf, dass den anderen Kindern doch auch etwas geschehen war.

Er horchte angestrengt in die Stille des Waldes hinein, immer auf dem Sprung, jederzeit die Flucht zu ergreifen. Immer tiefer senkte sich die Dunkelheit über den Wald und nahm ihm die Sicht. Doch er schlich vorsichtig weiter und stand plötzlich vor einem dunklen baumlosen Platz. Es brauchte einige Zeit bis er erkannte, dass es eine große, tiefe Mulde war, die sich vor ihm auftat. Als er näherkam, glitzerte in etwa drei Meter Tiefe etwas auf und Gerrit wusste, dass es sich um ein funkelndes, grünes Augenpaar handelte.

Die Katze!

Der Junge sah sich verunsichert um. Spinnenweben legten sich auf sein Haar und Schweißtropfen rannen ihm in die Augen. Er wischte sie schnell ab und starrte wieder zu der Katze hinunter, die nun anfing zu mauzen, als wolle sie ihn rufen. In dem Moment krachte es über ihm in den Bäumen und mit lautem krächzendem Schrei erhob sich ein Eichelhäher in die Luft, um allen Waldbewohnern mitzuteilen, dass er einen Eindringling ausfindig gemacht hatte.

Gerrit erschrak dermaßen, dass er sich umdrehte und kopflos davonrannte.

Er hörte das jämmerliche Schreien der Katze, blieb aber keine Sekunde stehen. Er rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her und meinte, dass ihm hundert Füße folgen würden. Doch das war nur das Echo seiner eigenen panischen Schritte.

Die Tannen mit den tief liegenden Zweigen ragten vor ihm auf und er stürzte sich im Tiefflug darunter her. Krachend landete er auf dem schlammigen Weg. Seine Hand schmerzte ihn, aber er sprang sofort auf und rannte weiter, mit der anderen Hand die Spinnweben aus seinem blonden Haaren wischend. Immer wieder sah er sich gehetzt um, doch es schien ihm keiner zu folgen, außer den schrecklichen Schreien der Katze, die jammerte, als würde sie über eine verloren gegangene Beute trauern.

In dieser Nacht konnte Gerrit lange nicht einschlafen. Er lag in seinem Bett und starrte gedankenverloren an die Decke. Er würde heute Nacht die Lampe brennen lassen müssen, denn er hatte Angst vor der Dunkelheit. Schloss er die Augen, dann sah er die Katze vor sich, die ihn mit ihren giftgrünen Augen aus dem dunklen Loch im Wald anstarrte. Dann fingen seine Hände wieder an zu zittern und ihm brach der Schweiß aus, als hätte er die Grippe.

Was sollte er jetzt nur machen? Nie wieder wollte er der Katze folgen! Nie wieder!

So lag er da und grübelte vor sich hin. Wenn er nun der Polizei zeigen würde, wohin die Katze ihn gebracht hatte? Würden sie ihm glauben? Würden sie dort etwas finden?

Gerrit wusste es nicht. Doch eines war ihm klar. Erzählte er jemanden von dem, was er noch vor ein paar Stunden erlebt hatte, dann würde er keinen Schritt mehr aus dem Haus machen dürfen. Und was dann?

Dann würde die Katze sich ein neues Opfer suchen. Eines, das ihr unwissend folgen würde und in die Falle tappte!

Was war das nur für eine seltsame Mulde gewesen, in die diese Katze ihn locken wollte? Warum hatte niemand etwas von so einem Krater im Wald erwähnt? Die Suchkräfte mussten diese Gegend doch auch nach den Kindern abgesucht haben? Nein, wenn dort eines der Kinder läge, dann hätte man es auch gefunden!

Er warf sich auf die Seite und starrte an die Wand. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was, wenn die Katze eigentlich doch nichts mit dem Verschwinden der Kinder zu tun hatte? Vielleicht war sie wirklich nur ganz harmlos und hatte dort unten im Loch ihre Jungen versteckt? Wenn sie vielleicht doch nur seine Hilfe gebraucht hätte, weil eines der Jungen aus dem Loch nicht mehr herauskam?

Er warf sich energisch auf die andere Seite und zog die Decke frierend hoch. Alles in ihm sagte ihm, dass er sich nicht irren konnte. In seinen Träumen sah er immer wieder Nina mit dieser Katze auf dem Arm. Das konnte doch nicht nur ein unbedeutender Albtraum sein? Es musste mehr sein! Wie sollte er sonst je herausfinden, was mit ihr passiert war? Und das musste er wissen. Er musste der Sache mit dieser Mulde im Wald schleunigst auf den Grund gehen. Aber mit Bedacht und Schläue!

So beschloss er gleich am nächsten Tag in den Wald zu gehen und sich diesen dunklen Krater genauer anzuschauen. Er würde einen anderen Weg nehmen, damit ihm die Katze nicht begegnete. Denn auf die wollte er dort besser nicht treffen! Vorsichtshalber!

So brachte Gerrit am nächsten Tag seine Schultasche nach Hause, aß seine Linsensuppe aus der Mikrowelle schnell auf und schwang sich kurz darauf auf sein Fahrrad. Er hatte den ganzen Vormittag in der Schule kaum an etwas anderes denken können und wollte so gerne jemanden von seiner Fahrt in den Wald erzählen. Auch zur Absicherung, damit jemand wusste wo gesucht werden sollte, wenn er doch verschwände. Aber er hatte Angst, dass ihn jemand verraten könnte. Außerdem hatte er keinen so guten Freund, dem er vertraute. Er wünschte sich mehr denn je einen an seiner Seite zu wissen, der vielleicht sogar mit ihm diese angsteinflößende Tour unternehmen würde. Doch er galt, seit dem Verschwinden seiner Schwester, als verrückter Einzelgänger, dem keiner Beachtung schenkte.

So fuhr er alleine durch den Nieselregen über Feldwege und enge Straßen, von denen er hoffte, sie würden ihn von der anderen Seite her zu dem Wald führen. Da er seinen Nachbarn damals dort angetroffen hatte, musste diese hügelige Straße irgendwo herkommen. Gerrit musste daran denken, wie der ihn in sein Auto gepackt und nach Hause befördert hatte und ihm somit das Leben rettete und seine Schwester in die Falle tappen ließ.

Gerrit fuhr an einer viel befahrenen Straße Richtung Alfhausen, bis er bald auf eine Querstraße traf, die ihn wieder nach Westen führte.

Er mühte sich einen schrecklich hohen Hügel hoch und fuhr dann augenblicklich in ein Waldstück hinein, von dem er inständig hoffte, es handelte sich nicht schon um seinen Wald, denn er bekam langsam immer mehr Angst. Alles in ihm drängte zur Umkehr und wollte sich nur schwer davon abbringen lassen, diesen Fluchtgedanken sofort umzusetzen.

Er kam an einem Hof mit sauber gemähten Grünstreifen am Weg vorbei und musste mit Entsetzen feststellen, dass nach den kleinen, im sauberen Grün stehenden Ostbäumen, die asphaltierte Straße in einen Schlackeweg mündete. Gerrit blieb stehen. Er musste hier falsch sein. Das konnte doch nicht der richtige Weg sein?

Doch dann gab er sich einen Ruck. Wenn das hier nicht der richtige Weg war, dann konnte ihm auch nichts passieren. Also konnte er beruhigt noch ein Stück weiterfahren, bevor er umkehrte und es morgen noch einmal versuchte.

So fuhr er fast schon erleichtert den Schlackeweg weiter, kam bald aus dem Waldstück heraus und sah auf wunderschöne gelbe Rapsfelder. Es roch süßlich und lautes Summen von Insekten lag in der Luft. Die Erde schien nach dem Regen zu dampfen und die Sonne trat schwach hinter ein paar sich lichtenden Wolken hervor. Gerrit fuhr über den mit Pfützen übersäten Weg weiter und genoss einen Moment das schöne Leuchten der Felder und die wärmenden Sonnenstrahlen.

Als sein Blick nach vorne fiel, trat er erschrocken in die Bremse und stieg vom Fahrrad, das mitten in einer Pfütze zum Stehen gekommen war. Doch das bemerkte Gerrit nicht. Hinter den Feldern erschien riesengroß und mächtig der Wald. Von hier aus konnte Gerrit die Querstraße erahnen und wusste, dass sie direkt am Wald entlangführte. Mit klopfenden Herzen war er sich plötzlich sicher, dass er seine Straße gefunden hatte.

Nun bemerkte er die Nässe, die sich durch das Leder seiner Schuhe fraß und machte schnell einen Schritt vorwärts ins Trockene.

“Verdammt!”, fluchte er leise und wusste selbst nicht, ob er das sagte, weil seine Füße nass waren oder weil er den Weg doch noch gefunden hatte. Er hatte sich schon so sehr damit abgefunden, die Tour am nächsten Tag noch einmal zu fahren, dass er jetzt fast geschockt war, dass er nun doch sein Vorhaben beenden musste. Fast wie ein böses Ohmen schoben sich wieder Wolken vor die Sonne und ließen die Welt in Sekundenschnelle trist und grau wirken.

Gerrit schwang sich mit gemischten Gefühlen auf sein Fahrrad und fuhr langsam weiter. An der Querstraße blieb er erneut stehen und sah mit Erschrecken fast direkt vor sich die Stelle, an der sein Nachbar ihn damals ins Auto gepackt und wo er mit seinem Vater Ninas Fahrrad gefunden hatte. Unschlüssig blieb er stehen. Er suchte förmlich nach einem Grund, sein Vorhaben doch noch abbrechen zu können. Aber ihm fiel in diesem Moment beim besten Willen keiner ein.

So versteckte er sein Fahrrad hinter einem Busch und lief schnell, sich immer wieder sich nach der Katze umsehend, durch das Unterholz in den Wald. Er versuchte so leise wie möglich zu sein und den Waldweg nicht aus den Augen zu verlieren. Bald schon kam er an eine Abzweigung und stand einige Augenblicke unschlüssig da. Doch dann beschloss er, dass er besser auf dem Weg gehen könnte, als so laut durch das Unterholz zu poltern. Katzen haben sehr gute Ohren! Sie würde ihn bestimmt sonst hören!

So schlich er weiter, jederzeit bereit sich ins Unterholz zu werfen, wenn ihm irgendetwas Verdächtiges begegnete.

Den Weg wieder zu finden bereitete ihm zusätzliche Mühe. Aber schon bald fand er die aufgewühlte Erde, in der er am vorherigen Tag, bei seinem Hechtsprung unter der Tanne hindurch, gelandet war.

Gerrit duckte sich mit wild klopfenden Herzen und spähte unter den niedrigen Ästen hindurch. Er konnte nichts ausmachen, was ihm Angst machen könnte und was er dann natürlich sofort zum Anlass nehmen würde einfach aus dem Wald zu laufen. So nahm er allen Mut zusammen und kletterte durch die Tannenfront. Nun musste er wieder durch das dichte Unterholz gehen und dort verursachten seine Füße einen Krach, der ihm selbst so laut wie von einer wildgewordenen Elefantenherde vorkam. Unschlüssig seinen Weg suchend, stand er plötzlich wie durch Zauberhand an der schräg vor ihm abfallenden Kuhle. Gerrit hatte gerade noch seine Schritte bremsen können, abgelenkt von dem plötzlichen Gezeter des auffliegenden Eichelhähers über ihm. Diesmal brachte der Gerrit nicht dazu, einfach wegzulaufen.

Der sah mit großen Augen in das gähnende Loch, das nun bei Tageslicht gar nicht so erschreckend erschien. Die Kuhle war vielleicht drei Meter tief und die Seiten so sacht abfallend, dass sie ihm nun ausgesprochen ungefährlich vorkamen. Fast wollte er sich schon einen Dummkopf schelten, weil er diesem Loch noch am Vorabend so viel Bedeutung beigemessen hatte, dass er nicht schlafen konnte, als ihm von der anderen Seite der Kuhle etwas entgegenblinkte. Es schien ein altes vermodertes Schild auf einem Eisenpfahl zu sein. Gerrit ging vorsichtig um die Senke herum zur anderen Seite, wobei er einen umgefallenen Baumstumpf überklettern musste, und stand kurz darauf tatsächlich vor einem verrosteten Schild. Voller Erstaunen versuchte er die Worte auf dem rostigen Blech zu entziffern:

Der Alkenkrug

Als in uralten Zeiten das Dorf Alfhausen nicht mehr als zwölf Häuser zählte, machten sich an Sonn- und Feiertagen die Alfhausener auf den Weg über die Westerholter Heide nach Merzen in die Kirche.

Hier an dieser Stelle soll zu der Zeit eine Hütte gestanden haben, die “Der Krug” genannt wurde. Die Kirchengänger kehrten auf ihrem langen Weg hier ein, um sich an einem Krug Bier zu laben.

Der Wirt, der Alke genannt wurde, war kein gottesfürchtiger Mann. Er war nur auf seinen Gewinn aus und hielt die Leute davon ab, pünktlich sein Haus zu verlassen und die Kirche zu besuchen.

Da nun der Wirt schon häufig verwarnt worden war und doch keine Besserung herbeiführte, strafte ihn zuletzt Gottes Hand.

Seine Hütte versank eines Tages samt Scheune in der Erde und hinterließ diese Kuhle, die seit dem “Alkenkuhle” genannt wird.

Gerrits Augen taten ihm von dem angestrengten Lesen weh und er wuselte sich erschrocken durch sein kurzes Haar.

“Mensch, das ist ja ein Ding!”, murmelte er und sah sich schnell um, ob er auch wirklich noch alleine war. Doch nichts und niemand außer ihm schien hier zu sein.

Ein versunkenes Haus ... die Katze - das alles schien ihm recht unheimlich!

Doch dann überlegte er, wie alt diese Geschichte von dem Alkenkrug wohl sein mochte und warum es erst seit drei Jahren verschwundene Kinder gab. Da konnte es unmöglich einen Zusammenhang geben, oder?

Gerrit war verwirrt. Gerne wäre er einmal in die Kuhle hinuntergestiegen. Doch er hatte Angst, nicht wieder hinaus zu können. Schließlich verdeckte dichtes Laub den Boden und er wusste nicht, was sich darunter befand. Aber er beschloss am nächsten Tag wieder herzukommen und ein Seil mitzubringen. Damit würde er sich an einem der Bäume sichern und somit konnte ihm auch nichts passieren.

So ging er wieder den Weg zurück, den er gekommen war und freute sich, auch diesmal der Katze nicht zu begegnen. Er fuhr wieder über den Schlackeweg nach Hause und hoffte, dass die Katze sich nicht unterdes ein neues Opfer gesucht hatte. Oder war sie unschuldig und suchte wirklich nur jemanden, der ihr half kleine Katzenkinder aufzuziehen? Er hatte nichts in der Kuhle gesehen, was darauf hinwies. Er konnte dennoch nicht ausschließen, dass es eine verborgene Höhle in dem Laub gab.

Am nächsten Morgen wurde den Kindern aus Gerrits Klasse mitgeteilt, dass ihre Klassenlehrerin auf der Fahrt zur Schule einen Unfall hatte. Nicht weiter schlimm, aber sie musste für zwei Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben.

Durch die Klasse ging ein beglücktes Raunen, denn sie sollten am nächsten Tag einen Aufsatz schreiben. Doch weniger erfreulich war, dass sie Frau “ Elcharsch” als Vertretung bekamen. Die Kinder nannten sie so, weil sie ein mächtiges Gesäß besaß und sich Elcharsch auf ihren wirklichen Namen Melchbarsch reimte.

Planlos und konfus versuchte diese Lehrerin nun, den ihr vor wenigen Minuten aufgebürdeten Unterricht zu gestalten. So war sie dann auch nicht gerade unglücklich, als Gerrit sich meldete und sie nach einer Sage befragte, die “Der Alkenkrug” hieß.

Gerrit wusste gar nicht so recht, was ihn in dem Moment ritt, als er die Lehrerin danach fragte. Wahrscheinlich war es das drängende Gefühl, einfach mit irgendjemandem über diese Sache zu sprechen. So lief er wenigstens nicht Gefahr zu viel von seinen Vorhaben zu verraten.

“Oh, das ist eine ganz besondere Sage!”, lispelte Frau Melchbarsch und setzte sich auf den ergeben quietschenden Lehrerstuhl.

“Weiß denn jemand schon etwas darüber?”, richtete sie ihre Frage an die Klasse.

Zu Gerrits Erstaunen zeigten einige Finger nach oben.

So wusste Kai von seinem Opa über den Wirt zu berichten, der die Leute zum Biersaufen, statt zum Kirchengang, nötigte und darum mit Haus und Hof im Erdboden versunken sein soll.

Das war nichts Neues für Gerrit, bis auf die Tatsache, dass Kai die Geschichte noch etwas auszuschmücken wusste. Doch dass sich nach dessen Bericht immer noch ein Arm hektisch in der Luft bewegte, machte Gerrit stutzig.

Frau “Elcharsch” nahm Saskia dran, die mit hochroten Wangen die Geschichte eines Bauern vortrug, der des Nachts den Alke herausgefordert hatte.

“Denn wenn man um Mitternacht dreimal: „Alke kum heruss“ ruft, kommt er in Gestalt eines Feuerreifens aus dem Loch und verbrennt dich!” Saskias Augen leuchteten ehrfürchtig, doch alle anderen aus der Klasse hielten das für Schabernack.

Gerrit saß nur da und starrte Saskia an. „Ein Feuerreifen, der aus dem Loch kommt?“, dachte er und ihm lief ein Schauer den Rücken hinunter.

“Ihr braucht gar nicht zu lachen”, schnauzte Saskia ihre Klassenkameraden in dem Moment auch schon an. “Mein Vater hat mir gezeigt, wo der Feuerreifen einschlug, als dieser Bauer in Westerholte ihn herausforderte”, rief sie trotzig aus.

Stille brach über die Klasse herein und Saskia freute sich, nun die ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben.

“Also dieser Bauer hatte ein sehr schnelles Pferd, mit dem er vor dem Feuerreifen floh. Doch was ihn eigentlich rettet, war ...” Saskia sah sich um, ob auch wirklich alle vor Spannung erstarrten: “... sein Dielentor! Mit letzter Kraft sprang das Tier über die untere Hälfte des Dielentores in die Diele des alten Bauernhofes und das Rad prallte davor ab. Ich selbst habe die Spur des Reifens gesehen!”, brachte sie mit stolzgeschwellter Brust ihre Geschichte zu Ende.

Einen Moment herrschte angespanntes Schweigen in der Klasse. Dann klatschte Elcharsch zweimal in die Hände und rief: “Nah, das war ja eine aufregende Geschichte, der wir aber mal nicht zuviel Gewicht beimessen sollten. Denn ihr solltet niemals vergessen, dass das alles nur eine Sage ist. So, dann holt mal euer Lesebuch heraus und wir schauen mal, ob sich darin nicht auch etwas Aufregendes finden lässt!”