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Carolin wacht im Krankenhaus auf und findet Marcel an ihrer Seite. Er gesteht ihr seine Liebe und Carolin erhört ihn endlich. Aber dennoch kann sie sich gegen das Gefühlschaos, das Tim immer wieder in ihr auslöst, kaum wehren. Und der kämpft mit allen Mitteln. Aber gegen Marcels Liebe scheint er machtlos zu sein, bis eine Exfreundin von Marcel sich zwischen Carolin und ihn drängt und ihre tiefe Liebe zu ihm erschüttert. Tim sieht darin seine Chance und lässt sie nicht ungenutzt.
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Seitenzahl: 824
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Sabine von der Wellen
Das Vermächtnis aus der Vergangenheit
Teil 2: Der Fluch
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Eine verhängnisvolle Macht
Die Entscheidung
Neues aus der Vergangenheit
Die Scheunenfete
Keine Macht dem Liebeslied
Nichts ist wie es scheint
Platinblondes Gift
Die Macht des Fluches
Die gnadenlose Wahrheit
Impressum neobooks
Ich steige langsam aus der Dunkelheit empor. Es ist wie ein körperloses Erklimmen aus einem Abgrund und ich spüre erst allmählich die Schwere meines Körpers und mein Bewusstsein erwacht vollständig. Das zieht mich das letzte Stück in eine vertraute Welt.
Es ist immerhin beruhigend, dass ich aus einem Schlaf erwache, als wäre ich noch am Leben.
Und es ist warm und ich fühle etwas auf meinem Bauch und meiner Hand. Also habe ich immer noch so etwas wie einen Körper.
Und es gibt monotone, etwas aufdringliche Geräusche und gleißendes Licht, das sich sogar durch meine geschlossenen Augenlider drängt.
Langsam öffne ich die Augen.
Ich liege in einem Bett und sehe helles Sonnenlicht durch ein großes Fenster fluten. Das Kopfende meines Bettes ist etwas erhöht und ich erblicke einige Apparaturen, wie in einem Krankenhaus, weiße Wände und einen weißen Schrank. Alles wirkt sporadisch und steril. Dann fällt mein Blick auf die weiße Bettdecke und ich mache den Ursprung dessen aus, was ich schwer auf meinem Bauch fühle. Ich sehe auf den blonden, wirren Haarschopf.
Marcel?
Er hockt neben meinem Bett auf einem Stuhl und sein Kopf liegt auf seinen verschränkten Armen auf meinem Bauch. Unter dem Berg aus Armen, Kopf und Haaren ist meine Hand vergraben.
Ich schließe die Augen und bin mir sicher, ich träume. Aber zumindest bin ich nicht tot.
Meine Augen erneut öffnend, bietet sich mir dasselbe Bild. Marcel schlafend an meinem Bett.
Er ist blass, hat Augenränder und sieht erschöpft aus.
Ich überlege, ob ich mich noch weiter aufsetzen kann als die Position, die ich sowieso schon innehabe. Doch dazu müsste ich mich bewegen und davor fürchte ich mich. Ich möchte den jungen Mann an meinem Bett nicht wecken. Was soll ich zu ihm sagen? Wie ihm begegnen?
Was macht Marcel überhaupt hier? Und warum ist es Marcel, der an meinem Bett sitzt?
Meine Gedanken überschlagen sich.
Ich betrachte sein schmales Gesicht, in das seine blonden Haare fallen, die dunklen Augenbrauen, darunter die schwarzen Augenwimpern und die schmalen Lippen. Sein hervorspringendes Kinn ist unter seinem Handrücken verborgen.
Ich stelle erneut fest, dass er gut aussieht. Aber ich kann nicht fassen, dass er so vertraut an meinem Bett sitzt, meine Hand umschlossen hält und schläft.
Ich schließe wieder die Augen und lasse mich zurück in die Welt fallen, aus der ich so mühevoll aufgetaucht war. Nur einen Gedanken nehme ich mit in diese Welt - Marcel ist bei mir. Ich bin nicht allein.
Als ich erneut erwache, wird die Welt um mich herum noch klarer. Ich nehme sofort den Piepton wahr, der von einem Gerät neben meinem Bett aufdringlich in den Raum schallt und weiß sofort, dass ich im Krankenhaus bin.
Langsam steigt die Erinnerung in mir auf, wie ein mit Helium gefüllter Ballon, von einem schrecklichen Traum angefacht, in dem ich in einem Labor war.
Plötzlich stürzt alles auf mich ein. Das Messer, Julian, der Schnitt in meinen Hals, Tim … und Marcel, der mich aus dem Labor trug.
Die nun realen Bilder schieben sich gnadenlos in meinen Kopf und werden zu einem Film. Das Entsetzen lässt mich zusammenzucken und Marcels Kopf schnellt augenblicklich von meiner Bettdecke hoch. Ich hatte ihn gar nicht bemerkt.
„Carolin?“ Er sieht mich erleichtert und verschlafen an und drückt meine Hand, die von seiner fest umschlungen wird. „Oh Mann, endlich!“ Er steht fahrig auf, wobei er den Stuhl mit den Beinen zurückschiebt und beugt sich über mich. Sein besorgter Blick mustert mich und er streicht mir die Haare aus dem Gesicht. „Bitte, bleib jetzt wach.“
Ich sehe ihn verwirrt an. Der weiche Blick aus seinen grauen Augen lässt meine Verwirrung nur noch größer werden. Er ist immer noch da. Oder schon wieder?
Marcel sieht sich um, greift nach der Fernbedienung über meinem Bett und drückt einen Knopf.
Ich schließe schnell wieder die Augen und spüre seine Hand, die meine umklammert. Sie ist warm und beruhigt mich ein wenig. Ich weiß zwar nicht, warum Marcel immer noch an meinem Bett sitzt, aber dass er da ist, nimmt mir ein wenig meiner Unsicherheit und Angst. Ich bin wenigstens nicht allein mit meinen Geistern, die mich in meinem Kopf martern und mir Schreckensbilder aus einem düsteren Labor aufdrängen.
Eine Schwester kommt herein und ich öffne erneut die Augen. Sie beugt sich auf der anderen Bettseite über mich, wirft Marcel einen freundlichen Blick zu, betrachtet mich kurz und nickt zufrieden. Ich sehe an ihrem runden, weichen Gesicht, dass sie noch sehr jung ist. Der aufdringliche Piepton verstummt und ich spüre sie an meinem Arm hantieren.
„Hallo, Fräulein Maddisheim. Schön, dass Sie wieder wach sind“, sagt sie mit einem freundlichen Lächeln. „Ich werde gleich dem Arzt Bescheid sagen. Er wird dann nach Ihnen sehen.“
Nach einem zufriedenen Blick auf die Apparaturen verschwindet sie wieder.
Ich sehe Marcel an und bin eigentlich froh, dass er bei mir ist. Aber wo sind meine Eltern? Ach ja, im Urlaub. Und wo ist Tim?
Tim! Was ist mit Tim? Warum ist er nicht an meiner Seite?
Der Gedanke an ihn beunruhigt mich und lässt mein Herz schneller schlagen. Ich verdränge die Erinnerung an ihn und richte alles auf das Hier und Jetzt. Die Auskunft, dass gleich der Arzt kommt, erscheint mir wie eine Drohung. Ich mag keine Ärzte. Ich will auch nicht krank sein und schon gar nicht in einem Krankenhausbett liegen.
Marcel hält weiter meine Hand und ich schließe einfach wieder die Augen.
Er hatte mich aus dem Labor geholt und mir und Tim somit das Leben gerettet. Mir kommt der seltsame Gedanke, dass mir nie mehr etwas passieren wird, wenn er nur in meiner Nähe bleibt. Er hatte mich sogar in dem versteckten Labor gefunden …
„Carolin, wie geht es dir?“ Marcel streicht mit seiner freien Hand erneut meine Haare zurück. Ich spüre seine zittrigen Berührungen und auch in seiner Stimme schwingt Unsicherheit mit.
Ich behalte die Augen geschlossen und kann ihm nicht antworten. Ich weiß nicht, wie es mir geht. Ich bin froh, dass ich noch lebe. Aber wenn ich die Erinnerung an das zulasse, was mich hierhergebracht hat, dann fühle ich mich schrecklich. Also tue ich lieber so, als schlafe ich wieder. In meinem Kopf ist allerdings alles wach. Wieder sehe ich Julian vor mir, mit irrem Blick und dem Messer in der Hand. Und Tim, der sich an das Bett gefesselt kurz vor dem Zusammenbruch befand und von Julian angeschrien wurde.
Julian brauchte etwas von Tim. Er meinte damit den Alchemisten Kurt Gräbler wieder auferstehen lassen zu können und Tim wollte ihm nicht helfen. Daraufhin hielt Julian mir ein Messer an den Hals und ich trat ihm zwischen die Beine, worauf das Messer mir in den Hals schnitt. Julian war entsetzt, weil ich noch nicht sterben durfte und Tim war entsetzt, weil ich zu sterben drohte.
Was war das alles konfus! Wollte Julian uns wirklich töten? Ich will das nicht glauben. Das erscheint mir wie ein Albtraum, der bei Tageslicht betrachtet einen anderen Anschein erweckt.
Dann fielen plötzlich Männer in den Raum ein und warfen Julian auf den Boden, und Marcel war da und trug mich die Treppe hoch ins Freie. Oh, Mann! All diese Erinnerungen möchte ich lieber aus meinem Kopf verbannen. Aber sie drängen immer wieder hoch. Und mit ihnen die grausame Frage, ob Julian wirklich zu einem Mord bereit gewesen war.
Ich kann ein Zittern nicht unterdrücken. Julian … was ist mit ihm geschehen? Und Tim? Wo ist Tim und hat er alles überstanden?
Diesmal beschwöre ich die letzten Minuten meiner Erinnerung absichtlich herauf. Tim hat geschrien, dass Julian mir helfen soll. Also lebt er. Wir beiden haben scheinbar das Ganze überstanden. Aber wollte Julian uns wirklich etwas antun? Hatte er mir nicht nach dem Schnitt etwas umgebunden, das die Blutung stillen sollte?
Das ist ein tröstlicher Gedanke, den ich festzuhalten versuche. Julian ist doch mein Bruder und nur dieser Kurt Gräbler Scheiß hat ihn so werden lassen. Alles andere will ich jetzt nicht denken. Ich brauche etwas, was meine geschundene Seele beruhigt und sie an das Gute glauben lässt.
Denken strengt an. Ich spüre Marcels warmen Hände, die meine halten und höre seine dunkle Stimme flüsternd flehen: „Bitte, Carolin. Rede mit mir! Oder drück meine Hand! Bitte!“
Seine Stimme ist mir so vertraut, sowie die Wärme seiner Hände und sein Geruch. Ich erinnere mich an all das, weil es immer da war, wenn ich kurz aus meiner lethargischen Versunkenheit erwacht war. Aber ich kann nicht mit ihm reden und will auch nicht seine Hand drücken. Ich will lieber schlafen und mich noch ein wenig in tröstliches Vergessen fallen lassen.
Ich spüre auf unseren Händen erneut einen Druck, und das leichte Kitzeln von Haaren. Gerne würde ich die Augen öffnen und nachsehen, was Marcel macht. Aber das ist auch anstrengend. Ich höre seine murmelnde Stimme nur noch von weit weg und dann gar nichts mehr.
Als ich das nächste Mal aufwache, ist Marcel nicht da. Aber meine Eltern sitzen mit unendlich sorgenvoller Miene an meinem Bett. Auf jeder Seite hockt einer von ihnen und diesmal halten sie meine Hände.
Mir fällt es etwas leichter, die Augen zu öffnen und offen zu halten.
„Mama!“, hauche ich, ohne wirklich einen Ton herauszubekommen. Ich versuche es noch einmal und bringe ein deutlicheres „Mama“ über die Lippen.
Ihr schießen Tränen in die Augen, und sie streicht mir mit zittrigen Fingern über das Haar. „Meine arme Kleine. Was ist nur geschehen?“, fragt sie mit tränenerstickter Stimme und Papa drückt meine andere Hand und sieht genauso entsetzt und traurig aus. „Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten.“
Hinter meiner Mutter erscheint nun eine andere Person und ich erkenne an dem weißen Kittel und der strengen Miene, dass es einer der Ärzte ist. Er dirigiert meine Eltern, die nur widerwillig meine Hände loslassen wollen, vom Bett weg und spricht mit ihnen. Ich höre ihn erklären, dass die Schnittwunde nicht sehr tief gewesen ist, ich aber viel Blut verloren habe und mir zwei Bluttransfusionen gegeben wurden. Außerdem bekomme ich immer noch eine Infusion gegen Schmerzen und zur Stabilisierung des Kreislaufs. Der Schnitt musste gesäubert und genäht werden. Dazu der Schock. Das andere bekomme ich nicht mehr mit, weil in diesem Augenblick Marcel an der kleinen Gruppe vorbei zu meinem Bett kommt und sich auf meine Bettkante setzt, als hätte er sie gemietet.
Er ist mir mittlerweile ein vertrauter Anblick. Aber ich sehe verunsichert zu meinen Eltern. Die reagieren aber nicht und ich frage mich, ob sie ihn gar nicht gesehen haben.
Dann geht der Arzt wieder und beide treten hinter Marcel.
Der nimmt meine Hand, und ich hätte sie ihm, unter dem Blick meiner Eltern, gerne entzogen. Aber auch darauf reagieren sie nicht. Es scheint für sie zu der normalsten Sache der Welt zu gehören, dass Marcel an meinem Bett sitzt und meine Hand hält. Das irritiert mich.
„Hey, du bist ja wieder wach“, höre ich Marcel leise raunen und sehe ihn lächeln. Ich mag es, wenn er lächelt. „Endlich ist der Schlauch weg. Jetzt geht es dir bald besser.“ Er drückt meine Hand und zieht sie an seine Lippen, die ich heiß und weich auf meiner Haut spüre. „Mann, bin ich froh“, raunt er und küsst sie erneut.
Ich versuche sie ihm zu entziehen, von diesen Vertraulichkeiten aufgeschreckt. Aber er hält sie eisern fest.
Mein Vater stellt sich hinter Marcel und erklärt: „Ja, sie ist eben wieder aufgewacht. Der Arzt sagt, dass dies erst mal die letzte Infusion ist. Endlich haben sie die anderen Schläuche entfernt. Davon ist sie wohl wach geworden.“
Ich sehe meinen Vater an, und meine Mutter … und dann in Marcels graue Augen, der wieder meine Hand an seine Lippen hält.
Verdammt! Was macht der denn?
Aber weder mein Vater noch meine Mutter scheinen irritiert über seine Anwesenheit oder das zu sein, was er mit meiner Hand anstellt. Das verwirrt mich mehr als das Gerede von irgendwelchen Schläuchen.
Mein Vater klingt mitgenommen, als er mir erklärt: „Marcel hat die letzten zwei Tage an deinem Bett gesessen und auf dich aufgepasst. Wir haben ihm so viel zu verdanken. Wenn er nicht gewesen wäre …“ Weiter kommt er nicht. Seine Stimme schlägt um und er sieht schnell zur Seite, damit ich seine aufsteigenden Tränen nicht sehe.
Mama schluchzt auch auf und dreht sich weg.
Ein ungutes Gefühl beschleicht mich und verdrängt den Schrecken, dass ich zwei Tage völlig weggetreten war und Marcel vor meinen Eltern eine Vertrautheit an den Tag legt, die mich irritiert. Die Schnittstelle an meinem Hals scheint sich schmerzhaft zusammenzuziehen und ich wage nicht die Frage zu stellen, die mir auf der Seele brennt. Was ist mit Tim? Was mit Julian?
Es ist Marcel, der erst von meiner Mutter zu meinem Vater und wieder zurück zu mir sieht und dann mit seiner tiefen, aber ruhigen Stimme erklärt: „Julian sitzt in Untersuchungshaft. Er kann dir nichts mehr tun. Und Tim liegt auch hier im Krankenhaus, kann aber bald schon wieder gehen.“
Ich sehe ihn an und bin überrascht, dass er so ruhig von Tim spricht.
„Ich war eben bei ihm“, erklärt er. „Es geht ihm schon wieder ganz gut. Obwohl seine Rippenprellung und seine blauen Flecken ihm bestimmt noch einige Zeit zu schaffen machen werden. Und er hatte Glück, dass sie ihn bei dem Brand schnell genug herausholen konnten.“
Tim! Oh Mann! Der Gedanke an ihn lässt es in meiner Brust ziehen. Und Marcel war zu ihm gegangen, um nach ihm zu sehen und um mich über seinen Zustand informieren zu können. Unglaublich!
Aber es geht Tim gut und er ist nicht schwer verletzt worden. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Aber was für ein Brand? Ich weiß nicht, was Marcel meint, will aber auch nicht nachfragen, weil ich mich nicht in der Lage sehe, mit Marcel über Tim und das Labor zu sprechen. Und Julian sitzt hinter Gittern und soll erst mal wieder zur Vernunft kommen. Der war völlig durchgedreht!
„Unser armer Julian. Es tut ihm bestimmt alles schrecklich leid. Ich weiß auch nicht, was da über ihn gekommen ist. Vielleicht waren es Drogen oder diese Tabletten, die er nehmen muss, die ihn so werden ließen“, schluchzt meine Mutter und mein Vater legt einen Arm um sie.
„Das finden wir schon heraus. Er war doch vor unserer Abreise noch ganz normal. Und an den Tabletten kann das nicht liegen“, knurrt mein Vater.
„Aber es muss etwas passiert sein, was ihn so durchdrehen ließ. Irgendjemand muss ihn so gegen alles aufgebracht haben. Er würde sonst nie …“, stammelt meine Mutter und wirft mir einen kurzen, fragenden Blick zu. Dann drückt sie sich wieder an meinen Vater, der sie fürsorglich in beide Arme schließt.
In meinem Kopf schwirrt es wie in einem Hornissenschwarm. Was für Tabletten muss Julian nehmen? Ich weiß nichts darüber. Nicht mal, dass Julian wegen irgendetwas in Behandlung war. Aber ich erfahre ja sowieso nie etwas und dass meine Eltern glauben, nur jemand anderes als Julian kann schuld an allem sein ist typisch.
Marcel sieht kopfschüttelnd auf und ich sehe Wut in seinen Augen wie flüssiges Silber aufglimmen. Er steht langsam von meiner Bettkante auf und ich habe das Gefühl, dass er wütend einiges klarstellen will. Schnell greife ich nach seiner Hand und halte ihn zurück, meine ganze Energie in diesen Griff legend.
Doch er scheint hier und jetzt meinen Eltern alles erzählen zu wollen.
Alle Kraft aufbietend, die ich aufbringen kann, ziehe ich ihn zu mir auf das Bett zurück. Er soll nicht tun, was er vorhat. Ich will keinen Ärger und meine Eltern werden ausflippen, wenn sie von den Träumen und allem erfahren.
Marcel sieht mich an und augenblicklich scheint sich die Wut in seinem Blick aufzulösen. Dass ich seine Hand halte und ihn an meine Seite ziehe, lässt alles andere scheinbar unwichtig werden. Er setzt sich wieder auf die Kante meines Bettes. Doch an seiner angespannten Haltung glaube ich so etwas wie Widerwillen zu erkennen, dass ich ihn nicht meinen Eltern die Meinung sagen lasse.
Ich greife in den Ausschnitt seines T-Shirts und ziehe ihn zu mir heran.
Er ist so perplex, dass er sich willig von mir ziehen lässt und mich unschlüssig mustert.
„Bitte, nicht jetzt. Ich kläre das schon“, sage ich leise und schiebe meine Hand in seinen Nacken, damit er sich nicht wieder aufsetzen kann und einen erneuten Angriff auf das Seelenheil meiner Eltern startet. Er muss einsehen, dass ich es ernst meine. Das ist mein Kampf. Nicht seiner!
Sein Gesicht verliert alle Härte und er stützt sich mit den Händen links und rechts neben meinem Kopf auf dem Kissen ab, sich ganz mir widmend. Sein Blick läuft über mein Gesicht und ich werde nervös. Schnell nehme ich meine Hand von seinem Nacken und will sie ihm auf die Brust legen, um wieder etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Aber es ist zu spät. Er beugt sich vor und küsst mich. Ich fühle seine Lippen einen Moment auf meinen.
Ich schiebe ihn energisch von mir weg und starre ihn aufgebracht an. Was sollen meine Eltern denn denken? Marcel ist echt peinlich und spinnt wohl völlig!
Dem ist meine Reaktion nicht entgangen. Langsam setzt er sich auf und sieht mich verwirrt an.
Ich starre an ihm vorbei zu meinen Eltern und erwarte ein Donnerwetter.
Aber die haben mit sich selbst zu kämpfen. Mein Vater lässt gerade meine Mutter los und sie wischt schnell über ihre Augen. Dann dreht sie sich zu mir um und lächelt schwach. „Weißt du, wir haben sofort unseren Rückflug gebucht, als die Polizei uns anrief. Sie hatte mit Christiane zusammen unsere Adresse aus deinem Zimmer geholt und so konnten sie uns verständigen. Christiane ist so ein liebes Mädchen!“ Dann erzählt sie von dem Rückflug, den sie mit einigen Schwierigkeiten umbuchen konnten und geben noch zum Besten, wie ihr Urlaub war. Sie scheinen einfach das andere Thema nicht mehr anschneiden zu wollen. Sie möchten es lieber verdrängen. Aber so kenne ich sie ja.
Das Ganze ist anstrengend und ich fühle mich allmählich mit all dem völlig überfordert. Meine quasselnden Eltern und dazu noch Marcel, der mich sogar vor ihnen geküsst hat. Das ist alles zu viel für mich. Er hat Glück, dass sie das nicht mitbekommen haben.
Ich werfe ihm erneut einen mürrischen Blick zu.
Er sitzt nur da und scheint dem Redeschwall meiner Eltern nicht folgen zu wollen. Er hält nur meine Hand und spielt mit meinen Fingern, als wäre er mit meiner Hand allein.
Ich versuche mich auf meine Eltern zu konzentrieren, denn Marcels Anblick beunruhigt mich. Wenn ich in sein Gesicht sehe, glaube ich eine tiefe Traurigkeit darin zu sehen. Bestimmt versteht er nicht, wieso meine Eltern so eine Sicht auf die Dinge haben und nun die Verdrängungstaktik fahren. Ich hoffe, sie gehen bald und ich kann mit ihm darüber reden. Ihr Getue ist für mich nicht so schlimm, wie er denken muss. Meine Eltern waren nie gut in Problembewältigung gewesen und Helden, wenn es um Verdrängung und Vertuschung geht. Aber das weiß Marcel natürlich nicht. Er weiß gar nichts von uns. Dass er überhaupt hier ist, finde ich immer noch seltsam und unerklärlich. Auch wenn er die Polizei zu dem Labor führte, und somit Tim und mich rettete, ist das noch lange keine Eintrittskarte in unsere Familie und mein Leben.
Ich schließe kurz die Augen und weiß, ich habe da nicht ganz recht. Es gibt da etwas, was aus Marcel herausbrach, als er glaubte, dass ich in seinen Armen sterbe.
Aber daran will ich jetzt erst recht nicht denken.
Als meine Eltern alles von ihrem Urlaub und ihrem Rückflug und der Fahrt hierher erzählt haben und es nichts mehr zu erzählen gibt, außer der Geschichte von Julian und mir, entsteht eine Stille, in der wir uns nur ansehen. Sogar Marcel sieht von meiner Hand auf und schaute sich um, als wird ihm gerade erst bewusst, wo er sich befindet. Sein Blick versetzt mir einen Stich.
Meine Mutter wird nervös. Sie will nicht über Julian sprechen und auch nicht über das, was passiert war. Aber worüber kann man sonst reden?
Mein Vater durchbricht die Stille, kurz bevor ich sagen kann, dass ich müde bin und sie ruhig nach Hause fahren können. Sie haben bestimmt noch einiges auszupacken.
„Seit wann kennt ihr beiden euch eigentlich?“ Dabei richtet er das Wort an Marcel.
Der sieht meinen Vater irritiert an. Dann antwortet er langsam, als müsse er erst jedes Wort gut überlegen: „Seit einigen Wochen.“
„Und wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragt meine Mutter, der scheinbar das neue Thema gefällt.
„Ich gehe mit Julian zusammen in den Fußballverein“, antwortet Marcel und hört verunsichert wieder auf.
Doch meine Eltern wirken gefasst. Sie nehmen sich nur an die Hand. Die Erwähnung von Julians Namen bringt ihr Verdrängungsgerüst nur leicht ins Wanken. „Und der stellte mich dann Carolin vor.“ Mehr sagt Marcel nicht und meine Eltern sehen erst sich und dann mich an.
„Naja, und wir sind halt zusammen ins Kino gegangen und so“, ergänzt Marcel, wobei er offenlässt, ob das Zusammen nur mich und ihn betraf oder auch Julian.
„Ah, schön“, antwortet meine Mutter daraufhin nur und sieht meinen Vater wieder an, als solle er etwas Originelleres hervorbringen. Doch der sagt gar nichts.
Ich nutze die Gelegenheit. „Ich bin noch ganz schön müde und möchte noch ein wenig schlafen“, murmele ich, die wieder entstandene Pause nutzend. Ich schlucke schwer und fühle, dass mein Hals trocken ist: „Ich glaube, ich brauche noch ein wenig Ruhe“, raune ich und fasse an den Verband um meinem Hals.
„Sollen wir gehen?“, fragt meine Mutter sofort und bekommt wieder einen weinerlichen Stimmwackler.
„Ihr müsst doch bestimmt noch eure Koffer auspacken“, sage ich und hoffe, dass sie das als passenden Aufhänger nehmen wird.
„Du hast recht. Die Koffer sind noch im Auto. Wir sind vom Flughafen gleich hierhergefahren, um nach dir zu sehen. Und morgen werde ich Julian versuchen zu erreichen. Man wird doch wohl seine Mutter mit ihm sprechen lassen“, jammert meine Mutter aufgebracht.
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, antwortet mein Vater nur und kommt um das Bett herum zu mir, um mir einen Kuss auf die Stirn zu geben. „Sollen wir wirklich schon gehen? Können wir noch irgendetwas für dich tun? Brauchst du noch etwas?“, stammelt er und ist richtig unglücklich, dass ich sie wegschicke.
„Nein, ich brauche nur noch etwas Zeit zum Ausruhen.“
„Dann schlaf gut, Kleines. Morgen kommen wir wieder. Und mach dir keine Sorgen …“, sagt mein Vater.
Ich habe keine Lust mir Gedanken darüber zu machen, was mein Vater meint. Aber Julian gehört nicht zu denjenigen, um die ich mir Sorgen mache. Er ist schließlich nicht allein. Er hat doch seinen Kurt bei sich.
„Bis morgen, mein Schatz und schlaf gut“, murmelt meine Mutter und lässt sich dann von meinem Vater regelrecht aus dem Zimmer führen. Sie scheinen ein Problem damit zu haben, mich erneut allein zu lassen. Aber schließlich ist das ja nur bis morgen und nicht einen Urlaub lang und ich kann sie einfach nicht länger ertragen.
„Tschüss, Marcel!“, rufen beide noch wie aus einem Mund.
„Und danke!“, fügt mein Vater noch hinzu und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Er scheint erleichtert zu sein, dass Marcel bei mir bleibt und das mit mir weiter meistern will. Als wäre ich ein Problemfall.
Marcel! Ich sehe ihn verunsichert an.
„Puh, sind Eltern anstrengend“, versuche ich die Stimmung etwas zu lockern, die sich drückend auf uns legt. Es ist komisch, ihn an meiner Seite zu haben. Ich weiß gar nicht richtig wie ich damit umgehen soll.
Marcel steht auf und geht zum Fenster. Langsam senkt sich die Dämmerung über das Krankenhaus und die kleine Stadt. Ich schlucke wieder und spüre ein trockenes Reiben in meinem Hals.
„Soll ich auch gehen?“, fragt Marcel leise und ohne mich anzusehen. Seine Stimme hat einen tieftraurigen und resignierten Unterton, der mich verwirrt.
„Warum?“, frage ich heiser zurück. Das Reden tut mir nicht gut.
„Du sagtest, du bist müde. Das klingt wie ein Rausschmiss.“ Langsam dreht Marcel sich um und sieht mich an. Er wirkt niedergeschlagen und ich könnte wetten, wenn er seine Kappe in der Nähe hätte, dann würde er sie sich jetzt tief ins Gesicht ziehen.
Ich habe das Gefühl ihm einiges erklären zu müssen.
„Komm her.“ Ich klopfe auf die Bettkante, damit er sich zu mir setzt und ich nicht so laut reden muss. „Ich wollte nur meine Eltern loswerden.“ Das Sprechen wird immer schwieriger und ich weiß, viel bringe ich nicht mehr heraus.
Langsam kommt Marcel zum Bett zurück und setzt sich wieder. Doch er nimmt nicht meine Hand oder versucht sonst eine Annäherung.
Ich bin froh darüber. Mir ist selbst nicht ganz klar, was ich eigentlich von ihm und allem halten soll. Aber sein niedergeschlagener Gesichtsausdruck berührt mich doch irgendwo in meinem tiefsten Inneren.
Ich taste nach der Fernbedienung, die an einem Kabel über meinem Bett hängt und Marcel greift ein. „Soll ich das Kopfteil etwas hochfahren?“
Ich nicke und bin froh, dass er mir hilft. Mir ist wichtig, dass ich ihm in die Augen sehen kann, wenn ich ihn über meine Eltern und ihr seltsames Verhalten aufkläre. Und vielleicht fällt mir dann das Sprechen leichter. Außerdem hoffe ich, dass ich so etwas trinken kann.
Auf meinem Tisch stehen ein Glas und eine Wasserflasche. Ich greife danach, aber Marcel kommt mir zuvor. Er gießt Wasser in das Glas und reicht es mir, den Kopf schüttelnd. Seine Augen funkeln aufgebracht und er raunzt: „Sag doch etwas, wenn du was brauchst. Oder ist das auch schon zu viel?“
Ich sehe ihn beunruhigt an. Ist er wütend auf mich?
Ich trinke unbeholfen einige Schlucke und spüre die Linderung in meinem Hals. Das Glas reiche ich verunsichert Marcel, der es wieder auf den Tisch zurückstellt. Er sieht dabei immer noch so niedergeschlagen aus.
Ich kann seinen Blick kaum ertragen. Es rührt sich etwas in mir, dass ich nicht einschätzen kann.
Das ist alles so anstrengend und ich fühle mich schon wieder erschöpft. Aber ich möchte nicht, dass Marcel so aufgebracht und wütend ist. So versuche ich ihm zu erklären: „Du musst meinen Eltern nicht böse sein, sie wussten nichts von Julians seltsamen Anwandlungen. Sie wissen noch nicht mal, dass er genauso unter schrecklichen Träumen leidet wie ich. Sie wissen von nichts wirklich etwas und können somit auch nichts verstehen. Aber ich werde ihnen irgendwann alles erzählen“, verspreche ich ihm und glaube ihn damit zu beruhigen.
Marcel sieht mich groß an. „Warum glaubst du, dass ich wütend auf deine Eltern bin? Sie sind einfach nur dumme Eltern. Man kann von ihnen im Allgemeinen nicht viel erwarten“, brummt er.
Ich sehe ihn irritiert an und nehme alle meine Kräfte zusammen. „Aber du wirktest auf einmal so traurig und ich dachte, es liegt an meinen Eltern - weil sie so tun, als wäre Julian das arme Opfer von irgendwas und völlig unschuldig“, erkläre ich verunsichert.
Marcel steht wieder vom Bett auf und geht zum Fenster. Er blickt hinaus und ich bin noch irritierter.
„Deine Eltern sind mir scheißegal“, knurrt er mit einem störrischen Unterton in der Stimme, den ich an ihm gar nicht vermutet hätte. Was ist bloß mit ihm los? Ich kann mir darauf keinen Reim machen.
„Aber was ist es dann?“, frage ich.
Marcel dreht sich langsam um und sieht mich mit einem herzerweichenden Hundeblick an. „Ich weiß nicht, was ich noch tun soll“, höre ich ihn resigniert sagen.
Er schaut auf seine Hände und ich warte auf das, was noch folgen muss. Doch es kommt nichts.
Vorsichtig frage ich nach: „Was meinst du damit?“
Langsam kommt er zu meinem Bett zurück und setzt sich auf die äußerste Kante des Bettrandes, als wolle er jederzeit zur Flucht bereit sein. Sein Blick wirkt verdrossen und sein Gesichtsausdruck angespannt. Seine Hände krallen sich in die Bettdecke und ich bin mir nicht sicher, was nun folgen wird.
„Ich kann tun, was ich will, du …“ Er schüttelt resigniert den Kopf, wendet den Blick ab und sieht zu Boden.
Mir fällt es wie Schuppen von den Augen. Marcel rettet mir das Leben und verbringt jede freie Minute an meinem Krankenbett und ich zeige ihm keine Sekunde so etwas wie Dankbarkeit oder dass mir das etwas bedeutet. Als er mich aus dem Labor nach oben getragen hatte, sprach er sogar davon, dass er mich liebt. Und alles was vorher war … auch da hatte Marcel mir immer gezeigt, dass ich ihm etwas bedeute. Ich muss an die Nacht denken, als ich bei ihm Zuhause war, er sich stundenlang meine Geschichte anhörte, mich die halbe Nacht tröstend in seinen Armen hielt und wie er mich morgens an sich zog und küsste.
Ich sehe in sein trauriges Gesicht, das noch immer den Blick gesenkt hält, als hätte er Angst, zu viel von sich preiszugeben, wenn ich in seine Augen sehe.
„Ich kann dir nicht mal einen kleinen Kuss geben“, nuschelt er leise, als solle ich das eigentlich gar nicht hören und seine Stimme zittert leicht. „Und ich dachte, nach der Nacht bei mir …“ Er schließt die Augen und verzieht das Gesicht, als verspüre er einen stechenden Schmerz und dreht den Kopf zur Seite.
Mir fällt die Szene mit dem Kuss wieder ein, den er mir auf den Mund gehaucht hatte und der mir vor meinen Eltern so unendlich peinlich war. Dabei hatten sie das noch nicht einmal gesehen. Die waren viel zu beschäftigt mit sich selbst.
Mir fällt auch die weitere Reaktion von Marcel ein und mir wird klar, warum er die ganze Zeit so traurig dagesessen hatte. Er glaubt, dass er mir völlig egal ist und dass nichts, was er für mich tut, eine Bedeutung für mich hat.
Wenn mir eines in diesem Moment klar wird, dann, dass ich Marcel nicht nur viel zu verdanken habe und er mir zu einem Freund geworden ist, sondern dass ich ihn wirklich mag. Seine ganze Art berührt mich. Er ist so stark und beschützend und kann auch so schrecklich sensibel sein. Und ich bin mir bei ihm absolut sicher, dass er mir niemals wehtun wird. Aber leider ist es andersherum nicht so. Ich habe ihm bestimmt schon viel Leid zugefügt. Wie oft hatte ich ihn als Alibi benutzt, ihn nicht angerufen, wenn er darauf wartete, ihn auf sein Sofa verwiesen …
Ich setze mich ganz auf, was mir einen stechenden Schmerz an meiner Halswunde einbringt. Kurz greife ich an meinen Nacken und fühle dort ein dickes Paket, das dort aufgeklebt wurde. Das zu fühlen erschreckt und verunsichert mich kurz. Aber noch mehr verwirrt mich Marcels Gesichtsausdruck und die Art, wie er versucht mich nicht in sein Gesicht sehen zu lassen. Ich ignoriere das schreckliche Unbehagen, das der Verband an meinem Hals verursacht und lege meine Hand an seine Wange, darauf achtend, dass der letzte Infusionsschlauch sich nicht verheddert. Vorsichtig drehe ich seinen Kopf zu mir, was er nur widerwillig geschehen lässt und sehe in seinen Augenwinkeln Tränen aufblitzen.
Das erschüttert mich noch mehr. Was bringt ihn dermaßen aus der Fassung? Ich?
Marcel hat die Augen geschlossen und seine leichte Gegenwehr zeigt mir, dass er auf gar keinen Fall will, dass ich bei ihm Tränen sehe.
„Hey, Marcel!“, flüstere ich betroffen: „Es tut mir leid. Das war wegen meinen Eltern. Nicht wegen dir!“ Ich lege ihm meine andere Hand auf die andere Wange und ziehe ihn unschlüssig, was ich überhaupt will, zu mir heran.
Marcel hält die Augen weiter geschlossen und den Mund verdrossen zusammengepresst. Doch er lässt sich willig von meinen Händen dirigieren. Eine Träne macht sich selbstständig und läuft über seine Wange.
Das ist für mich unerträglich. Es kann doch nicht sein, dass Marcel weint. Das versetzt mir einen Stich und lässt meine Gefühle durcheinanderpurzeln.
Mir wird klar, wie sehr ihn das alles hier trifft, und dass mich seine Tränen so berühren zeigt mir, dass er mir nicht egal ist. Ich will nicht, dass er leidet. Mein Gott! Ich möchte, dass es ihm gut geht. Niemals hatte ich geahnt, dass er so leiden könnte, wenn ich ihm meine Gefühle vorenthalte, die sich bei seinem Anblick nun klar in meinem Inneren für ihn regen.
Ich ziehe ihn dicht zu mir und hauche ihm mit einem sachten Kuss die Träne weg. Ich sehe ihn an und warte auf seine Reaktion, die nicht kommt.
Ich gebe ihm einen Kuss auf die andere Wange.
Marcel hält einfach nur still. Er scheint sich noch nicht sicher zu sein, ob es bei freundschaftlichen Küssen auf die Wange bleibt oder was ich damit bezwecke.
Aber ich weiß, was ich tun muss. Das bin ich ihm schuldig … und ich will es auch.
Vorsichtig streiche ich ihm eine Strähne seiner blonden Haare aus dem Gesicht, ziehe ihn etwas näher an mich heran und küsse ihn auf den Mund, ganz sachte, wie ein Hauch - so wie er mich geküsst hatte.
Er reagiert immer noch nicht und ich flüstere: „Sei mir doch bitte nicht mehr böse. Du bist mir total wichtig. Glaub mir.“
Was soll ich ihm auch sonst sagen? Und ich fühle das auch so, was mich selbst nicht weniger überraschend trifft.
Erneut ziehe ich ihn näher und küsse ihn noch einmal. Ich will nicht, dass er mich jetzt hier im Regen stehen lässt. Er soll wenigstens irgendwie reagieren.
Seine Lippen öffnen sich und seine Hände schnellen vor, legen sich um mein Gesicht und halten mich fest, als hätte er Angst, ich könnte es mir wieder überlegen. Unsere Zungen berühren sich und ich fühle so etwas wie Erleichterung, dass er meine Bemühungen nicht mehr ignoriert. Aber der aufkommende Schmerz an meinem Hals lässt mich zusammenfahren und ihn von mir schieben. „Au, au…“, ächze ich und kneife die Augen zusammen.
„Oh, entschuldige!“, raunt er mit belegter Stimme. „Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun.“ Er scheint wirklich entsetzt darüber zu sein, aber seine Augen funkeln hoffnungsvoll. „Aber ich …“
„Du kannst nichts dafür. Es war meine eigene Schuld“, antworte ich ihm schnell, weil ich ihn auf gar keinen Fall wieder so traurig sehen will und sein „Aber ich …“ lieber nicht hören möchte. Das ist mir dann doch zu viel.
Vorsichtig schiebt er sich etwas dichter an mich heran und legt seine Wange an meine. Seinen Arm schiebt er dabei vorsichtig um meine Schultern und hält mich umschlungen, als hätte er Angst, ich würde wieder unnahbar werden, wenn er mich loslässt. „Weißt du“, flüstert er mir ins Ohr: „wenn ich zu spät gekommen wäre und du das nicht überlebt hättest … ich hätte auch nicht mehr leben wollen.“
Erst ist mir nicht klar, was er meint. Zu sehr irritieren mich seine Worte. Und sie machen mich sprachlos. Seine Gefühle mir gegenüber machen mich sprachlos. Dass er so empfindet ist mehr, als ich geahnt hatte und mehr, als ich verkraften kann.
Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Was soll ich darauf antworten?
Wir werden jäh unterbrochen, als die Tür aufgeht und eine Krankenschwester ins Zimmer tritt.
Marcel lässt mich los und sieht zur Tür.
„Da es Fräulein Maddisheim wieder bessergeht, denke ich, wir sollten anfangen auf Besuchszeiten zu achten, Herr Blum“, meint sie freundlich und sieht Marcel dabei an, der sich langsam aufsetzt und mich ins Kissen sinken lässt. „Außerdem sollten Sie auch mal richtig schlafen.“
„Aber …“, setzt er an, um seine Meinung darüber zu äußern.
Schnell komme ich ihm zuvor. „Natürlich!“ Zu ihm gewandt, sage ich: „Ich bin noch so müde und du willst doch bestimmt auch noch mal etwas anderes tun, als auf meiner Bettkante zu hocken.“ Ich streiche ihm über die Wange und schenk ihm ein Lächeln.
„Das war nur, weil Ihr Freund sich weigerte von Ihrer Seite zu weichen und Ihre Eltern noch nicht da waren. Da haben wir eine Ausnahme gemacht und ihn bleiben lassen. Aber da es Ihnen nun bessergeht, müssen wir uns auch wieder an die Vorschriften halten“, gibt mir die Krankenschwester zu verstehen und lächelt freundlich. Sie findet das Ganze hier wohl ausgesprochen romantisch.
In meinem Kopf schwirrt allerdings nur der Ausspruch: Mein Freund!
Ich sehe Marcel verwirrt an und er erwidert den Blick vorsichtig, als erwarte er ein Donnerwetter. Aber ich will heute nicht darüber diskutieren, warum er sich als meinen Freund ausgab. Ich möchte lieber die Möglichkeit nutzen, Marcel nach Hause schicken zu können, ohne ihn erneut vor den Kopf zu stoßen. Er hatte so viel Gefühl preisgegeben, dass ich im Moment nicht wechseln kann. Doch ich bin mir sicher, dass er darauf wartet. Aber dass im Krankenhaus alle Marcel für meinen Freund halten, reicht eigentlich schon für unseren ersten Tag. Ich muss erst mal über alles nachdenken und alles wirken lassen. Es ist so viel passiert! Ich weiß nicht, was ich fühle und was nicht … und irgendwo in meinem tiefsten Inneren herrscht auch noch Tim über sein Reich. Es ist in Marcels fürsorglicher Gegenwart zwar geschrumpft, aber ganz klar noch vorhanden.
„Du kannst mich morgen wieder besuchen“, raune ich ihm zu. „Ich werde auch auf dich warten.“
Mann, klingt das geschwollen. Wie aus einem Kitschroman. Aber ich glaube, dass das die richtigen Worte sind, um Marcel beruhigt und glücklich nach Hause fahren zu lassen.
„Verdammt! Ich will aber noch nicht gehen“, zischt er aufgebracht. „Ich will dich nicht wieder allein lassen!“
Marcel kann störrisch wie ein Maulesel sein und scheinbar lässt er sich nicht gerne etwas sagen. „Bitte, wenigstens noch eine Stunde“, wendet er sich an die Krankenschwester.
Ich schalte mich schnell ein. „Wir wollen doch keinen Ärger. Es ist doch nicht lange. Morgen sehen wir uns wieder, okay?“, versuche ich ihn dazu zu bewegen mit der Schwester mitzugehen.
Marcel blickt zu der Frau, die immer noch an der Tür wartet und dann sieht er mich wieder an. „Ich kann morgen leider erst am späten Nachmittag kommen. Ich müsste eigentlich mal wieder zur Arbeit gehen. Mein Chef ist jetzt schon sauer, weil ich einfach weggeblieben bin“, erklärt er bedrückt.
Später Nachmittag … vollkommen ausreichend. Bis dahin werde ich mich und meine Gefühlswelt wieder im Griff haben.
„Dann sehen wir uns morgen Nachmittag. Gar kein Problem.“
Gar kein Problem klingt auch wieder nicht nett. Es ist für Marcel augenscheinlich schon ein Problem und ich habe natürlich auch eins damit zu haben. Ich sehe es an seinem Blick. „Ich meine, ich werde es schon irgendwie überleben … und mich nicht von der Stelle rühren, bis du wieder da bist“, sage ich und streiche wieder über seine Wange.
Er nickt und grinst mich mit seinem Lausbubenlächeln an, das wieder den alten Marcel zeigt. So ist er mir schon lieber. Damit kann ich eher umgehen.
„Gut, Schatz. Ich komme morgen so schnell ich kann.“ Er küsst mich auf den Mund, als solle das den Bund besiegeln.
In meinem Kopf rumpelte das Wort „Schatz“ wie ein Viehwagen mit eckigen Rädern auf einem Kopfsteinpflaster. Doch ich lasse mir nichts anmerken und versuche ein freudiges Lächeln.
Ein Räuspern von der Tür her veranlasst mich dazu, Marcel von mir zu schieben. „Bis morgen“, sage ich verlegen, den Blick der Krankenschwester auf uns fühlend.
Ich sehe schnell zu ihr hinüber und erblicke nur ihr breites Grinsen. Fast wünsche ich mir, sie wäre eine alte Furie, die ihn jetzt ergreift und hinausschleift.
„Okay, Schatz. Du fehlst mir jetzt schon“, sagt Marcel und seine Augen blitzen glücklich auf.
Ah, … rumpel … rumpel.
Endlich steht er auf und greift nach seiner Jacke. Er kommt erneut zum Bett und ich taste nach der Fernbedienung, um mein Rückenteil wieder umzustellen. Dabei hantiere ich umständlich damit herum, als wüsste ich nicht, wie das funktioniert.
Er lässt sich nicht beirren und wartet bis ich fertig bin, als hätte er und die Krankenschwester, die wohl den Auftrag hat, ihn auch wirklich von der Station zu geleiten, alle Zeit der Welt.
„Dann bis morgen und schlaf gut“, flüstert er und gibt mir erneut einen Kuss. Dann geht er mit einem langen Blick auf mich zur Tür.
„Du auch“, entgegne ich nur und bin froh, als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt.
Es ist still um mich herum und ich spüre, wie müde und erschöpft ich bin. Aber in meinem Inneren tobt ein Orkan. Ich bin völlig durcheinander. Marcel bringt mich durcheinander … und meine Eltern … und was in den letzten Tagen passiert ist … und was in den nächsten Tagen alles passieren wird. Scheinbar habe ich jetzt einen offiziellen Freund. Sein „Schatz“ wallt immer noch durch meine Gehirnwindungen und lässt diesen Aspekt erschreckend real werden.
Vorsichtig fühle ich nach dem Verband an meinem Hals. Ein leichtes Stechen durchzuckt mich, als ich sachte darüberstreiche. Langsam lasse ich die Hand sinken und seufze, als hätte ich das ganze Elend dieser Welt auf meine Schultern geladen. Jetzt, in der Stille meines Zimmers, fühle ich mich auch elend. Es ist so viel Schreckliches passiert. Ich sehe plötzlich Julian vor mir, wie er in einer kalten Zelle auf einer Pritsche hockt und über alles nachdenken kann, was er getan hat. Wie denkt er jetzt wohl darüber, wo alles vorbei ist und er sich den Folgen stellen muss? Bestimmt tut ihm alles schrecklich leid.
Und dann ist da Tim. Ich muss daran denken, wie Julian ihn schlug und wie er sich vor Schmerzen krümmte. Was habe ich ihm angetan? Er hatte mich gewarnt und ich habe nicht auf ihn gehört.
Am liebsten würde ich aufstehen und nach ihm sehen. Er liegt vielleicht nur ein paar Zimmer weiter oder ein Stockwerk tiefer. Aber ich fühle mich viel zu schwach.
Morgen muss ich aber zu ihm. Ich muss ihn sehen!
Die Schwester kommt wieder in mein Zimmer und meint lächelnd: „Sie haben wirklich einen netten Freund. Nicht jeder kümmert sich so aufopferungsvoll.“
Ich sehe sie nur groß an, während sie die Infusion checkt und sagt: „So, den sind Sie gleich auch los.“
Bevor mich die Panik packen kann, weil sie gleich den Schlauch aus meiner Ader zieht, ist er schon verschwunden.
„Danke“, hauche ich nur und lasse mich schwer in mein Kissen sinken.
„Ich werde Ihnen jetzt noch etwas zum Essen holen und einen Tee“, sagt sie und geht. Keine zehn Minuten später kommt sie mit einem Tablett zurück, auf dem eine Schüssel Hühnersuppe und ein Kännchen Tee zu finden ist. Wieder das Kopfende hochfahrend, lasse ich sie mir das Tablett vor die Nase schieben und lächele sie an. Ich bin froh, noch so spät etwas zum Essen zu bekommen. Langsam beginne ich die Suppe zu löffeln und trinke hinterher den Tee. Das nimmt mir den Rest meiner Kraft und ich schiebe das Tischen, das mit dem Tablett über mir prangt, zur Seite und lasse das Kopfende wieder sinken. Zu mehr sehe ich mich nicht in der Lage.
Irgendwann kommt jemand und holt das Tablett aus dem Zimmer. Ich halte meine Augen geschlossen, weil ich mich außerstande sehe wieder ein Gespräch führen zu müssen. Ich habe das Gefühl mir nicht noch einmal anhören zu wollen, wie toll mein „Freund“ ist. Das verkrafte ich nicht.
Ich bin zwar unendlich müde und erschöpft. Aber schlafen kann ich trotzdem nicht.
Lange liege ich nur da und lasse meine Gedanken ihre Bahnen ziehen. Dabei versuche ich zu ergründen, was wirklich in mir vorgeht und wie nun alles weitergehen soll. Es erschüttert mich nicht so sehr, was mir zugestoßen ist und der Verband an meinem Hals. Vielmehr erschüttert mich der Gedanke, dass ich mein Leben immer noch nicht im Griff habe.
War ich mir nicht immer sicher gewesen, dass, sobald wir diese Geschichte mit Kurt Gräbler hinter uns haben, auf welche Art auch immer, mein Leben klar und völlig problemlos aussehen wird. War ich nicht immer der Meinung gewesen, dass das der Lohn dafür sein wird, dass ich meine ganze Kindheit so gelitten habe. Und was ist daraus geworden? Ein immer noch voll problematisches Leben.
Ich lasse die letzten zwei Tage, vor Julians Angriff auf uns, noch einmal an mir vorbeiziehen, in der Hoffnung, alles klarer zu sehen. Da waren Tim und seine heißen Küsse an der Waldhütte … und Julian, der mich am liebsten geluncht hätte, weil er nicht wusste, mit wem ich zusammen gewesen bin … und Marcel, der wie immer zur rechten Zeit sich in mein Leben drängte, um mir aus der Patsche zu helfen und wieder zu meinem Alibi wurde. Und dann der Abend bei ihm und unsere endlosen Gespräche, und die Nacht in seinen Armen, und seine Küsse …
Ich fühle ein unglaublich schlechtes Gewissen durch meine Adern kriechen. War ich nicht kurz davor sicher gewesen, Tim zu lieben? Und kurz danach lag ich mit Marcel im Bett und küsste ihn sogar. Ich hatte ihm damit so viel Hoffnung gemacht.
Ich fühle mich noch schlechter und schüttele über mich selbst den Kopf.
Draußen vor der Tür höre ich irgendwo eine Glocke bimmeln. Kurz darauf hallen die Schritte der Nachtschwester durch den Gang und eine Tür fällt ins Schloss.
Ich reiße die Augen auf.
Es ist nicht dunkel in meinem Zimmer. Von draußen erhellt eine Straßenlaterne einen Teil des Zimmers und an der Tür brennt eine Notbeleuchtung. Die weißen Wände, Schränke und mein weißes Bett scheinen auch nicht für ein in tiefste Dunkelheit getauchtes Zimmer geschaffen zu sein.
Mir ist es recht. Ich mag keine tiefschwarze Dunkelheit.
In meinem Kopf rotieren die Gedanken weiter.
Marcel hatte mich verraten. Er hatte Julian ausgerichtet, dass ich den Standort des Labors kenne und ich habe Tim verraten. Ich hatte Julian das Labor gezeigt und ihm die Unterlagen gegeben.
Und nun bin ich Marcels Freundin.
Ich fühle mich immer schlechter.
Tim wollte mich nicht retten, als Julian ihm sagte, er hätte mich in seiner Gewalt. Marcel hingegen hat mir und Tim das Leben gerettet … und gesagt, dass er mich liebt. Aber ich … ich liebe Tim.
Poor, fühle ich mich schlecht.
Tim ist der Bruder meines Bruders … und Marcel ist gar nichts.
Klar liebe ich Tim. In meiner Familie liebt doch jeder den Bruder eines Bruders und setzt mit dem Kinder in die Welt.
Ich drehe mich vorsichtig auf die Seite und rolle mich, so gut es mit meinem verletzten Hals geht, zusammen.
Oder mit der eigenen Tochter … oder mit dem Cousin …
Mir kommt die Frage in den Sinn, was meine Mutter und der Vater von Julian und Tim für ein Verwandtschaftsverhältnis haben. Aber so sehr ich mich auch bemühe, klar kann ich das nicht definieren. Aber mit Cousin und Cousine liege ich bestimmt nicht ganz so falsch. Also ist doch klar, dass ich mich in Tim verlieben musste.
Wie schrecklich! Da muss es einem schlecht gehen. Wie hatte Kurt Gräbler es nur geschafft, seine Nachkommen derart zu manipulieren?
Ich denke an Marcel, dass er immer da ist, mich beschützt, mich umhegt, wie er meine Hand hält, wütend wird, wenn meine Eltern Julian die Schuld an allem absprechen und unendlich traurig, wenn ich seine Zuneigung nicht erwidere. Der bloße Gedanke an seine Tränen rührt mich immer noch, und dieser Satz … Was hatte er gesagt? Wäre ich gestorben, hätte er auch nicht mehr leben wollen. Mein Gott! Ich kann Tim nicht lieben. Das wird Marcel umbringen!
Verdammt, wo ist nur mein problemloses Leben hin? Hatte ich mir das nicht versprochen, wenn ich jemals das Vermächtnis unseres Vorfahren loswerde?
Die Tür meines Zimmers öffnet sich und die Nachtschwester kommt herein. Sie sieht, dass ich nicht schlafe: „Haben Sie Schmerzen? Brauchen Sie etwas?“
„Ich kann nicht schlafen“, sage ich kleinlaut. Lauthals herumzujammern liegt mir eigentlich nicht.
„Ich hole Ihnen ein Schlafmittel“, antwortet die Schwester nur freundlich und geht.
So einfach ist das also. Ich werde mich mal wieder mit Schlaftabletten ausknocken.
Die Schwester kommt wieder und gibt mir einen winzigen Becher aus Plastik mit einer weißen Tablette. Dazu reicht sie mir ein Glas Wasser.
Ich setze mich auf und schlucke brav meinen Garanten für einen guten Schlaf.
„So, nun werden Sie bestimmt zur Ruhe kommen“, sagt sie noch und will gerade gehen, als mir noch etwas einfällt.
„Was mache ich, wenn ich auf die Toilette muss?“
Die Schwester dreht sich genervt um und kommt zurück an mein Bett. „Nah, ich denke, wir sollten dann sofort gehen. Sonst schlafen Sie unterwegs ein.“ Ihr Lächeln wirkt aufgesetzt.
Ich nicke. Dabei stelle ich mir die Frage, wie das in den letzten Tagen abgelaufen war. Aber ich verdränge das Thema lieber, da sich sofort Marcel wieder in meine Gedanken schleicht und ich ihn mit einer Pipipfanne an meinem Bett stehen sehe. Ich kann nur hoffen, dass Marcel nichts damit zu tun hatte, wenn ich für kleine Königstiger war.
Es fällt mir unendlich schwer aufzustehen und die Schwester hilft mir. Mein Kreislauf weiß erst nicht, ob er linksrum oder rechtsrum drehend ist. Aber dann geht es doch einigermaßen und ich gehe die wenigen Schritte zu der Seitentür, die mich ins Bad bringt. Der Blick in den Spiegel über dem Waschbecken erschreckt mich zutiefst. Mann, muss Marcels Liebe groß sein. Ich sehe aus wie das letzte Nachtgespenst.
Die Schwester bleibt vorsichtshalber bei der Tür stehen und wartet, bis ich fertig bin, um mich zu meinem Bett zurückzubringen.
Ich krieche unter die Decke und bin froh, mich wieder ausstrecken zu können und vertraue meinen bleischweren Körper der Obhut der Matratze an. Ich sehe der Schwester nach und lalle noch ein „Danke“, bevor mich der Schlaf packt und in die Dunkelheit zieht.
Als ich wach werde, zwitschern draußen die Vögel und heller Sonnenschein durchflutet mein Zimmer.
Im ersten Moment weiß ich gar nicht, wo ich bin. Doch dann schießt mir alles wie ein Blitz durch meine Gehirnwindungen.
Marcel … Tim … Julian.
Ich stöhne auf, als ich mich aufsetzen will. Mein Hals schmerzt. Mir fällt meine Wunde ein, die ich von Julians Übergriff davongetragen habe. Einen Moment reißt mich die Erinnerung in ein Tief und ich schließe betroffen die Augen. Mit aller Macht versuche ich das Erlebte zu verdrängen und mich einem neuen Tag, ohne die Schrecken aus der Vergangenheit, zu stellen. Die sind vorbei.
Ich versuche erneut mich aufzusetzen. Langsam schiebe ich mich hoch und lasse das Karussell ausdrehen, das in meinem Kopf rotiert. Als die Welt endlich stillsteht, ziehe ich langsam die Decke an die Seite und schiebe die Beine über den Bettrand. Mir fällt ein, dass ich schon einmal wach gewesen bin - irgendwann in den frühen Morgenstunden. Da hatte eine Schwester nach mir geschaut.
Ich hebe den linken Arm und besehe mir die Stelle, auf der ein Pflaster über eine zusammengerollte Kompresse geklebt ist. Das ist noch ein Überbleibsel von dem komischen Teil für den Infusionsschlauch, der am vergangenen Abend gezogen wurde.
Einige Minuten bleibe ich nur sitzen und sehe auf die Tür, die ich erreichen will. Ich muss es bis ins Bad schaffen.
Eigentlich soll ich klingeln. Das hatte mir zumindest die Schwester heute Morgen eingebläut.
Tatsächlich schaffe ich es, auf die Füße zu kommen und die tragen mich sogar die wenigen Schritte bis zu der Badezimmertür. Als ich sie öffne und eintrete, fällt mein Blick auf die winzige Dusche, die ich in der Nacht nicht wahrgenommen hatte. Ein unbändiger Wunsch nach heißem Wasser und Sauberkeit erfüllt mich. Ich muss schon stinken wie ein Iltis.
Während ich mich auf die Toilette fallen lasse, überlege ich, ob ich wohl duschen kann. Soll ich die Krankenschwester fragen? Und wenn die dann „Nein“ sagt? Das will ich auf gar keinen Fall riskieren.
Ich bediene die Toilettenspülung und lasse meine Pyjamahose fallen, die eh schon auf halbmast hängt. Ich öffne blind die Knöpfe der Jacke, da ich nicht an mir herunterschauen kann und stelle mich unter den Brausekopf, der das Wasser nur auf meine Schultern rieseln lässt.
Es ist ein unglaublich schönes Gefühl.
Seife finde ich in einem kleinen Eckregal.
Ich wasche mich und stellte fest, dass es mir schon bessergeht.
Der Versuch, meinen Kopf vornüber zu beugen, misslingt allerdings gründlich. Meine Haare zu waschen muss also noch warten.
Ich stelle das Wasser ab und lege mir das Handtuch um, das auf seinen Einsatz wartend an einem Harken hing. Zähneputzen klappt auch schon ganz gut und nach dem Kämmen finde ich mich nicht mehr ganz so erschreckend. Nun fehlt nur noch ein Frühstück und ich werde wieder Zweige abbrechen können. Zum Bäume ausreißen wird es noch nicht ganz reichen. Aber ich habe wieder das Gefühl, mein Leben in den Griff bekommen zu können … und ich werde nach Tim fragen. Vielleicht kann ich ihn bald besuchen?
Meinen Vorsatz, es heute noch zu tun, verschiebe ich fürs Erste. Es verursacht mir ein flaues Gefühl in Bauch und der Gedanke, es noch zu verschieben, lässt mich gleich wieder ruhiger werden.
Als ich aus dem Badezimmer schlurfe, trifft mich fast der Schlag. Vor meinem Bett steht Tim. Er hat eine meiner Zeitschriften in der Hand, die mir wohl von Marcel dort hingelegt worden waren. Jetzt sieht er mir entgegen und legt sie langsam wieder auf den Nachttisch zurück.
Er sieht noch blasser aus als sonst und seine dunklen Haare glänzen in der Sonne, die hinter ihm durch das Fenster ins Zimmer scheint und ihn beleuchtet, wie einen Heiligen.
Ich stehe wie angewurzelt da und bin mir nicht ganz sicher, ob meine Beine mich weitertragen werden. Meine Knochen drohen sich augenblicklich in Götterspeise zu verwandeln.
„Tim!“, hauche ich nur.
„Carolin!“ Tims Stimme klingt kratzig und dumpf. Seine schwarzen Augen durchdringen mich und scheinen bis in meine Seele zu reichen. Mit wenigen Schritten ist er bei mir, greift nach meinem Arm und zieht mich an sich. Er hält mich umschlungen, als wäre es das letzte Mal in unserem Leben und wenn wir uns loslassen, werden wir zu Nebel und lösen uns auf.
„Ich dachte, wir überleben das nicht“, höre ich ihn an meinem Ohr stammeln. „Ich dachte, du überlebst das nicht. Du hast so geblutet …“
An meinem Hals spüre ich einen stechenden Schmerz. Dennoch presse ich mich an ihn und seine Arme legen sich noch fester um meinen Körper. Ich spüre den Verband, der um seine Brust geschlungen ist.
„Dieser Typ, der dich aus dem Labor trug, war bei mir und sagte mir, dass du es überstehen wirst und Julian in Untersuchungshaft sitzt“, raunt Tim mit etwas festerer Stimme.
„Ja, das war Marcel“, flüstere ich nur, zu mehr nicht fähig. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie Marcel und Tim zusammengetroffen sind. Aber es ist wohl typisch für Marcel, sich die Mühe zu machen und Tim über alles zu informieren. Hätte er es auch getan, wenn er wüsste, wie ich zu Tim stehe?
Ihn jetzt so nah bei mir zu haben, seine Arme um mich geschlungen zu fühlen, seine Stimme zu hören und seinen heißen Atem an meinem Ohr zu spüren, lässt mein Herz höherschlagen. Sein Geruch lullt mich ein und wirkt wie eine Droge. Ich fühle unter seinem T-Shirt den Verband, der um seinen Oberkörper geschlungen ist und schiebe ihn vorsichtig etwas von mir ab, um ihn ansehen zu können.
Über seiner Augenbraue klebt ein Pflaster und drum herum schillert seine Haut in blassen Regenbogenfarben. Er hat ein schwarzes T-Shirt an und eine schwarze Satin-Pyjamahose. Das T-Shirt zeigt deutlich die Erhebung eines dicken Verbandes um den Oberkörper und er hat Abschürfungen an den Armen.
Sein Anblick versetzt mir einen Stich, weil ich an seinem Zustand schuld bin.
„Wie geht es dir? Was machen deine Rippen? Hast du Schmerzen?“, frage ich fast stimmlos und muss mich zwischendurch Räuspern, um überhaupt etwas herauszubekommen.
„Es geht schon. Ich habe mir nichts gebrochen, obwohl ich ziemlich heftig aufgeschlagen bin, als Julian mich mit dem Auto anfuhr“, sagt er und hält mich an den Schultern fest, als wolle er auf keinen Fall den Kontakt verlieren.
Meine Beine wollen mir schon wieder versagen, als er das sagt. Ich hatte diesen Teil von Julians Übergriff völlig verdrängt.
„Und als er mich zusammenschlug, hat er hauptsächlich den Bauch getroffen und da habe ich gute Muskeln, die das Schlimmste wohl abfingen.“
„Oh Gott, hör auf!“, jaule ich entsetzt auf. „Sag nichts mehr.“
Jetzt, hier mit Tim zusammen, kommt alles mit einer Urgewalt wieder hoch. Das, was ich am Tag zuvor noch als nicht mehr ganz so dramatisch empfand, erhält nach Tims Ausführungen wieder den Schrecken zurück, den ich bisher mit aller Macht verdrängt hatte. „Es tut mir so schrecklich leid. Ich hätte auf dich hören sollen, dann wäre das alles nicht passiert.“ Ich winde mich aus seinem Griff und er lässt seine Hände sinken.
Als wäre ein starkes Halteseil von uns abgefallen, fühle ich mich plötzlich schrecklich angreifbar und verletzlich und eile zum Bett zurück. Ich habe Angst, in mich zusammenzusinken wie misslungenes Soufflee.
„Wenn ich alles rückgängig machen könnte …“, meine Stimme will mir schon wieder den Dienst versagen, wie vorher meine Beine. Ich setze mich schnell auf das Bett und habe das Gefühl, mich überrollt eine Wand aus Trauer, Angst, Schuld, Schmerzen und, als ich in Tims Gesicht sehe, tiefe Zuneigung.
Das ist mehr, als ich verkraften kann.
Tim ist mit zwei Sätzen bei mir und nimmt mein Gesicht in beide Hände. Seine schwarzen Augen sehen auf mich herunter und als wolle er nichts mehr hören und nur noch seinen scheinbar genauso durcheinandergeratenen Gefühlen freien Lauf lassen, beugt er sich zu mir runter und küsst mich.
Einen Augenblick erstarre ich perplex. Aber es ist nur ein Sekundenbruchteil und ich werde von dem Gefühl überrannt, das mich schon an der Waldhütte gepackt hatte. Ich schiebe meine Hände in seinen Nacken und erwiderte den Kuss gierig, meinen Hals völlig außer Acht lassend.
Tim drängt mich auf das Bett und ich lasse mich auf den Rücken fallen. Im nächsten Moment ist er über mir. Kurz hält er inne und stöhnt auf, sich mit beiden Händen abstützend. Doch seine glühenden Augen durchdringen mich und sein Unterleib presst sich auf meinen. Ich spüre seine harte Erektion, die sich an mich drängt, während er sich vorsichtig auf meinen Oberkörper gleiten lässt.
An meinem Hals spüre ich immer wieder den stechenden Schmerz meiner Wunde. Aber als wäre es etwas aus einer anderen Welt, ignoriere ich das und ziehe Tim ganz auf mich. Wir sind wie im Fieberwahn und unsere Gedanken scheinen völlig auszusetzen. Es ist nur noch fühlen und erleichtertes Wissen, dass uns immer noch eine tiefe Zuneigung verbindet.
Er keucht auf und schiebt sich zwischen meine Beine. Seine Zunge drängt sich erneut für einen gierigen Kuss zwischen meine Lippen und verschmilzt mit meiner in einem sinnlichen, allesverzehrenden Tanz.
Ich lasse meine Hände durch seine Haare gleiten und dränge ihm meinen Körper entgegen. Ich will ihn spüren, seinen Körper auf meinem fühlen und nie wieder aufhören ihn zu küssen …
Völlig verwirrt und überrascht von den Gefühlen, die er mir entlockt und die noch stärker sind, als an der Waldhütte, versuche ich einen klaren Gedanken zu fassen. Aber in meinem Kopf wird alles zu einem dichten Nebel, den nur noch die unglaublichen Empfindungen durchdringen können. Dieses Gefühlschaos ist unglaublich und nimmt mich völlig gefangen.
Tim versucht das Handtuch, das mich umschlingt, wegzuzerren. Er keucht ungehalten über mir und ich spüre seine Erektion zwischen meinen Beinen, gleich von nicht mehr viel Stoff abgehalten. Erneut umfangen seine Lippen meine in einem feuchten, heißen Kuss und ich ziehe die Knie an, die nicht mehr von dem Handtuch gefangen gehalten werden und dränge Tim damit ganz zwischen meine Beine. Ich spüre, wie er sich über mir windet und mit einer Hand seine Hose herunterzuzerren beginnt, ohne meine Lippen freizugeben.
„Verdammt, ich habe mich im Zimmer geirrt. Entschuldigung!“, höre ich einen überraschten Ausruf von der Tür her, die kurz darauf laut ins Schloss kracht.
Tim scheint das überhaupt nicht wahrgenommen zu haben. Aber in mir schrillen die Alarmglocken.
„Christiane?“
Mit einem Mal schaltet sich auch mein Gehirn wieder ein und ich sehe vor meinem geistigen Auge das Bild, das Tim und ich bieten müssen. Verdammt!
Ich schiebe Tim von mir weg, der noch mit seiner Pyjamahose kämpft und dessen Lippen, nur meinen Verband am Hals aussparend, nun nach unten wandern.
„Tim … Tim warte. Wir sind nicht allein.“
Er erstarrt und sieht sich um. Seine glühenden, schwarzen Augen sehen mich an und ich sehe den Hunger darin. „Doch, sind wir“, keucht er und will mich wieder küssen.
Ich dränge meinen Arm zwischen uns. „Nein! Christiane war eben an der Tür. Verdammt, verdammt, verdammt!“, zische ich aufgebracht und greife nach seinen Oberarmen, um ihn ganz von mir runterzuschieben. Seine Brust will ich nicht berühren, um ihm nicht unnötig wehzutun. „Die kommt gleich bestimmt zurück!“, rufe ich panisch.