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Nach dem von Carolin verursachten Unfall findet Tim sich im Jenseits wieder. Er kämpft sich durch die Astralwelt, in der ihn immer noch der Seelenanteil des Alchemisten zu manipulieren versucht und findet nur schwer seinen Weg in die höheren Dimensionen, wo er alles daran setzt, um wieder zu Carolin zurückkehren zu können. Unterdes tritt im diesseitigen Leben Tims Halbbruder Phillip in Carolins Leben und schürt in Erik die Angst, dass erneut jemand Carolin von seiner Seite reißen will. Er drängt Carolin zur Heirat. Aber auch das reicht ihm nicht, als die alte Wahrsagerin ihm offenbart, dass Carolin und Tims gemeinsames Schicksal sich immer noch erfüllen kann. Darum will er eine noch tiefere Bindung zu Carolin und ihm ist dafür jedes Mittel recht. Aber nicht nur Carolins Vergangenheit macht Erik zu schaffen, auch seine drängt auf ungeahnte Weise wieder ans Licht und bedroht ihre Zukunft. Und sie ahnen nicht, was für Pläne Tim im Jenseits schmiedet.
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Seitenzahl: 562
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Sabine von der Wellen
Die Hoffnung aus dem Jenseits
Teil 1 Tims Macht
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort - Vorgeschichte
Tim – Im Jenseits
Julian
Tim
Phillip
Tim
Phillip
Tim
Phillip
Carolin
Erik
Tim
Carolin
Erik
Tim
Carolin
Erik
Tim
Carolin
Erik
Tim
Impressum neobooks
Das Buch „Die Hoffnung aus der Vergangenheit - Tims Schicksal“ geht dieser Geschichte voran.
Darin begab Tim sich auf die Suche nach dem Mädchen aus seinen Träumen, die in großer Gefahr zu schweben schien. Er glaubte, dieses Mädchen in Carolin zu finden, die genauso wie er von dem längst verstorbenen Alchemisten Kurt Gräbler manipuliert wurde. Er sah in ihr sein Schicksal und seine große Liebe, was sie anfangs auch erwiderte. Doch als er auf Carolins Bruder Julian stieß, und in ihm seinen eigenen Halbbruder erkannte, wusste er, dass er damit denjenigen gefunden hatte, der zur Gefahr für ihn und Carolin werden würde.
Carolin wollte ihm das nicht glauben und ebnete damit den Weg für Julian, der daraufhin seine beiden Halbgeschwister in sein Labor verschleppte, um dort durch ihren Tod den Alchemisten in sich auferstehen zu lassen.
Julians Freund Marcel, der sich in Carolin verliebt hatte, rettet sie. Doch dieses schlimme Ereignis blieb nicht ohne Folgen. Es veränderte Carolins Gefühle, die sich daraufhin auf Marcel einließ.
Tim, von Carolins Abfuhr schwer getroffen, begann um ihre Liebe zu kämpfen– erst gegen Marcel und dann gegen Erik, in den Carolin sich verliebte.
Tims Überzeugung, dass Carolin und er ein gemeinsames Schicksal verband, wurde von einer alchemistischen Vereinigung bestärkt, die ihn, Carolin und Julian für die Auserwählten hielten, die den längst verstorbenen Alchemisten auferstehen lassen können. Sie wollten so an sein Wissen über die Unsterblichkeit gelangen. Aber Tim wollte nur Carolin für sich und entführte sie.
Nach einer gemeinsamen, unheilvollen Nacht kam es zu einem von Carolin ausgelösten Autounfall, der eigentlich ihr Leben beenden sollte. Doch es traf Tim und riss ihn in den Tod.
Dichte, seltsam wabernde Dunkelheit umschließt mich. Es gibt keinen körperlichen Schmerz mehr, nur noch diese innere Betroffenheit. Eine Betroffenheit wegen dem, was passierte und was man mir angetan hat.
Ich fühle meinen Körper nicht mehr. Aber meine Beine sind unversehrt und auch mein Unterleib. Alles an mir ist in Ordnung. Nur spüren kann ich mich nicht. Dabei hatte ich mich genau dort bei dem Unfall verletzt und Schmerzen gefühlt, wie noch nie in meinem Leben zuvor.
Der Unfall!
Wir waren auf dieser Bergstraße, fuhren die kurvige Straße hoch …
Mein Körper ist noch da, aber die Welt um mich herum ist weg. Und in meinem Inneren liegt bleischwer diese Betroffenheit und scheint das einzige zu sein, was ich fühle.
„Was habt ihr getan?“, höre ich eine Stimme aufgebracht aufstöhnen. „Was tut ihr mir an?“
Ich sehe mich um und versuche die Person auszumachen, die ich höre. Aber meine Augen können offenbar diese Masse um mich herum nicht durchdringen oder sie sind geschlossen. Ja, das muss der Grund sein. Meine Augen sind geschlossen.
Ich will sie öffnen, was mir aber nicht gelingt. Mein gedanklicher Befehl an meine Augen scheint nicht zu fruchten. Es bleibt seltsam dunkel um mich herum.
„Ihr habt alles zerstört!“, höre ich es fassungslos rufen und es vibriert in mir wie ein Echo: zerstört … zerstört … zerstört. Es scheint mit jedem Widerhall wütender zu werden.
Ich will etwas fragen, aber ich habe keine Stimme mehr. Ich kann nicht mal meinen Mund öffnen.
Ich will wissen, wo ich bin, aber die Erinnerung an das, wo ich vorher war, verwischt immer mehr. Es gibt nur Fetzen, die sich nicht festhalten lassen und immer noch diese Betroffenheit, die alles übermächtig zu überdecken scheint.
Ich kann nichts. Nicht mal mich vernünftig bewegen. Irgendwie scheint mein Kopf keine Befehle mehr erteilen zu wollen und mein Körper keine mehr auszuführen.
Verzweiflung packt mich und ich will mich erinnern. In meinem Kopf müssen doch Gedanken sein, sich Wissen aufhalten. Aber er ist leer, als hätte man ihn ausgehöhlt.
Ich bekomme Angst und fühle an meine Brust. Zumindest glaube ich, meine Hand auf meine Brust zu legen. Ich spüre aber weder einen Druck noch die Wärme meines Körpers noch meinen Herzschlag.
Ich bin verwirrt.
Mein Körper scheint wie aus Wasser zu sein, das jeden Moment seine Form verliert und dann mit einem großen Platsch zu einer formlosen Pfütze wird, die in alle Richtungen rinnt und versiecht.
Aber ich muss mein Herz spüren. Es muss mir wehtun. Auch wenn ich nicht mehr weiß, warum. Es muss schmerzen … wie verrückt!
„Nein, nein Tim, denk nicht an SIE, denk an MICH! Du musst mich bei dir behalten, sonst bin ich verloren!“, schreit in mir diese Stimme. „Und du musst zurückkehren. Schnell! Bevor es zu spät ist.“
Wohin soll ich zurückkehren? Ich weiß nicht mal, wo ich jetzt bin.
„Bitte … geh zurück!“, heult die Stimme auf. Und dann, als wenn eine Hoffnung aufsteigt: „Sie wird dir verzeihen und dich erneut lieben. Du musst nur schnell zu ihr zurückkehren. BITTE, GEH ZURÜCK!“
Langsam scheint die Betroffenheit zu weichen und der dunkle Nebel beginnt sich zu lichten, weil diese Worte etwas anderes in mir auslösen. Es ist eine sich aufbäumende Sehnsucht nach etwas, das genau dort entsteht, wo eigentlich mein Herz sein muss. Das Gefühl wird stärker und stärker und wallt durch meinen Körper.
„Sei kein Dummkopf! Du musst zurückgehen! Los, geh zurück!“, faucht diese Stimme nun wütend und zu meiner Sehnsucht gesellt sich Wut.
Ich will fragen, wohin ich zurückgehen soll. Aber ich habe immer noch keine Stimme.
In mir tobt es mittlerweile wie ein kleiner Wirbelsturm. Ich fühle mich seltsam. Da ist diese Sehnsucht, die ich ganz klar spüre, aber auch diese Betroffenheit und Wut. Aber ich scheine keine Anbindung an meinen Körper zu haben, glaube ihn aber noch zu besitzen. Er ist irgendwie noch vorhanden, wirkt aber durchscheinend und machtlos.
Ich versuche zu ergründen, was um mich herum ist. Da muss doch was sein.
Der Nebel wird plötzlich heller und ich glaube einen winzigen Punkt, der wie eine kleine Glühbirne durch den Nebel leuchtet, ausmachen zu können.
Ich starre auf diesen Punkt und etwas in mir zieht mich dort hin. Und ich bewege mich tatsächlich. Nicht mit einem Schritt, sondern wie auf einem Fließband … ohne mich selbst anzustrengen. Und dann taucht aus dem Nebel eine Gestalt auf. Sie ist groß und von dem Nebel so durchdrungen, dass ich eigentlich nur einen riesigen Umriss wahrnehmen kann. Und sie reicht mir ihre Hand.
Ich habe keine Angst vor dieser Gestalt. Ich fühle mich zu ihr hingezogen. Irgendwie scheint sie mir vertraut zu sein.
Ich will diese mir dargebotene Hand ergreifen, als es in mir aufkreischt: „Neeiiin!“
Es ist wie eine Explosion in meinem Inneren. Ich sinke in die Knie und rolle mich zusammen, von einer plötzlichen Angst ergriffen, die mich erschüttert.
Erneut erklingt die Stimme, nun flehend. „Tim, mach das nicht! Behalt mich bei dir, bitte! Dein Leben als Tim kann noch nicht vorbei sein. Das darf nicht sein!“
Ich bin vor Angst wie gelähmt und dennoch versuche ich zu verstehen, was die Stimme meint. Und wo ist die Person dazu? Warum höre ich sie nur?
Langsam, fast wie gequält, schiebt sich etwas aus mir heraus. Es ist wie ein jämmerlich zusammengekauertes Männchen, das dunkel und klein von dem grauen Nebel fast verschluckt wird. Aber seine Arme wedeln dünn wie Seidenpapier in meine Richtung und versuchen sich an mir festzuklammern.
Ich fühle mich plötzlich seltsam allein und doch befreit. Außerdem spüre ich meine Angst nicht mehr ganz so alles zersetzend und der dunkle Umriss des Männchens sinkt vor mir in den grauen Nebel, als könne er nicht allein stehen. Doch dann rafft er sich auf und schiebt sich dicht an mich heran, wie ein Schatten.
„Tim, sieh mich an. Sieh mich mit dem Gefühl in dir an und lass es zu. Du kennst mich. Ich gehöre zu dir. Ich bin wie ein Teil von dir“, murrt es vor mir.
Ich will den Kopf schütteln, als der kleine Mann zischt: „Fühl verdammt! Fühl, wer ich bin! Du kennst mich! Ich gehöre zu dir!“
Ich will etwas antworten, kann aber nicht.
„Fühl Junge! Was spürst du, wo ich nun vor dir stehe? Was ist es?“, zischt der Alte, ohne dass sich etwas in seinem seltsam durchscheinenden Gesicht regt.
Meine Angst legt sich und langsam schiebt sich ein Erkennen durch mein Inneres.
„Jaaa“, raunt der Alte, als würde er in der warmen Sonne stehen. „Jaaa, fühl es. Wer bin ich? Fühl es!“
Ich will wieder meinen Mund aufmachen, aber da kommt nichts raus und der Alte brüllt ungehalten: „Nicht so. Fühl, verdammt! Hier können wir uns nur durch Emotionen verständigen.“ Seine Wut trifft mich wie ein Faustschlag.
In mir bäumt sich etwas auf und ich will ihn nicht mehr bei mir haben.
Augenblicklich ist alles um mich herum leer. Der Mann ist noch seicht in dem Nebel zu erahnen, aber ich habe irgendwie die Verbindung zu ihm verloren. Dafür spüre ich etwas anderes in mir hochtreiben. Es ist wieder diese Sehnsucht, gepaart mit einer Betroffenheit über etwas, das ich nicht klar benennen kann. Aber langsam lichtet sich der dunkle Nebel um mich herum und Erinnerungsfetzen drängen an die Oberfläche, lassen sich aber noch nicht greifen.
Ich versuche den kleinen, alten Mann auszumachen, der aber verschwunden zu sein scheint. Suchend wende ich mich um und plötzlich raunt der Alte neben mir: „So ist es gut. Lass mich bei dir sein. Schick mich nicht weg. Und spür deine Emotionen. Du musst das erst wieder erlernen. Das muss man immer. Also streng dich an. Wenn du mich brauchst, denk an mich. Fühl mich zu dir. Lass deine Gefühle zu. Sie werden dich leiten. Nichts anderes gibt es hier. Nur deine Gefühle. Sie bringen dich, wohin du willst und nur mit ihnen kannst du hier kommunizieren.“
Ich erhebe mich langsam und überrage den seltsam verunstalteten Körper vor mir um fast zwei Köpfe. Und mit meinem mich erheben scheint auch etwas in mir zu wachsen. Ich habe das erschreckende Gefühl, mich unendlich ausdehnen zu können. Was ist bloß mit mir los? Und warum bin ich hier in diesem Nebel?
Ich will mich erinnern, wo ich vorher war und augenblicklich bricht der Nebel um mich herum auf.
„Ja, erinnere dich an mich. Ich war immer bei dir. Ich habe dich geleitet und dir den richtigen Weg gezeigt. Durch mich hättest du etwas Großes werden können. Du warst dazu bestimmt. Dafür hättest du SIE nur dazu bringen müssen, sich nicht gegen den Teil von mir in sich zu wehren und du hättest dich mit ihr einfach nur vereinen sollen, um eure Teile von mir in einem neuen Körper zusammenzuführen. Aber was passiert? Du drehst durch und SIE … SIE…!“ Die Stimme versinkt in Schluchzern.
Bei seinen Worten, die mein Innerstes durchdringen, bricht etwas in mir auf.
Plötzlich erinnere ich mich an diesen Mann. Und ich erinnere mich an mich. Ich bin Tim und der Mann war die Stimme in mir, die mich von klein auf begleitet hatte. Erst nur als Freund, wenn ich einsam war. Doch später auch als Wegweiser. Er wollte etwas von mir. Deshalb war er bei mir. Er wollte …
„Ja, endlich erinnerst du dich.“
Er wollte, dass ich ihm half wieder ein Ganzes zu werden. Er hatte in seinem Leben als Alchemist Unsterblichkeit erlangen wollen, aber mit seinem Gebräu offenbar nichts erreicht, außer sich in seinen Nachkommen auszubreiten und sie zu manipulieren. Er war in mir gewesen und hatte mich in eine bestimmte Richtung lenken wollen. Aber in welche?
Nur langsam lichten sich die Nebel, die nicht nur um mich herum, sondern auch in mir zu sein scheinen.
Er wollte, dass seine Teile wieder zusammengefügt werden, damit er wieder leben kann. Seine Teile …?
Ich erinnere mich an ihn in mir. Aber alles andere will nicht aufbrechen.
„Auch die anderen hatten mich in sich. Erinnere dich endlich!“, zischt der Alte ungeduldig.
Es ist wie ein Stromschlag, der mich heiß durchrinnt. CAROLIN!
Plötzlich ist alles wieder da.
Er wollte, dass ich dieses Mädchen suche, die mich durch meine Träume begleitet hatte und mir darin ewige Liebe schwor. Und ich fand sie und eine Liebe, die mich heißer durchdrang als irgendetwas anderes. Nicht mal meine Liebe zur Musik konnte das wettmachen. Nicht mal die Menschen, denen das Herz aufging, wenn ich am Piano spielte. Nicht mal meine Mutter. Nur noch SIE!
„Ja, mit ihr solltest du meine Seelenteile zusammenführen. Dafür wart ihr bestimmt. Das war eure Bestimmung!“
In mir bäumt sich etwas auf. „Nein, meine Bestimmung war sie zu lieben“, und dann bricht wieder diese Betroffenheit und ein Schmerz über mich herein. Aber ich kann nicht zuordnen, warum ich so unendlich bestürzt bin und von was.
„Du erinnerst dich an SIE. SIE, die uns nicht wollte. SIE, die alles zerstörte. Jetzt ist alles vorbei. Meine Chance, meine einzige Chance - ihr habt sie zerstört!“, zischt es neben mir resigniert.
Und tatsächlich ist da etwas, das meinen Nebel aufreißt und diese Sehnsucht weiterwachsen lässt und ich spüre das Entsetzen darüber, etwas Wichtiges verloren zu haben. Und dann taucht es vor mir auf und der Nebel lüftet sich, als würde er zurückgedrängt werden.
In einiger Entfernung steht ein dunkler Haufen unförmig an einen Baum gepresst. Ich erkenne Gestalten, die um diesen Haufen Blech herumlaufen und langsam dringen ihre aufgebrachten Gefühle zu mir durch den Nebel, der sich weiter auseinanderschiebt. Ich spüre ihre Angst, zu spät zu kommen, ihr Entsetzen über das, was sie erleben und die Resignation, schon zu spät zu sein. Alles prasselt auf mich ein.
Im gleichen Moment spüre ich die Hoffnung des alten Mannes in mir aufkochen. „Ja, geh zurück. Du bist offenbar noch nicht ganz von der Welt losgelöst. Geh zurück. Du kannst zurückkehren!“ Die letzten Worte hallen hysterisch in mir wider.
Aber ich starre nur auf dieses nebelige, wabernde Bild, das sich vor mir immer mehr lichtet. Und dann reißt etwas den schwarzen Haufen Metall auseinander.
Zwei Gestalten ziehen jemanden aus der dunklen Masse und legen einen Körper auf den Boden, während andere sich eilig darüber beugen.
Ich nähere mich dem Geschehen wieder auf diesem Fließband, das den Nebel sich weiter lichten lässt, und sehe auf diesen mir so vertrauten Körper, der von zwei hektisch agierenden Gestalten umringt wird. Ich spüre ihre Zielstrebigkeit und wie ihre Gedanken beginnen stur gradlinig zu laufen, um die Resignation und Traurigkeit, die immer wieder aufwallen will, zu unterdrücken. Aber es gelingt nicht immer und ich fühle ihre Angst, erneut zu spät zu sein und nichts mehr tun zu können.
Ihre Emotionen zu spüren und somit ihre Gedankengänge erraten zu können, verwirrt mich. Ich höre sie nicht und ich sehe sie nicht so, wie mit meinen Augen. Alles ist fokussiert, in seltsame Farben gehüllt und wie aus dem Kontext einer ganzen Szene gezogen, die sich da gerade abspielt. Ich bin Zuschauer und sehe nur einen bestimmten Teil. Alles andere darum herum scheint sich in dem Nebel aufzulösen.
Und dann bin ich neben ihnen und sehe auf die Gestalt am Boden hinab. Fast augenblicklich brechen in mir alle Emotionen auf und schlagen über mir zusammen. Und mit all diesen Gefühlen haucht etwas aufgebracht in mir: Carolin!
Sie wird hochgehoben und weggebracht.
Ich will hinter ihr herlaufen. Aber mein Fließband ist stehen geblieben und will sich einfach nicht hinter ihr her bewegen. Es ist wie eine durchsichtige Wand, die ich nicht durchdringen kann.
In mir toben immer noch alle Gefühle durcheinander und ich verstehe nichts. Ich will aber zu ihr. Meine Sehnsucht drängt mich dazu. Warum spüre ich die Emotionen der anderen Menschen, aber sie nicht. Warum?
Der Nebel scheint sich weiter aufzulösen und Schneisen freizugeben. Ich sehe den großen, weißen Wagen, in dem sie mit Carolin davonfahren und dann taucht eine andere Gestalt auf. Es durchzuckt mich und dunkle Wut schiebt sich durch mein Innerstes. Erik! - schießt es wie ein brennender Pfeil durch mich hindurch.
Bei ihm spüre ich das Gefühl der Wut dunkel und kalt in mir hochbrodeln, während alles andere in mir ängstlich und wehmütig wird, wenn ich meine Sinne auf das Wageninnere des wegfahrenden Krankenwagens richte.
„Nein!“ dröhnt plötzlich ein Aufschrei in meinen Kopf, und das Gefühl, das mich wie eine Druckwelle nach einer Bombe trifft, wütet durch mein Inneres. Und es ist nicht mein Aufschrei und mein Gefühl. Es kommt von Erik und durchdringt mich wie das Sägeblatt einer Kreissäge.
Erschrocken falle ich zurück in den Nebel, der mich zurückzieht und sich um mich schließt. In mir vibriert alles und ich fühle nur blankes Entsetzen.
„Hast du es nun begriffen?“, spüre ich die Stimme des alten Mannes aufgebracht zischen.
Ich sehe mich nach ihm um, noch immer von dem Gefühl, das Erik durchflutet hatte, wie erstarrt. Dass ich die Intensität seiner Gefühle so fühlen konnte, erschreckt mich. Seiner Gefühle für Carolin, die nicht ihm gehört, sondern mir - und seine Angst um sie.
„Ja, sie gehörte dir. Sie war für dich bestimmt. Tim, ich bin ein Teil von dir, wie ich auch ein Teil von ihr bin. Ich habe euch verbunden. Ihr nahmt mich mit in euer Leben, dass du nun aus Dummheit weggeworfen hast.“
„Kurt?“ Es ist mehr das Aufbäumen von einer Verdrossenheit, die sich in mir auftürmt. Er war mein Vorfahre, schon mehrere Jahrzehnte tot, und hing sich an mich, als ich mein Leben als Tim begann. Er tat so, als wäre er mein Freund, als ich noch ein Kind war. Ich spürte ihn immer in mir. Aber keiner wollte mir das glauben. Weder meine Mutter noch sonst wer.
„Tim, ich bin dein Freund. Immer schon gewesen. Du musst mir jetzt vertrauen“, spüre ich seine Antwort auf mein verdrossenes Gefühl.
Das ist mir alles zu viel. Angstvoll frage ich mich erneut, was los ist. Ich bin nicht dort, wo ich sonst Kurt begegnet war. Nichts ist wie da, wo ich Kurt immer begegnet war. Aber mit der Erinnerung an ihn kommt auch vieles andere aus meinem Leben hoch und drischt völlig verwirrend auf mich ein.
Als ich älter war, schickte er mir Carolin in meine Träume, in die ich mich so unglaublich verliebte. Er gab mir die Hoffnung, sie im wirklichen Leben auch finden zu können und ich suchte sie. Aber als ich sie fand, wurde uns klar, warum wir uns finden mussten. Er wollte seine Teile in uns zusammenführen.
Ich war damit einverstanden. Ich wollte alles tun, um mit Carolin zusammen sein zu können. Aber sie wehrte sich gegen seine Manipulation und somit auch gegen unsere Liebe, und hing sich an andere Kerle.
Immer mehr Erinnerungsfetzen drängen hoch, aber auch meine alte Sehnsucht, die Carolin immer wieder in mir auslöste. Ich sehe mich in meinem Auto, sie neben mir. In mir war eine unglaubliche Wut, aber ich weiß nicht warum. Und dann höre ich sie plötzlich sagen: „Tim, das letzte Nacht war das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Ich liebe dich nicht. Ich hasse dich! Und wenn du wüsstest, was Erik bei mir auslöst, würdest du dich schämen. Du gibst mir nichts, gar nichts, nicht mal ein Hauch von Nichts.“
Erneut bricht eine tosende Betroffenheit über mich herein. Wie konnte sie mir so etwas sagen? Warum tat sie mir das an?
Ich erinnere mich daran, dass ich sie sah, als man sie aus einem völlig demolierten Autowrack zog. Was war mit ihr geschehen?
„Du bist bei diesem Unfall gestorben“, knurrt die Gestalt vor mir erbarmungslos.
In mir drängt eine seltsame Einsicht hoch, dass er recht haben könnte und beängstigende Fetzen von Ereignissen ziehen in mir wie Gewitterwolken auf. Ich sehe mich in meinem Auto und neben mir Carolin, die völlig außer sich ist. Und ich bin es auch. Außerdem spüre ich Wut und Resignation. Und dann beugt sich Carolin zu mir herüber und greift nach dem Lenkrad. Ich kann nicht gegen sie ankämpfen und gleichzeitig das Auto unter Kontrolle bringen und es rast von der Fahrbahn, knallt an Bäume und bleibt an einem hängen …
Ich spürte diesen gewaltigen Schmerz durch meine Beine und meinen Unterleib schießen und dann nichts mehr, weil ich keine Verbundenheit mehr mit meinem Körper spürte.
„Das kann nicht sein! Ich muss zurück!“, bricht es entsetzt aus mir hervor. Aber mir wird klar, dass es nicht mein eigener zerstörter Körper ist, der mich so voller Sehnsucht und Trostlosigkeit an dieses Szenario bindet, jenes sich gerade vor meinem inneren Auge abspielte.
„Carolin …!“ In mir braut sich wieder diese Sehnsucht wie ein Sturm zusammen und drängt los, ohne zu wissen, wohin.
Wieder schallt es anklagend: „Sie ist nicht hier!“, und dann spüre ich eine Wut in mir aufkochen, die nicht meine ist. „Sie hat alles zerstört! Mich … dich! Dabei war alles perfekt!“ Und dann überschwemmt mich eine Traurigkeit, die auch nicht von mir ist, und der Alte raunt in mir: „Sie hat sich die ganze Zeit immer nur gegen mich gewehrt. Aber warum musste sie uns auch noch zerstören? Warum hat sie das gemacht?“
Ich bin von seiner Wut und Traurigkeit zwar erschüttert, kämpfe aber immer mehr mit meiner Sehnsucht, die mich an Carolin bindet und mich zu ihr drängt, jetzt, wo ich mich wieder erinnere.
In mir braust es resigniert auf: „ES GEHT UM MICH!“ Der Alte klingt weinerlich und fassungslos. Ein Haufen jämmerlicher Emotionen toben durch mein Innerstes, begleitet von Bildern. Aber es sind nicht meine Emotionen. Sie kommen von diesem Mann, der mich irgendwie teilhaben lässt. „Du hättest nicht sterben dürfen! Unsere Zeit war noch nicht gekommen! Ihr solltet meine Seele retten. Das war meine einzige Chance … und ihr habt sie weggeworfen. Ihr habt alles zerstört! Und nun sind wir wieder hier. Meine Chance ist vertan.“
Ich weiß nicht, was ich mit diesen Emotionen, die auf mich eindreschen, anfangen soll. Ich verstehe sie auch nicht. Aber ich spüre meine unglaubliche Trauer, weil ich nicht bei Carolin bin. Wo ist sie? Auch hier irgendwo … allein, so wie ich?
Nein, sie hat genauso ihren Anteil Kurt Gräbler bei sich, der sie wahrscheinlich genauso niedermacht, wie mich meiner. Wahrscheinlich ist er sogar noch wütender, weil sie uns alle auslöschte.
Erst jetzt wird mir klar, was das eigentlich heißt. Carolin hat uns absichtlich in den Tod geschickt. Warum hat sie das getan? Hasste sie mich wirklich so sehr?
Nein, wir liebten uns doch!
Ich lasse mich in den dunklen Nebel sinken, der mich irgendwann zu halten scheint. Um mich herum ist nichts als Dunkelheit. So stelle ich mir das Leben nach dem Tod vor. Dunkel, trist und ohne Carolins Liebe eisig kalt.
Nun glaube ich sogar Kälte zu spüren. Feuchte, grausige Kälte, wie sie in so einem nasskalten dunklen Nebel bestimmt herrscht.
Erneut frage ich mich, warum Carolin mich in diese Welt verbannte. Ich liebte sie mehr als alles andere. Auch jetzt wünsche ich mir nichts mehr, als an ihrer Seite zu sein. Egal, wo sie gerade ist.
Ich sehe ihr Gesicht vor mir und ihr Lachen. Ich sehe, wie sie mir ihre Finger entzog, die ich ableckte, nachdem sie mich mit dem Fleisch ihres Hähnchens gefüttert hatte. Ich sehe ihren hingerissenen Blick, als sie durch den Saal auf mich zukam und sich neben mich auf die Bank vor den Flügel setzte, während ich nur für sie spielte. Ich spüre unsere Küsse und die Gefühle, die ich bei ihr erfahren durfte, wenn wir miteinander schliefen. Ich sehe ihre Tränen, als ich sie zur Schule brachte und wieder zu meiner Musicaltour aufbrechen musste und ich höre ihre Stimme, die mir am Telefon versicherte, dass sie auf mich warten wird. Es ist seltsam, wie ich in mich hineinsehen kann und dieses Meer aus Emotionen und Bildern, die diese Gefühle auslösen, sehe. Ich spüre erneut diese Sehnsucht, bei ihr sein zu wollen.
Der Alte keift neben mir: „Sie gehört immer noch zu dir. Wir müssen einen Weg finden, dass du zu ihr zurückkehren kannst. Es darf nicht zu Ende sein. Kämpf!“ Die Emotionen dazu überwältigen mich und machen mir Angst vor der Endgültigkeit, die sie mir aufzeigen, wenn ich nicht gehorche. „Geh zurück! Du hast hier noch nichts zu suchen, verdammt. Geh zu ihr zurück! Sie haben dir dieses Leben nicht gegeben, um es wegzuwerfen!“
Eine geballte Verzweiflung packt mich, dass ich Carolin verloren haben könnte. Dass es schon zu spät ist. Ich will zu ihr, mich an sie hängen und nie wieder loslassen.
Diese Sehnsucht wird übermächtig und verdrängt alles andere.
Der Nebel um mich herum verdichtet sich wieder und der kleine Mann wird unscheinbarer und weit davon zurückgedrängt. Ich will ihn nicht mehr bei mir haben. Ich will SIE und niemanden sonst. Und ich habe Angst vor diesem Zustand hier und vor diesem Dasein, in das ich geschubst wurde.
Ich kann nicht tot sein. Das kann nicht!
Ich sehe mich um und versuche den Nebel zu durchdringen, um wieder dahin zu kommen, wo Carolin ist. Und der Nebel lichtet sich augenblicklich erneut und gibt wieder den dunklen Haufen Metall frei und eine Gestalt, die langsam einen grauen, langen Sack mit einem Reisverschluss zuzieht. Und bevor er ganz zugeht, bin ich plötzlich neben diesem unförmigen Sack und sehe in mein Gesicht, das weiß und von Rinnsalen roten Blutes gezeichnet in dem Grau verschwindet.
ICH BIN TOT!
Ich spüre, dass mit der neuen Erkenntnis, die mich durchflutet, auch die letzte Anbindung zerreißt.
Der Nebel schließt mich wieder ein und saugt mich nach irgendwo. In mir fleht alles: „Bitte, ich will zu ihr! Wo ist sie?“ Das ist alles, was mich aufrecht hält und alle meine Gefühle scheinen sich auf etwas zu richten, das ich aber nicht festhalten kann.
„Geh zurück! Das war deine Chance!“, kreischt die Stimme des alten Mannes von irgendwoher hysterisch und ich blicke mich verständnislos um. Wohin soll ich zurückgehen?
„Zu spät“, wimmert es niedergeschlagen und ich spüre, wie es sich widerwillig ganz von mir entfernt und verschwindet, und auch zu ihm die letzte Anbindung endgültig zerreißt. Ich fühle mich plötzlich allein. Allein, einsam und traurig. Ich will zu ihr! Ich will nicht hier sein.
Erneut sacke ich in den schwarzen Nebel zusammen, der mich dennoch hält, und versinke in einer Verzweiflung, die mich niederdrückt. Mir wird langsam klar, ich bin nicht mehr in der Welt, in der ich Tim war. Aber wo bin ich?
„Tim!“ höre ich plötzlich eine sanfte Stimme in mir raunen. „Du bist fast Zuhause. Komm mit mir mit und ich bringe dich Heim.“
Ich bin fast Zuhause? Blödsinn! Mein Zuhause ist bei Carolin.
„Das war nur ein Leben. Es hat nun keine Bedeutung mehr. Es ist vorbei. Du bist wieder in deiner Dimension … und nicht weit von deinem wirklichen Zuhause entfernt. Du wirst es bald begreifen. Komm mit mir mit.“
Langsam durchflutet mich eine Art von erkennen. Ich habe die materielle Welt verlassen und bin wieder in meiner Welt, der ich entstamme. Aber mit Erschrecken wird mir bewusst, dass ich hier für immer von Carolin getrennt sein werde.
Das Entsetzen darüber ist grenzenlos und nicht auszuhalten. Ich will zu ihr zurück!
Mit diesem Wunsch drängt eine seltsame Wärme in mir hoch, die mich langsam durchflutet. Eine Welt aus weißen Bildern mit roten Punkten und einem heißen Flackern erscheint. Das Bild, das diese Wärme in mir auslöst, wird klarer. Ich sehe mich um und langsam verdichtet sich alles und nimmt Konturen an. Weiße Möbel, ein weißes Bett und ein flackerndes Feuer. Das Bett zieht mich magisch an. Eine Sehnsucht zieht mich neben diejenige, die dort liegt und auf mich wartet. Ich schiebe mich an sie heran, dränge mich an sie und bin glücklich. Da bin ich endlich, wo ich sein will. Ich habe sie wieder.
„Ich will dich nicht, geh weg“, höre ich etwas in mir wütend zischen und sehe auf. Grünblaue Augen starren mich an und sagen zu mir: „Geh weg, Tim! Lass mich in Ruhe!“
Augenblicklich falle ich von dem Bett, aus dem Weiß dieses Traumes und hinaus aus dieser Welt. Ich werde regelrecht hinausgeschleudert, als hätte ich dort nichts mehr zu suchen und schreie verstört: „Nein, bitte …!“
„Wenn du wüsstest, was Erik in mir auslöst, würdest du dich schämen“, hallen Worte hinter mir her, wie ein Echo.
Es ist wie ein Tritt. Ich versinke wieder in meinem dunklen Nebel, von Carolins Ablehnung tief getroffen.
„Ich sterbe lieber, als bei dir zu bleiben“, ist da erneut ihre Stimme in mir und schleudert mir ihre Abneigung und Wut entgegen.
„Nein, bitte!“, jammere ich erneut auf und fühle mich schwach und gedemütigt. „Bitte, mach das nicht! Lass mich hier nicht allein!“
Aber ich bin wieder allein. Völlig allein. Und meine Traurigkeit und Angst drückt mich wieder in den schwarzen Nebel.
„Tim!“, ist da plötzlich wieder die unglaublich sanfte Stimme und ich erinnere mich nun, dass ich sie schon öfters hörte. Sie kam zu mir, als ich voller Schmerzen und Angst in meinem Auto festsaß. Als sie mich berührte waren diese Schmerzen augenblicklich weg und meine Angst wie weggewischt. Und ich konnte mich bewegen und Carolin ansehen.
Ich erinnere mich plötzlich, dass ich sie in dem Moment fragte: „Warum hast du das gemacht? Ich war dir mal wichtig!“ Mir muss in diesem Augenblick bewusst gewesen sein, dass ich sterbe, dass mich diese Gestalt mit der sanften Stimme in eine andere Welt bringt. Aber ich konnte nicht gehen. Ich war noch nicht dazu bereit. „Wir haben uns doch geliebt und jetzt bringst du mich um? Bist du damit glücklich?“, wollte ich von Carolin wissen, die mir aber nicht antwortete. Sie sah mich nur aus ihren blaugrünen Augen an. Dann begann etwas an mir zu zerren, und ich flehte Carolin an: „Bitte, komm mit. Ich will nicht ohne dich gehen. Ich kann es nicht! Carolin, ich habe Angst! Lass mich nicht allein!“
Und bevor ich von der Gestalt ganz aus dem Szenario gezogen wurde, rief ich noch: „Ich liebe dich!“. Sie sollte das wissen. Unbedingt. Und dann wurde es dunkel um mich herum und alles verschwand.
„Tim, komm mit mir mit. Dies ist nicht dein Zuhause. Ich bringe dich Heim! Diese Welt hier ist nur eine Zwischenstation, in der du nicht zu lange verweilen solltest.“
Ich verstehe nichts. Aber ich erkenne den hellen Umriss, der über mir steht und mir seine Hand hinhält. „Ich will dir helfen. Es tut mir leid, dass es dich so unvorbereitet traf. Dann ist es immer besonders schwer.“
Widerwillen macht sich in mir breit. Ich kann hier nicht weg. Hier habe ich wenigstens meine Erinnerungen und meine Hoffnung, doch noch zu Carolin zurückkehren zu können. „Nein, ich will nicht! Lass mich hier!“
Ich rolle mich zusammen und lasse mich in den dunklen Nebel sinken, der mich umschlingt und einbettet. Erneut versuche ich mich an Carolin zu erinnern.
Plötzlich raunt Kurt Gräbler neben mir verschwörerisch: „Willst du sie sehen? Ich bringe dich zu ihr. Komm!“
Ja, ich will zu ihr. Ich will sie sehen. Dieses Gefühl wird übermächtig.
Ich werde aus dem schwarzen Nebel gezogen, wie ein festgetretenes Kaugummi von einem Linoleumboden und sehe eine weiße Tür vor mir.
„Sie ist da drinnen, geh zu ihr. Sie wartet auf dich“, raunt Kurt Gräbler verschwörerisch.
Ich sehe mich verwundert um und kann nicht begreifen, was los ist. Es gibt nur diese Tür und ich weiß nicht, was ich tun soll.
„Geh zu ihr“, zischt er barsch und ich sehe mich wieder unschlüssig um.
„Denk dich zu ihr … Tim, wünsch dich zu ihr, los!“, befiehlt er mir aufgebracht.
Ich bin völlig verunsichert und weiß nicht wie.
„Fühl, Tim! Emotionen sind alles, was dir in dieser Welt bleibt und was dich bewegt. Deine Schwingungen erzeugen die passenden Resonanzfelder, in denen du dann wirken kannst. Fühl!“, giftet es mir entgegen und ich werde wütend und will ihn nicht mehr bei mir haben.
Im nächsten Moment falle ich wieder in meinen schwarzen Nebel, der mich noch tiefer in sich eingräbt.
„Schlecht, ganz schlecht“, kommt es resigniert. „Du bist hoffnungslos dumm. So siehst du sie niemals wieder.“
Ich erschrecke vor dem, was mir da zu verstehen gegeben wird und zische wütend: „Lass mich in Ruhe! Hau ab!“
Ich spüre, wie etwas sich erneut widerwillig von mir entfernt und ich bin wieder allein. Resigniert und aufgebracht will ich mich tiefer in den Nebel sinken lassen. Aber etwas drängt mich dazu, mich dem zu stellen, was mich so tief in meinem Inneren umklammert und was ich nicht klar benennen kann. Die aufsteigende Sehnsucht, die langsam die Wut und Resignation verdrängt, wünscht sich wieder vor diese Tür und zu einer neuen Chance. Es ist wieder wie ein sanftes Ziehen, das mich packt und aus dem Nebel reißt und ich stehe erneut vor der Tür, die allein mitten im Nichts zu stehen scheint.
„Denk dich zu ihr“, säuselt die Stimme des Alten und ich lasse die Sehnsucht zugreifen und denke mit all der Liebe an diesen einen Menschen, dem für immer mein ganzes Sein gehört.
Die Tür geht nicht auf. Aber das Fließband schiebt mich durch sie hindurch und in einen Raum, in dem in einem weißen Nebel ein Bett steht und darin sehe ich sie liegen. Etliche Schläuche gehen von ihrem Körper weg und führen in den weißen Nebel. Ich sehe seltsame Farben aufpeitschen, die in einer monotonen Abfolge von einem Gerät kommen. Langsam setzt etwas in mir sie in das um, was diese Farben in dieser Welt wirklich sind und ich erkenne Töne, die mir viel zu unmelodisch vorkommen. Hier sollte ein ganzes Orchester spielen!
Ich sehe Carolin in dem Bett liegen und meine ganze Sehnsucht peitscht auf. Aber ich bin trotzdem nicht in der Lage, sie zu berühren. Und in mir wallt all die Liebe hoch, die ich für sie empfinde und eine Wut, dass ich nicht mehr bei ihr sein kann und sie lieben kann. Alle meine Sinne sehnen sich in einem Ausmaß nach ihr, dass es meine Gefühle in der materiellen Welt um ein Vielfaches übertrifft.
„Meine Sonne!“, schiebt sich meine ganze Energie zu ihr und umringt sie mit meiner Sehnsucht. Ich spüre meine Schwingungen den Raum durchfluten, der das Bett umgibt und sehe, wie sie Carolin einschließen. „Komm zu mir! Bleib nicht hier! Bitte!“ Das Gefühl, das mich durchdringt, schwächt plötzlich ab und reißt mich von ihr weg.
„Nein!“, bricht es aufgebracht aus mir hervor und schmeißt mich in meinen schwarzen Nebel zurück. Entsetzt und erschrocken kauere ich dort zusammen und kann fassungslos nicht verstehen, was passiert ist.
Vorsichtig versuche ich meine Gefühle zu analysieren. Warum konnte ich nicht bei ihr bleiben? Aber da ist etwas, das mich blockiert. Meine Gefühle werden von einer aufgebrachten Trauer umspült, die mich bedrängt und sich mir regelrecht aufzwingt.
Sie ist stark und gewinnt immer mehr Macht über mich. Ich weiß nicht, was es ist. Aber ich lasse es vorsichtig zu und forsche diesem fremden, starken Gefühl nach, das mich seltsam anzieht und umschließt. Und dann zieht es mich erneut aus dem Nebel.
Ich hoffe, dass es mich zu Carolin zurückbringt. Aber es schiebt mich in eine mir bekannte Welt und ein mir bekanntes Zimmer. Ich fühle einen Schmerz tief in mir, der mich seltsam ausfüllt und den ganzen Raum beherrscht. Es ist ein Schmerz und eine Wut und eine tiefe Verzweiflung, die in mich eindringt und mich erfüllt, und Umrisse werden deutlicher und umspülen mich mit all diesen Gefühlen.
„Tim! Tim, mein Junge“, vibriert es in mir kläglich.
„Mama?“
In dem Moment, wo ich mich diesen Gefühlen meiner Mutter und dieser Welt öffne, brechen über mich ganze Gefühlstsunamis herein. Es ist wie eine Flutwelle hunderter schmerzvoller Stimmen. Die meisten nur wie ein Plätschern und einige mit einer Urgewalt, die mich die einzelnen Ursprünge erkennen lassen und mich in eine emotionale Resonanz mit jedem treten lassen, der mir einen Erkennungswert gibt. Sie schieben sich in mein Innerstes und werden zu klaren Bildern, während viele andere trauriges Hintergrundplätschern bleiben.
Ich sehe meine Mutter, meine Omas und meinen Opa, meinen Vater, seine Frau, Jonas, Kai, Arno und andere von meinem Ensemble, weinende Mädchen, die ich mehr oder weniger kannte und die mich nun mit ihren Emotionen überschütten, und Menschen aus meinem Bekanntenkreis, die von Trauer erfüllt sind. Trauer um mich!
Ich werde von deren Gefühlen überrollt und spüre ihre Traurigkeit und Fassungslosigkeit, die mich umspült. Das macht mich auch traurig. Mir wird klar, was ich verloren habe. Was hatte die Gestalt gesagt? Es war zu früh.
Ich bin tief erschüttert. Aber ich kann nichts tun, um die Menschen zu trösten, die wegen mir traurig sind. Verzweifelt versuche ich Kurt zu finden. Vielleicht kennt er eine Möglichkeit, wie ich zu ihnen gelangen und mich ihnen zeigen kann.
„Was willst du?“, knurrt es neben mir barsch.
„Wie kann ich zu meiner Mutter oder meinem Freund Jonas gelangen, um sie zu trösten?“
„Warum willst du das? Die kommen schon klar“, murrt der Alte verständnislos.
„Was kann ich tun, damit mich jemand hört? Wie kann ich mich bemerkbar machen?“
„Gar nicht, du Trottel. Wir haben kaum Möglichkeiten, wenn wir hier gefangen sind. Aber immerhin mehr, als wenn wir in unsere Dimension zurückkehren. Von hier aus können wir wenigstens noch ein wenig in der materiellen Welt Einfluss nehmen und an ihr teilhaben.“
Ich verstehe nichts.
„Verdammt“, höre ich den Alten resigniert Seufzen. „Du bist noch so dumm! Du weißt nichts!“
Ich will gerade dagegenreden, als er erklärt: „Es dauert, bis du diese Welt wieder verstehst. Du bist noch zu sehr in der anderen gefangen und weil es dich unplanmäßig herausgehauen hat, hattest du keinerlei Vorbereitung.“
„Was für eine Vorbereitung?“
„Wenn man alt oder krank ist und sterben wird, dann versuchen sie dich auf diese Welt vorzubereiten. Aber dich hat es genauso aus dem Leben gerissen, wie mich bei meinem letzten Tod. Normalerweise wird man dann aber von seinem Hüter aufgefangen und der bringt einen weiter. Aber bei mir ging das nicht. Mein Hüter konnte damals nichts für mich tun, weil dieses elende Gebräu, das mich unsterblich machen sollte, meine Seele zerriss.“
Ich kann dem Gebrabbel des Alten nicht folgen. Aber der erklärt weiter: „Als mein Körper in der materiellen Welt starb und meine Seele mit meinem Bewusstsein und Geist in diese Welt hinüberwechselte, zerbrach sie. Darum stecke ich hier fest. Ich kann weder in unsere Dimension gebracht werden noch als vollkommenes Wesen in die materielle Welt zurückkehren, außer als Pflanze oder bestenfalls Insekt. Und bitte, dies ist wirklich keine Option für mich.“
„Aber du warst doch dort … in mir und in Carolin und …“ Ich versuche mich zu erinnern, wie wir verbunden waren und mit wem alles. Aber langsam verblasst das Bild von meinem Leben als Tim. Nur Carolin bleibt in meinem Inneren erhalten.
„Und Julian“, fügt der Alte grimmig hinzu. „Weißt du, was es mich gekostet hat, dass endlich alle meine Seelenteile gleichzeitig und in euch dreien in die materielle Welt zurückkehrten? Denn nur durch eine Wiedergeburt in meinen Nachkommen ist es möglich meine Teile wieder zusammenzuführen. Mit dir, Julian und Carolin waren alle meine Teile in ein und derselben Zeit in die materielle Welt gelangt und ihr hättet sie in euren Kindern weiter zusammenfügen können, bis meine Seele durch eine letzte Zusammenführung wieder ganz geworden wäre. Aber ihr habt das zerstört,“ schreit es mir aufgebracht entgegen.
Langsam kriecht in mir wieder ein Erinnerungsfetzen hoch. Deshalb waren Carolin und ich füreinander bestimmt. Wir sollten zusammen dieses Kind zeugen.
Ich spüre ein seltsames Gefühl, das eher Unmut gleicht, statt Freude darüber. Erst bin ich deswegen irritiert. Aber dann schiebt sich eine andere Erinnerung in mir hoch. Die an meinen Halbbruder Julian.
Er war in allem der Bevorzugte. In ihm hatte Kurt Gräbler seine alchemistischen Weisheiten auf die Erde geschickt, was mich und Carolin fast das Leben gekostet hat. Er glaubte, dass er Kurt Gräbler auferstehen lassen kann, wenn er mich und Carolin tötet und unsere Teile des Alchemisten in sich irgendwie vereint. Aber wir wurden gerettet.
Nun schießt auch die Erinnerung an Marcel in mir hoch, der uns aus Julians Wahnsinn befreite und dem Carolin daraufhin ihre ganze Liebe schenkte.
Aber Marcel war nicht der Mann, der für Carolin bestimmt war. Und Julian war es auch nicht. Für mich gab es niemanden, der an Carolins Seite sein durfte, außer mir.
In mir schieben sich weitere Erinnerungen hoch. Für uns drei gab es eine Weissagung, dass Julian mit Carolin und ich mit Carolin die Kinder zeugen sollten, die Kurt Gräbler ermöglichen würden, seine Seele wieder zu heilen. Aber für mich stand fest, dass auch Julian Carolin nicht bekommen durfte. Sie gehörte allein mir.
Mich packt eine tiefe Wehmut. Ich darf sie nicht für immer verloren haben. Das kann einfach nicht sein. Ich will zurück zu ihr und in mein altes Leben zurück.
„Bitte, wie kann ich zu Carolin zurückkehren?“
„Gar nicht!“, schreit es mir gehässig entgegen. „Du hast es versaut! Du hast nicht aufgepasst und ihre Boshaftigkeit unterschätzt. Sie war immer gegen uns gewesen und wollte nicht unterstützen, wozu sie auf der Welt war. Sie hätte doch nur diese Kinder mit dir und Julian zeugen müssen und hätte danach tun können, was sie will. Aber nein, sie musste sich gegen alles sperren.“
Nun fällt mir auch dieser Umstand wieder ein. Carolin hatte in das Lenkrad gegriffen, um das Auto von der Straße zu ziehen und mich in den Tod geschickt. Dabei liebte ich sie doch über alles! Ich hatte ihr doch meine Liebe immer wieder gezeigt!
Vor mir entsteht erneut ein weißes Zimmer mit weißen Möbeln und roten Kissen und mit einem prasselnden Kaminfeuer. Und ich sehe Carolin darin.
Als ich meine Hand nach ihr ausstrecken will, verschwimmt das Bild und ich sehe sie in einem anderen weißen Zimmer und Bett liegen.
„Carolin!“, rufe ich. Aber sie bewegt sich nicht. „CAROLIN!“, rufe ich erneut.
Sie wird unruhig und beginnt sich in dem Bett zu winden.
„Komm zu mir! Bitte …, komm!“, flehe ich. Aber sie scheint mich nicht zu hören.
Ich will sie beruhigen. Sie scheint schlecht zu träumen. Aber als ich nach ihr greife, wische ich durch sie hindurch, als wäre sie nur aus Nebel. Ich kann sie nicht anfassen. Aber meine Sehnsucht bringt mich dich an sie heran und ich möchte mich zu ihr auf das Bett legen. Doch im selben Augenblick schiebt sich eine Ablehnung wie eine Wand vor mir hoch und ich höre Carolins Worte zischen: „Tim, ich liebe dich nicht und wenn du wüsstest, was Erik in mir auslöst, dann würdest du dich schämen.“
Ich starre auf die Gestalt, die sich immer noch in ihrem Traum windet und diese Worte nicht gesagt haben kann. Das kann einfach nicht!
Aber diese Wand scheint undurchdringbar und in einem Wutanfall, der mich überkommt, will ich etwas zerstören. Aber auf was ich auch einschlage oder was ich auch wegreißen will, es bleibt wie es ist und scheint durch mich nicht berührbar zu sein. „Verdammt!“, schreie ich auf und falle im gleichen Moment in meine dunkle Nebelwelt zurück und auf den zähen Boden, der mich dunkel und weich umfängt. Ich will mich in ihm nur noch zusammenrollen und mich der Trostlosigkeit hingeben. Carolin scheint für mich verloren zu sein und ich glaube, dies nicht ertragen zu können - weder in der Welt, in der ich sie lieben konnte und sie mich nicht wollte, noch in dieser Welt. Was soll nun aus mir werden?
Ich spüre den alten Mann in mir brummen: „Tim, lass das Selbstmitleid. Wir müssen etwas tun! Meine Chance kann nicht einfach durch eure Dummheit zerstört worden sein. Dass darf nicht sein!“
„Lass mich in Ruhe. Ich habe viel mehr verloren als du. Dir wurde nur dein Leben genommen. Aber mir auch noch meine Liebe.“
„Tzzz! Liebe! SIE ist nicht tot. DU schon! Sie hat dich getötet und du faselst etwas von Liebe“, dringt es zornig bis in mein Innerstes vor und schürt auch in mir die Wut. Und ich erkenne diese Wut. Es ist die gleiche, die mich bei Eriks Anblick erfasste und die mich in der anderen Welt immer wieder fest im Griff hatte, wenn Carolin sich gegen mich und für einen anderen Kerl entschied.
„Sie hat sich erneut gegen dich gewandt. Du darfst wütend sein! Du musst wütend sein! Sie hat dich für ihn getötet!“, zischt es erneut in mir. „Sei wütend!“
Ich kauere mich in den schwarzen Nebel und will mich in diese Wut fallen lassen, die mich umschließt, wie eine große Hand.
Ich spüre augenblicklich eine Zufriedenheit, die nicht meine ist und zische zerknirscht: „Verschwinde! Lass mich in Ruhe!“
Tatsächlich wird der kleine Mann von meiner Seite gezogen und verschwindet im Nebel. Aber ich spüre seinen Unmut darüber und mir drängt sich langsam die Einsicht auf, dass ich niemanden ertragen muss, wenn ich das nicht will und keiner mich ertragen muss, wenn er es nicht will. Deshalb kann Kurt Gräbler mich nicht nach Belieben nerven und ich nicht bei Carolin bleiben, wenn sie das nicht zulässt.
Es ist still um mich herum und ich spüre meine Wut langsam verrauchen und eine unglaubliche Schwermut mich ergreifen. Ich bin allein, aber ich will nicht allein sein.
„Vertrau mir. Ich kenne mich hier aus“, murmelt es neben mir unterwürfig. „Solche wie wir sind hier ewig Zuhause. Wir können kein materielles Leben führen und müssen an diesem Ort, der zwischen den Welten liegt, bleiben.“
Ich sehe auf und suche nach dem kleinen Mann, der erneut seine Gefühle über mich ausbreitet. Traurig und resigniert. Aber um mich ist nur dunkler, wabernder Nebel. So dunkel, wie ich mich fühle.
Erneut raunt er in mir: „Als man mir mein materielles Leben nahm, dachte ich, ich könnte dem Unvermeidlichen entkommen. Ich hatte so viele Jahre damit verbracht, dieses Mittel zu erschaffen und doch machte es mich nicht unsterblich, sondern zu einem Geist ohne Wiederkehr. Es war ein fataler Fehler, dem Tod entrinnen zu wollen. Aber wenn wir in den materiellen Welten ein Leben führen, dann wissen wir nichts von unserer wahren Bestimmung und was wir wollten. Dieses Wissen wird uns beim Übertritt genommen, um uns eine Anpassung an das Leben auf einem Planeten und in der vorherrschenden Lebensweise möglich zu machen. Das Leben in einem der Lebewesen lässt uns Wissen erfahren, dass wir auf keine andere Art in diesem Maße erfahren würden. Sie machen unser Dasein aufregend und lassen uns Facetten von Emotionen und Sichtweisen erfahren, wie sonst nichts. Und indem wir das Wissen der Kreaturen in den materiellen Welten voranbringen, erschaffen wir auch weiteres Wissen für uns. Ich war als junger Mensch offen für alles und freier in meinem Denken, als viele andere und geriet an einen Meister der Alchemie und seiner Unsterblichkeitstheorie. Das öffnete in mir unwissentlich Fenster aus anderen Leben von mir, in denen ich mich schon der Wissenschaft in verschiedenen Gebieten verschrieben hatte. Ich war schon einige Leben lang ein Mensch. Aber diesmal wollte ich Großes vollbringen und der Menschheit die Freiheit vor dem Tod bringen. Aber man bremste mich aus und nahm mir dieses Leben, bevor ich es schaffte. Und man strafte mich für meinen Eigensinn, indem man mich in diese Welt verbannte. Aber ich fand einen Weg, um mich aus dieser Verbannung zu befreien und wieder eine ganze Seele zu werden. Ich musste mich dazu nur an meine Nachkommen hängen und sie dazu bringen, in der materiellen Welt meine Seelenanteile zusammenzuführen. Und mit dir, Carolin und Julian war ich meiner Heilung schon ganz nah. BIS IHR ES VERSAUT HABT!“
Ich bin seltsam betroffen von dem, was sich mir da offenbart, auch wenn es immer mehr zu etwas wird, das sich als Erkenntnis in meinem Inneren ausbreitet. Es ist wie ein verlorenes Wissen, das wieder an die Oberfläche dringt - wie eine Erinnerung. Doch diese Erkenntnis wird von etwas überlagert, das mich einerseits verstört und andererseits eine Hoffnung in mir aufkeimen lässt, die sich alles beherrschend auf mich legt. Eine Hoffnung, mich auch an jemanden hängen zu können, um ihm wieder ganz nah zu sein.
„Wie konntest du dich an uns hängen?“
„Wenn eine Seele ein neues Leben beginnen möchte, dann überschreitet sie zwei Grenzen. Die eine ist der Tod in der einen Welt und die andere die Widergeburt in der anderen. Man stirbt in einer Dimension, geht hier durch diese Astralwelt und wird in der anderen Dimension wiedergeboren. Egal, ob man aus dem Jenseits in eine materielle Welt wechselt oder von ihr in das Jenseits. Es ist immer so. Und die Astralwelt dient nur dazu, sich entweder auf die Materialisierung vorzubereiten und den Geist vollständig zu entleeren oder andersherum, wenn man in das Jenseits eintreten will, verliert man dort die starke materielle Bindung und lernt Emotionen zuzulassen, die als einziges und bedeutungsvollstes Werkzeug in den jenseitigen Dimensionen fungiert. Aber mir ist der Weg in alle anderen Dimensionen versperrt. Nur eine intakte Seele kann zwischen ihnen wandeln. Meine zerbrach aber in mehrere Teile und verstreute sich in dieser Zwischendimension. Und diese Teile können nur zusammengeführt werden, wenn sie in der materiellen Welt von einer Mutter oder einem Vater auf deren Kind übertragen werden. Aber dazu müssen die Seelenteile erst einmal in die materielle Welt gelangen und alle zeitnah, um eine Zusammenführung überhaupt zu ermöglichen. Außerdem müssen sie auch noch Blutsverwandte von der Seele sein, damit die Seelenanteile nicht als Fremdkörper unterdrückt werden und somit die Seele weder eine Zusammenführung steuern kann noch in das neue Kind überzuwechseln schafft.“ Die verkrüppelte Gestalt vor mir überschüttet mich erneut mit einer tiefgreifenden Resignation. „Mit dir, Carolin und Julian hatte ich alle meine Seelenanteile endlich zusammen und zur gleichen Zeit in der materiellen Welt, und ihr alle drei wart meine Nachkommen. Schon die Generationen vor euch hatte ich dahingehend manipuliert, damit nur noch diese drei Seelenanteile übrig waren. Es hätte alles so gut laufen können. Alles war perfekt!“
In mir drängt bei seinen Worten eine Erinnerung hoch. „Das stimmt nicht. Julian war wegen dir völlig durchgeknallt und meinte, selbst Alchemist genug zu sein, um uns töten zu können und unsere Teile in sich zu vereinen.“ Die bloße Erinnerung daran, wie Julian mich zusammenschlug und Carolin mit dem Messer in den Hals schnitt, lässt mich erbost aufbrummen: „Er hat Carolin fast getötet und nur wegen seinem brutalen Übergriff hat sie sich an Marcel gehängt.“
„Ich hätte ihm nicht so viel meines alchemistischen Wissens geben dürfen, dann wäre er nicht so fehlgeleitet worden. Aber jetzt bin ich auch nicht besser dran. Du bist hier und Carolin hängt sich an andere Kerle, statt an Julian“, heult die Stimme auf. „Es ist erneut eine Chance verspielt, weil Carolin sich nie fügen will.“
Ich spüre seinen Frust, der mich umspült. Es schmerzt mich, wenn ich das Gefühl an Carolin zulasse und in mir zischt Kurt: „Und nun ist alles zerstört. Sie hat alles zerstört und mich wieder in diese Dimension zurückgestoßen und dir das materielle Leben genommen. Du hast allen Grund wütend zu sein und sie damit nicht durchkommen zu lassen. Es war nicht richtig von ihr, dich jetzt schon dem Tod zu übergeben. Es wird ewig dauern, bis ich mich wieder an jemanden hängen kann und eine erneute Chance bekomme.“
Er hat recht. Ich bin wütend. Aber immer wieder überdeckt meine Sehnsucht und Liebe zu ihr das Gefühl der Wut und lässt Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit folgen.
„Kann ich mich irgendwie an sie hängen?“, bringe ich meine Sehnsucht zu ihr zum Ausdruck.
Ich spüre seine Überraschung über meinen Wunsch und in mir erklingt es missbilligend: „Wozu? Ich brauche dich nicht in ihr. Ich brauche dich als eigenständiges Wesen, das mit ihr agieren kann. Außerdem ist sie nicht bereit, jemanden in ihre Aura zu lassen. Das machen nur Wesen, die tieftraurig einen Tod eines geliebten Menschen nicht verkraften und ihn so sehr wieder in ihr Leben wünschen, dass er sich in ihre Aura festsetzen kann, wenn er das will. Oder solche, die immer unzufrieden und daher schwach und kränklich sind. Aber ich kann durch eine Besetzung meine Teile nicht zusammenführen und hätte somit nichts gewonnen. Ich wäre nur ein Anhängsel, das es vielleicht schafft, ihre Stimmungen und Gefühle ein bisschen zu beeinträchtigen. Mehr nicht. Aber ich brauche Macht über meine Nachkommen, um sie in meinem Sinne zusammenzuführen und ein neues Wesen zeugen zu lassen, in dem meine Teile zusammenwachsen können.“
Seine Worte lösen einen betroffenen Unmut in mir aus. Also bleibt mir jeglicher Weg zu Carolin versperrt, weil sie mich offensichtlich nicht in ihr Leben wünscht, so sehr ich es auch möchte. Dafür hat sie immer noch den Anteil Kurt Gräbler in sich, der sie in seinem Sinne manipulieren kann.
Meine Wut richtet sich auf ihn und gibt mir das eine vor, was in meiner Gefühlswelt seltsam heftig regiert. „Lass sie bloß in Ruhe. Sie gehört mir! Du fuschst nicht mehr in ihrem Leben herum, hörst du! Oder …“
„Tim, wir sind hier in einer Welt, wo es kein „oder“ gibt. Du kannst mir nicht drohen. Es gibt hier nichts, das Bedrohlich sein kann. Du hast nichts außer deiner Wut auf mich … und die macht mir nichts, wenn ich sie nicht an mich heranlasse. Gar nichts!“
Ich sehe mich aufgebracht nach dem kleinen Mann um und kann ihn doch nicht ausmachen. „Dann versteck dich nicht, du Feigling“, knurre ich, als es in mir lacht und mir Kurt Gräbler zu verstehen gibt: „Wir haben hier nichts als unsere Gefühle. Wir müssen uns nicht mal verstecken. Was wir fühlen, sind wir und wo wir sein wollen, da sind wir. Das machen unsere Schwingungen aus, die uns führen und leiten. Nichts anderes. Du kannst mich weder angreifen noch schlagen. Nichts kannst du noch! Gar nichts!“
In mir schallt das zornige Lachen von ihm wieder, bis es in dem Nebel versiecht.
Ich bin wieder allein und schwermütige Traurigkeit legt sich über mich.
„Carolin, warum hast du mir das angetan? Komm zu mir! Bitte, komm zu mir!“
Und dann spüre ich sie. Tief in mir. Es ist wieder das weiße Zimmer und sie liegt auf dem Bett und sieht mich an. Und ich sehe ihre Fesseln und spüre ihre Ohnmacht. Sie kann nichts gegen mich tun.
Genauso, wie ich hier in dieser Welt auch nichts mehr gegen das tun kann, was mir passiert und was mich in meiner Seele angreift. Ich habe sie verletzt, und sie hat sich dafür gerecht. Ich hatte ihr in dem Zimmer gesagt: „Und jetzt gehörst du mir. Jede Faser und jede Zelle … jeder Zentimeter von dir, und ich schwöre dir, machst du mir Stress, dann werde ich dir wehtun. Mittlerweile wird mir das schon genauso eine gewisse Befriedigung geben, wie dich zu lieben. Du hast mich schon so oft so abgrundtief verletzt, dass es eine Genugtuung für mich sein wird.“
Ich hatte ihr damit genauso meine Boshaftigkeit und meinen Eigensinn entgegengeschleudert, wie Kurt es gerade bei mir getan hat. Und ich fühle die Ohnmacht, die ich damit über sie legte, genauso, wie ich mich jetzt hier ohnmächtig fühle.
Aber ich habe sie befreit! Ich nahm ihr die Fesseln wieder ab!
Und wer befreit mich? Wer hilft mir aus dieser Welt heraus, aus der es offensichtlich kein Entrinnen gibt?
Unendlich traurig und bedrückt sinke ich in den grauen Nebel und lasse mich von der schwarzen Masse einschließen.
Ich kann einen Moment nicht verstehen, was geschehen ist. Erik klang viel zu aufgeregt, als dass es ein Scherz sein kann.
Er sagte, Carolin liegt im Krankenhaus. Er bat vollkommen aufgelöst darum, dass unsere Eltern schnell kommen sollen, um nach ihr zu sehen, weil niemand ihn zu ihr lässt. Sie glauben ihm offenbar nicht, dass er Carolins Verlobter ist. Völlig verrückt. Und er klang so fertig, als wenn Carolin sterben könnte. Aber das kann nicht sein!
Ich rufe meinen Vater an, weil ich mir denke, er bleibt bei allem besonnener. Mamas hysterischen Art bin ich im Moment nicht gewachsen.
Es dauert, bis Papa abnimmt.
„Papa, es ist was passiert!“, rufe ich aufgebracht. „Erik rief mich eben an. Carolin hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Ihr müsst sofort hinfahren, weil keiner Erik zu ihr lässt … wegen Verwandtschaft oder so.“ In meinem Kopf überschlägt sich alles. Aber ich bringe es nicht über mich, ihnen noch mehr zu sagen. Das schaffe ich nicht, weil mir dann mein Anteil an Schuld zu sehr ins Bewusstsein rückt. Warum habe ich Tim nicht energischer aufgehalten? Ich wusste doch, dass er völlig durchgeknallt ist. Und jetzt?
Erik hatte außerdem gesagt, dass Tim tot ist.
Erst jetzt kommt das ganze Ausmaß dieses Unfalls bei mir an.
TIM IST TOT!
Langsam begreife ich, warum Erik so am Ende ist und so klang, als glaube er, dass Carolin auch stirbt. Es war ein schwerer Unfall mit einem Toten. Dass Carolin überhaupt noch lebt ist wahrscheinlich ein Wunder. Und genauso klang Erik. Als rechne er immer noch mit dem Schlimmsten.
„Oh mein Gott! Wo liegt sie und was ist passiert?“, ruft mein Vater fassungslos.
Ich höre im Hintergrund das Kreischen von Sägen und Hammerschlägen. Er ist in der Arbeit.
„Sie hatte einen Autounfall und liegt in einem Krankenhaus bei Clausthal. Das ist irgendwo im Harz.“
„Was?“
„Ich weiß auch nichts Genaues. Aber es geht ihr angeblich wirklich schlecht. Bitte, könnt ihr da so schnell wie möglich hinfahren?“
Mein Vater scheint selbst wie erstarrt zu sein und zischt dann aufgebracht: „Sicher. Ich muss das eben hier klären, hole deine Mutter und fahre hin. Aber …“ Mein Vater schluchzt plötzlich seltsam auf und seine Stimme klingt zittrig. „Gib mir Eriks Nummer. Ich rufe ihn selbst an.“
„Ich schicke sie dir. Ich kann hier nicht weg, aber wenn ihr mehr wisst, ruft mich bitte an“, sage ich und weiß, mein Vater wird nicht verstehen, warum ich nicht alles stehen und liegen lasse, um mitzufahren. Aber er weiß schließlich auch nicht was läuft.
„Ja. Ja sicher“, stammelt mein Vater und legt auf.
Ich weiß, er ist völlig am Ende. Carolin ist seine Tochter. Sein einziges biologisches Kind. Mich hat er nur mitgeheiratet. Das sagten sie mir und Carolin aber erst vor ein paar Monaten … und auch, dass mein richtiger Vater noch lebt. Niklas dachte immer, mein biologischer Vater wäre tot. Aber er hatte meine Mutter nur schwanger hängengelassen, die Niclas daraufhin auftischte, dass ihr damaliger Lover Markus gestorben sei.
Ich gehe auf die Nummer von Erik und schicke sie an meinen Vater weiter.
Benommen lasse ich mich auf die Treppenstufen im Gang der Uni fallen. Ich wollte nur eine Vorlesung mitnehmen und mir damit einige Stunden Freizeit herausschinden. Aber nun weiß ich, ich muss ins Labor zurück.
Ich erhebe mich schwerfällig und seltsam innerlich gelähmt. Was geschehen ist will immer noch nicht meinen Kopf erreichen und ich bin über dieses hohle Gefühl in mir etwas erschrocken. Wahrscheinlich ist das der Schock.
Langsam gehe ich zum Ausgang und beschließe, zum Haus zu fahren und alle zusammenzutrommeln. Dann werde ich ihnen das Unfassbare mitteilen. Tim ist tot.
Ist damit die Weissagung der alchemistischen Freidenker vom Tisch?
Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr und langsam öffnet sich in mir das erschreckende Gefühl, dass Carolin auch bald tot sein könnte. Fassungslos putze ich mir eine Träne von der Wange und steige in mein Auto.
Warum habe ich Tim nicht aufgehalten? Warum haben SIE Tim nicht aufgehalten?
Ich fahre durch die Stadt und versuche meine Gefühle dazu zu analysieren, die um Tims Tod kreisen. Aber da ist nicht viel. Ich mochte den Typ nie besonders, auch wenn er mein Halbbruder ist. Ich weiß auch nicht viel von ihm. Er war Pianist und wohl ziemlich bekannt, und er war das zweite uneheliche Kind von meinem Vater, und er zog von Wolfsburg hierher, um sich an meine Schwester heranzumachen. Angeblich wegen Kurt Gräbler in ihm.
Das dieser alchemistische Vorfahre mich lenkt, seit ich denken kann, war für mich etwas ganz Natürliches. Ich kannte es nie anders. Und dass er auch in Carolin wütet, erkannte ich schon sehr früh, als sie als Kleinkind Dinge aus dessen Leben träumte.
Meine Eltern schnallten nichts. Ich aber. Ich wusste, was mit uns los war. Bloß mein Aussetzer war falsch. Da hatte mich irgendetwas seltsam fehlgeleitet. Oder es war gar nicht falsch, weil Tims Tod schon in den Arsenalen der Welt geschrieben stand. Vielleicht hätte ich die beiden wirklich da schon töten sollen?
Ich schüttele den Kopf. Nein, es gibt diese bekloppte Weissagung, dass Kurt Gräbler, durch ein Kind von mir und Carolin, und eins von ihr mit Tim, einer Auferstehung entgegenstreben kann. Darum gibt es uns angeblich. Aber … nun ist Tim tot.