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Tim verliert mit dem Ende seiner Musical Tournee allen Halt, und dass Carolin sich in Erik verliebte, obwohl sie eigentlich nach einem alchemistischen Fluch und einer Weissagung zu Tim gehört, lässt ihn verzweifelt um ihre Liebe kämpfen. Als er aber erkennen muss, dass Carolin sich nicht fügen will, plant er eine tödliche Verzweiflungstat, die sie dazu zwingen soll, sich endlich seinem Willen zu beugen. Aber Tim ahnt nicht, was das Schicksal für ihn in diesem Fall bereithält.
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Seitenzahl: 547
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Sabine von der Wellen
Die Hoffnung aus der Vergangenheit
Tims Schicksal
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Die Träume
Familienbande
Für immer die eine
Das Schicksal schlägt zu
Neuanfang
Der Weg ist das Ziel
Die Alchemistischen Freidenker
Liebe kennt keine Grenzen
Die Erfüllung des Schicksals
Impressum neobooks
Ich sitze in meinem schwarzen Mercedes, der mir in den letzten Monaten zu einem Freund wurde, und schließe einen Moment resigniert die Augen. Vorbei! Alles ist vorbei! Was soll ich jetzt nur mit meinem Leben anfangen?
Ich schrecke zusammen, als jemand an meine Scheibe klopft.
Kai und Arno stehen an der Tür und grinsen mich an. Kais Gestalt wird dabei von Arnos Masse und seiner kupferroten Lockenmähne fast geschluckt.
Ich lasse meine Scheibe herunterfahren und kalte Luft schlägt mir entgegen.
„Hey Tim! Du warst so schnell verschwunden! Fährst du jetzt nach Hause?“, fragt Kai und schiebt sich näher an die Fensteröffnung heran. Er ist einer der Geiger unseres Orchesters.
Ich nicke nur, versuche ein gut gelauntes Lächeln in meine Mundwinkel zu zaubern und streiche mir durch mein kurzes Haar.
„Nah, dann wünschen wir dir eine gute Fahrt und alles Gute. Das war echt eine krasse Zeit. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder. Aus dir wird bestimmt noch ein ganz Großer!“, röhrt Arno mit seiner Tenorstimme. Er ist einer von den Multitalenten, der mindestens sechs Instrumente spielt und sogar singen kann. Er war in unserem Orchester immer der Springer, wenn jemand ausfiel.
„Schauen wir mal“, raune ich und versuche nicht zu niedergeschlagen zu klingen. „Und ich muss jetzt los. Euch noch viel Erfolg! Vielleicht trifft man sich ja mal wieder … bei so einer Geschichte wie dieser hier.“ Ich nicke zu dem großen Gebäude hin, in dem wir heute unsere letzte Aufführung des Musicals und das Abschlussessen hatten. Schnell lasse ich den Motor aufbrummen, als hätte ich es wirklich eilig und nicke den beiden jungen Männern noch einmal zu.
„Wäre klasse!“, ruft Kai noch und ich gebe Gas und setze aus der Parklücke, um schnellstmöglich aus deren Blickfeld und von dem noch überfüllten Parkplatz zu fliehen. Ich bin offenbar der erste, der die Veranstaltung verlässt.
Ich hasse Abschiede und hatte Angst, dass jemand merkt, wie sehr mich das Ende unserer Musicaltour aus der Bahn wirft. Vor allem von Jonas möchte ich mich nicht verabschieden müssen. Ich würde bestimmt wie ein Mädchen anfangen zu heulen. Dabei war ich immer der Großkotz gewesen, der allen eine völlig heile Welt hinter der Fassade des Pianisten vorgespielt hatte, der es nicht abwarten kann, dass die Tour endlich zu Ende geht.
Nun ist das Ende da und alle glauben, ich fahre jetzt glücklich zu meiner Liebsten, die zuhause schon mit offenen Armen auf mich wartet. Das hatte ich zumindest allen bis zum Schluss vorgegaukelt.
Dass es diese Liebste gibt, wegen der ich letztendlich keine andere mehr an mich heranließ, und mit der ich morgens immer telefonierte und zu der ich fuhr, wann immer ich konnte, weiß jeder. Die eine Frau, die nur mich will und niemanden sonst. Die eine Frau, mit der ich mein Leben teilen werde, bis wir sterben.
Allen spielte ich bis zum Schluss vor, dass es immer noch so in meinem Leben aussieht.
Aber sie irren sich, wie auch ich mich in der Annahme irrte, dass Carolin unabänderlich für immer zu mir gehören wird. Dabei sind wir von einem alchemistischen Vorfahren zu einem gemeinsamen Leben auserkoren worden und es gibt sogar eine Weissagung diesbezüglich für uns.
Dennoch ist nichts mehr so, wie ich dachte, als ich vor vier Monaten als Pianist dem Orchester beitrat.
Vier Monate bin ich jetzt durch ganz Deutschland getourt und hatte die Musicalaufführung als Pianist in dem dazugehörigen Orchester begleitet. Es war eine unglaubliche Zeit und zum Anfang die Erfüllung eines Traumes. Doch das änderte sich schlagartig, als Carolin sich aus meinem Leben stahl.
Ich war beliebt und begehrt - das jüngste Mitglied des Orchesters, das so unglaublich spielen kann und so gut aussieht. Die Schauspielerinnen, Sängerinnen und Musikerinnen liebten anfangs den zurückhaltenden Neunzehnjährigen, der so sehr an die große Liebe glaubt und ihr treu ergeben ist. Das zog auch das kälteste Herz auf meine Seite. Und ich hatte die meiste Zeit dieser Tour ein klares Ziel vor Augen, das ich am Ende dieses Engagement ansteuern wollte. Ich glaubte ganz fest daran, dass ich danach zu der Frau fahre, der mein ganzes Denken und Sein gehört. Der Frau, die an mich durch einen alchemistischen Geniestreich und dieser Weissagung einer Gruppe unverbesserlicher Wichtigtuer gebunden ist. Doch sie brach aus diesem Bund aus und glaubt damit durchzukommen. Genauso wie sie glaubt, dass sie tun und lassen kann, was sie will und sich an den Hals von irgendwem werfen darf.
Aber wir sind die Nachkommen eines längst verstorbenen Alchemisten, der zu seinen Lebzeiten die Unsterblichkeit anstrebte, um dennoch von einem Pulk aufgebrachter Bauern verbrannt zu werden. Doch scheinbar starb er nicht wie jeder andere und verschwand von diesem Planeten, sondern schlich sich in seine Nachkommen ein, um ihnen das Leben letztendlich zur Hölle zu machen.
Ich nahm ihn schon sehr früh in meinem Leben war. Er kam des Nachts in meine Träume, wenn ich mich einsam und allein fühlte und nahm mich mit in seine aufregenden Traumwelten, die sich letztendlich als Erinnerungen aus seinem Leben herausstellten. Ich war noch so klein und machte mir keine Gedanken darüber, was da in mir vor sich ging. Er war immer für mich da und ich fühlte mich nicht mehr so unglücklich und allein.
Meine Mutter ist auch Pianistin und immer unterwegs. Sie war stolz darauf, als Alleinerziehende alles so vorbildlich zu meistern und so landete ich ständig in irgendwelchen Hotelzimmern mit irgendwelchen fremden Babysittern, denen ich eigentlich egal war, während meine Mutter ihre Auftritte genoss. Sie liebte es, im Rampenlicht zu stehen und umjubelt zu werden. Das war ihre eigentliche Welt. Ich war nur das unliebsame Anhängsel, das mitgezogen werden musste. Und um niemanden glauben zu lassen, dass sie eine ruhmgeile Schlange ist, die ihr Kind vernachlässigt, gab sie sich streng gläubig und der Kirche verbunden. Sie nahm mich dorthin mit, wann immer es ging, kannte alle Gottesdienstzeiten in den Städten, die sie bereiste und betete immer mit mir vor dem Schlafengehen. Das war ihr wichtig und wurde bei jedem Interview erwähnt. Nicht selten folgten uns die Paparazzi, und sie spielte ihre Rolle als liebende Mutter und gläubige Evangelistin, die Gottes Gnade zu so einer begnadeten Pianistin werden ließ. Ich erkannte erst später, dass dies alles zu ihrem Imageplan gehörte.
Ansonsten war ich in meinen ersten Lebensjahren eher eine Belastung für sie, die sie ertrug, wann immer es sich nicht vermeiden ließ. Das änderte sich erst, als ich selbst begann Klavier zu spielen und sofort ungeahntes Talent zeigte. Da bekam ich etwas mehr Wichtigkeit in ihrem Leben, da sie mich als von Gott geküsst präsentieren konnte, was den Umstand, dass sie ein uneheliches Kind hatte, für sie erträglicher machte. Wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, dann hätte sie mich sogar als zweiten Jesus präsentiert, gezeugt von etwas Heiligem, statt von einem Kerl, der sie schwanger sitzen ließ.
Da meine Mutter mir von klein auf eingetrichtert hatte, dass es jemanden gibt, der alles lenkt und einen behütet, hielt ich meinen Freund aus meinen Träumen für völlig normal. Während sie dieses Wesen in den kalten, riesigen Gotteshäusern immer wieder aufs Neue zu suchen begann und ihn in unseren Gebeten anflehte, dies und das zu tun, hatte ich ihn immer bei mir. Deshalb bekam dieser Kirchenquatsch auch niemals die gleiche Bedeutung für mich, wie für sie. Ich brauchte nicht zu beten und zu flehen, denn er kam auch so und war für mich da. Ich hielt das alles für völlig normal.
Als ich meiner Mutter das einmal zu erklären versuchte, wurde sie sehr böse und behauptete, das müsse ein böser Geist sein, von dem ich sprach. Sie schleppte mich einige Wochen lang zu jeder Messe, die sich anbot und ließ mich in Beichtstühlen meine Zeit absitzen. Aber ich hatte keinen Bezug zu diesen fremden Männern auf der anderen Seite des winzigen Raums, die mich ausquetschen wollten wie eine Zitrone, um meine Sünden freizulegen. Ich wusste nicht mal, was mit Sünden gemeint ist und war mir keiner Schuld bewusst.
Man hielt mich für bockig oder zu dumm und ich hatte erst Ruhe, als ich meiner Mutter weinend erklärte, sie angelogen zu haben und dass es niemanden außer ihr und Gott in meinem Leben gibt. Dafür bekam ich die ersten Schläge meines Lebens und schwor mir, niemals wieder meinen Kurt zu erwähnen.
Er blieb aber weiterhin mein geheimer Freund und meistens mochte ich die Zeit mit ihm. Aber je älter ich wurde, je erschreckender konnten die Träume mit ihm werden. In ihnen erlebte ich die Schrecken eines Krieges, was meine Träume düster und beängstigend machte und auch die Liebe, die Kurt einem Mädchen entgegenbrachte. Sie war blond, hatte blaue Augen und war wunderschön. Die beiden zusammen erleben zu dürfen, brachte eine Sehnsucht in meine Welt, auch so etwas haben zu wollen und ich glaubte daran, dass sich dieser Wunsch eines Tages erfüllen wird.
Zu diesem Zeitpunkt saß ich wenigstens einmal die Woche meine Zeit in einer Kirche ab, in die meine Mutter mich mitschliff. Es gehörte zu meinem Alltag, wie alles andere, was ich über mich ergehen ließ, um sie gnädig zu stimmen. Denn weder meine Bemühungen, mein Klavierspiel ihren Anforderungen anzupassen, noch meine guten Schulnoten ließen ihr stets kaltes Herz sich erwärmen. Für sie zählte nur Leistung, Ruhm und Gehorsam.
Ich hatte einen Schalter, den ich, sobald meine Mutter in meine Nähe kam, umlegte und dann war ich der brave, folgsame und religiöse Junge, den sie wollte. Wenn sie nicht da war, dann schaltete ich automatisch auf den wirklichen Tim, der diese Eigenschaften aus seinem Leben strich und anderen Platz machte.
Wie alle Jungen meines Alters machte ich mit dreizehn Bekanntschaft mit diversen Sexfilmen, an die man nur zu leicht durch das Internet herankam. Dort offenbarte sich mir eine Welt, die nichts mit den Gefühlen aus meinen Träumen gemein hatte, aber mir eine Möglichkeit gab, die mir den immer stärker werdenden innerlichen Druck nahm, der oftmals unerträglich zu werden drohte. Ich war wie zweigeteilt. Einerseits wollte ich tiefes Gefühl und sehnte mich danach, dass jemand zu mir gehört und mir bedingungslose Liebe entgegenbringt, andererseits gab es da diese gefühlslose, kalte Welt in diesen Filmen, die so gut zu meiner bisherigen passte. Diese Filme, die keine Gefühle oder Liebe wiederspiegeln, sondern einzig und allein der Befriedigung dienen, lösten in mir etwas aus. Anfangs versuchte ich die Filme noch als Lehrmaterial anzusehen und achtet noch auf die Frauen und versuchte zu ergründen, was sie dazu brachte, das zu tun, was sie taten. Aber das war etwas, was ich nie ganz definieren konnte, denn sie stöhnten und forderten den Sex, aber letztendlich diente alles nur der Lust des Mannes und war auch damit beendet. Aber das war der Grund, warum mir diese Welt gefiel, denn sie war so anders als das, was meine Mutter mir beibrachte. Für sie war ein Mann ein Nichts, der nicht mal den Wert des Bodens aufwog, auf dem sie lief. Aber in dieser Welt, die mir in den Filmen gezeigt wurde, war der Mann der Bestimmer über alles. Da war es kein Wunder, dass sie mich so in ihren Bann zogen und mir gleichzeitig etwas schenkten, das mich zumindest befriedigte.
Natürlich wollte ich das in der Realität auch bald haben. Aber meine Mutter unterband alles, was mich anderen Mädchen näherbrachte. Sie wollte mich zu diesem Zeitpunkt nur für sich. Ich war das einzig männliche Wesen auf dem Planeten, das neben ihr bestand hatte und das sie neben sich duldete.
„Tim, wir beide sind das Gespann, das die Welt beherrschen kann“, war einer der Sprüche, die sie von sich gab, wenn wir ein Konzert gaben und Begeisterung auslösten, die sie stolz machte. Das war ein Spruch, der mich in Höhen erhob, die bis in andere Dimensionen reichen konnten.
Es gab aber auch andere Sprüche, die mich zu Boden warfen und in den Schlamm traten. Dann verkroch ich mich wieder in die Welt, in der Kurt immer auf mich zu warten schien, um mich aufzubauen und in eine Richtung zu führen, die mehr als nur meinem Glück diente. Aber das erkannte ich erst sehr viel später.
Während ich nach der großen Liebe lechzte, wie ich sie in meinen Träumen durch Kurt und seine Sonja erfahren hatte, fand ich zumindest Abreagierungspotenzial in den Sexfilmen. Doch meine Träume änderten sich. Kurt kehrte seiner Sonja den Rücken und verließ sie. Damit nahm er mir die Gefühle, die mich in meinen Träumen wärmten und mir Geborgenheit gaben. Und dann, vielleicht aus einer Sehnsucht nach diesen Gefühlen geboren, erschien ein blondes Wesen in meinen Träumen und gab mir diese Gefühle wieder. Erst glaubte ich, dass es Kurts Sonja war. Das Mädchen erschien mir nie ganz klar und mehr wie eine undeutliche Wunschausgabe von etwas aus meinem Inneren. Aber in der Welt der Träume ist selten alles glasklar und somit war das für mich nichts, was mich beunruhigte. Ich war einige Zeit wirklich glücklich und hoffte jeden Abend, dass dieses Wesen in der Nacht zu mir kam und mich mit in ihre Welt nahm. Aber das kam nicht oft vor, denn Kurt drängte sich irgendwann erneut wieder in meine Wahrnehmung. Mich begannen die Träume mit ihm zu verstören. Aber ich hatte keine Macht darüber. Nur meine Tagträume konnte ich bestimmen und in denen ersann ich meine Welt mit diesem blonden Wesen. Doch dann begann sie erneut in meinen nächtlichen Träumen zu erscheinen und dort wurde unser Zusammentreffen immer mehr zu einem Alptraum, in dem Gewalt, Angst und Mordlust regierte und jemand sie töten wollte.
Wer weiß, ob ich alles wieder so gemacht hätte, wenn ich damals schon gewusst hätte, wie mein Leben laufen wird, wenn ich das Mädchen aus meinen Träumen suche. Doch ich ahnte nichts davon und glaubte, dass sie die Liebe meines Lebens sein wird, wenn ich sie in der realen Welt finde. Und ich wollte sie unbedingt finden! Schon wegen dieser Alpträume, in der sie immer öfter bedroht wurde.
Als ich achtzehn war, beschloss ich mich aus den Klauen meiner Mutter zu befreien und das Mädchen zu suchen. Aber es vergingen Monate, bis ich das auch wirklich durchzog. Denn die Angst, dass meine Alpträume ein Fünkchen Wahrheit enthalten, hielt mich immer mehr gefangen.
Von dem Parkplatz des Konzerthauses fahre ich durch einen trostlosen und leeren Stadtteil von Köln und bin eigentlich nur auf der Suche nach einem Platz, an dem ich erneut parken kann, ohne dass mich einer meiner Begleiter von dem Musical wieder aufmischt. Ich hatte mich von niemandem verabschiedet und war klammheimlich abgehauen. Nur Kai und Arno hatten meinen Aufbruch bemerkt. Ich weiß, ich bin feige weggelaufen. Aber ich hätte einfach keinen großen Abschied verkraftet, ohne das allen klargeworden wäre, dass ich ihnen nur etwas vorgespielt hatte.
Um diese nächtliche Stunde ist nicht mehr viel in der Stadt los und ich warte auf einer fast leeren, kleinen Kreuzung an einer roten Ampel darauf, dass ich weiterfahren kann. Wohin weiß ich nicht mal. Ich fühle mich noch nicht in der Lage, klar zu entscheiden, was ich jetzt tun soll … wohin ich mich wenden soll. Und es ist bitterlich kalt draußen und die kleine Fahrt durch die Stadt lässt das Auto kaum wärmer werden. Ich brauche also erst mal einen Ort, an dem ich bleiben kann und an dem ich überlege, was ich jetzt mit meinem Leben anfange.
Endlich wird die Ampel grün und ich setze den Blinker und fahre rechts in die Straße hinein, obwohl ich eigentlich vorhatte, der Hauptstraße zu folgen. Ein kleines Hotel erscheint auf meiner Straßenseite und ich überlege nur kurz, dann steuere ich meinen Mercedes auf den kleinen Parkplatz und lasse den Motor ausgehen. Vielleicht sollte ich hier nach einem Zimmer fragen und einfach noch einige Zeit in Köln bleiben.
Natürlich hatte ich heute Vormittag in dem Hotel, das ich die letzten fünf Tage bewohnte, großspurig ausgecheckt, um auch weiterhin den Eindruck zu erwecken, dass ich noch heute Abend nach Hause presche, um meiner Liebsten in die wartenden Arme zu fallen.
Aber meine Liebste liegt in den Armen eines anderen und ich stehe vor einem kleinen, schäbigen Hotel, völlig unwissend, wohin ich mich wenden soll.
Zu meiner Mutter nach Wolfsburg will ich nicht fahren. Auch von dort werden Fragen kommen, was ich denn jetzt anfangen will und was denn mit der jungen Frau ist, von der ich ihr vor kurzem erzählt hatte. Meine Mutter will sie kennenlernen und erwartet uns zu Weihnachten und zum gemeinsamen Hineinfeiern in das Jahr 2010. So hatte sie es zumindest deklariert. Sie hatte mir gestern am Telefon in ihrem herrischen und unwiderruflichen Ton mitgeteilt, dass sie uns in Wolfsburg erwartet und die Feiertage voll durchgeplant hat. So, wie sie es halt immer tut. Schließlich ist Weihnachten!
Ich hatte sie aufgebracht angefaucht: „Ich war jetzt vier Monate unterwegs. Glaubst du, ich fahre nach Hause, greife mir Carolin und schleppe sie nach Wolfsburg? Bestimmt nicht! Wir beide werden irgendwohin fahren, wo wir ganz allein sind und wo wir endlich in Ruhe unsere gemeinsame Zeit genießen können. Wir waren lange genug getrennt!“
Meine Mutter hatte in ihrer alten, bestimmenden Art getobt: „Tim, soll das heißen, du kommst diese Weihnachten gar nicht nach Hause? Sollen wir das allein verbringen? Du warst bestimmt schon lange nicht mehr bei einer Messe und ich möchte, dass wir das unbedingt nachholen. Und Sylvester! Wir haben das neue Jahr immer zusammen begonnen. Es kann wirklich nicht dein Ernst sein, diese alte Tradition zu brechen.“
Aber es war mein Ernst. Ich kann das familiäre Getue nicht ertragen, will keine Minute in einer Kirche verschwenden, und ich will Carolin endlich dazu bringen, sich für mich zu entscheiden. Und was will meine Mutter eigentlich? Seit sie diesen Typen hat, bin ich sowieso abgeschrieben.
Immer stand ich an erster Stelle. Immer war ich der Mann an ihrer Seite. Bis dieser Typ aufkreuzte. Meine Mutter schert sich doch einen Dreck um mich und soll ihr scheiß Weihnachten und Sylvester ohne mich feiern.
Natürlich hatte meine Mutter bei ihren aufgebrachten Worten angefangen zu schnauben und zu prusten, wie ein altes Dampfross, weil ich nicht tun wollte, was ihr vorschwebt. Aber am Telefon und auf die Entfernung machte mir das nichts aus. Und als sie wieder wie früher zischte: „Du bist genauso ein undankbarer Nichtsnutz wie dein Vater“, konnte mich das nicht erschüttern.
„Danke, Mama! Dann kann es ja nicht schlimm sein, wenn du deine schönen Feiertage nicht mit meiner Anwesenheit versauen musst“, erwiderte ich nur und legte auf, ohne das wirklich vorher überlegt zu haben. Einen Moment war ich selbst erschrocken. Doch dann dachte ich mir, dass ich alt genug bin, mich nicht mehr von ihr so behandeln zu lassen. Ich will mich von niemandem mehr so behandeln lassen!
Es tat gut, sich endlich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Aber dass ich meiner Mutter erneut die Stirn bot, ließ in mir zweigeteilte Gefühle aufkommen. Ich will eigentlich der nette, herzensgute Tim sein, der geliebt wird, weil er so unglaublich liebenswürdig ist. Aber mit Nettigkeit und Herzensgüte kam ich bisher im Leben nicht weit. Ich konnte mir zumindest niemals damit die uneingeschränkte Zuneigung meiner Mutter erkaufen. Die gab sie nur anderen. Das begriff ich aber erst, als dieser Typ bei uns auftauchte und meine Mutter ihn nicht mehr gehen ließ. Es hatte immer mal wieder Typen wie ihn gegeben. Aber die verschwanden am nächsten Tag auch wieder … oder spätestens am übernächsten. Aber Hans blieb. Er verkörpert offenbar alles, was meine Mutter sich für den Mann an ihrer Seite wünscht. Er arbeitet in einem Verlag, der sich auf religiöse, spirituelle Schriftwerke spezialisiert hat, geht regelmäßig in die Kirche, betet vor und nach jedem Essen und wahrscheinlich auch noch vor dem Schlafengehen und trägt ständig einen Heiligenschein, der seine Güte und Vollkommenheit präsentiert … und er lässt sich bestimmt jederzeit und mit Freude von meiner Mutter unterbuttern.
Ich wusste anfangs nicht, wie ich damit umgehen soll, dass er meinen Platz belegt. So rebellierte ich, wo ich konnte. Ich sperrte mich gegen alles, wo er dabei sein wollte. Und er wollte immer an der Seite meiner Mutter sein … und sie wollte ihn immer bei sich haben.
So brach etwas in mir. Ich glaubte, meine Mutter zu verlieren, was mich erst verunsicherte und erschreckte. Aber dann sah ich ein, dass es der Lauf der Zeit ist und man sich mit siebzehn von seiner Mutter lösen muss und anderem zuwendet. Und ich hatte das zarte Wesen aus meinen Träumen, das meine Welt erhellen konnte und zum Druck ablassen meine Filme, die mir diese kalte, animalische, sexgeladene Welt präsentierte, die dem Mann als Spielplatz dient und ihm die Frau zum Untertanen macht. Ich hatte bisher nur das Gegenteil bei meiner Mutter erleben müssen und nahm Hans sogar irgendwann als einen Umstand wahr, der mich letztendlich aus ihren Klauen befreite. Ohne ihn hätte ich es wahrscheinlich niemals über mich gebracht, meine Mutter zu verlassen, mich in die Welt zu begeben und das Wichtigste zu suchen, das es für mich gibt, um es zu retten. Das Mädchen aus meinen Träumen.
Ich steige aus dem Mercedes aus, ziehe meine Tasche vom Beifahrersitz und lasse die Türen sich verriegeln. Meinen Jackenkragen gegen den kalten Wind hochschlagend, laufe ich zum Eingang des Hotels und trete schnell ein.
Es ist warm und wirkt gemütlicher, als es von außen den Anschein hat. An der Rezeption muss ich klingeln und warte, bis ein Mann freundlich lächelnd auf mich zukommt.
„Guten Abend!“, sagt er und ich grüße zurück. Ich frage nach einem Zimmer und keine zehn Minuten später trage ich meine Reisetasche in den zweiten Stock hoch und in ein geräumiges Doppelzimmer. Ein Einzelzimmer war nicht frei.
Ich werfe meine Tasche auf das Bett und gehe unschlüssig an das Fenster, aus dem ich auf die Stadt blicken kann. Mir eine Zigarette anzündend, sehe ich hinaus und frage mich, was Carolin jetzt wohl macht. Ob sie an mich denkt?
Meine Stirn an die kalte Scheibe lehnend, weiß ich, dass ich in ihrem Leben nicht mehr viel Gedankengut produziere. Wäre ich bloß an dem einen Samstag nicht ausgerastet! Aber das lässt sich nicht mehr ändern. Meine Liebe zu ihr war zu überwältigend, und meine Wut, weil sie glaubt, dass ich nicht mehr in ihr Leben gehöre, zu erdrückend.
Die Gedanken an sie lassen mein Herz zu einem schweren Klumpen werden und in meinem Bauch zieht es eisig, als liefe eine Eiszeit durch ihn hindurch. Ich muss blinzeln, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken und mich packt erneut die Fassungslosigkeit darüber, wie alles gelaufen ist.
Aber es ist noch nicht vorbei! Sie gehört immer noch zu mir! Ich bin nicht mehr der kleine, dumme, verängstigte Junge, der von seinem Leben und seinen Träumen niedergedrückt nicht weiß, wie er sich zu verhalten hat. Ich werde sie mir zurückholen. Wie auch immer.
Ich werfe mich auf das Bett und lege den Arm über meine Augen. So gerne ich auch stark und draufgängerisch wäre, im Moment bin ich nur der einsame, verlassene Tim, dessen Leben momentan keinen Aspekt trägt, den er mit Freude in Angriff nehmen möchte.
Carolin! Sie ist meine Welt und mein Leben. Sie gehört zu mir wie das Klavierspielen. Unser Leben ist seit dem Tag verbunden, seit wir auf die Welt kamen. Unumstößlich.
Und sie lebt in der Nähe meines Vaters, der mit seiner Familie in Osnabrück wohnt. Einer Familie, der ich auch nicht angehöre.
Ich erfuhr Näheres von ihm, als ich meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, besuchte. Ich wusste lange nicht mal, dass sie existiert. Sie stand zu meiner Konfirmation plötzlich vor unserer Tür und gab mir ein Geschenk. Es war ein weißer Engel. Bevor ich recht verstand, wer diese alte Frau war, jagte meine Mutter sie auch schon fort. Aber sie hatte damit wohl gerechnet und ich fand in dem Geschenk auch noch einen Brief, in dem sie mir ihre Adresse verriet.
Ich fuhr einige Wochen später zu ihr, als ich in der Nähe ein Konzert gab. Sie freute sich so sehr darüber, dass ich ihr versprach, sie auch weiterhin zu besuchen.
Ich sagte meiner Mutter nichts davon, weil ich ahnte, dass es sie gegen mich aufbringen würde. Ich war damals vierzehn Jahre alt und noch darauf bedacht, die Liebe meiner Mutter nicht zu verlieren, die ich eigentlich nie wirklich besessen habe.
Von meiner Großmutter erfuhr ich dann von meinem Vater und dass er in Osnabrück lebt und dort eine Familie mit drei Kindern hat. Und ich erfuhr außerdem von ihr von einem weiteren Kind meines Vaters, das sogar älter ist als ich.
Dass ich so viele Geschwister habe, konnte ich erst nicht fassen und in mir setzte sich der Wunsch fest, sie kennenzulernen.
Aber ich erfuhr bei ihr noch mehr. Von alten Aufzeichnungen, die ich bei meiner Großmutter auf dem Dachboden fand, als ich ihr half, ihn zu entrümpeln, erfuhr ich von meinem Urgroßvater, dem Alchemisten Kurt Gräbler, der gleichzeitig auch mein Ururgroßvater war. Sie bat mich, die Kiste mit seinen Heften zu entsorgen und ich beschloss sie zu behalten … und fand in ihnen ein Stück unglaublicher Familiengeschichte.
Ich las diese drei handgeschriebenen Hefte heimlich und nur nachts, wenn ich nicht Gefahr lief, von meiner Mutter entdeckt zu werden. Zu dem Zeitpunkt bekam ich schon mein eigenes Hotelzimmer, wenn wir irgendwo einkehrten. Das half mir in die Hefte einzutauchen und auch, meine daraus resultierenden Erkenntnisse zu verkraften. So las ich zu Beispiel als Einführung in das erste Heft eine Widmung, die an meine Großmutter gerichtet war: „Liebste Tochter! Wenn du diese Bücher liest wirst du erkennen, welch wichtiger Weg mich durchs Leben führte und warum alles geschah, wie es geschah. Ich bin einem Geheimnis ganz nah und hoffe, dass der Wunsch nach ewigem Leben sich für mich bewahrheiten wird. In meinem unterirdischen Labor, in meinem Garten, halte ich hoffentlich die Macht über Leben und Tod in den Händen. Ich hoffe es zumindest für dich und mich! Denn mit meiner Entdeckung rette ich unser beider Leben.“
Er schrieb diese Widmung für meine Großmutter, die seine zweite Tochter ist. Außerdem offenbarten mir diese Hefte eine Geschichte, die schon lange tief in mir verankert ist, wie ich feststellen musste.
So fand ich geschrieben: „Meine Mutter brachte mich am 13.3.1904 zur Welt. Heinrich, dein Onkel, war da erst ein Jahr alt. 1907 folgte deine Tante Marie, 1909 dein Onkel Hans und 1910 deine Tante Josefine. Wir wohnten auf einem kleinen Hof in der Nähe von Bersenbrück, der uns durch die fleißigen Hände meiner Eltern und Großeltern alles bot, was man zum Leben braucht. Darüber hinaus verkauften wir jedes Jahr ein Schwein, die Eier unseren Hennen und die Milch von zwei Kühen. Außerdem gehörte uns ein Pferd, das nicht mehr das Jüngste war, aber durchaus willig. Zu der Zeit zählten wir zu den wohlhabenden Bauern. Heinrich und ich suchten in den umliegenden Wäldern Holz für den Winter, ernteten im Herbst mit deiner Oma Beeren und suchten Pilze. Im Frühjahr und den ganzen Sommer hindurch halfen wir unserem Vater und Großvater bei der Feldarbeit. Meine Kindheit war schön und unbeschwert, bis Ende 1914 Großvater uns die Nachricht aus der Stadt mitbrachte, dass Krieg war. Alles lechzte in einem schaurigen Freudentaumel danach, in die Welt hinauszuziehen und sich diesem Krieg anzuschließen.
Krieg! Was sollte das überhaupt sein? Ich war zehn Jahre alt und konnte mir nichts darunter vorstellen.
Einige Wochen später schloss sich mein Vater diesem „Krieg“ an und er sprach mit belegter Stimme von Ruhm und Ehre für das Vaterland. Meine Großmutter und meine Mutter weinten und wir saßen verschreckt wie Hühner in unserem Schrankbett.
Wir mussten im folgenden Frühjahr mit den Großeltern und meiner Mutter alleine den Acker bestellen. Von Vater hörten wir nur etwas durch die wenigen Briefe, die uns verschmutzt und zum Teil unleserlich erreichten. Darin schrieb er vom Grauen des Krieges, von Tod und Verderben und von Verwundungen und Schmerzen. Erst starb Großmutter und dann folgte ihr der Großvater, der den Tod seiner geliebten Frau und die Angst um seine Söhne, die im Krieg kämpften, nicht länger ertragen konnte. Am Gemeindehaus lasen wir die wöchentlichen Gefallenenlisten durch, die uns Kinder magisch anzogen. Ich nahm immer, wenn wir wieder daheim waren, Mutter in die Arme und flüsterte ihr zu, dass alles in Ordnung ist. Es schien fast, als brächte ich als einziger diese Zettel mit Todesnachrichten und unseren Vater im Krieg in Zusammenhang. Ich wusste, solange er nicht darauf stand, musste er am Leben sein.
Man holte uns unsere Schweine und die Kühe weg. Unser Pferd ließen sie uns, da es zu alt war. Die Hühner versteckten wir in einem Kellerloch.
Im November 1918 wurde ein Waffenstillstand beschlossen und der Krieg beendet.
Unser Haus stand noch, doch anderen ging es weitaus schlechter als uns. In den umliegenden Ortschaften Ankum und Alfhausen hatten in den Jahren des Krieges Bomben ganze Straßenzüge zerstört und es waren viele Menschen gestorben, auch Freunde und Verwandte von uns.
Da der Krieg nun endlich beendet schien, glaubte ich, Vater käme wieder nach Hause. Doch wir warteten noch zwei Jahre, in denen es uns so schlecht ging, dass wir kaum leben oder sterben konnten. Mutter bläute uns ein, wenn Vater zurückkommt, wird alles wieder besser werden. Doch als er kam, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Wir erkannten ihn kaum, als er eines Tages vor unserer Tür stand. Er war dem Tod näher als wir. Ich begann mehr denn je den Krieg zu hassen und den Tod zu fürchten. Das Einzige, was mich in der folgenden Zeit aufrecht hielt, war ein junges Mädchen mit dem schönen Namen Sonja. Wir lernten uns in dem kleinen Laden unseres Ortes kennen. Ihrem Vater gehörte der Kramerladen, in dem es zu der Zeit immer weniger Waren gab. Ich war dorthin geeilt, um nach etwas Medizin für unseren Vater zu fragen, der schrecklichen Husten und hohes Fieber hatte. Doch der Kramer wollte mir nichts geben, da ich nicht bezahlen konnte. Es war Sonja, die mich hinter dem Haus abfing und mir ein Säckchen Tee und ein kleines Glas mit weißem Pulver in die Hand drückte. Sie kam mir vor wie ein Engel!
Die Medizin half und noch mehr half Frau Ton, die täglich mit Sonja bei uns vorbeischaute und meinem Vater Wickel machte und Kräuterpackungen auflegte. Meine Mutter war voller Bewunderung für diese Frau und ich war voller Bewunderung für Sonja.
Sonja zeigte mir, wie ich Vater selber Kräuterpackungen machen konnte und ging mit mir in die umliegenden Wälder zum Kräutersammeln. Ich verliebte mich in sie.
Vater wurde körperlich gesund. Doch geistig blieb er ein Wrack. Manchmal jagte er uns in den Keller und schrie, dass Bombenangriffe bevorstünden. Doch es war vorbei! Der Krieg war vorbei! Doch im Kopf meines Vaters tobte er ununterbrochen weiter.
Der Kramer starb und ein Onkel von Sonja übernahm den Laden. Er verbat Sonja, sich mit mir zu treffen. Ich war 18 Jahre alt und hin und hergerissen von zwiespältigen Gefühlen. Ich wollte dieses Mädchen heiraten. Doch ihr Onkel war dagegen und suchte ihr einen reichen Bauern, den sie statt meiner ehelichen sollte. Es waren die Reichen, die immer noch reich waren und die Armen, die am Existenzminimum lebten. Besserung war nicht in Sicht. Deutschland steckte in einer tiefen Krise. Ich wollte dem entfliehen! So versuchte ich Sonja klarzumachen, dass wir beide fliehen mussten. Weg von diesem Ort, der unsere ganze Kindheit lang unser Zuhause gewesen war und raus aus diesem Land, das sich ruiniert hatte.
Doch Sonja wollte nicht gehen. Sie wollte lieber den Bauern heiraten und ein Dasein ohne Liebe, aber dafür in geordneten Verhältnissen führen. Ich hatte ihr weder hier noch in der großen weiten Welt etwas zu bieten.
Mein Vater war zum Tyrannen geworden und ertrug nicht, dass ich einer anderen Welt nachsann, als der, die sein Leben bestimmte. Ich wollte nicht hier zu Hause am Hungertuch nagen und zusehen, wie Sonja diesen Bauern heiratete.
Als wir erneut heftig aneinandergerieten, packte ich mein weniges Hab und Gut und verschwand eines Nachts.
Viele Tage marschierte ich durch verwahrloste, vom Krieg gezeichnete Gegenden, sah zerstörte Städte und tausende von Grabstätten, die sich auf ackergroßen Flächen vor den Städten dahinzogen. Ich lebte von der Hand in den Mund und geriet nach langer Zeit zu einem Hafen. Dem Hungerstod schon recht nahe, nahm mich eine Frau zu sich, die die alte Hafenkneipe „Zur Welle“ betrieb. Nach drei Monaten, die ich ihr in der Schankstube aushalf und mit ihr Bett und Tisch teilte, ließ ich mich auf einem alten Kutter anwerben, der mich nach irgendwohin mitnehmen sollte.
Dort bekam ich eine karge Mahlzeit am Tag und überwachte die Fracht. Ich weiß nicht, ob es Wochen oder Monate waren, die ich nur Wasser und Himmel sah. Aber eines Tages verfärbte sich der Himmel so schwarz wie ein Leichentuch und ein Unwetter brach über uns herein, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte.
Das Schiff versank. Ich schwebte zwischen Leben und Tod, von den stürmischen Wellen auf einem Brett, an das ich mich gebunden hatte, hin und her gepeitscht.
Der Sturm verging und der Tag brach an. Mit ihm noch zwei weitere Tage und Nächte. Dann, ich dachte wirklich es wäre ein Himmelsschiff, kam meine Rettung in Form eines großen Frachters, dessen Besatzung mich aus dem Meer fischte.
Ein seltsamer Mann nahm mich in seine Obhut und pflegte meine von der Sonne verbrannte Haut und rettete mein Leben.
Kari Mantei gab mir nicht nur mein Leben zurück, sondern er nahm mich als seinen Lehrling und Diener in seinen Dienst auf. Wir schifften in ein Land, das Ägypten heißt und mir wie der Himmel vorkam.“
Ich weiß noch, mit wie viel Herzblut mein Vorfahre aus diesem Land berichtete und ich weiß noch, wie mich diese Geschichte meines Urgroßvaters tief in meinem Inneren traf. Schließlich kannte ich jeden Aspekt darin aus meinen Träumen. Und ich erkannte, dass mein Kurt mein Urgroßvater ist.
Erst erschreckte mich dieser Umstand, doch dann verstand ich, was dieser Mann wirklich geleistet hatte. Er hatte sich seinen Wunsch nach Unsterblichkeit in gewisser Weise erfüllt. Doch der Irrsinn, der hinter der ganzen Geschichte steckt, offenbarte sich in seinen weiteren Schriften.
„Kari Mantei nahm mich in sein Haus auf und unterrichtete mich in der Wissenschaft der Alchemie und der Heilkunst. Ich entdeckte bald, dass er ein wichtiger Mann in seinem Land war und die Achtung, die man ihm entgegenbrachte, schenkte man bald auch mir.
Über zehn Jahre verbrachten wir damit, die Elemente des Feuers, des Wassers, der Erde und der Luft zu erforschen. Wir versuchten sie einer überirdischen Reinheit zu unterziehen, die wir dann als Grundlage für weitere Versuche nahmen, um auch andere Stoffe in einen Reinheitsgrad aufzusplitten, der noch nirgends Gleiches fand.“
Seine Bücher strotzten vor Begeisterung für die Alchemie, beschrieben Verfahren und ihre Ergebnisse und zeigten ein Wissen, das mich einerseits verwirrte und mir doch nicht ganz fremd war.
„Wennalles aus einer Urmaterie, die in sich selbst eine Einheit ist, entstand, so mussten wir die Dinge zu ihrer Urmaterie zurückführen, aus der wir dann wiederum neues Entwickeln konnten. Kari Mantei war nicht allein mit seinem Wissen. Es gab geheime Sitzungen in einem unterirdischen Keller unter dem heißen Wüstensand, in dem wir uns mit anderen trafen und über unsere Ergebnisse berichteten. Dort erfuhr ich zum ersten Mal das wirkliche Ansinnen dieser alchemistischen Vereinigung. Kari Mantei hatte mich schon darauf vorbereitet. Aber niemals ahnte ich, welches Ausmaß der Wunsch angenommen hatte, endlich das Aurum Potabile des ewigen Lebens zu erschaffen. Alle waren besessen von diesem Wunsch nach Unsterblichkeit und ich mittlerweile genauso.
In der Alchemie gibt es Ansichten und Weisheiten, die aus Zeiten stammen, als diese Wissenschaft noch in Kinderschuhen steckte. Aus der Zeit stammt ein Wissen über pure Intensität und Kraft, die alles beherrschend durchdringt und alles zu dem macht, was es ist. Es gibt Anhänger der Alchemie, die genau die gleichen Eigenschaften dem Lebenssaft zusprechen und meinen, dass man unsterblich werden kann, wenn man durch das Blut einer jungen Frau immer wieder eine Körpererneuerung erlebt. Oder andere waren sich sicher, dass nur der Unsterblichkeit erlangt, der sein eigenes Blut mit dem Blut seiner aus Inzest geborenen Tochter ersetzt, was immerwährenden Inzest und Mord zur Folge hatte. Ich fand diesen Gedanken grässlich, obwohl es einige unter uns gab, die darauf schworen, dass dies das Einzige ist, das wirklich Erfolg verspicht.
Ich wollte diesen Weg nicht gehen und versuchte viele andere Wege. Doch ich sah, dass es im Namen unserer Zunft immer wieder zu erschreckenden Taten kam und wir bald als Mörder verschrien uns alle auf die Flucht begeben mussten. Kari Mantei kam bei der Flucht ums Leben. Er wurde von einer selbstjustizfordernden Meute gehängt, bevor er seine Unschuld auch nur beteuern konnte. Die wahren Mörder unter uns wurden nicht zur Rechenschaft gezogen und ich hasste sie dafür und beschloss 1938 wieder in meine Heimat zu reisen. Doch dort beschwor Deutschland nur ein Jahr später einen Krieg mit Polen herauf und mein Vater verlangte von mir, das gleiche Schicksal zu ertragen wie er selbst und mich dem Tod im Krieg zu stellen.Doch dass der Tod für mich eine andere Bedeutung hat, wie für ihn, schließlich hatte ich mein Leben damit zugebracht, ihm zu entkommen, ahnte er nicht. Und ich hatte noch nicht die Gewissheit, meinem Ableben auch wirklich durch mein alchemistisches Wissen entrinnen zu können. Meine Versuchsergebnisse hatte ich nur in Büchern mitbringen können und mein Labor in meiner Heimat war noch zu neu und unvollständig und meine Arbeit dort hatte mir noch keine neuen Erkenntnisse beschert. Doch der Tod traf nicht mich in den Wirren der Kriegszeit, sondern meinen wie einen Bruder lieb gewordenen Freund Martin, der mit mir auf der Suche nach dem ewigen Leben war. Und sein Tod war es, der mich voller Verzweiflung doch noch andere Wege des Aberglaubens aus den ersten Tagen der Alchemie einschlagen ließ.
Mittlerweile hatte ich in Erfahrung gebracht, dass ich eine Tochter habe, die Maja heißt. Meine Sonja, die mich damals gegen den Bauern austauschte, war schwanger gewesen und ich war ahnungslos in die weite Welt gezogen.
Ich bemühte mich das junge Mädchen kennenzulernen. Sie war zu dem Zeitpunkt 18 Jahre alt. Doch Sonja verbat es mir und ich hoffte auf einen späteren Zeitpunkt, an dem ich meine Tochter in die Alchemie einweihen konnte. Sie sah ich als eine alchemistische Grundlage an, die mich zwar auf eine Weise unsterblich machen sollte, die ich bis dahin verpönte, die aber mit meinem zunehmenden Alter und der zunehmenden Angst vor dem Sterben mein Gewissen unterjochte.
Der Krieg tobte übers Land und ich war nicht bereit, daran teilzunehmen. Nachdem mein Freund schon gefallen war, legte ich einem von einer Bombe zerrissenen Kameraden meine Marke um das, was von seinem Hals übriggeblieben war und tauchte in dem Haus unter, das ich mir kurz nach meiner Ankunft in meiner alten Heimat gekauft hatte. Dort verschanzte ich mich in meinem unterirdischen Labor. Mich beseelte nur noch der Gedanke, alle mir erdenklichen Möglichkeiten offen zu halten, die mein alchemistisches Wissen mir offenbarte und begann einen zweiten Weg einzuschlagen. Ich weiß, dass für dich, meine liebe Tochter, das Ganze wie ein Fluch wirken muss. Aber es geht um Größeres. Es ist einfach die Gewissheit, zu einem bestimmten Zeitpunkt alles vorbereitet zu haben, was in meiner Macht steht. Und dieser Zeitpunkt ist mein Tod.
So schreckte ich nicht davor zurück, einen Weg zu gehen, den Kari Mantei aus einem der ältesten Bücher der Alchemie erschlossen hatte.
`Zeugt man mit einer Frau, die dem eigenen Blut entspringt, ein Kind, kann diesem Wesen ein offener Geist gegeben werden, der dem Alchemisten eine Hülle für seinen eigenen Geist geben kann, wenn er dem Wechsel ins Jenseits entrinnen will`.
Ich musste dazu ein Mittel erschaffen, das den Genpool meines zweiten Kindes, und aller folgenden Nachkommen, weitgehendst rein erhielt, um diese Hüllen über Generationen aufrechterhalten zu können.
Ich schuf dieses Mittel.
Da meine Tochter, Deine Mutter Maja, mich nicht kannte, hatte ich keine Schwierigkeiten sie zu treffen und ihr den Hof zu machen. Sonja, meine einstige große Liebe, Deine Großmutter, durfte davon nichts erfahren. Es war Krieg, und das Leben war von Hunger, Todesangst und Leid geprägt. Ich brachte Maja heimlich Essen und Geschenke und sie hielt mich für einen reichen Bauern, der sich von dem Soldatenleben freigekauft hatte. Es war leicht, sie zu beeindrucken und keiner hatte Zeit, auf unser Treiben zu achten. Mit meinem alchemistischen Wissen und dem Mittel, das sie mir ganz hörig machte, verführte ich sie und ließ sie in dem Glauben auf eine baldige Hochzeit. Was ich bis dahin nur hoffen konnte, war, dass dieses Mittel sich einen Weg in die Genmatrix sucht, die alle weiteren Nachkommen zwingt, sich mit denen, die diesen Genpool in sich tragen, zusammengehörig zu fühlen und zu vereinigen. Denn das war die eigentliche Macht, die von dem Mittel ausgehen sollte und mir auch Maja letztendlich näherbrachte.
Mein Blut sollte immer wieder zu meinem Blut führen und rein bleiben, falls mich doch der Tod ereilt und ich ein Wesen brauche, in das ich schlüpfen muss. Das war mein Grundgedanke, als ich Dich mit Maja zeugte, und es soll mich retten, wenn ich es nicht schaffe, das Mittel zu kreieren, das mir ewiges Leben schenkt.
Außerdem hoffe ich darauf, damit Maja nicht dem eigenen Tod aussetzen zu müssen, um mich mit ihrem Blut am Leben zu erhalten und auch Dich verschonen zu können.
Das ist alles aber erst einmal nur ein Grundgedanke, der mir meine Zukunft sichern soll.
Als ich diese Dinge damals las, war ich seltsam betroffen, weil mir dort das erste Mal wirklich klarwurde, dass ich so ein Gefäß sein muss, in das Kurt sich geflüchtet hatte. Und auch alle weiteren Male, bei denen ich die Inhalte der Bücher verschlang, brachten mich zu dem gleichen Ergebnis, wie auch alles Folgende.
So steht in ihnen außerdem geschrieben: Damit trug sie Dich unter ihrem Herzen und ich eine weitere Hoffnung, dem Tod zu entfliehen. Natürlich konnte ich Maja nicht heiraten. Sie ist meine Tochter! Als ich wusste, dass sie schwanger ist, musste ich gehen. Aber es fehlte ihr an nichts.
Dafür sorgte ich.
Als Du endlich geboren wurdest, war bei Maja nichts da, was Muttergefühlen gleichkam. Ich schickte ihr eine Frau, die ihr das unliebsame Kind für Geld abnahm und ich brachte Dich in einem guten Waisenhaus unter, denn auch ich konnte mich nicht um Dich kümmern.
Ich ließ Dich nie aus den Augen, wusste ich doch, dass der Tag kommen wird, an dem ich Dich zu mir hole …
Ich konnte meine Großmutter damals gut verstehen, dass sie weder ihrer Mutter noch ihrem Vater ein Fünkchen Zuneigung entgegenbrachte, nachdem sie sie einfach in einem Waisenhaus abgaben, wie einen Hund in einem Tierheim. Was Kurt und seine Tochter Maja meiner Großmutter damit angetan hatten, lässt sich kaum ermessen. Da ist es fast schon erfreulich, dass Kurt Gräbler damals von seinem Erfolg, was seine Nachfahren angeht, nichts erfuhr.
„Das Mittel, das ich Deiner Mutter gab, damit sie sich im mich verliebte und das unserer Familie immerwährenden Zusammenhalt bringen sollte, funktionierte nicht wie beabsichtigt. Sie war unfähig ihr eigenes Kind zu lieben. Das zumindest hätte niemals geschehen dürfen. Ich hatte versagt … das Mittel funktionierte nicht zur Zusammenführung des Familiengenpools. Zumindest nicht bei ihr. Aber meine Hoffnung liegt in der nächsten Generation … den nächsten Generationen!
Ich werde zwar weiterhin meinen alten Weg beschreiten, bis Du alt genug bist und hoffentlich in meine Fußstapfen trittst, um mit mir der Unsterblichkeit entgegen zu gehen. Und ich hoffe, dass ich nicht eines Tages doch noch den Weg der alten Schriften einschlagen muss, für den Du im Notfall vorgesehen bist. Ich setze auf einen anderen Weg, uns zur Unsterblichkeit gelangen zu lassen. Denn darauf ist meine Arbeit ausgerichtet und ich baue darauf, für uns erfolgreich zu sein.
Kurt Gräbler war es nicht. Aber diese Niederschriften von seinem Leben, das sich in meinen Träumen mein Leben lang widergespiegelt hatte, trafen mich tief in meinem Inneren und verunsicherten mich. Ich wollte mit jemandem darüber reden und es gab nur eine Person, der ich glaubte, mich anvertrauen zu können. Doch meine Großmutter wollte nichts von den Aufzeichnungen ihres Vaters wissen und auch sonst nichts. Sie wurde schrecklich wütend und erklärte mir, dass es in ihrem Leben niemals Eltern oder eine Familie gegeben hat. Sie war in diesem Waisenhaus aufgewachsen und hatte eine schreckliche Kindheit erlebt. Sie wollte von ihren Eltern, die sie im Stich gelassen hatten, nichts wissen.
Aber mit den Heften des Alchemisten offenbarte sich mir eine Welt, die ich zwar schon in gewisser Weise kannte, die mir aber auch Hintergrundinformationen über alchemistisches Streben, Experimente und unglaublichen Taten bot, die ich lieber niemals erfahren hätte. Kurt Gräbler war aus seiner Heimat geflohen, als seine große Liebe Sonja einen reichen Bauern heiraten musste und verließ damit seine Familie, in der sein vom Krieg gebrochener Vater zum Tyrannen mutiert war. Als er in einer Hafenstadt auf einem Schiff anheuerte, das bei einem Sturm im Meer versank, rettete ihm ein ägyptischer Alchemist das Leben, der ihn in die Lehre nahm. Viele Jahrzehnte lebte Kurt Gräbler in Ägypten, wechselte seine Religion, wurde selbst zu einem Alchemisten und verschrieb sich der Suche nach dem Stein der Weisen, der der Menschheit die Unsterblichkeit bescheren sollte. Aber er schaffte es nur bis in seine Nachfahren, die er mit seinen Lebensgeschichten manipulierte. Denn aus den Heften erfuhr ich, dass auch Sonja kein Traum war, sondern Wirklichkeit. Sie war meine Ururgroßmutter.
Das Ganze beunruhigte mich damals zutiefst und es gab niemandem, dem ich mich anvertrauen konnte. Ich wurde unruhig und ängstlich, denn es drängten sich auch weiterhin Geschichten in meine Träume, die ich nun anders wahrnahm. Was für mich bisher ein aufregendes Spiel war und mir eher dazu diente, meine Einsamkeit niederzuringen, bekam plötzlich einen ganz anderen Aspekt. Meine Träume spiegelten etwas wider, dass es wirklich in der Vergangenheit gegeben hatte. Was war also mit dem, was ich noch alles zu träumen begann?
Kurts Liebe zu Sonja hatte in meinen Träumen einen Wunsch geweckt und mir meine eigene Prinzessin beschert. Aber ich verstand damals noch nicht, warum sie plötzlich durch meine Träume spukte und wer sie war. Ich hatte nur diese Aufzeichnungen von meinem Vorfahren, in denen er beschrieb, dass seine Nachfahren aneinandergebunden waren, um sich immer wieder zu vereinigen und Kinder zu zeugen, in denen er wieder in Erscheinung treten kann. Ich ahnte, dass ein alchemistischer Geniestreich mir erst Kurt, und dann Carolin in meine Welt gebracht hatte.
Was mir erst noch als völlig unsinnig erschien, musste ich als gegeben hinnehmen. Mein Urgroßvater hatte sich der Alchemie verschrieben und der Aufgabe, den Tod zu besiegen. Letzterem konnte er zwar nicht gänzlich entrinnen, aber er hatte sich in mir in dieses Leben gerettet und wirkte dort. Das wurde mir damals klar.
Aber mit dieser Erkenntnis bekamen meine Träume ganz anders Gewicht und sie veränderten sich in den letzten zwei Jahren dramatisch. Sie bekamen einen neuen Aspekt, der mich fast in den Wahnsinn trieb. Ich sah das Mädchen aus meinen Träumen und mich einer Gefahr ausgesetzt, die uns vernichten wollte. Heute denke ich, dass mein Kurt Gräbler Anteil mich warnen wollte, weil der Anteil von meinem Halbbruder Julian, in dem genauso etwas von ihm schlummert wie in seiner Schwester Carolin, etwas voranbrachte, das den Alchemisten vernichten würde. Julian glaubte allerdings, er würde dem Alchemisten zur Auferstehung verhelfen. Aber in mir schlummerte wahrscheinlich die Gewissheit, dass es nicht nur mein und Carolins Tod sein würde, sondern auch der des Alchemistenanteil in Julian. Und so bescherte er mir diese Träume, in denen ich das Mädchen aus meinen Träumen sterben sah und bei denen in mir die unterschwellige Gewissheit schlummerte, dass ich mit ihr sterben werde. Diese Träume machten mich so fertig, dass ich nicht mehr schlafen wollte. Ich hielt mich wach, so gut es ging, bis ich zusammenbrach. Das war dann einer der Auslöser, die mich antrieben, das Mädchen aus meinen Träumen zu suchen.
Vor meiner Mutter stellte ich es so hin, als würde es nur um meinen Vater gehen. Dass ich plötzlich Interesse an ihm zeigte, machte sie wütend und wir gingen im Streit auseinander.
Sie wusste natürlich nichts davon, dass Kurt immer noch in mir wütete, und was mich wirklich dazu antrieb, nach Osnabrück zu ziehen. Sie glaubte, sie hätte mir diesen „Freund“ schon als Kind ausgetrieben und wusste weder etwas von diesem Mädchen aus meinen Träumen noch von meiner Angst, sie nicht retten zu können. Sie wusste auch nicht, dass ich meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, schon seit Jahren traf und schon lange einem Treffen mit meinem Vater und meinen Geschwistern entgegenfieberte. Und ich hoffte auch das Kind zu finden, dass er vor mir gezeugt hatte. Aber was sich dann alles ereignete, konnte ich mir in meinen kühnsten Vorstellungen nicht ausmalen …
Unschlüssig, wie mein Leben nach dem Ende des Musicals nun weitergehen soll und was ich in diesem Hotelzimmer in Köln eigentlich will, schiebe ich mich schwerfällig von der Matratze. Mir ist kalt und ich stelle mich unter die heiße Dusche, bis meine Haut nur noch eine verschrumpelte, weiche Masse ist. Aber die Kälte in meinem Inneren kann ich nicht vertreiben. Ich lausche in mich hinein. Aber dort ist alles tot. Fast wünsche ich mir, Kurt würde wieder an die Oberfläche krabbeln und mir sagen, was ich tun soll. Aber er ist weg, seit es diesen schrecklichen Vorfall mit Julian gab, der Carolin und mir fast das Leben gekostet hatte. Was immer in diesem Labor wirklich geschehen ist, es hatte mich von Kurt Gräbler befreit oder ihn zumindest in einen Hintergrund gedrängt, aus dem er sich nicht mehr so einfach in mein Leben schleichen kann. Ich träume nicht mehr von ihm. Manchmal wünsche ich mir allerdings, seine Macht würde noch in mir wüten, auch wenn das hieße, weiter mit Albträumen und der Angst leben zu müssen. Aber dann wäre er auch noch in Carolin vorhanden und würde sie lenken, wie er es vor Julians Versuch, ihn in seinem Labor auferstehen zu lassen, getan hatte. Dann hätte sie sich nicht so leicht von mir abwenden können und würde jetzt immer noch in meiner Wohnung in Alfhausen auf mich warten.
Während ich mich abtrockne, spüre ich meine Sehnsucht nach dem Ort aufkeimen, an den ich mich in den letzten Wochen so oft wünschte und an dem ich die schönste Zeit meines Lebens verbracht hatte. Ich will doch nur ein wenig Liebe und Geborgenheit! Nur ein bisschen von dem, was ich schon erleben durfte!
Mein Blick gleitet durch das mir fremde Hotelzimmer zu meiner Tasche, die auf dem Bett liegt. Ich gehe zu ihr, reiße meine Wäsche heraus und krame die Bilderrahmen hervor, die Carolin zeigen. Auf einem steht sie in meiner Küche und macht sich einen Tee und auf dem anderen liegt sie in meinem Bett und schläft. Beides Schnappschüsse - mit meinem Handy gemacht. Ich hätte so viel mehr von ihr machen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Aber ich ahnte ja nicht, dass sie mir wieder entgleiten wird.
Ich ahnte so vieles nicht und die Liebe und der tiefsitzende Drang, Carolin für immer für mich haben zu wollen, hatte mich verändert. Es gab viele Male, in denen ich mir in den letzten Monaten wünschte, ihr niemals begegnet zu sein und dass sie weiterhin nur in meinem Kopf existiert. Sie hatte etwas in mir aufbrechen lassen, mich mit etwas ausgefüllt, das mich unglücklicher machen konnte, als ich es je vorher war. Selbst als unser Halbbruder Julian beschloss, meinem und Carolins Leben ein Ende zu setzen, traf es mich nicht so tief, wie in den Momenten, als sie sich gegen mich wandte und mir ihre Liebe entzog.
Wie oft hatte ich verzweifelt versucht wieder in meine alte, kalte Welt einzutauchen, in der ich nicht verletzt werden konnte? Ich hatte meine ganze Kindheit damit zugebracht, diese Kälte sich in mir ausbreiten zu lassen, um besser in der harten Erwachsenenwelt bestehen zu können. Es war ein Kampf gewesen, der mich viel Kraft kostete. Immer darum bemüht, meiner Mutter zu gefallen, jagte ich nach der Schule nach Hause und verbrachte Stunden damit, Klavier zu spielen. Schaffte ich es, ein wirklich schweres Stück zu spielen, freute meine Mutter sich nicht und lobte mich, sondern sie hatte sofort ein neues parat, das noch schwerer und noch großartiger war. Ich hechelte hinter ihr und ihrer Zuneigung her, bis ich für mich jegliche Zuneigung ausschloss und mich entschied, ohne leben zu müssen. Das machte mich hart und aggressiv, was ich aber nicht vor meiner Mutter zeigen durfte. Sie wollte nicht, dass ich irgendeine Form von Aggression oder Unmut zeigte. Eigentlich herrschte in unserem Haus das Gesetz der Gefühlslosigkeit. Und ich lernte es in jahrelangem Kampf endlich zu beherrschen.
Aber es klappte nicht immer und in mir braute sich etwas zusammen, das herausdrängte und wie ein Tier über jemanden herfallen wollte. Das sah ich aber erst später so klar.
Mit fünfzehn hatte ich mein erstes Mal. Die junge Frau war eine von denen, die mich anhimmelten, nachdem ich ein Konzert gab. Von diesem Schlag gab es viele. Aber bis zu diesem Zeitpunkt konnte ich mit ihnen nicht viel anfangen, weil mein ganzes Sein auf dieses blonde Mädchen aus meinen Träumen ausgerichtet war, dass meine Sehnsucht nach Liebe schürte - und auf meine Mutter, die mich mit Argusaugen überwachte.
Eines Tages kam diese junge Frau nach einem Konzert in meine Kabine und ohne Umschweife trat sie an mich heran und küsste mich.
In mir sprang etwas an und sie machte mir verheißungsvolle Angebote, die ich nicht ausschlagen wollte. Sie war viel älter als ich und erfahrener. Sie war blond und schlank und hatte Sommersprossen. Mir war klar, dass sie dem Mädchen aus meinen Träumen glich.
Sie hatte ein eigenes Auto und fuhr mit mir in das Hotel, in dem meine Mutter auf mich wartete. Aber ich hatte mein eigenes Zimmer und erklärte meiner Mutter, dass ich Kopfschmerzen habe und schlafen gehen wolle. Stattdessen wartete die junge Frau auf mich und ich fieberte nervös meinem ersten Mal entgegen.
Sie küsste mich und fand es so aufregend, dass ich so unglaublich Klavier spielen kann. Sie lobte mich in den Himmel und zog alle Register und bei mir brach etwas hervor, das sich nicht mehr kontrollieren ließ. Sie wollte es zärtlich und sanft und langsam. Sie glaubte, meine Art zu lieben sei wie mein Klavier spielen. Aber wenn ich Sex habe, bin ich kein Klavierspieler. Beim Sex bricht bei mir eine Bestie hervor, die nach etwas giert, von dem ich bis zu dem Zeitpunkt nicht wusste, dass es das in mir gibt. Als sie mich immer wieder küsste und wollte, dass ich sie streichle und zärtlich bin, packte ich sie, riss ihr die Bluse auf und warf sie auf das Bett. Sie war erst noch fasziniert von meiner Gier. Doch schnell erkannte sie wohl, dass es für mich nur noch eins gab. Ich wollte sie besitzen und diesen Hunger in mir stillen. Es gab keine Zärtlichkeiten. Ich riss ihr die Hose vom Leib und schob mich zwischen ihre Beine. Es tat weh, weil sie nicht bereit war. Aber als ich auf diese Weise meinen ersten Orgasmus erlebte, wusste ich, das ist was ich brauche. Bisher hatte ich nur feuchte Träume, die mich überkamen und vorbei waren, bevor ich sie wirklich realisierte oder ich befriedigte mich selbst, während ich auf einen Bildschirm starrte, der andere beim Sex zeigte. Aber dieses erste Mal mit diesem Mädchen befreite mich von all dem, was bis dahin in mir wohnte und mich niederdrückte. Ich fühlte mich hinterher wie erlöst.
Die junge Frau wirkte verstört und enttäuscht und als ich ihr meine Nummer gab, nickte sie nur und ging. Ich hörte nie wieder von ihr.
Aber es folgten andere und ich lernte sie zum Druckablassen zu benutzen. Ich brauchte keine Gefühle und keine Streicheleinheiten. Ich brauchte nur einen Körper, in den ich meinen Frust, meine Versagensängste, und meine Sehnsucht nach diesem blonden Geschöpf aus meinen Träumen spritzen konnte.
Um nie wieder diesen ersten Schmerz verspüren zu müssen, gewöhnte ich mir an, mit einem Finger stets zu testen, was mich erwartet, bevor ich sie schnell und hart nahm.
Dann kam Tanja. Sie war so verliebt in mich und ich wollte das erste Mal, dass es für länger hielt, weil alles andere erschreckend mühsam ist. So bemühte ich mich um ein wenig mehr Zuwendung den weiblichen Formen gegenüber und versuchte mir etwas Zeit zu lassen. Aber meist misslang das. Wenn ich sie küsste, wollte ich sie gleich und auf der Stelle ganz. Dennoch gelang es mir Tanja zu halten und ich lernte, einen Frauenkörper zu erkunden konnte auch etwas für sich haben. Ich tat das, wenn bei mir der erste Druck abgebaut war, um Tanja wenigstens etwa zu geben, dass sie an mich band. Aber es war nur ein schaler Abklatsch von Gefühlen und langweilte mich meistens schnell. Es brachte mir halt nichts.
Aber irgendwann musste ich erkennen, dass man keine Frau halten kann, wenn man ihnen nichts zurückgibt. Ich schob es darauf, dass bisher keine von ihnen die richtige war. Die einzig richtige Frau existierte bis dahin nur in meinen Träumen. Und sie liebte ich auch dort. Sie war die eine, der ich alle meine Gefühle offenbarte und die sie mir hundertfach zurückgab. Bei ihr gab es keine Wertung meiner Person oder meines Verhaltens. Sie verstand mich blind und meine Art zu lieben war die Art, wie sie geliebt werden wollte. Aber ich konnte sie mir nicht herbeiwünschen, wenn ich sie brauchte. Sie kam meist völlig unverhofft in meine Träume und letztendlich waren es nur noch Schreckensszenarien aus diesem Labor, die ich mit ihr in meinen Träumen durchlebte. Erst war es nur ein dunkler Schatten, der sie einschloss und ihr Licht niederdrückte. Dann legte sich diese graue Welt ganz auf meinen Traum, und Kurt, der mit diesem grauen Schatten erschien, legte ein Gefühl der Angst auf mein Gemüt, das sich immer öfter in den Traum einschlich. Und mit jedem Mal wurde die Gefahr um das Mädchen größer, die Schatten dunkler und mein Entsetzen, weil etwas Schlimmes passieren wird, stärker. Ich war verstört und wusste bei jedem Traum, dass ich dieses Mädchen retten muss, denn sie gehört zu mir.
Erst konnte ich Kurt in meiner Traumwelt noch Einhalt gebieten. Aber mit jedem Mal wurde meine Kontrolle über ihn schwächer und die Bedrohung für das Mädchen größer. Und dann veränderten sich die Gefahr und mein Traum. Es wurde zu einer Szene, die sich immer wieder wiederholte. Ich war in einem schmutzigen Labor und unter einem Tisch hockte ein Mädchen. Vor dem Tisch stand ein Mann, der sie mit einem Messer bedrohte. Doch die Szene änderte sich mit jedem neuen Traum. Wo ich erst glaubte, der Mann wäre Kurt und ich das Mädchen nicht klar erkennen konnte, wurde der Mann zu einem jungen Mann, der Kurt nur ähnelte, und das Aussehen des Mädchens wurde deutlicher. Ich sah ihr blondes Haar und ihre Sommersprossen in dem bleichen Gesicht.
Für die arme Tanja muss ich wie ein Irrer gewirkt haben, der erst über sie herfiel und dann im Schlaf von Albträumen gequält in Panik ausbrach und immer wieder einen Namen rief, der nicht ihrer war. Denn mit dem Albtraum in dem Labor setzte sich auch ein Name in meinem Inneren für das Mädchen fest. Ich nannte sie Carolin, bevor ich wusste, dass das Mädchen, das ich suchen und finden würde, auch so heißen wird. Das war eins der vielen Mysterien, die wir in den folgenden Monaten noch herausfinden sollten.
Tanja ging und kam nicht wieder. Ohne ein Wort verschwand sie einfach aus meinem Leben und ließ sich am Telefon verleugnen. Als ich sie aufsuchen wollte, war sie sogar weggezogen.
Erneut folgten andere. Aber es klappte nicht mehr. Etwas blockierte mich. Ich schob das alles auf meine Albträume und dieses Mädchen darin, das ich suchen und finden musste, um sie, wie auch mich, zu retten. Mir drängte sich immer mehr auf, dass ich unseren Tod in meinen Träumen sah, den nur ich verhindern konnte. Dieses Wissen brachte mich an den Rand meiner Existenz.