Eine Welt dazwischen - Norman Spinrad - E-Book

Eine Welt dazwischen E-Book

Norman Spinrad

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Beschreibung

Krieg der Geschlechter

Pacifica ist eine paradiesische Welt, auf der die Menschen friedlich und in völliger Gleichberechtigung leben. Dank modernster Computertechnik haben Frauen wie Männer gleichermaßen am politischen Geschehen teil. Doch in der restlichen Galaxis tobt der „blau-rosa Bürgerkrieg“, der auch Pacifica nicht verschont: Jeweils ein Schiff der Transzendentalen Wissenschaft, eine rein männliche Organisation, und der Femokraten, ein militantes Matriachat, landen und versuchen, die idyllische Welt für ihre Ideen zu gewinnen. Doch die Einwohner Pacificas haben ihren eigenen Kopf – und scheuen sich nicht, ihn auch zu benutzen …

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NORMAN SPINRAD

EINE WELT DAZWISCHEN

Roman

Das Buch

Pacifica ist eine paradiesische Welt, auf dem die Menschen friedlich und in völliger Gleichberechtigung leben. Dank modernster Computertechnik haben Frauen wie Männer gleichermaßen am politischen Geschehen teil. Doch in der restlichen Galaxis tobt der »blau-rosa Bürgerkrieg«, der auch Pacifica nicht verschont: Jeweils ein Schiff der Transzendentalen Wissenschaft, eine rein männliche Organisation, und der Femokraten, ein militantes Matriachat, landen und versuchen, die idyllische Welt für ihre Ideen zu gewinnen. Doch die Einwohner Pacificas haben ihren eigenen Kopf – und scheuen sich nicht, ihn auch zu benutzen …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

A WORLD BETWEEN

Aus dem Amerikanischen von Walter Brumm

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1979 by Norman Spinrad

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Satz: Thomas Menne

Eins

Royce Lindblad saß im Heck der Davy Jones und hielt die Jolle mit Ruderpinne, Fockleine und dem grünsamtenen Hosenboden am böigen Westwind vor einem rasch aufziehenden Gewitter. In der schwarzen Wetterwand achteraus flackerten fahle Blitze, und ihr Knattern vermischte sich mit polternden Donnerschlägen, aber es regnete noch nicht. Die sonst azurblaue Inselsee war stumpfgrau und kabbelig. Hoch über dem Mast segelten leuchtendgelbe Trompetenvögel auf ihren weitgespannten, bewegungslosen Schwingen im Wind und beantworteten den Aufruhr der Elemente mit gutmütig dröhnenden, tubaähnlichen Tönen. Solange die Trompetenvögel am Himmel waren, bestand keine unmittelbare Gefahr, dass das Gewitter sich zu einem Wirbelsturm wandelte, und daher keine Notwendigkeit, Mast und Takelung einzuholen und beim Antrieb Zuflucht zu suchen.

Abgeschnitten vom Netz des Medienverbunds und seinen Verantwortlichkeiten, hatte Pacificas Medienminister es nicht sonderlich eilig, zu Carlotta und den Angelegenheiten des häuslichen Lebens und des Staates heimzueilen. Obwohl man bei gutem Wind nur zwei Stunden von Gotham zur Insel Lorien segelte, hatte die Zeit hier draußen eine andere Bedeutung; man konnte sie nach Belieben dehnen oder zusammenpressen. Über eine Million Quadratkilometer Schelfmeer, konnten die Tausende von Eilande, die den Inselkontinent bildeten, je nach der gewählten Reisegeschwindigkeit entweder als Vorortbereich von Gotham oder als eine ungeheure Weite aus See und Himmel und unberührten Stränden angesehen werden.

Zwölf Millionen Menschen, nahezu ein Drittel der Weltbevölkerung, lebten hier draußen, keiner mehr als eineinhalb Flugstunden von Gotham entfernt. Vom Standpunkt eines Pendlers gesehen, trennte jeweils nur ein Katzensprung die Siedlungen und die verstreut liegenden Privathäuser auf den größeren und kleineren Inseln voneinander und von der pacificanischen Hauptstadt. Eine solche bequeme Gewöhnung war freilich nicht ungefährlich; wenn der nächste Nachbar in wenigen Minuten erreichbar war, vergaß man leicht, dass diese Minuten dreißig Kilometer offener See sein konnten. Und wenn man von Gotham die entfernteste Insel des Archipels in weniger als zwei Stunden erreichen konnte, dann übersah man leicht, dass die zwölf Millionen Insulaner und ihre Wohnungen nur ein feines Staubgesprenkel von Menschheit über die jungfräuliche Unendlichkeit einer Welt aus Ozean und bewaldeten Inseln war, fünfzig Lichtjahre von der Sonne entfernt, die ihre Art hervorgebracht hatte.

Hier unten auf dem Meer aber waren die Proportionen zurechtgerückt, war der Inselkontinent wieder eine Welt für sich, unendlich und menschenleer, und man war ein einsamer Segler auf unbefahrenem Meer, der die ozeanische Zeit von Wellen und Wind im Kopf haben musste.

Voraus hob sich die struppige Silhouette der Insel Horvath über die Kimm. Royce meinte den bläulichweißen Lichtpunkt der Fusionsflamme einer Kursmaschine auszumachen, die, vielleicht von Thule kommend, zur Landung in Lombard ansetzte. Als wollte sie seine Aufmerksamkeit von dieser Mahnung an die Welt der Menschen ablenken, durchbrach eine große Meerechse keine hundert Meter von seinem Boot mit einer jähen Gischtexplosion die Oberfläche. Das große Reptil hob die kurzen Vorderbeine in die Luft und die durchscheinenden Membranen seiner zwei Flughäute öffneten und blähten sich mit einem hörbaren Knall im stürmischen Wind. Indem sie diese von der Natur zur Vollkommenheit durchgebildeten Hautsegel in den Wind drehte, glitt die Echse mehrere Minuten lang parallel zum Segelboot an der rauen Meeresoberfläche dahin, mühelos mit dem Boot Schritt haltend, um schließlich mit einem dröhnenden Klatschen der breiten Schwanzflosse abzudrehen.

Royce ließ die Insel mit ihrem Hauptort Lombard querab liegen und steuerte die lange, sichelförmig hingezogene Kette kleiner Inselchen an, die sich jenseits von Horvath wie ein Kometenschweif in der Weite zwischen See und Himmel verlor. Nur ein halbes Dutzend Wohnsitze war über sie verstreut, und in ihrer Mitte lag Lorien, noch ungefähr fünfundzwanzig Kilometer entfernt.

Lange bevor er Carlotta Madigan kennenlernte, hatte Royce sich auf Lorien niedergelassen. Carlotta hatte die Richtung seines Lebens verändert und ihn an sich gezogen und seine Zukunft mit der ihrigen verknüpft. Vielleicht war Carlotta schon damals auf dem Weg zu ihrer ersten Amtszeit als Vorsitzende des Ministerrates gewesen, doch hatte es für ihn niemals einen Zweifel daran gegeben, dass sie, wenn sie sich für die Dauer mit Royce Lindblad zusammentun wollte, sich mit ihm auf Lorien würde niederlassen müssen, und nicht in jener Hochhauswohnung mitten in Gotham, wo sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Aus Gründen der Bequemlichkeit hatten sie die Stadtwohnung behalten, aber Lorien war ihr Zuhause – sie hatten das Haus gemeinsam entworfen, und Royce hatte darauf bestanden, dass sie auch in der Grundbucheintragung zu gleichen Teilen als gemeinsame Eigentümer erschienen. Er hatte genug von einem Traditionalisten, um zu glauben, dass der Mann Haus und Wohnort wählen sollte, selbst wenn es seiner Partnerin bestimmt war, an die Spitze der Regierung zu treten. Gerade ihre Machtstellung in der äußeren Welt verlangte, dass ein rechter Kerl wenigstens daheim Herr des Hauses war, wenn das Licht gelöscht wurde.

Um die Wahrheit zu sagen, der Inselkontinent war Royce Lindblads erste Liebe gewesen, und diese Neigung war etwas, was vielleicht nur jemand ganz verstehen konnte, der im Binnenland aufgewachsen war. Seine Eltern waren Weizenfarmer im fruchtbaren Talbecken des Blauen Flusses, doch waren Romanzen vom Inselkontinent schon in seiner jungen Zeit seine bevorzugte Fernsehunterhaltung gewesen. Als er mit achtzehn volljährig geworden war, hatte er diese See vor dem Bildschirm und in seinen Träumen Tausende von Malen kreuz und quer befahren und war längst entschlossen, dem Festland von Columbia den Rücken zu kehren, sobald sich die Möglichkeit ergäbe.

Sein Vater – ein stiller, freundlicher Mann von langsamer, aber tiefer Denkart – hatte dies frühzeitig erkannt und eingesehen, dass es nutzlos wäre, den Jungen umstimmen zu wollen. An jenem letzten Nachmittag hatten sie miteinander auf den moosbewachsenen Felsköpfen der Talseite gesessen, die das breite Becken des Blauen Flusses überblickten. Zu ihren Füßen breiteten sich die gelben Teppiche der reifenden Weizenfelder leise wogend in der Brise. Langsam und majestätisch zog der wasserreiche Fluss in gemächlichen Windungen seewärts, gesäumt vom üppigen Grün einheimischer Moose, Gräser und Sträucher. Zirruswolken belebten das Blau des Nachmittaghimmels mit ihren zarten weißen Spinnweben. Die Wärme des immerwährenden columbianischen Sommers durchwirkte die Luft wie mit Gold. Dann und wann glitt ein mit Getreide und Gemüse aus den Anbaugebieten am Oberlauf des Flusses beladener Lastkahn flussabwärts nach Gotham und zerteilte die türkisfarbene Flut mit weißem Kielwasser. Es war friedlich, es war schön, es war die Heimat, aber …

»Lass den Kopf nicht hängen, Junge«, sagte sein Vater. »Du tust es nur, weil du meinst, es gehöre sich so. Deiner Mutter und mir zuliebe.«

»Hast du nicht das Gefühl, dass ich dich im Stich lasse, Vater?«

Sein Vater schüttelte den Kopf und lächelte. »Dies ist mein Stück vom Leben«, sagte er. »Dies ist meine Welt, und sie singt mir ihr Lied. Wenn du von anderswo eine Melodie hörst, musst du nach ihr tanzen. Die Welt hat Platz genug, Royce. Was für ein Kerl wärst du, wenn du dein Leben lang am selben Fleck bleiben würdest, nur weil du zufällig dort geboren wurdest? Sieh mich an, mein Vater war Bergwerksingenieur in Thule, und ich bin hier. Nun, wenn du mir erzählen würdest, du wolltest dort hinaufziehen und den Rest deines Lebens in Eis und Schnee zubringen, dann würde ich mich allerdings fragen, ob du deine fünf Sinne beisammen hast.«

Sie lachten gleichzeitig.

»Du findest nicht verrückt, dass ich eine Gegend, die ich noch nie gesehen habe, als meine Heimat ansehe?«, fragte Royce.

»Ach, von dieser Verrücktheit haben wir alle etwas, nicht wahr?«, erwiderte sein Vater. »Wer hat nicht seinen Traum von irgendeinem Ort, wo er leben möchte? Uns alle treibt es um, bis wir endlich irgendwo landen, wo es uns gefällt. Und diese Inseln – ach ja, diese Inseln … nichts kommt ihnen gleich. Hast du dir jemals die Frage vorgelegt, warum die Gründer den Inselkontinent unberührt ließen und sich hier in Columbia ansiedelten?«

»Nun, da du es sagst …«

Royce glaubte sich in der Geschichte so gut wie jeder andere auszukennen. Die Gründer hatten vor etwas mehr als dreihundert Jahren Pacifica direkt von der Erde aus besiedelt, und die ersten Generationen waren so ausschließlich auf die Schaffung der Lebensgrundlagen konzentriert gewesen, dass sie ihre Bauernhöfe in den fruchtbaren Ebenen des östlichen Columbia kaum verlassen hatten. Gleichviel, wie konnten diese Leute an der Küste gestanden und nach Osten über die weiten und geheimnisvollen Bereiche der Inselwelt hinausgeblickt haben, ohne dem Zauber ihrer Vielfalt und Schönheit zu erliegen?

»Nun, ich will dir sagen, was ich denke«, fuhr sein Vater fort. »Die Gründer waren Menschen mit einem Traum, und dies war der Traum.« Er breitete die Arme aus. »Wo sie herkamen, war Land wie dieses nur eine Erinnerung und eine Verheißung. Als sie diese Ebenen sahen, wussten sie, dass dieses fruchtbare Land die Grundlage ihres Überlebens sein würde. Damit wussten sie auch, dass dies ihre Heimat sein würde. Das besagt nicht, dass unsere Vorfahren einfache Leute gewesen wären. Nein, sie und ihre Kinder und Enkel waren intelligent genug, die elektronische Demokratie und den Medienverbund und alles andere zu entwickeln. Und sie wussten, was es mit Träumen auf sich hat; sie wussten, dass der Mensch, so lange er jung ist, nicht von dem Ort träumt, wo er aufgewachsen ist. Das kommt erst viel später, wenn er alt wird und sich mit wehmütiger Sehnsucht auf seine Jugendzeit besinnt …«

Er zog die Knie an, legte die Arme darum und blickte über den Fluss und das Tal hinaus. »Ich glaube, Royce, dass sie diese Inseln sahen und wussten, dass ihre Enkel und Urenkel nicht davon träumen würden, hier auf den Ebenen Getreide und Gemüse anzubauen – jedenfalls nicht alle von ihnen. So überließen sie den Inselkontinent als Traum einer späteren Generation sich selbst.«

Er stand auf und legte Royce den Arm um die Schultern. »Ich erwarte nicht von dir, dass du meinen Traum träumst, Junge«, sagte er. »Es ist richtig, dass du deinen eigenen hast. So und nicht anders soll es sein. Darum werde ich morgen stolz sein, wenn du gehst, um dein Glück auf den Inseln zu suchen. Halt Augen und Ohren offen, Junge, und hör auf dein eigenes Lied!«

Obwohl im Umkreis einer Frau wie Carlotta Madigan niemand ganz nach seiner eigenen Musik tanzen konnte, hatte Royce niemals diese Abschiedsworte seines Vaters vergessen. Mochte dieser in den Augen eines Gothamers auch nur ein ungebildeter Festländer gewesen sein, so war es ihm doch gelungen, Royce zu lehren, was dazu gehörte, um ein rechter Kerl zu sein.

Und hier draußen auf der offenen See, wo er die Kraft des Windes durch die Fockleine und die Trägheit des Wassers durch die Ruderpinne spürte und sich selbst als das unabhängige Bindeglied zwischen beiden erfuhr, fühlte Royce Zeit und Geschichte und persönliches Karma von sich gleiten, bis ihm nur noch sein männliches Selbst blieb, durch welches er wieder Zugang zu dem jungen Burschen fand, der am Ufer des Blauen Flusses von seiner Kindheit Abschied genommen hatte.

Im Leben ein ganzer Kerl zu sein, hatte viel Ähnlichkeit mit dieser einsamen Segelfahrt auf den proteischen Gewässern zwischen den Inseln. Man achtete auf den Wind, hielt das Ruder gegen den Widerstand des eigenen Karmas, und indem man beide gegeneinander ausspielte, nutzte man sie, um sich auf dem vom eigenen Willen festgelegten Kurs voranzubringen.

Dieses Geheimnis – das er deshalb für ein im wesentlichen männliches hielt – schien Carlotta niemals ganz zu erfassen. Darum fuhren sie, wenn sie zusammen zwischen Gotham und Lorien reisten, gewöhnlich mit Motorenkraft, und darum war er es auch, der trotz Carlottas Intelligenz, ihrer Erfahrung, Staatskunst und Klugheit ihr politisches Boot durch die wechselnden Winde und Strömungen der elektronischen Demokratie steuerte.

Er hatte versucht, ihr das richtige Segeln beizubringen, aber das Problem dabei war, dass sie keine Geduld für die Beobachtung der Winde aufbrachte und kein Gespür für die Kunst sauberer Wendemanöver hatte.

Langsam zog Horvath auf backbord vorüber. Sobald er die Insel passiert hatte, wechselte Royce den Kurs und richtete den Bug auf Lorien. Der immer noch in steifen Böen über das Wasser fegende Wind blies jetzt direkt von achtern, und er stellte Fock und Großsegel aus, um die Windgeschwindigkeit zu nutzen. Bald schoss das Boot wie die Scheibenrochen, die sich mit kräftigen, laut klatschenden Flügelschlägen aus dem Wasser erheben und auf den flachen Bäuchen in langen Sprüngen an der Oberfläche dahinschnellen konnten, über die gischtgekrönten Wellenkämme.

Es ist kein Nachteil, dass Carlotta nicht dabei ist, dachte Royce. Man sollte nicht alles mit seiner Partnerin teilen; jeder braucht auch Abgeschiedenheit, einen stillen Ort, wo er seinem eigenen Lied lauschen kann. Ohne das wäre nichts in ihm, was er ihr in den Stunden des Beisammenseins geben konnte, und darauf kam es an.

Das Landhaus, das Carlotta Madigan und Royce Lindblad gemeinsam entworfen hatten, war ein niedriger, halbmondförmiger Bau, unauffällig eingefügt in den Hintergrund einer kleinen Strandbucht der Insel Lorien, und geschützt durch die weit vorgelagerten Riffe der Lagune. Das Haus war ganz aus wetterbeständigem, blauschwarzem Bongoholz aus der Kordillere gebaut und überwachsen von tropischen Kletterpflanzen, mit luftigen Räumen und einem breiten Giebeldach, dessen Holzschindeln einen farblosen Schutzauftrag aus Mikroglas trugen. Dem Gebäude war eine breite Veranda vorgelagert, die auf einer Seite bis über das Wasser der Lagune hinausschwang und dort ein Dach für die Liegeplätze der Boote bildete. Die Landseite des Hauses war den dichtbewaldeten Hügeln der Insel zugekehrt und von der ungebändigten Wildnis nur durch einen bescheidenen Garten mit Rasen, einem kleinen Springbrunnen, Sitzgelegenheiten aus Bongoholz und Beeten mit Rosen, Tulpen und Chrysanthemen in Rot, Weiß, Blau und Gelb getrennt.

Royce Lindblads Arbeitszimmer überblickte Bucht und Lagune und war durch eine Glastür direkt mit der Veranda verbunden, während Carlottas Arbeitszimmer auf der anderen Seite des Hauses lag und Ausblick auf den Garten und den jungfräulichen Tropenwald jenseits davon gewährte.

Nach ihrer Vorstellung sollte diese Anordnung eine ruhige und von Veränderungen freie natürliche Kulisse für die Arbeit an den Angelegenheiten des Staates liefern, doch hatte die tägliche Praxis gezeigt, dass sie kaum jemals aus dem Fenster blickte, wenn sie an das Netz des Medienverbunds angeschlossen war.

Tatsächlich standen die Bildschirme ihrer breiten Datenkonsole dem großen Fenster gegenüber, eingelassen in eine in flacher Bogenform zurückweichende getäfelte Schrankwand. Zur durchschnittlichen pacificanischen Datenkonsole gehörten sechs Bildschirme: einer für die persönlichen Kommunikationskanäle, einer für die hundert Programmkanäle der Sender, einer als Kontrollbildschirm für das Datenverarbeitungsgerät, einer für die Speicherprogramme, einer für die Kommunikationskanäle der Regierung, und ein sechster, der als Ersatz für defekte Bildschirme geschaltet und für andere Funktionen wie Geländeüberwachung eingesetzt werden konnte. Carlottas Konsole besaß ebenso wie Royce Lindblads vier zusätzliche Bildschirme: einen für Kommunikationen innerhalb der Regierung, einen für ständige Netzüberwachung, einen als Datenanschluss für den Parlamentscomputer und einen für das planetarische Beobachtungssystem.

Wenn Carlotta sich in das elektronische Universum des pacificanischen Medienverbunds einschaltete, verblasste die unmittelbare Wirklichkeit der Außenwelt beinahe augenblicklich vor dem Ansturm der vielfachen elektronischen Sinneswahrnehmungen. Durch Kameras, Mikrophone und Bildübertragungsgeräte erfuhren ihr Gesichtssinn und Gehör nicht nur eine die ganze Welt umspannende Erweiterung, sondern wurden zusammengesetzt und vielfach wie die Sicht eines Insekts. Mit einem kurzen verbalen Kommando konnte sie Gesicht und Stimme von beinahe jedem Einwohner vor sich rufen. Die gesamte menschliche Geschichte seit der Erfindung des Videobandes stand ihr auf Abruf zur Verfügung. Computer berieten sie in allem, von einfachen arithmetischen Berechnungen bis zu Schätzungen über die langfristige Entwicklung der Handelsbilanz zwischen Pacifica und fünfzig anderen Welten. Jeder Bürger, der eine Scharte auszuwetzen oder eine philosophische Erleuchtung darzulegen hatte, konnte sich direkt an sie wenden – vorausgesetzt, sie war bereit, ihn anzuhören. Neunzig Kanäle mit Unterhaltungsprogrammen wetteiferten um ihre Aufmerksamkeit, und wenn sie in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt nichts finden konnte, was ihr Interesse fand, so gab es in den Datenspeichern ein halbes Jahrtausend aufgezeichneter Programme. Die letzten Nachrichten waren jederzeit abrufbar, und nicht nur so aufbereitet, wie es der regierungsamtlichen Sicht entsprach, sondern auch unter den Gesichtspunkten oppositioneller Gruppen wie den Marxisten, den Freiheitlichen Liberalen, den Reformsyndikalisten, Fatalisten und Platonischen Absolutisten und anderen. Wenn Pacifica nicht Welt genug war, dann brachte das galaktische Verbundnetz schrille Femokratenpropaganda von der Erde herein, Reiseschilderungen aus dreißig Welten oder Betrachtungen von Anhängern der Transzendentalen Wissenschaft, ein tachyonengetragenes Potpourri aus den weithin verstreuten Bereichen der Menschheit.

Alles das war das elektronische Universum eines jeden Pacificaners, ausgenommen derjenigen, die sich von Zeit zu Zeit als schwere Fälle von Medienüberdruss ausschalteten. Doch als amtierende Kabinettsvorsitzende und langjährige Parlamentsabgeordnete hatte Carlotta Madigan eine noch komplexere und intimere Rückkopplungsbeziehung mit dem Mediennetz.

Denn auf Pacifica waren Medien gleich Politik, und Politik war gleich Medien, und so war es seit den Tagen der Gründer gewesen. Geographisch isolierte Landwirte konnten nur durch das Netzwerk des Medienverbunds und die jederzeit ohne Verzögerung möglichen Volksabstimmungen der elektronischen Demokratie zu einer politischen Einheit finden. Am Anfang hatte es kein Parlament und kaum richtige Politiker gegeben – nur einen Datenverarbeitungskomplex in der kleinen Stadt Gotham, der die elektronischen Stimmabgaben aufzeichnen und auszählen musste, sowie einen kleinen Stab von Verwaltungsbeamten, den unmittelbar ausgedrückten Willen des Volkes zu verwirklichen. Inzwischen hatte sich jene anfängliche Einfachheit zusammen mit der pacificanischen Gesellschaft zu einer Komplexität entwickelt, die bisweilen beängstigend schien, aber noch immer durch die elektronische Geschwindigkeit des Netzes zusammengehalten wurde.

Nun gab es ein Parlament mit Abgeordneten, Ministerien und Verwaltungshierarchien, Wahlen und elektronische Volksabstimmungen, staatliche Industrie- und Handelsunternehmen, Währungskontrollen und wirtschaftliche Planung, Berufspolitiker und solche, die es werden wollten – alles in immerwährender Bewegung, die sich elektronisch über das Netz ausdrückte.

Obgleich Carlotta Madigan allein auf Lorien saß, mehr als zehn Kilometer vom nächsten menschlichen Wesen und noch weiter von der Hauptstadt Gotham entfernt, strömte ihr die Informationsflut über Bildschirme, Lautsprecher und Computer unaufhörlich und unversiegbar zu, wann immer sie es wünschte.

Schlank und Mitte der Vierzig von noch jugendlicher Gestalt, war Carlotta mit einem Gesicht gesegnet, das auf den Bildschirmen von Untergebenen, Kollegen und politischen Gegnern als ein altersloses Abbild der Autorität erschien, aber einer Autorität, die nicht so sehr ihrem Amt entsprang, als vielmehr ihrer Persönlichkeit. Das helle Antlitz unter dem wehenden schwarzen Haar zeigte nur bei genauerem Hinsehen die feineren Linien, die Verantwortung, Sorge und Entschlossenheit mit den Jahren in ihre Züge gegraben hatten. Ihre blaugrauen Augen waren alter Stahl, und ihre stolze Nase und die festen, doch ausdrucksvollen Lippen hätten einem altertümlichen Dogen von Venedig gehören können. Mit Royce Lindblad als Informationsminister und rechter Hand war sie die beste Vorsitzende, die Pacifica in zwei Generationen gesehen hatte, und niemand wusste das besser als sie.

Carter Berman, der gegenwärtige Industrieminister, ein betagter grauhaariger Mann, der dieses Amt in verschiedenen Regierungen immer wieder und wahrscheinlich öfter innegehabt hatte, als er sich zu erinnern vermochte, blickte jetzt mit bedenklicher Miene aus dem Kommunikationsbildschirm und versuchte ihr die Ausdehnung des Streckennetzes der staatlichen Luftlinie auf die Route zwischen Gotham und der Zentralkordillere schmackhaft zu machen. Carlotta Madigan aber zeigte bereits jenen vertrauten sphinxartigen Ausdruck, der ihm verriet, dass er sich für eine aussichtslose Sache einsetzte. Doch da er nun einmal angefangen hatte, musste er seine Argumentation wohl oder übel zu Ende bringen.

»… wie die Dinge jetzt stehen, verkehren zwei private Linien zwischen Gotham und den Ortschaften in der Kordillere, und durch die verdeckte Preisabsprache findet so gut wie kein Wettbewerb statt …«

Während er sprach, forderte sie über den Speicherschirm die Zahlen des Verkehrsaufkommens auf der fraglichen Strecke an. »Womit wollen Sie die Maschinen auslasten?«, sagte sie. »Die beiden Luftlinien, die diese Route bisher fliegen, erreichen eine Kapazitätsauslastung von nur 61 Prozent.«

»Aber überprüfen Sie das Preisgefüge.«

Carlotta ließ sich die Zahlen geben. Transcolumbia verlangte 180 Werteinheiten für die Touristenklasse und 230 WEs für die erste Klasse. Die Zeta berechnete 167 WEs und 240 WEs. »Also«, sagte sie, »ich sehe darin keinen Beweis für unerlaubte Preisabsprachen.«

»Ich habe Informationen darüber. Sehen Sie sich einmal die Preise pro Passagierkilometer an und vergleichen Sie sie mit Strecken ähnlicher Länge.«

Als Carlotta die Zahlen hatte, sah sie, dass der Flugpreis pro Passagierkilometer tatsächlich annähernd 30 Prozent höher lag als auf der Strecke Gotham-Walhalla oder Walhalla-Lombard, und sogar 17 Prozent höher als Gotham-Godzillaland. Aber auf der anderen Seite schienen die Gewinnspannen wirklich nicht übermäßig hoch zu sein.

»Sehen Sie sich die Zahlen an, Carter«, sagte sie. »Die Gewinne sind nicht außergewöhnlich hoch.«

»Sie liegen um 25 Prozent über dem, was angemessen wäre. Eine staatliche Linie könnte die Preise um 20 Prozent ermäßigen und immer noch einen ansehnlichen Gewinn machen.«

»Bei der gleichen Auslastungsquote?«

»Selbstverständlich«, sagte Berman.

»Aber was bringt Sie zu der Annahme, Carter, dass wir unsere Maschinen auf dieser Strecke zu 61 Prozent auslasten könnten?«, versetzte Carlotta. »Die Nachfrage wird sich nicht wesentlich erhöhen. Wenn wir mit Transcolumbia und Zeta konkurrieren, werden alle Maschinen weniger als halb voll fliegen, und wir werden genauso wie die anderen mit Verlust operieren. Dann werden die anderen entweder einen Preiskampf anfangen oder den Verkehr auf der unrentabel gewordenen Strecke einstellen. Ich sehe unsere Aufgabe aber nicht darin, die privaten Gesellschaften aus dem Markt zu drängen.«

»Haben Sie diese Prognosen durchgerechnet oder peilen sie nur über den Daumen?«, fragte Berman mit verdrießlich gerunzelter Stirn.

»Ich peile das über den Daumen«, sagte Carlotta, »genauso wie Sie, habe ich recht? Sie haben keine Computerprojektion dafür, oder täusche ich mich?«

»Nein.«

»Nun, wenn Sie eine haben, sehen wir weiter«, sagte Carlotta und beendete das Gespräch. Sie seufzte. Berman war ein Technokrat mit ausgeprägten interventionistischen Neigungen. Wenn es nach ihm ginge, würde es jedes Mal, wenn jemand aus einem Unternehmen mehr als 10 Prozent Gewinn herausholte, einen staatlichen Konkurrenzbetrieb geben. Carlotta hingegen zog es vor, den Markt sich selbst zu überlassen, solange keine wirklich flagranten Missstände eintraten.

Die Verfassung gab der Regierung das Monopol auf den Gebieten der Energieerzeugung und des Bergbaus, aus deren Erlösen der Verwaltungsaufwand der Regierung gedeckt wurde. Die darüber hinaus erzielten beträchtlichen Gewinne flossen in den staatlichen Gesundheitsdienst, der allen Bürgern kostenlose ärztliche Betreuung gewährleistete. Schließlich dienten die Preise für Energie und Bergbauprodukte als wirtschaftliche Steuerungsinstrumente. Innerhalb dieser Grenzen konnte man den freien Markt weitgehend sich selbst überlassen.

Zu einer Ausweitung des staatlichen Sektors der Wirtschaft war es erst vor einem Jahrhundert gekommen, als das Transportgewerbe verbotener Preisabsprachen überführt worden war. Auf diese Weise hatten die beteiligten Unternehmer Profitraten bis zu 40 Prozent erzielt. Obwohl dies von jedermann als unerträglich empfunden wurde, wollte niemand den freien Markt durch allzu weitreichende Bestimmungen und Kontrollen strangulieren. Daher fasste das Parlament den Entschluss, statt restriktiver Maßnahmen ein regierungseigenes Transportunternehmen ins Leben zu rufen, um durch Konkurrenz auf dem freien Markt die Preise herabzudrücken. Dieses Rezept bewährte sich so gut, dass die Regierung ihren Kapitaleinsatz innerhalb von fünf Jahren amortisiert hatte und von da an regelmäßig Gewinne einstrich, die zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben herangezogen werden konnten.

Aber was als Notprogramm begonnen hatte, war im Laufe der Zeit unausweichlich institutionalisiert worden. Weitere staatliche Unternehmen waren entstanden, und heutzutage wurde jedes Mal, wenn die Profitrate in irgendeiner Branche die 10 Prozent überschritt, lauthals nach Errichtung einer konkurrierenden staatlichen Gesellschaft zur Stabilisierung der Preise gerufen. Auf der anderen Seite sah die Regierung sich von Wirtschaftskreisen unter Druck gesetzt, die sich für die Privatisierung der staatlichen Unternehmen stark machten, sobald die Profitraten unter jenen willkürlichen Satz sanken.

Angesichts dieser widerstreitenden Interessen verfolgte Carlotta Madigan eine flexible Politik. Weder dachte sie daran, die Ausweitung des staatlichen Sektors zum Prinzip zu erheben, noch war sie abgeneigt, von staatlicher Seite für preisdämpfenden Wettbewerb zu sorgen, wenn der freie Markt nicht mehr funktionierte. Wegen solcher Kontroversen hatte sie mehr als einmal ihr Amt zur Verfügung gestellt. Diesmal wird es nicht reichen, Carter, dachte sie und lächelte ihr Mona Lisa-Lächeln. Dann wandte sie sich wieder dem Mikrophon zu und forderte eine Zwischenmeldung über die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion und der Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse an.

Hier haben wir ein Gebiet, dachte sie, worin der freie Markt nicht ohne ständige Überwachung und Eingriffe funktioniert. Die fünf Millionen Landwirte Columbias konnten genug Lebensmittel produzieren, um das Vierfache der gegenwärtigen Weltbevölkerung zu ernähren, wenn sie einen Anreiz erhielten. Aber viele waren dazu übergegangen, dass sie nur noch zur Deckung des Eigenbedarfs anbauten und die übrigen Flächen mit Agrarprodukten wie Ölsaaten, Tabak, Wein, Gemüse und Obst bestellten, mit denen sie höhere Erlöse erzielten. Die Folge waren – bei relativ stabiler Nachfrage – heftige Schwankungen des Agrarangebotes mit entsprechenden Preisbewegungen, so dass die Regierung zu ständigen Interventionen gezwungen war. Sie musste aufkaufen, wenn Überproduktion die Preise dergestalt drückte, dass die Bauern ihre Ernten auf den Feldern verfaulen ließen, weil das Einbringen sich nicht lohnte. Stiegen dann die Preise plötzlich an und schufen die Vorbedingungen für neuerliche Überproduktion, musste sie die eingelagerten Agrarprodukte verkaufen. Eine staatliche Planungskommission für die Landwirtschaft wäre die vernünftigste Lösung gewesen, aber die Festlandbewohner besaßen zuviel politischen Einfluss, als dass ein solches Vorhaben die parlamentarischen Hürden hätte überwinden können. Infolgedessen war das Landwirtschaftsministerium gezwungen, große Mengen Agrarprodukte aufzukaufen, einzulagern und wieder zu verkaufen, um eine relative Stabilität der Preise zu erhalten.

Nach den vorliegenden Ziffern war die Weizenernte schlecht ausgefallen, während der Markt mit Sojabohnen überschwemmt wurde. Carlotta stellte eine Verbindung zu Cynthia Ramirez her, der Landwirtschaftsministerin.

»Ich glaube, wir müssen Weizen kaufen«, sagte sie.

»Ich habe schon veranlasst, dass alle Überschussmengen vom Markt genommen werden«, sagte Cynthia Ramirez. »Ich möchte aber nicht gern Kontrakte zu mehr als 9 WEs für den Scheffel abschließen.«

»Ich fürchte, zu dem Preis werden wir nicht genug bekommen, um später Interventionsmengen auf den Markt bringen zu können«, sagte Carlotta. »Gehen Sie notfalls bis auf 12 WEs.«

»In ein paar Monaten werden wir intervenieren müssen und zu 9 WEs verkaufen«, wandte Cynthia Ramirez ein. »Hinzu kommt, dass wir in großem Umfang Sojabohnen aufkaufen und einlagern müssen, um die Preise zu halten. Wir kaufen derzeit den Scheffel für 9 WEs. Der Himmel weiß, ob und wann wir diesen Preis erlösen können, wenn wir die Lager räumen.«

Carlotta zuckte die Achseln. »Das lässt sich nicht ändern. Besser, wir drücken den Weizenpreis jetzt auf zwölf hinauf und halten ihn dort, als dass wir später zusehen müssen, wie er unkontrolliert steigt, während wir mangels Interventionsmengen nicht regulierend eingreifen können.« Es war so gut wie unmöglich, Landwirtschaftspolitik zu treiben, ohne dabei draufzuzahlen. »Tun Sie es«, fügte sie hinzu, als sie den zweifelnden Blick der Ministerin bemerkte. »Notfalls können wir die Preise für Eisen und Stahl erhöhen, um den Verlust auszugleichen.«

Wenn das die Inflation nicht allzu sehr anheizt, dachte sie, als sie die Verbindung unterbrach. Ihre Arbeit als Vorsitzende des Ministerrates war ein ständiges Jonglieren. Die Regierung musste mit Hilfe der staatlichen Monopole einen gesunden Gewinn erwirtschaften, damit die Sozialleistungen gedeckt werden konnten, denn Steuern gab es nicht, und die Wähler würden einer Verwaltung, die ihre gesetzlichen Leistungen nicht mehr erfüllen konnte, bald den Laufpass geben. Die Regierung aber musste außerdem Wirtschaft und Währung im Gleichgewicht halten, was häufig Maßnahmen erforderlich machte, die nach den Begriffen einer Gewinn- und Verlustrechnung ganz und gar unproduktiv waren. Für die Vorsitzende war es wie ein fortwährender Drahtseilakt, während sie mit den gegensätzlichen Kräften und Faktoren der Wirtschaft jonglierte. Aus diesem Grund war jede Amtszeit, die ein Fiskaljahr überdauerte, ein Grund zur Selbstzufriedenheit.

Carlotta war bereits viel länger im Amt, aber ihre Selbstzufriedenheit darüber war gemäßigt durch das Wissen, dass Royce ein guter Teil des Verdienstes daran zukam. Es hatte niemals einen besseren Informationsminister als Royce gegeben, und niemals ein Gespann wie sie in den beiden höchsten Ämtern …

Der Gedanke an Royce Lindblad, der mit der Davy Jones irgendwo dort draußen auf See kreuzte, gab Carlotta Anlass, den Wetterbericht einzuschalten. Die Darstellung auf dem Bildschirm war vertikal unterteilt. Zur Linken waren Temperaturen, Luftfeuchtigkeit und Luftdruckmessungen wiedergegeben; zur Rechten zeigten die in allen Weltgegenden an strategisch günstigen Punkten installierten Überwachungskameras Darstellungen der augenblicklichen Wetterverhältnisse.

Auf die westlichen Abhänge der Zentralkordillere gingen schwere Regenfälle nieder, prasselten durch die wassertriefenden Äste der mächtigen Bäume und trommelten auf die breitblättrigen Pflanzen und buntfarbenen Pilze des undurchdringlichen Unterholzes herab …

Regen erinnerte Carlotta stets an jene Feier in ihrer Hochhauswohnung in Gotham, wo sie Royce kennengelernt hatte. Es hatte an dem Abend dermaßen gegossen, dass die Leuchter der Stadt durch die herabstürzenden Wassermassen kaum noch zu sehen gewesen waren. Das Rauschen des Regens auf die Welt draußen und sein unaufhörliches Prasseln gegen die Fensterscheiben hatte die monotone, beharrliche Hintergrundmelodie abgegeben. Es war ein politischer Abend gewesen, eine jener Einladungen, ohne die ein aufgehender Stern am politischen Himmel nicht bestehen kann, weil sie am besten geeignet sind, Verbindungen zu knüpfen und zu vertiefen. Und dann hatte sie ihn gesehen, in weißer Hose, hohen schwarzen Stiefeln und einem roten Hemd mit weitgeschnittenen Ärmeln nach der damaligen Mode. Sein braunes Haar hatte er schulterlang getragen, und damit nicht genug, hatte er sich diesen albernen, irgendwie rührenden Schnauzbart herangezüchtet – ein durchsichtiger Versuch, älter auszusehen, als er war. Aber etwas an ihm hatte sie gleichwohl aufmerken lassen …

Eine erbarmungslose Sonne glühte vom fast immer wolkenlosen Himmel über der Wüste. Hitzewellen flimmerten über dem graugelben Sand und ließen die entfernten schiefergrauen Gebirgszüge wie eine Fata Morgana ihrer selbst zerfließen.

– Sie hatten während des ganzen Abends nur einmal kurz miteinander gesprochen. Sie war vollauf damit beschäftigt gewesen, die charmante Gastgeberin zu spielen und eine Gruppe von älteren Abgeordneten mit ihrer Sachkenntnis, ihrem Schwung und ihrem gesunden Selbstbewusstsein zu beeindrucken. Als sie ins Nebenzimmer trat, um sich an der Hausbar zu bedienen, sah sie ihn mit den Schultern an einer Wand lehnen und sie anstarren.

»Gefällt Ihnen, was Sie sehen?«, sagte sie von oben herab.

»Sie gehören zu den Gewinnern«, sagte er. »Ich bin Ihnen ausgeliefert. Sie können mich haben, wenn Sie mich wollen.« Er lachte, jungenhaft und ironisch. »Vielleicht können Sie mich sogar dazu bringen, dass ich Ihnen meine Stimme gebe.«

»Sie halten sich offenbar für einen ganz und gar unwiderstehlichen jungen Mann, nicht wahr?«, sagte Carlotta.

Er lachte und bog das Kreuz durch, ohne die Schultern von der Wand zu nehmen, so dass er sich ihr entgegenzudrängen schien. »Tun Sie es nicht?«, fragte er und blickte ihr in die Augen.

Carlotta trat einen Schritt auf ihn zu, pikiert über seinen ungenierten Narzissmus, selbst wenn er ihn mit Selbstironie durchsetzte. »Ich könnte interessiert sein, wenn Ihr Bellen nicht besser ist als Ihr Biss.«

»Oh, ich beiße nie«, sagte Royce. »Tun Sie es?«

Carlotta musste lachen. »Das wird sich erweisen müssen«, sagte sie und schnappte die Zähne zusammen …

Schneeflocken wirbelten leicht aus dem bleigrauen Himmel über Thule und verschmolzen mit dem blendenden Weiß des gefrorenen antarktischen Kontinents. Nur die fernen Kuppelbauten Walhallas unterbrachen die grenzenlose weiße Eintönigkeit der Polarkappe gleich sorgfältig placierten Punkten kontrastierender Pigmente in der abstrakten Malerei eines Minimalisten …

– Eine Partybegegnung wie hundert andere. Eine gutaussehende und selbständige Frau von Dreißig mit politischem Ehrgeiz und bereits im Vorhof zur Macht hatte die Wahl unter ungezählten müßiggängerischen, von sich selbst eingenommenen jungen Männern, die eine solche Bienenkönigin wie die Drohnen umschwärmten und deren einziges Ziel es war, unter Umgehung der langwierigen Mühsal eigener Vorleistungen Aufnahme in die Gesellschaft der Machtelite zu finden. So hatte Carlotta angenommen, dass dieser junge Mann bloß einer unter den vielen sei, die sich an sie heranmachten und – eine Art von männlichen Prostituierten – für eine oder ein paar Nächte anboten, immer mit der Hoffnung, es zu ihrem ständigen Begleiter zu bringen und an ihrem Aufstieg teilzuhaben. Sie hatte sich nichts weiter dabei gedacht und war zu ihren politischen Freunden zurückgegangen, vielleicht mit einem etwas gestärkten Bewusstsein ihres persönlichen Charismas und ohne in diesem jungen Kerl mehr zu sehen als eine nicht unattraktive Möglichkeit für einen müßigen Abend …

Ein stürmischer Wind rauschte in den Kronen der mächtigen Urwaldbäume von Godzillaland und ließ buntfarbene Blütenblätter und abgerissenes Laub durch die üppiggrünen Etagen der Urwaldvegetation wirbeln, bis sie in die windstillen, dämmernden Tiefen des Unterholzes niederschwebten. Pelzige kleine Beutelsegler sausten von Ast zu Ast, und irgendwo brach etwas Großes, Ungesehenes krachend durch das Dickicht …

– Als die letzten Gäste gegangen waren, hatte Carlotta sich müde aber zufrieden gefühlt, erschöpft vom Reden und der Anstrengung, eine gute Figur zu machen, aber in gehobener Stimmung, weil alles gutgegangen war, erfüllt von einem Gefühl bevorstehenden Triumphes bei dem Gedanken an ihre nun so gut wie sichere Wahl ins Parlament, sobald die derzeitige Regierung zurücktreten würde.

Eingesponnen in politische Berechnungen und Spekulationen, betrat sie ihr Schlafzimmer – und da war er, lag ausgestreckt und entkleidet auf dem Bett, dessen Decken er sorgfältig zurückgeschlagen hatte, das Hemd mit sorgsam kalkulierter Nachlässigkeit so über sich geworfen, dass es seine Blöße bedeckte, ein Glas Wein in der Hand, die Verkörperung dreister Unbekümmertheit.

Er trank vom Wein und visierte sie über den Rand des Glases hinweg an. »Sind Sie für heute Abend mit der Eroberung der Welt fertig, Carlotta Madigan?«, sagte er.

Carlotta blieb das Lachen in der Kehle stecken. Es war zuviel, es war wie irgendein alberner Pornofilm, und doch … Und doch, als er sie mit gebieterisch gekrümmtem Finger zu sich winkte, folgte sie der Aufforderung. Als er sie küsste, öffneten ihre Lippen sich den seinigen, und was immer ihre Gedanken beschäftigt hatte, war vergessen.

Es war die perfekte Leistung, physisch so vollkommen, dass es an seelenlose Mechanik erinnerte. Danach stützte er sich auf einen Ellbogen und musterte sie mit einem Ausdruck unverschämter Selbstzufriedenheit.

»Wer bist du?«, sagte Carlotta leise, als hätte der Drehbuchautor des Pornofilm ihr die Worte in den Mund gelegt.

»Royce Lindblad«, antwortete er.

»Und welche Art von Geschöpf bist du, o geheimnisvoller und meisterlicher Fremdling?«

»Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich arbeite als Produktionsassistent für den Medienverbund«, sagte er scharf, in plötzlich verändertem Ton. »Pornofilme für den Export.« Und er brach in stürmisches Gelächter aus.

»Du Mistkerl, du unverschämter!«, brachte Carlotta hervor, bevor sie in sein Gelächter einfiel …

Weiße Wolken zogen über einen klaren, tiefblauen Himmel über dem östlichen Ende des Inselkontinents. Weit draußen am Horizont blähte sich ein einsames hellblaues Segel zwischen zwei bewaldeten Inseln …

Carlotta lehnte sich zurück und lächelte sinnend. Den Rest jener Nacht hatten sie mit Gesprächen über Politik und Medien verbracht, und das war der Beginn ihrer Beziehung gewesen, wie sie bis zum heutigen Tag fortbestand: sie die Herrin, Royce ihr Gehilfe.

Aber sie konnte kein Segel draußen auf offener See sehen, ohne an Royce zu denken, wie er dort draußen mit seinem Boot segelte, noch immer der unternehmungslustige junge Kerl. Und sie konnte nicht an Royce und sein Segelboot denken, ohne sich jener ersten Nacht zu erinnern, denn das war die junge und alterslose Seite von ihm, die nur sie und die See kannten …

Plötzlich gingen alle Bildschirme aus und begannen gleich darauf in blendendem Rot stroboskopisch zu flimmern, während die Lautsprecher ein schrilles elektronisches Heulen vernehmen ließen. Eine Durchschaltung höchster Priorität! Was zum Kuckuck mochte das sein?

Carlotta beugte sich nervös vorwärts und drückte die Annahmetaste, während ihr tausend Befürchtungen durch den Kopf schossen.

Das wirbelnde Flimmern der Bildschirme und der Sirenenton hörten sofort auf. Das aufgeregte Gesicht einer jüngeren Frau erschien auf dem Bildschirm des Regierungskanals.

»Nun, was gibt es?«, fragte Carlotta scharf. »Wer sind Sie? Was geht vor?«

»Laura Sunshine, Informationsministerium, Funküberwachungsbüro«, sagte die junge Frau mit beherrschter Stimme. »Wir empfangen eine tachyonische Sendung aus dem Sonnensystem.«

»Was?« Carlotta sank zurück, nach dem Augenblick gespannter Erwartung plötzlich verwirrt. Es ergab keinen Sinn. Modulierte Strahlen von überlichtschnellen Tachyonen wurden ausschließlich für interstellare Kommunikation verwendet – sie waren das Medium des galaktischen Mediennetzes. Das Verfahren war viel zu kostspielig, um es für Kurzstreckenkommunikation zu gebrauchen; abgesehen davon, war Pacifica die einzige bewohnbare Welt dieses Sonnensystems.

Folglich musste es sich um ein Raumschiff von außerhalb handeln, und das war wahrhaftig ein historisches Ereignis. Die ohne Zeitverzögerung arbeitenden tachyonischen Sendungen des Netzes hielten die von Menschen besiedelten Welten zusammen, aber Reisen waren auf Geschwindigkeiten unter derjenigen des Lichts beschränkt, und das nächste bewohnte Sonnensystem war eineinhalb Dekaden entfernt.

Damit nicht genug, warum sollte ein Raumschiff warten, bis es im pacificanischen Sonnensystem war, um seine bevorstehende Ankunft anzukündigen? Die meisten Raumschiffe beförderten Einwanderer, und das übliche Verfahren war, dass der Transport vor der Abreise des Schiffes vom Heimatplaneten gemeldet wurde, so dass ein Willkommen mit seltenen Artikeln des interstellaren Handels – Embryonen bestimmter Lebensformen, Saatgut, neuen Technologien – erkauft werden konnte, die auf der Zielwelt begehrt waren. Diese Dinge wurden im Voraus ausgehandelt, es sei denn …

»Ist diese Sendung verschlüsselt oder in Klartext?«, fragte Carlotta.

»In Klartext«, antwortete Laura Sunshine. »Und der Inhalt wird Ihnen keine Freude machen.«

»Nun, dann lassen Sie sich nicht lange bitten und überspielen Sie mir die Sendung«, sagte Carlotta ungnädig. »Und schalten Sie den Zerhacker ein, in Gottes Namen.«

Der Bildschirm wurde für einige Augenblicke leer, und dann erschien ein neues Gesicht darin: ein älterer Mann mit langem, geschmackvoll frisiertem, stahlgrauem Haar, einem kantigen Gesicht mit harten braunen Augen und einer kräftigen Hakennase. Er trug einen allzu vertrauten mitternachtsblauen Uniformrock mit einem hohen, steifen, mit silberner Borte eingefasstem Kragen.

»Ich bin Dr. Roger Falkenstein von der Arche Heisenberg der Transzendentalen Wissenschaft«, sagte der Mann mit kühler, gemessener Stimme. »Wir treten in Ihr Sonnensystem ein und werden in zwanzig Tagen in eine Umlaufbahn um Pacifica gehen. Unsere Mission ist friedlich und wird von großem Nutzen für Ihr Volk sein. Wir beabsichtigen die Errichtung eines Instituts für Transzendentale Wissenschaft auf Pacifica. Als geschäftsführender Direktor der Heisenberg erbitte ich Erlaubnis, auf Ihrem Planeten zu landen und Verhandlungen mit Ihrer Regierung zu eröffnen.«

Das Bild verschwand, um nach einem Augenblick wiederzukehren. »Ich bin Dr. Roger Falkenstein von der Arche Heisenberg der Transzendentalen Wissenschaft …« Die Sendung war eine ständig wiederholte Tonbandaufnahme.

Carlotta schaltete ärgerlich aus und stellte die Verbindung mit Laura Sunshine wieder her. »Das ist die ganze Botschaft?«, fragte sie.

»Ja, sie strahlen sie kontinuierlich aus«, sagte Laura Sunshine. »Der Blaurosa Krieg?«

»Sieht ganz danach aus, nicht wahr?«, sagte Carlotta grimmig. »Halten Sie diese Verbindung aufrecht und geben Sie mir die Satellitenüberwachung. Ich will sehen, ob wir ein Bild von dieser Arche bekommen können.«

Sie wählte die Satellitenüberwachung und bekam einen dunkelhaarigen jungen Mann. »Hier spricht die Vorsitzende«, sagte sie. »Schalten Sie den Zerhacker auf diesen Kanal und auf einen weiteren zu Laura Sunshine, Informationsministerium, Funküberwachungsbüro!«

»Ah, wie bitte?« Der junge Mann gaffte sie verdutzt an.

»Tun Sie, wie ich Ihnen sage!«, sagte Carlotta schroff. »Sie haben mich verstanden. Und vergessen Sie nicht, dies ist höchste Sicherheitsstufe, keinen Ton zu irgendwem.« Sobald der Zerhacker eingeschaltet war und das Gespräch für zufällige Mithörer unverständlich machte, sagte sie: »Wir empfangen eine tachyonische Sendung von einem Schiff innerhalb des Systems.« Sie ließ dem Mann am anderen Ende keine Zeit, das zu verdauen, und fuhr fort: »Das Funküberwachungsbüro wird Ihnen die Koordinaten geben. Ich möchte, dass Sie eines der satellitengestützten Teleskope auf den Funkstrahl einpeilen, das Schiff orten und mir eine Aufnahme bei stärkster Vergrößerung durchgeben. Und machen Sie alle relevanten Kanäle abhörsicher!«

Kurze Zeit darauf erschien ein verschwommenes Objekt auf dem Bildschirm, ein silbriger Zylinder vor dem schwarzen, sterndurchsetzten Hintergrund des Raums. Eine dünne blaue Fusionsflamme stach aus einem Ende des Zylinders, beinahe transparent, völlig gleichmäßig und konisch geformt. Das Schiff war von einer Regenbogenaureole umgeben, als ob seine Wiedergabe elektronisch unvollkommen mit dem Sternenhintergrund kombiniert worden wäre, oder als wäre es von einer unbekannten Art von Energiefeld umgeben.

»Wie hoch ist die geschätzte Geschwindigkeit?«, fragte Carlotta.

»Das Schiff bewegt sich gegenwärtig mit etwa einem Zehntel Lichtgeschwindigkeit«, antwortete der Mann von der Satellitenüberwachung. »Aber es verlangsamt mit einer Rate, dass im Inneren ungefähr das Zehnfache der Erdschwerkraft entstehen muss … Das ist – niemand kann das überleben … Es ist unmöglich …«

»Nicht für die«, murmelte Carlotta Madigan. »Unmöglich ist für die ein Fremdwort.« Im nächsten Augenblick hatte sie sich gefasst und sagte im gewohnten Kommandoton: »Halten Sie das Schiff unter Beobachtung und auf diesem Kanal, lassen Sie den Zerhacker eingeschaltet, und bewahren Sie strengstes Stillschweigen! Verstanden?«

»Selbstverständlich. Wie Sie wünschen.«

»Wie sollen wir uns verhalten?«, fragte Laura Sunshine.

Carlotta Madigan starrte lange auf die verschwommene Wiedergabe der Arche Heisenberg, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. Sollte sie die Neuigkeit geheim halten? Sie für die allgemeinen Nachrichtenkanäle freigeben? Eine öffentliche Verlautbarung über den Nachrichtenkanal der Regierung ausgeben? Sobald das Teufelsding in die Umlaufbahn einschwenkte, gäbe es keine Möglichkeit mehr, die Kenntnis davon der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Sollte ich versuchen, die Nachricht bis dahin geheim zu halten, wird es zu einer Vertrauensabstimmung wegen Unterdrückung von wichtigen Informationen kommen. Wenn ich die Nachricht aber jetzt freigebe, bevor wir eine Politik formuliert haben, werden wir dies mitten im lautstarken Widerstreit der Meinungen tun müssen. So oder so, es wird eine Menge Aufregung und Unfrieden geben.

Carlotta Madigan beschloss, nichts zu unternehmen, solange sie nicht mit Royce über die Angelegenheit beraten hatte. Schließlich war er der zuständige Minister und der Fachmann für solche Fragen. Und wo, zum Kuckuck, steckte er? Irgendwo dort draußen in seinem Boot, mit nichts als einem offenen Kommunikationskanal. Wahrscheinlich pflegte er Zwiesprache mit diesen langweiligen Trompetenvögeln. Wie oft hatte sie ihm schon gesagt, er solle einen Zerhacker in das Bordgerät der Davy Jones einbauen lassen! Aber nein, er musste seinen Zufluchtsort haben, wo er ungestört sein konnte!

»Beantworten Sie die Sendung!«, wies sie Laura Sunshine an. »Einfacher Funkspruch ohne Bild: ›Sendung empfangen. Erwarten, dass Sie bis zu neuerlicher Kontaktaufnahme Funkstille einhalten.‹ Senden Sie das sechsmal, stellen Sie die Sendung dann ein und halten Sie den Kanal offen.«

Wieder betrachtete sie stumm und stirnrunzelnd das elektronische Bild der Heisenberg. Da kommt der Blaurosa Krieg, dachte sie. Warum muss es mir widerfahren? Dann wählte sie verdrießlich die Frequenz der Davy Jones.

Zwei

Ein paar verwehte Regentropfen prickelten auf Royce Lindblads bloßem Rücken, von den Windböen, die dem dunkelnden Sturm hinter ihm vorausgingen, beinahe horizontal durch die Luft gepeitscht, aber die Trompetenvögel hatten den Himmel noch nicht verlassen, um auf der See Schutz zu suchen, und die ersten kleinen Riffe und Inseln der Kette, die zu Lorien führte, lagen bereits querab auf Steuerbord. Es mochte knapp ausgehen, aber er rechnete, dass er es bis daheim schaffen würde, ohne Zuflucht zum Hilfsantrieb zu nehmen.

Der Wind sprang plötzlich um und blies aus einer mehr südlichen Richtung, zerstreute für kurze Zeit den Schwarm der Trompetenvögel und ließ das Hauptsegel der Davy Jones flattern. Die Trompetenvögel tuteten indigniert und sammelten sich wieder zur Formation; Royce stellte den Winkel seines Hauptsegels ein wenig mehr an und glich die Veränderung mit der Ruderpinne aus, um seinen Kurs zu halten. Seltsam, dass ein Gewittersturm, der die Trompetenvögel vom Himmel vertrieb, die Segelboote der Menschen aus dem Wasser vertrieb, als gäbe es eine geheimnisvolle Wechselbeziehung zwischen den Menschen und den einheimischen Lebensformen …

Auf einmal piepte und blinkte es vor ihm am Armaturenbrett, wo das Funkgerät eingebaut war. Er grunzte verdrießlich, beugte sich vor und drückte den Knopf, der auf Empfang schaltete. Carlottas Gesicht erschien auf dem kleinen Bildschirm, angespannt und ungeduldig.

»Was gibt es?«, sagte er. »Kann es nicht warten? Wenn das Wetter hält, kann ich in einer halben Stunde daheim sein.«

»Nein, es kann nicht warten«, entgegnete Carlotta kurz angebunden. »Es kann überhaupt nicht warten. Und vergiss deinen kostbaren Wind und das Wetter und komm her, so schnell du kannst!«

»Wozu die Eile?«, fragte Royce. »Was ist so ungeheuer wichtig, dass es auf eine halbe Stunde ankommt?«

»Ich kann es dir nicht sagen.«

»Warum kannst du es mir nicht sagen?«

»Weil du zu dickköpfig bist, in dein Funkgerät einen Zerhacker einbauen zu lassen, und weil es um eine Frage der nationalen Sicherheit geht!«, schnauzte Carlotta. »Jetzt hör auf zu reden und beweg dich!«

»He …«

Er sah sie tief Luft holen, um sich zu beruhigen, und begriff, dass es etwas Ernstes sein musste. »Tut mir leid, Royce«, sagte sie viel ruhiger, »aber es handelt sich wirklich um eine dringende Angelegenheit, und ich brauche dich hier in spätestens fünf Minuten.«

»Na schön, ich komme. Ich werde dort sein, ehe dein Blutdruck um fünf Punkte sinken kann.«

»Danke«, sagte Carlotta mit einem nervösen kleinen Lächeln und schaltete aus.

Royce entriegelte seinen Sitz und schob ihn auf den Schienen einen Meter vor, um die Bedienungsinstrumente am Armaturenbrett leichter zu erreichen. Er betätigte einen Schalter, und elektrische Winden saugten die Segel in den hohlen Mast. Er fuhr die Tragflügel aus, schaltete den Hilfsantrieb ein, und das Fusionstriebwerk beschleunigte das Boot rasch auf 30 Knoten, wobei es sich auf seinen Tragflügeln über die Wellenkämme hob. Während das Boot dahinjagte, hinter sich eine Gischtwolke, drückte er einen weiteren Knopf, und Mast, Bugspriet und Ruderpinne wurden in den aerodynamisch geformten Rumpf des Bootes eingezogen. Ein weiterer Knopfdruck, und ein gewölbtes Schutzdach aus bruchsicherem Glas schob sich über das offene Boot und bildete eine abgeschlossene Kajüte.

Royce wählte die zweite Beschleunigungsstufe und winkte den Trompetenvögeln zu. Das Summen des Fusionsgenerators wurde ein wenig lauter, und die Davy Jones, bisher von den Aufprallstößen der Wellenkämme gebeutelt, sauste fast erschütterungsfrei über die raue See dahin. Im Nu wuchs Loriens bewaldetes Profil über die Kimm und rückte näher, und nach kaum fünf Minuten jagte das Boot in weitem Bogen durch den schmalen Kanal des Saumriffs, einen halben Kilometer westlich der kleinen Lagunenbucht. Royce drosselte die Geschwindigkeit und steuerte das Boot durch das ruhigere Wasser der Lagune, um wenig später neben Carlottas Boot, der Goldenen Gans, am Anlegeplatz unter der Hausveranda festzumachen. Eine weitere Minute, und das Boot war sicher vertäut, und er sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zur Veranda hinauf.

Rugo, ihr fetter brauner Tölpel, erwartete ihn vor dem Haus – ein rundliches, watschelndes Bündel egozentrischer Zärtlichkeit. Er rieb sich an Royces Hosenbein, neigte den Kopf auf die Seite und blickte mit großen seelenvollen Augen zu ihm auf, dann beknabberte er seinen Hosenboden mit dem kräftigen gelben Schnabel. »Tut mir leid, Jocko«, sagte Royce und strich dem Tölpel mit der Hand über das fellartig weiche Gefieder. Gleichzeitig schob er den Vogel sanft zur Seite. »Eine große Krise scheint ausgebrochen zu sein, und Mama braucht Papa.«

»Wonk!«, trompetete Rugo enttäuscht, als Royce weiterging. Durch die Glastüren zur Veranda sah er, dass Carlotta in seinem eigenen Arbeitszimmer auf ihn wartete. Sie saß auf der Armlehne des Drehsessels und war so auf die Bildschirme konzentriert, dass sie seine Ankunft noch nicht bemerkt zu haben schien.

Royce öffnete die Schiebetür, schloss sie hinter sich, küsste Carlotta auf die Wange und setzte sich in den zweiten Drehsessel. »Also, was gibt es?«

Carlotta nickte stumm zu den Bildschirmen. Royce blickte hin und sah Laura Sunshine von seinem Funküberwachungsbüro im Bildschirm des regierungseigenen Kommunikationssystems. Ein anderer Bildschirm zeigte die schimmernde, verschwommene Wiedergabe eines Raumschiffs.

»Ein Besucher …«

»Die Arche Heisenberg der Transzendentalen Wissenschaft, um genau zu sein«, sagte Carlotta. »In zwanzig Tagen wird sie hier eintreffen.«

Royce schnalzte missbilligend. »In zwanzig Tagen, sagst du?«, sagte er. »Dann wäre es auf die halbe Stunde nicht angekommen.« Er hob die Hand, um eine hitzige Erwiderung abzuwehren, lehnte sich zurück und überlegte. »Habt ihr schon Kontakt?«, fragte er dann.

»Nur diese ständig wiederholte Durchsage auf Tonband«, antwortete Carlotta und drückte die Wiederholungstaste.

Das kraftvolle, ruhige, etwas einschüchternde Gesicht eines grauhaarigen Mannes erschien auf einem weiteren Bildschirm. Alt und weise, doch irgendwie von altersloser Jugendlichkeit. Royce fühlte sich zugleich angezogen und abgestoßen. Furchteinflößend war das richtige Wort. »Ich bin Dr. Roger Falkenstein von der Arche Heisenberg der Transzendentalen Wissenschaft. Wir treten in Ihr Sonnensystem ein und werden in zwanzig Tagen in eine Umlaufbahn um Pacifica gehen. Unsere Mission ist friedlich und wird von großem Nutzen für Ihr Volk sein. Wir beabsichtigen die Errichtung eines Institutes für Transzendentale Wissenschaft auf Pacifica. Als geschäftsführender Direktor der Heisenberg erbitte ich Erlaubnis, auf Ihrem Planeten zu landen und Verhandlungen mit Ihrer Regierung zu eröffnen.« Die Stimme war befehlsgewohnt, selbstsicher, und etwas darin sprach Royce an, schien etwas zu verheißen. Die politischen Erwägungen waren freilich von anderer Natur …

»Wie ist das durchgekommen?«, fragte er.

»Eine tachyonische Übertragung«, sagte Carlotta. »Ich forderte sie auf, ihre Sendung einzustellen und Funkstille zu bewahren, bis wir uns wieder melden würden, und sie haben sich daran gehalten.«

»Wer weiß davon?«

»Laura Sunshine und ein Beamter in der Satellitenüberwachung.«

Royce nickte. Nur das Informationsministerium verfügte über die technischen Einrichtungen, tachyonische Übertragungen aufzufangen. Nur zwei weitere Leute wussten also Bescheid. »Sieht so aus, als bliebe es unter uns«, sagte er.

»Jedenfalls für die nächsten zwanzig Tage, wenn es sein muss.«

»Das wird nicht möglich sein. Wir können das nicht machen. Wenn wir die Nachricht nicht bald freigeben, wird es im Parlament einen Misstrauensantrag geben.«

»Darauf bin ich auch schon gekommen«, versetzte Carlotta ungeduldig. »Aber wenn wir diese Nachricht in die Welt setzen, bevor wir uns auf eine klare Politik geeinigt haben, werden wir inmitten einer ebenso hitzigen wie allgemeinen Debatte stecken, wenn diese Leute eintreffen, und mir werden dann die Hände gebunden sein.«

»Ich glaube, das nennt man Demokratie«, sagte Royce trocken.

Carlotta funkelte ihn an. »Das wird der Blaurosa Krieg genannt«, sagte sie.

Royce blickte sie aufmerksam an und sah eine defensive Spannung in ihren Zügen, die ihr sehr unähnlich war. »Meinst du nicht, dass du hier zu einer kleinen Überreaktion neigst?«

»Was soll das heißen?«

Royce deutete mit einem Kopfnicken zum Bild der Heisenberg. »Was wir gegenwärtig haben, ist nicht der Blaurosa Krieg«, sagte er. »Wir haben es mit einer Mission der Transzendentalen Wissenschaft zu tun. Femokraten haben wir keine. Wir haben nicht einmal ein Institut der Transzendentalen Wissenschaft, nur ein paar Leute, die über die Errichtung eines Instituts verhandeln wollen.«

»Ich sehe das weniger optimistisch«, sagte Carlotta. Aber ihre Züge hatten sich entspannt, und sie schien jetzt wirklich Rat und Anleitung von ihm zu suchen.

»Ich sehe diese Sache von einem strikt realpolitischen Standpunkt aus, denn nur der gibt uns die Möglichkeit, jetzt richtig zu handeln«, sagte er. »Die Optionen sind begrenzt, aber auch das Problem. Wir können diesem Falkenstein die Landeerlaubnis nicht verweigern, weil ein solches Handeln gegen interstellare Abkommen verstoßen würde. Du musst also verhandeln, aber im Augenblick ist das alles, was du tun musst. Bis diese Verhandlungen beginnen, brauchst du also nichts weiter zu tun, als das Parlament in seiner Mehrheit hinter eine Verhandlungsposition zu bringen. Vorläufig geht es nicht um den Blaurosa Krieg, sondern um die politische Unterstützung für eine Verhandlungsposition mit Falkenstein, basta.«