4,99 €
Ein Jahr in Freiheit
In ferner Zukunft ist es üblich, dass junge Erwachsene nach ihrer Ausbildung ein Jahr auf Wanderschaft gehen, um die Galaxis und sich selbst besser kennenzulernen. Auch die junge Moussa beginnt ihre Bildungsreise. Ihre Eltern sind reich, doch sie glauben, dass es für ihre Tochter besser ist, wenn sie ohne finanzielle Unterstützung auskommen muss. Alles, was Moussa mitnimmt, ist ein Gutschein für ein Flugticket nach Hause. Ihre erste Station ist Edoku, die schillerndste Welt des Universums. Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wird sie Geschichtenerzählerin – und sie lernt die Liebe ihres Lebens kennen …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 893
NORMAN SPINRAD
KIND DES GLÜCKS
Roman
In ferner Zukunft ist es üblich, dass junge Erwachsene nach ihrer Ausbildung ein Jahr auf Wanderschaft gehen, um die Galaxis und sich selbst besser kennenzulernen. Auch die junge Moussa beginnt ihre Bildungsreise. Ihre Eltern sind reich, doch sie glauben, dass es für ihre Tochter besser ist, wenn sie ohne finanzielle Unterstützung auskommen muss. Alles, was Moussa mitnimmt, ist ein Gutschein für ein Flugticket nach Hause. Ihre erste Station ist Edoku, die schillerndste Welt des Universums. Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wird sie Geschichtenerzählerin – und sie lernt die Liebe ihres Lebens kennen …
Titel der Originalausgabe
CHILD OF FORTUNE
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski
Überarbeitete Neuausgabe
© Copyright 1985 by Norman Spinrad
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Das Illustrat
Für Philip K. Dick
Manche stehen auf den Schultern von Giganten
manche lugen einem Freund durchs Herz
manche Leben sind Geschichten
Und so wage ich es hiermit endlich, nach einem halben Lebensalter und einem guten Dutzend histoires, die die ewige Geschichte in allen ihren zeitgebundenen Inkarnationen erzählen, die Geschichte meines eigenen Wanderjahrs aus den Erinnerungen meines Herzens zu berichten.
Wandernder Kesselflicker und herrenloser Samurai, Troubadour und Hippie, Zigeuner und Arkie, Zen-Einsiedler und Cowboy – unzählige Inkarnationen des archetypischen Wanderers sind der Zauberstraße gefolgt, die ewig durch Zeit und Raum führt – von den Dörfern und Wäldern der prähistorischen Erde zu den San Franciscos und Samarkands der Mythen und der Geschichte, mit den ersten Arkologien, die das Sternenmeer im Unterlichtflug meisterten, und weiter zu den himmlischen Städten der weitverstreuten Menschenwelten.
Die Sänger und die Avatare vergehen, doch das Lied bleibt immer gleich, denn die Geschichte ist stets dieselbe: Sie erzählt vom Wanderjahr, von der ewigen Reise von der Kindheit zur Reife durch das wunderbare und schreckliche Chaos, das dazwischen liegt.
Auch dies ist eine histoire dieses Archetyps, wie er sich in unserer eigenen Ära verkörpert: das Kind des Glücks, das wir alle waren oder sein werden. Im folgenden jedoch wird die distanzierte Beobachterin jede Vorspiegelung von Objektivität ablegen, denn dies ist meine Namensgeschichte, dies ist das Lied meines Wanderjahrs.
In dieser modernen Version der zeitlosen histoire beginnt unsere naive Heldin die Geschichte als die kleine Moussa auf Glade, und die Zauberstraße, der sie folgt, wird von Planet zu Planet führen; und sie reist nicht mit Pferd oder Motorrad, sondern mit dem Sprungschiff. In dieser Geschichte – wie in allen meinen anderen – werden Sie den Inkarnationen der großen und ewigen Reise der Jugend zur Reife begegnen, des Geistes in die Kultur, des Gegenstücks zum Übergang vom Erträumten zu dem, was uns zu sein bestimmt ist.
Aber hier werden Sie ihnen so begegnen, wie sie dieses Kind unseres Zweiten Raumfahrenden Zeitalters sah: als Freunde und Geliebte, als Freidiener und Geschichtenerzähler, als Ladersüchtige, Geehrte Passagiere, Domos und Wissenschaftler – und als die wandernden Kinder aller Menschenwelten, die wir waren.
So ist diese Geschichte meines Wanderjahrs auch die Geschichte jener Reise, die über und unter die historischen Annalen hinausgeht. Im Zweiten Raumfahrenden Zeitalter nennen wir diese Reise wie in einer anderen Ära weit in der Vergangenheit das Wanderjahr, obwohl es für manche nur nach Wochen und für andere nach Lebensaltern zählt. Wie auch immer dieser Übergang genannt wurde – Wanderjahr, Liebessommer, die Suche nach dem Heiligen Gral, die voyage d'arc –, bis ich den Eigennamen Wendi annahm und meine histoires aufzuschreiben begann, war es eine Erzählung, die von dem, was wir »Geschichte« nennen, geflissentlich ignoriert worden war.
Denn »Geschichte« ist die Geschichte von den Taten jener, die die Evolution der menschlichen Rasse geformt haben – von dem namenlosen Hominiden, der das erste Werkzeug schuf, zu den Erfindern des Feuers und des Rades, zu den Organisationen, die die ersten Menschen in den Weltraum und auf den Erdmond schickten, zu den Erbauern der Arkologien, die die Menschen zu den Sternen brachten, bis zu jenen, die den Sprungantrieb aus den geheimnisvollen Artefakten entwickelten, die von den »Vorgängern« hinterlassen wurden und auf diese Weise unser Zweites Raumfahrendes Zeitalter aus der Taufe hoben. Die, deren Namen der »Geschichte« bekannt sind, waren Wissenschaftler und Forscher und Politiker und Generäle und Künstler. Sie haben die Naturgesetze erhellt, wundervolle Geräte erfunden, Nationen aufgebaut, Kriege gewagt, neue bewohnbare Welten entdeckt, überdauernde Kunstwerke geschaffen, und in der Tat waren sie es selbst, die die »Geschichte« niederschrieben. Denn »Geschichte« ist die zeitgebundene Geschichte der Evolution bestimmter menschlicher Gesellschaften.
Doch neben der »Geschichte« gibt es eine ebenso alte Geschichte – die Geschichte dessen, das immer draußen und drinnen existiert hat, das nicht selten im Gegensatz zur »Gesellschaft« steht und das dennoch in einem anderen und tieferen Sinn den wahren menschlichen Geist bis zum heutigen Tag getragen hat.
Verschiedene Kulturen gaben ihm verschiedene Namen. Die Romany Road. Bohème. Subkultur. Die Kosmokultur. Der Underground. Der Funke der Arkies. Demimonde. Auch seine Angehörigen bekamen viele Namen; die meisten herabsetzend. Ronin. Zigeuner. Freaks. Glücksritter. Landstreicher. Arkies.
Bis zum Zweiten Raumfahrenden Zeitalter konnte diese Halbwelt nur durch das definiert werden, was sie nicht war. Eine »Kultur« bestand im Grunde aus den sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulinarischen, linguistischen, technischen und ästhetischen Konventionen, an denen ihre Bürger teilhaben; auf einer tieferen Ebene war es die Übereinstimmung in Bezug auf die Realität, die Bewusstseinsart, die ein »Volk« definierte. Folglich war die Demimonde die psychische Heimat jener, die durch Wahl oder Zufall innerhalb der räumlichen Grenzen einer Kultur existierten, ohne jedoch mit deren Realitätsauffassung übereinzustimmen. So standen sie außerhalb von »Gesetz« und »Geschichte«.
Hier konnten die Kriminellen und sozial Ausgestoßenen gefunden werden, die Verrückten und Abartigen, die Betreiber sozial geächteter Laster und die Anhänger von Göttern, die nicht vom jeweiligen Hauptstamm angebetet wurden. Doch hier gab es auch die Visionäre, die außerhalb ihrer eigenen Zeit geboren wurden, die Künstler, die neue Bewusstseinsebenen erschufen, die Sucher und die Träumer – im Grunde alle, deren Geist nicht von den Parametern der vereinbarten Realität ihres gegebenen sozialen Gefüges umfasst werden konnte. Hier war die Heimat des Chaos in seiner ewigen Dialektik mit der Ordnung, des Chaos, aus dem alle neue Kultur und somit die Geschichte selbst immer wieder hervorgegangen ist. Hier war, mit anderen Worten, die innere Heimat des Abenteuergeistes der Jugend.
Zur demimonde fühlten sich gleichermaßen die Besten und die Schlechtesten der Jugend einer Kultur hingezogen – die Träumer und die Rebellen, die Idealisten und die Psychopathen, die Künstler und die Arbeitsscheuen, die Sucher des Lasters und die Sucher der Erleuchtung.
Einige reisten eine Weile im Reich des Chaos und tauchten wieder auf als Former und Gestalter der Geschichte. Einige durchlebten ihr Wanderjahr und wurden nur alt. Einige blieben für immer verschollen. Ein paar blieben ewig jung, bis zum Tag, an dem sie starben.
Doch sehr viele Heranwachsende in sehr vielen Kulturen gingen nie durchs Chaos. Sie wurden geboren, wurden akkulturiert, wurden beschult, durchliefen die Stationen des Erwachsenenlebens, erlebten eine schlecht definierte Spanne der Angst im mittleren Lebensabschnitt, erklärten sich resigniert für alt und starben, ohne je einen Fuß auf die Zauberstraße gesetzt zu haben, ohne überhaupt zu verstehen, was es war, das sie in ihrem Leben verpasst hatten.
So blieb es ungeschrieben, bis ich begann, meine histoires zu erschaffen, und nun ist auch dies eine neue Art von Geschichte, in dem Sinne, dass es eine Geschichte der menschlichen Vergangenheit ist.
Heute, im Zweiten Raumfahrenden Zeitalter, ist dieses alte Konzept der »Kultur« als Gefängnis des individuellen Bewusstseins selig verschieden. Denn wie jeder seinen eigenen Lingo-Dialekt spricht, so ist auch jedes menschliche Bewusstsein seine eigene, selbst erschaffene Realität, einzigartig und doch Teil der unendlich komplexen vie humaine.
Denn jeder von uns durchlebt als Kind des Glücks ein Wanderjahr; und es ist selten, dass ein Kind unseres Zeitalters zum Mann oder zur Frau wird, ohne den Zwischenbereich erfahren zu haben.
Was ist der größte Ruhm und die größte Errungenschaft des Zweiten Raumfahrenden Zeitalters? Der Sprungantrieb, der unsere Sprungschiffe in die Lage versetzt, die großen, leeren Räume zwischen den Sternen zu durchmessen, so dass sich unsere Art über Hunderte von Welten ausbreiten kann? Die Tatsache, dass die Menschheit endlich den Krieg und den Chauvinismus hinter sich gelassen hat? Unser umfassendes Wissen um die Zusammenhänge zwischen Masse und Energie?
Ich behaupte, dass die größte Errungenschaft des Zweiten Raumfahrenden Zeitalters, die uns von allen früheren Zivilisationen abhebt und uns über sie stellt – nicht nur im Gegenständlichen, sondern im Bewusstsein –, die Tatsache ist, dass unsere Zivilisation als einzige die Weisheit hatte, für alle das Wanderjahr zur Pflicht zu machen. Denn es mögen zwar einige von uns Geschichten erschaffen und einige von uns Raumkapitäne oder Wissenschaftler oder politische Führer und so weiter sein, aber alle von uns waren einmal Kinder des Glücks.
Ist denn nicht die Wahl des Eigennamens zugleich die Erklärung des kommenden Lebenswerks, und wird der Eigenname nicht am Ende des Wanderjahrs gewählt, und ist das Wanderjahr nicht genau der Prozess, durch den wir Kinder des Glücks unsere Bestimmung und uns selbst finden?
Außerdem – da jeder von uns die Freiheit und die Gefahren eines Kinds des Glücks geschmeckt hat, da jeder von uns ein Kind des Glücks bleibt, bis er sich am Leben sattgegessen hat, suchen wir im Gegensatz zu den Eltern früherer Zeiten nicht das Kind an die Wiege, den kleinen Adler ans Nest zu ketten, beneiden wir nicht unsere Kinder um den goldenen Sommer, den wir doch selbst erfahren haben und freiwillig erst aufgaben, als wir unseren wahren Namen gefunden hatten.
Und hier ist meine Geschichte, die erzählt, wie die kleine Moussa sich in Wendi Shasta Leonardo verwandelte, die jetzt dies erzählt, die Geschichte ihres Wanderjahrs.
Es war einmal zu unserer Zeit auf einem gar nicht so weit entfernten Planeten …
Ich wurde auf Glade geboren, wie die meisten der weitverstreuten Menschenwelten ein Planet ohne besonderen Ruhm in der Überlieferung der Sternenfahrer, der im interstellaren Maßstab keine besondere wirtschaftliche Bedeutung besaß. Wie die meisten Menschenwelten ist Glade eine fast völlig autarke ökonomische Einheit, was heißen soll, dass seine Ebenen, Flüsse und Meere genug hergeben, um eine gesunde menschliche Bevölkerung von etwa 300 Millionen am Leben zu halten, ohne dass es nötig wäre, größere Mengen Spurenelemente aus anderen Sonnensystemen zu importieren. Der Reichtum an Bodenschätzen, der von den vereinzelten Asteroiden geliefert wird, stellt eine ausreichende Grundlage an Rohmaterialien für die industrialisierte Wirtschaft dar.
Verdad, im Rückblick kann ich ganz nüchtern feststellen, dass ich auf einer ganz gewöhnlichen Welt geboren und aufgezogen wurde, nicht unähnlich Hunderten solcher Welten, die von Sonnen vom G-Typ erwärmt werden. Doch meine mädchenhafte Wahrnehmung meiner Heimat als zentraler Punkt in großen Dingen war eine ganz andere Sache, denn ich wurde als Kind von Nouvelle Orlean geboren und erzogen, einem Ort, der auf ganz Glade als das Juwel unseres Planeten gilt – ganz zu schweigen von den Einwohnern der Stadt selbst.
Wie die legendäre Namensvetterin auf der Erde wurde auch Nouvelle Orlean im Delta eines großen, den Kontinent entwässernden Flusssystems errichtet – aber natürlich hatten die ersten Siedler in einer Zeit des Lufttransports diese Stelle nicht wegen ihrer geographischen Bedeutung als idealen Verknüpfungspunkt zwischen Fluss- und Seehandel ausgewählt. Vielmehr hatten die Siedler von Glade den Standort für die Metropole unseres Planeten mit Vorbedacht nach ästhetischen und vielleicht sogar spirituellen Kriterien erwählt.
An den menschlichen genetischen Vorgaben gemessen, ist Glade eine recht kühle Welt – große, gebirgige Eiskappen an beiden Polen, während in mittleren Breiten nicht sehr anheimelnde Halbtundren vorherrschen, so dass die Tropen die beliebteste Zone für menschliche Besiedlung sind, wo deshalb auch der größte Teil der Bevölkerung zu finden ist. In dieser besten Klimazone liegen Teile von drei Kontinenten. Und von diesen Ländern ist Süd-Arbolique zweifellos die geographische Heimat des menschlichen Geistes auf diesem Planeten.
Arbolique ist in mehr als einer Hinsicht der mächtigste Kontinent Glades. Er erstreckt sich von der nördlichen Eiskappe fast bis zum Äquator, und sein südlichster Punkt ist die Spitze der Culebra-Halbinsel. Das Große Massiv beginnt unter dem Polareis, erhebt sich zu gewaltigen Kordilleren aus schneebedeckten und moosbewachsenen Felsen, um sich dann in eine östliche und westliche Gebirgskette zu gabeln, die sich bis fast zu den Küsten des tropischen Meeres hinunterziehen.
Zwischen diesen Gebirgsketten liegt das Große Tal, ein breites und fruchtbares Zentraltal, das von niedrigeren Gebirgsketten und Hügeln weiter unterteilt wird – insgesamt wirkt es eher wie eine gigantische Bergwiese und nicht so sehr wie eine flache Ebene. Es beginnt im Norden in einer Höhe von etwa dreitausend Metern und erreicht erst an der Deltamündung des Rio Royale das Meeresniveau. Dieser mächtige zentrale Fluss, der aus unzähligen Schmelzwasserströmen der Polkappe gespeist wird, schäumt und donnert über gewaltige Wasserfälle und Stromschnellen durch die Pässe der hohen Kordilleren, bis er sich schließlich durch das Delta als breiter Strom aus klarem, blauem Süßwasser ins Meer ergießt, dessen Kontrast im grünen Meereswasser noch viele Meilen vor der Küste aus der Luft zu erkennen ist.
Nouvelle Orlean liegt ein Stück stromauf von den Marschen und Niederungen des eigentlichen Deltas des Rio Royale, an einem Punkt, wo der breite, ruhige Strom durch einen flachen Canyon fließt, den er in die niedrigen Küstenberge gewaschen hat. Hier gibt es zu beiden Seiten des Royale Flussmarschen, und direkt hinter ihnen erheben sich Hügel und Klippen, die mit den knorrigen, verwachsenen Bäumen des Bittersüßdschungels überwuchert sind; der Dschungel ist ein dichtes Gewirr von Lianenpilzen, Kriechranken und Safrolblumen, die sich gleich strahlenden, vielfarbigen Girlanden zu gewaltigen grünen Hügeln erheben. Hier gibt es auch Inseln im Strom, die meisten bloße schlammige Sandbänke, die vom Unterholz zusammengehalten werden, doch einige groß genug, um ganze Stadtbezirke aufzunehmen.
Nouvelle Orlean breitet sich zu beiden Seiten des Flusses aus, auf den Inseln dazwischen – natürlichen wie auch künstlichen –, und einige Leute haben ihre Häuser in den vom Dschungel überwucherten Anhöhen über der Stadt errichtet. Hinter den Klippen am Flussufer erheben sich Hochhäuser, die überwiegend in zart schattiertem Spiegelglas gehalten sind, und zwischen ihnen und dem Fluss erstrecken sich an beiden Ufern baumbestandene Esplanaden mit Kiosken, Restaurants und Pavillons. Über und hinter dem Ost- und dem Westviertel winden sich die Straßen zu den vom Dschungel beschatteten Häusern der Oberstädte hinauf.
Doch Rioville ist für alle, die sich für echte Orleaner halten, das Herz und sogar die Seele der Stadt – die magische Inselgruppe, die sich auf dem Royale ausbreitet und die Stadtteile, die sonst eine Doppelstadt wären, zu einem Ganzen vereint. Hier stehen die Gebäude niedrig und wirr durcheinander, in Harmonie mit dem Dschungel und den bewaldeten Parks, die den größten Teil des Geländes einnehmen – sowohl aus ästhetischen Gründen als auch um die Inseln zusammenzubinden, damit der Fluss sie nicht fortspült. Die Architektur von Rioville beruht auf Holz, Ziegeln und Stein oder zumindest auf hervorragenden Ersatzstoffen der natürlichen Baumaterialien – allerdings ohne weite Glasflächen an jedem Aussichtspunkt auszuschließen. Veranden, Laubengänge, Sommerhäuser, offene Pavillons und Innenräume, deren Wände sich ganz der Natur öffnen und die Vegetation eindringen lassen, entsprechen genau dem Wohnstil von Rioville. Und ebenso die Hunderte von Fußgängerbrücken, die die kleineren Kanäle überspannen, und die Tausende von Booten jeden Typs und jeden Aussehens, die der Stadt die Atmosphäre des sagenhaften alten Venedig verleihen – nicht ohne eine bewusste Hommage an die Geister der alten Dogen.
Eher durch die moralische Kraft der Gewohnheit als durch Gesetze sind die Bezirke Riovilles völlig dem Reich der Kunst, des Müßiggangs, des kulturellen Genusses, der Freude und dem Tantra überlassen, und die meisten Betreiber dieser Gewerbe wohnen auch in diesen Bezirken, genau wie Menschen mit eher prosaischen Berufungen, die den Wunsch und das Kleingeld haben, in dieser Atmosphäre einer ewigen Fiesta zu leben.
Meine Eltern hatten am nördlichen Rand von Rioville auf der niedrigen Kuppe einer kleinen Insel ein weitläufiges Haus gebaut, ganz in der Nähe der Flussmitte, und während meiner ersten achtzehn Lebensjahre verbrachte ich viele Spätnachmittage und frühe Abende auf der Veranda im ersten Stock damit, dem Sonnenuntergang hinter der westlichen Oberstadt zuzuschauen, während die Lichter der Häuser in den Einschnitten des tief im Schatten liegenden Dschungels aufblinkten und die Sterne langsam im purpurnen Himmel erschienen und die spiegelnden Gebäude am Ostufer tieforange aufblitzten, wenn sie den Sonnenuntergang reflektierend wie eine Flammenzunge über die Inseln und das Wasser warfen.
Von meinem kleinen Horst aus konnte ich nach Norden den Fluss hinaufblicken, wie er sich durch jene Klamm ergoss, die bis zum eisbedeckten Norden des Kontinents hinauflief, und manchmal wehte ein duftender Wind, schwer von den Gerüchen der Dschungelpflanzen und der heraufziehenden Nacht, von den Gipfeln herunter, die mir damals wie das Dach und das Geheimnis der Welt erschienen, und ich konnte tief einatmen und mir vorstellen, dass ich den Geist des Planeten aufnahm. An anderen Abenden trieb eine Nebelbank vom Meer heran, umhüllte Rioville mit duftenden, verträumten Schleiern, verwandelte die Lichter der Stadt in märchenhafte Fackeln einer Armee, die gespenstisch und triumphierend aus den Nebeln emporstieg.
Und immer, wenn die Nacht schließlich gekommen war und sich der Baldachin der Sterne voll entfaltet hatte, bis man kaum noch unterscheiden konnte, wo die Sternbilder endeten und die Lichter der Oberstadt begannen, ging ich zum anderen Ende der Veranda und blickte über die Inseln nach Rioville selbst hinaus, das wie ein Teppich aus vielfarbigen Juwelen übers Wasser gebreitet lag: ein strahlendes Spinnennetz aus beleuchteten Brücken, die Positionslichter Tausender Boote, die in der Strömung tanzten, und vom Seewind zu mir herübergetrieben die leise, weit entfernte Musik der Zauberstadt, komponiert aus Gelächter, Seufzen und unzähligen Stimmen, dem Klang von Instrumenten, Fiestas und Lustbarkeiten. In diesen Augenblicken machte mich das berauschende Aroma von Nouvelle Orlean selbst benommen; ein starkes Gebräu aus Dutzenden von Kochstilen, die von Hunderten von Restaurants gepflegt wurden, aus dem Duft von Liebenden, von Drogen, Weihrauch, Holzspänen, Ölbildern, Leder und dem überwältigenden nächtlichen Duft tropischer Blumen.
Kann man unter diesen Umständen dem jungen Mädchen, das ich damals war, nicht verzeihen, dass sie glaubte, vom Schicksal begünstigt und vom Glück gesegnet zu sein, eine Bürgerin Xanadus und der Liebling des Schicksals?
Und als ich aus meinem relativ unschuldigen Jungmädchendasein zu früher pubertärer Blüte erwachte, als die sozialen Gegebenheiten der Gesellschaft von Nouvelle Orlean mein Bewusstsein in Unruhe versetzten, wurde mein Gefühl für Bescheidenheit kaum durch das Wissen gefördert, dass meine Eltern alles andere als gewöhnliche Bürger der Stadt waren, sondern recht bekannte örtliche Größen, wenn auch nicht ganz die führenden Berühmtheiten des haut monde, als die ich sie meinen Schulkameraden schilderte.
Meine Mutter, Shasta Suki Davide, wurde in Nouvelle Orlean geboren, und nachdem sie ihr Wanderjahr mit der Erforschung des Weges einer erotischen Abenteurerin verbracht hatte, hatte sie zwei Jahre an der Academie Tantrique auf Dravida studiert, wo sie zur Meisterschülerin in der tantrischen Heil- und Liebeskunst ausgebildet wurde. Ihren Eigennamen Shasta hatte sie, nachdem sie ihre Studien abgeschlossen hatte, zu Ehren von Nicole Shasta gewählt – ein zu ihrer Zeit recht umstrittener Mann, der als erster die Phänomene von Masse und Energie, die den alten metaphorischen und metaphysischen tantrischen Prinzipien zugrunde liegen, erhellt und damit die Wissenschaft begründet hatte, die meine Mutter studierte.
Mein Vater, Leonardo Vanya Hana, wurde auf Flor del Cielo geboren und hatte nur eine relativ kurze Zeit als wanderndes Kind des Glücks verbracht, denn er war einer dieser seltenen Menschen, die fast schon von Geburt an zu wissen scheinen, was sie werden wollen – nämlich ein Erfinder und Hersteller von Geräten zur Persönlichkeitsverstärkung, von denen er einige bereits während seiner Schulzeit schuf.
Naturellement befand er sich zum Abschluss seines Wanderjahrs auf Diana, dem für die Produktion solcher Persönlichkeitsverstärker vielleicht berühmtesten Planeten, wo er in einer der führenden Fabriken als Künstler und manchmal auch als Designer eine Anstellung fand. Seinen Eigennamen Leonardo hatte er etwas übertrieben zu Ehren von Leonardo da Vinci gewählt, einem Künstler und Erfinder des alten terrestrischen Zeitalters, dem legendären Archetypus der Verbindung von Ästhetik und Technik, dem unser Zweites Raumfahrendes Zeitalter allgemein und mein Vater im besonderen immer nacheiferten.
Meine Eltern lernten sich auf Diana kennen, wo meine Mutter als wandernde tantrische Künstlerin und manchmal auch als Heilerin wirkte, nachdem sie bereits einige andere Planeten besucht hatte. Sie hatte bereits begonnen, immer liebevoller an ein Heim in Nouvelle Orlean zu denken, als sie eine pheromonische Anziehung für Leonardo überkam, deren Wechselseitigkeit durch die Kraft ihrer erotischen Kunst noch verstärkt wurde; und nach der Erkenntnis, dass eine Ehe zwischen tantrischer Wissenschaft und elektronischer Persönlichkeitsverstärkung für die Vertiefung und Entwicklung ihrer jeweiligen Künste ebensoviel zu bieten hatte, wie sie ihre persönliche Sphären bereichern konnte, hatte sie kaum Mühe, Leonardo zu überzeugen, dass die Chancen, der Größe seines Eigennamens entsprechend zu leben, auf Glade viel besser stünden als auf Diana. Und dies ganz besonders in Nouvelle Orlean, einer Stadt, deren Zauber nur noch von ihrem Sinn für ihre eigene Kultiviertheit übertroffen wurde und wo ein Individualverstärkungszauberer von Diana beträchtlichen Ruf genießen würde, egal wie bescheiden seine frühere Position auf jenem Planeten gewesen war, und wo der Stand der Kunst ihm gewiss eine hervorragende Stellung verschaffen würde.
So steht es geschrieben, und so sollte es geschehen. Kurz nach ihrer Ankunft in Nouvelle Orlean konnte Leonardo potentiellen Investoren drei auf Glade völlig neue Persönlichkeitsverstärker vorführen; sie lehnten sich ein wenig an theoretische Überlegungen an, die in der Designabteilung auf Diana angestellt worden waren.
Ein Gerät hieß die »Stimme«. Es stellte eine elektronische Schleife zwischen bestimmten Gehirnzentren und dem Kehlkopf her, so dass der Benutzer durch einen Willensakt und bewusste Einflussnahme beim Singen oder Sprechen unhörbare Schallwellen aussenden konnte, die über den Gehörsinn direkt auf das Bewusstsein des Publikums einwirkten, so dass die künstlerische Wirkung des Sängers oder Schauspielers erheblich verstärkt wurde; dieses Gerät war auch für Handelsvertreter nicht ohne Wert. Ein anderes war das »Argusauge« – winzige Linsen aus geronnenem Gel, die über den Pupillen getragen und elektronisch mit dem Sehzentrum verbunden wurden, so dass der Träger die optischen Eigenschaften in einem weiten Schärfe- und Wellenbereich einstellen konnte, was ihn in die Lage versetzte, mikroskopische Bereiche, astronomische Phänomene und den Infrarot- und Ultraviolettbereich unmittelbar zu erfassen, ganz zu schweigen von entfernten Schlafgemächern, in denen sich Interessantes abspielen mochte. Dem am wenigsten geheimnisvollen und verspieltesten Gerät, das zugleich den schlechtesten Ruf hatte, gab Leonardo den Namen »Gourmand's Delight«. Mit seiner Hilfe konnte ein Vielfraß willentlich seinen Stoffwechsel so umstellen, dass er einen ganzen Abend enorme Mengen essen und trinken konnte, ohne am nächsten Morgen unter Übelkeit oder Kater zu leiden.
Diese Geräte besaßen nicht nur einen offensichtlichen Marktwert, sondern verhalfen auch Leonardo Vanya Hana zum Ruf, ein Künstler zu sein, von dem noch größere Wunder zu erwarten waren, und so hatte mein Vater keinen Mangel an Investoren, die bereit waren, seine Boutique zu sehr vorteilhaften Bedingungen zu finanzieren. Er wäre ohne weiteres in der Lage gewesen, eine Fabrik aufzubauen, mit deren Ausstoß er den Planeten mit Replikaten zu bescheidenen Preisen hätte überschwemmen können. Dies tat er jedoch aus persönlichen, ethischen Gründen nicht; er zog es vor, Handwerker und Künstler zu bleiben, der lieber jedes Gerät nach den Wünschen und Vorlieben einzelner Kunden herstellte, statt ein Industriemagnat zu werden. Außerdem konnte er, indem er die Waren persönlich herstellte und seine eigene Arbeitskraft hineinsteckte, die Preise hoch halten, wie es eben für Kunstgegenstände angebracht ist – ebenso, wie sich ein Maler oder Bildhauer weigert, Lizenzproduktionen zuzulassen, und Galeriepreise für seine Originale verlangt.
Meine Mutter gab unterdessen hin und wieder in Freudenpalästen tantrische Vorstellungen, doch meist konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit und Energie darauf, ihre Fähigkeit und ihren Ruf als tantrische Heilerin zu entwickeln, wobei ihr die Wissenschaft meines Vaters und seine Kenntnis der Bioelektrizität des menschlichen Nervensystems eine große Hilfe waren.
Als sie nach einiger Zeit genug Kapital angesammelt hatten, beschlossen meine Eltern, ihre beruflichen Niederlassungen und ihren Hausstand zusammenzulegen und eine kleine Insel zu kaufen, auf der sie ein Haus bauten, in dem ich aufwachsen sollte. Das Erdgeschoss des Hauses nahmen Leonardos Boutique und Shastas Tantra-Studio ein, jedes Geschäft mit der Vorderfront zu einer anderen Seite der Insel, doch im Innern durch Lager- und Arbeitsräume und einen Gang verbunden. Der erste Stock mit seiner großen Aussichtsterrasse war unsere Wohnung, die man durch eine eigene Treppe von einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Garten aus betreten konnte. Der Garten wurde von einer Hecke aus Purple Cloud begrenzt, die entsprechend der Mode der Saison zu verschiedenen Formen zugeschnitten wurde. An meinem fünften Geburtstag, als eine Rückzugsmöglichkeit in eigene Gemächer für meine Entwicklung nötig schien, wurde ein prächtiges Spielhaus in einem Dschungelflecken im untersten Teil des Gartens errichtet.
Als junges Mädchen verbrachte ich dort viele Stunden mit meinen Spielgefährten und viele weitere mit keiner anderen Gesellschaft als den Moussas, die ich bald mit Krümeln und Brosamen vom Frühstückstisch anzulocken lernte. Von allen einheimischen Lebewesen von Glade haben sich diese gewitzten kleinen Säugetiere, klein genug, sich von einer Kinderhand umschließen zu lassen, und für die kleinste Bestechung auch bereit, dortzubleiben, tiefer in die Herzen der Menschen geschmeichelt als jedes andere Tier, denn sie sind sehr verbreitete Streicheltiere für Kinder.
Doch in Wirklichkeit sind vielleicht die kleinen Menschenkinder die Streicheltiere der Moussas, denn diese goldpelzigen, smaragdäugigen, affenschwänzigen, segelohrigen, primatenähnlichen Nager überleben nicht in einem Käfig oder als gezähmte Haustiere, sondern hungern sich in jeder Art von Gefangenschaft stumpfsinnig zu Tode. Und wie verbreitet sie in Nouvelle Orlean und der Umgebung auch sind und obwohl sie mitten zwischen den menschlichen Behausungen leben, werden sie sich nie herablassen, von ihren Bäumen herabzusteigen und mit den riesigen und tollpatschigen Erwachsenen zu spielen, nicht einmal, wenn sie mit den köstlichsten Leckerbissen gelockt werden. Doch setzen Sie ein Kind mit ein paar Brotkrumen oder Beeren in den Garten, und die Moussas werden bald auf Zuruf kommen. Sogar wenn ich vergessen hatte, etwas mitzubringen, und mit leeren Händen kam, kletterten die Moussas herunter und spielten mit mir, wenn sie mich auch mit ihren Pfiffen für meinen gedankenlosen Mangel an Gastfreundschaft zu schelten schienen.
Und wie ein Moussa tauchte ich auch selbst am Spätnachmittag oder am frühen Abend aus meinem Garten auf und spielte für die Kunden und Freunde meiner Eltern das verhätschelte und kluge Kind. Wie die Kinder von Glade sich vorstellen, dass die Moussas zu ihrem Vergnügen herumschnatterten und tollten, so glaubten zweifellos die Erwachsenen im Salon meiner Eltern, das feenhafte Wesen, das bald alle »die kleine Moussa« nannten, käme zu ihrem Vergnügen in ihren Bereich.
Doch von dem Augenblick an, als die kleine Moussa überhaupt etwas wusste, wusste ich auch – wie die Moussas im Garten – sehr genau, dass diese gewaltigen und wundervollen Wesen mit ihren extravaganten Kleidern und unverständlichen Geschichten, mit ihren seltsamen und geheimnisvollen Düften, dass der Fluss und die Myriaden von wundersamen Anblicken und Geräuschen und Gerüchen von Nouvelle Orlean, dass all das und die ganze Welt nur da waren, um mich zu amüsieren.
So tollte die kleine Moussa mit den Wesen im Garten, den Kunden ihrer Eltern und den lieben Kindern dieser Bürger des haut monde von Nouvelle Orlean durch ihre Kindheit. Naturellement konnte ich die seltene, erlesene Atmosphäre im Wohnzimmer meiner Eltern erst genießen, als meine Schulbildung schon ein gutes Stück gediehen war und ich als alt genug galt, um allein zur Akademie zu reisen und mich mit meinen Spielgefährten in die Stadt zu wagen.
In diesem Augenblick wurde natürlich mein Bewusstsein für die Bedeutung meines Platzes im Lauf der Dinge schärfer als die Realität selbst. Während ich mich für die größere Welt um mich herum zu interessieren begann und Wortkristalle abhörte und lernte, sie zu lesen, um sie noch schneller abzuspulen, während ich die Grundbegriffe der Ethik lernte und mit der Geschichte unserer Stadt und unseres Planeten und unserer Rasse bekannt wurde, als meine Lehrer mich in die Wissenschaften einführten, in die zahllosen Arten des menschlichen Lingo, in die Grundprinzipien der Mathematik und so weiter, begann ich zu bemerken, dass die Vorträge, die mir chez mama und papa um die Ohren geschwirrt waren, wie das Geschnatter der Moussas, zum guten Teil nichts anderes waren als hochtrabende und verfeinerte Versionen der Vorträge meiner Lehrer in der Akademie.
Das war ein etwas übereiltes Satori für ein junges Mädchen von acht oder neun Jahren und außerdem einer bescheidenen Haltung im Klassenzimmer nicht besonders förderlich. Während meine Lehrer sich über verschiedene Themen auf jenem Niveau ausließen, das von den maestros der Erziehungswissenschaft für angemessen erachtet wurde, und deshalb meiner Aufmerksamkeit recht einfache Texte empfahlen, diskutierten daheim die wahren Meister der Künste und Wissenschaften, gegen die erstere eben nur Pädagogen waren, die esoterischen Aspekte eben jener Klassenzimmerthemen, während sie auf die Zuwendung meiner Mutter warteten oder von meinem Vater ausgerüstet wurden oder während sie einfach bei Wein und Leckereien mit meinen Eltern und mir plauderten.
Als ich dann allein oder mit Klassenkameraden durch die sagenhaften Bezirke Riovilles zu streifen begann, schlich sich der Gedanke an Ruhm und Berühmtheit in meine bis dato naive und völlig egalitäre Weltanschauung. Wenn ich in eine Galerie schlenderte, um mich müßig in Gemälde oder Holos oder Weltblasen zu vertiefen, entdeckte ich oft, dass die Schöpferin dieses Werkes mich auf ihrem Knie hatte hüpfen lassen; diese Ari Baum Gondor zum Beispiel, die die winzigen Ökosphären geschaffen hatte, die all das Erstaunen hervorriefen, war dieselbe Ari, die ich immer als Quelle meiner liebsten Süßigkeiten betrachtet hatte. Bei einem Konzert oder einem Liederabend oder einem Tanz genoss ich oft die Darbietungen von Künstlern, die zu meinem privaten Vergnügen gesungen und gespielt hatten, seit ich mich erinnern konnte. Die Bibliotheken waren mit Wortkristallen vollgestopft, die von meinen tios und Tanten stammten, und ich konnte jederzeit in einem kulinarischen Treffpunkt speisen, dessen chef maestro am Tisch meiner Eltern gesessen hatte.
Kurz gesagt wuchs ich in dem Bewusstsein auf, dass die Menschheit in zwei Untergruppen zerfällt: die Berühmten und die Anonymen, die Schöpfer von Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaften und die Konsumenten derselben, die Elite des haut monde und die Masse der gewöhnlichen Sterblichen. Und ich, wie meine eigenen Augen und Ohren so deutlich demonstrierten, war ein Kind der ersteren, per Geburtsrecht ein Lieblingswesen des Schicksals.
Was nicht heißen soll, dass ich ein größeres Ego-Monster wurde als jeder durchschnittliche Zehnjährige, denn der Kreis meiner Spielgefährten, mit denen ich reiste, gehörte zum gleichen Umfeld; viele ihrer Eltern waren eben die maestros und Berühmtheiten, deren behagliche Intimität meinen geheimen Stolz nährte, und naturellement wurde ich in dieser erwachsenen Sphäre des haut monde als Kind geduldet und nicht als Gleichgestellte akzeptiert.
Selbst im Reich der Bildung hatte diese innere Vorstellung über meinen wahren Platz in der Welt seine Schattenseiten. Einerseits erodierte mein Respekt für die Lehrer durch meinen freien und lockeren Umgang mit den ihnen intellektuell und sozial übergeordneten Meistern; ich war mir nicht zu schade, sie ab und zu mit Redewendungen zu reizen, die ich bei Tisch aufgeschnappt hatte und für überlegenes Wissen hielt. Andererseits hatte ich fast von Geburt an intellektuelle haute cuisine genossen und viel Wissen durch eine Art Osmose aufgenommen; außerdem lag das bisschen Ehrgeiz, das ich hatte, eher darin, von den Besuchern meiner Eltern als Gleichgestellte akzeptiert zu werden, und so war ich wenigstens motiviert, die öffentliche intellektuelle Schmach eines unvorbereiteten Schülers zu vermeiden.
Alles in allem war das Ergebnis, dass ich eine begabte, allerdings schlecht motivierte und nicht sehr eifrige Schülerin war, der jegliche Begeisterung für schulische Dinge abging und die zufrieden war, mit einem Mindestmaß an Aufwand durchs Studium zu eilen, während meine Vorstellung des Reifeprozesses als Bestandteil von spirituellen, intellektuellen oder karmischen Prozessen gleich Null war.
Und so, wenn ich damals ob dieser Verallgemeinerung auch höchst beleidigt gewesen wäre, war ich doch typisch für das vorpubertäre Stadium unserer Rasse, denn die biologische Matrix der Leidenschaft – ob sie intellektuell, künstlerisch, politisch, spirituell oder sexuell ist – kann von einem vorpubertären Stoffwechsel einfach nicht erzeugt werden. Deshalb die Weisheit, das Wanderjahr zu durchlaufen, ehe man sich jener tieferen Bildung zuwendet, die von leidenschaftlicher Hinwendung zu einem Lebensziel begleitet sein muss und die von der sozialen und spirituellen bis zur molekularen Ebene alle Bereiche erfassen muss.
Und aus diesem Grund löst die Pubertät auch tumultartige psychische Veränderungen aus, die dem Genuss mächtiger psychogener Drogen sehr ähnlich sind. Während die früheste und offensichtlichste soziale und psychologische Manifestation dieser biochemischen Revolution das Erwachen der ältesten menschlichen Leidenschaft ist, nämlich der sexuellen Lust, sucht dieser molekulare Hunger nach Neuheiten, nach körperlicher Erregung und nach Abenteuern des Geistes seine vielgesichtige Erfüllung in jedem denkbaren Bereich, nachdem sich die biochemische Matrix der Leidenschaft in der Physiologie eines jungen Mädchens entwickelt hat.
Biochemisch gesehen ist die Pubertät ein Verlust endokriner Unschuld, der den menschlichen Geist für all jene Möglichkeiten und Gefahren leidenschaftlicher Motivation öffnet, die dem kindlichen Metabolismus nicht zugänglich sind. Doch zugleich gibt es keinen vollkommeneren Naiven als den pubertierenden Menschen, der plötzlich die Welt mit Augen, Ohren, Nase und einem Geist wahrnimmt, der durch diese psychochemische Verstärkung des kindlichen Bewusstseins umfassend angeregt und verändert wird.
In vielen primitiven irdischen Kulturen – bevor die Psychosomatik eine entwickelte Wissenschaft war und bevor die bioelektrische Grundlage des Tantra erhellt wurde – entstanden allerlei bizarre und völlig unproduktive soziale Mechanismen, die darauf abzielten, entweder diese jugendlichen Leidenschaften – im Sinne der Erwachsenen – »an die Kandare« zu nehmen und ihre Manifestationen zu unterdrücken oder, noch schlimmer, ihre Energien einzufangen, zu kanalisieren und im Dienste theokratischer Dogmen, territorialer Aggressionen oder des Staates zu pervertieren. Da die früheste, einfachste und somatisch stärkste jugendliche Leidenschaft natürlich die sexuelle Lust ist, drehten sich viele dieser verhängnisvollen sozialen Kontrollmechanismen um den Aufschub, die Sublimierung oder gar die völlige Unterdrückung ihres natürlichen erotischen Ausdrucks.
Die Ergebnisse sahen natürlich genauso aus, wie die moderne Psychosomatik sie vorhersagen würde: vielfältige jugendliche Rebellionen gegen die Autorität der Erwachsenen, gewalttätige, separatistische jugendliche Subkulturen, maßloser und wahlloser Gebrauch von psychoaktiven Substanzen ohne vorheriges gründliches Studium ihrer Wirkungen, Neurosen, Depressionen, Hysterie, die romantische Verklärung des Selbstmords, Militarismus, Tiermisshandlungen und eine verächtliche Haltung gegenüber wissenschaftlichen Zielen.
Glücklicherweise hat unser Zweites Raumfahrendes Zeitalter schon lange diese Folter der Unschuldigen überwunden, und so wurden meine frühesten Experimente mit der Befriedigung dieses neuen körperlichen Hungers angemessen und ästhetisch annehmbar im Spielhaus im Garten meiner Eltern durchgeführt.
Natürlich betrachtete ich mich kaum als ungeschickte junge Experimentatorin in Liebesdingen – nicht einmal bei meinem ersten pas de deux in diesem immergrünen Boudoir. Denn war ich nicht die Tochter von Shasta Suki Davide, der Tantra-Meisterin? Und hatte ich nicht aus kindlicher Neugier, lange bevor die Abbildungen etwas anderes als theoretisches Interesse erregten, die Kataloge mit den Stellungen durchgeblättert?
Nun, das war ich, und das hatte ich. Außerdem war ich nicht so verschlossen gegenüber der Wohltat motivierter Forschung, dass ich es versäumte, mich tiefer in die Texte zu versenken, als die Motivation für solche Studien auf eine gewisse angenehme Art erforderlich wurde. Ich versäumte es auch nicht, meine Mutter nach anekdotischen Erfahrungen zu fragen oder meinen Vater zu überzeugen, mir sein Wissen über das menschliche Nervensystem und darüber, wie Männer im allgemeinen zu behandeln sind, zu offenbaren.
Wirklich, ich muss gestehen, dass ich entschlossen war, den beneidenswerten Ruf einer femme fatale zu erwerben, während ich noch unschuldig war, denn eine solche Reputation würde nicht nur das Bewusstsein meiner Wichtigkeit unter meinen Altersgenossen verstärken, sondern es würde auch sicherstellen, dass mir praktisch jeder Junge zur Verfügung stand, der mein Interesse weckte.
Als ich das erste Mal meine Gunst verschenken wollte, entschied ich mich etwas berechnend für einen hübschen vierzehnjährigen Jungen namens Robi; sein schlanker und fast haarloser Körper und die großen blauen Augen erzeugten nicht nur die rechte Stimmung in meinen Lenden, sondern er war, obwohl ein Jahr älter als ich, immer noch bezaubernd schüchtern mit Mädchen, wenn auch zur Kompensation bei seinen Freunden leider etwas angeberisch.
Es entging mir nicht, dass eine wahrhaft beeindruckende tantrische Vorführung für Robi – besonders wenn er, wie ich vermutete, noch unschuldig war – unter den Jungs, die wir gemeinsam kannten, rasch ein wichtiges Gesprächsthema werden würde, was mir vom ersten Auftritt an einen Ruf als unvergleichliche Geliebte einbringen würde.
Robi in mein Boudoir zu locken war kein Problem – ich lud ihn unverfänglich in Gegenwart seiner Kameraden ein; doch sobald wir uns in meine Liebeslaube zurückgezogen hatten, war seine Schüchternheit trotz eines Wortschwalls nicht zu übersehen.
Unbeeindruckt von diesem Phänomen, das in den Wortkristallen, die ich zur Vorbereitung durchgearbeitet hatte, häufig erwähnt wurde, verordnete ich ihm eine einfache Folge taktiler und oraler Heilmittel, die den armen Kleinen mit ihrer zweifellos unerwarteten tantrischen Vollkommenheit ganz aus dem Häuschen brachten, die jedoch bald genug seine Aufmerksamkeit von den Unsicherheiten der jungfräulichen Psyche auf die natürliche, feste Entschlossenheit des jugendlichen Lingams lenkten.
Als der Mann in Robi angemessen erregt war, verwandelte er sich in einen begeisterten, wenn auch ziemlich hastigen und tollpatschigen Mitstreiter, der seine Befriedigung schon in der einfachsten tantrischen Stellung allzu leicht erreichte, um dann zufrieden anzunehmen, dass die Darbietung einen ästhetisch befriedigenden Abschluss gefunden hätte.
Natürlich war dem nicht so; es hatte gerade erst begonnen, und ich war entschlossen, nicht weniger als ein Dutzend Grundstellungen, jede mit mehreren Varianten, zu versuchen und dabei selbst einige tantrische Höhepunkte zu genießen; ich wollte nicht nachlassen, bis ich völlig sicher war, dass er gründlich, absolut und ein für alle Mal so erledigt war, dass er nicht hoffen konnte, noch einmal erregt zu werden.
Wenn ich auch irgendwann nach den ersten vier oder fünf Takten der tantrischen Symphonie die Übersicht verlor und wahrscheinlich nicht einmal das erste meiner künstlerischen Ziele erreichte, und obwohl mein unreifer Körper alles andere als einen Plateau-Orgasmus zuließ, gab es keinen Zweifel, dass der arme Junge völlig am Ende war, denn ich lenkte erst ein, als sein freudiges Stöhnen sich schon lange in ein Flehen um Milde verwandelt hatte und seine Männlichkeit sich offensichtlich weigerte, sich weiterer Erregung zu stellen.
Es wäre sicherlich übertrieben zu sagen, dass Robi nach unserer erotischen Begegnung auf den Brustwarzen nach Hause kroch, aber tatsächlich taumelte er nicht gerade triumphierend durch unseren Garten; allerdings schloss ich aus einigen nachfolgenden Ereignissen, dass seine Version der Geschichte beim Erzählen einiges an Männlichkeit gewonnen hatte.
Denn ich war bald der strahlende Mittelpunkt vielfältigen männlichen Werbens; aus diesem reichhaltigen Sortiment möglicher Liebhaber wählte ich mit Bedacht und wagte es nicht, meine tantrischen Fähigkeiten älteren, erfahreneren und daher kritischeren Kennern der Kunst anzubieten, ehe mein Ruf gut gefestigt und mein Erfahrungsschatz groß genug war, um sicherzustellen, dass er für eine Begegnung mit den Jungen ausreichte, deren Streben nach Meisterschaft in der tantrischen Kunst ebenso ernst und von Eifer beseelt war wie mein eigenes.
Dann schließlich konnte ich mich auf Liebschaften einlassen, in denen die Freude, die ich suchte und oft auch bekam, jener entsprach, die ich im Gefolge meiner beständigen Selbstüberschätzung zu geben vermochte, und so blühte schließlich echte gegenseitige Zuneigung auf dem Baum der Leidenschaft, wenn ich auch noch viel zu sehr in meinen Ruf als Tantra-Schülerin verliebt war und immer noch viel zu hungrig auf neue Erfahrungen, um je auf die Idee zu kommen, mich auf Pakte mit unsterblicher Liebe oder sexueller Exklusivität einzulassen.
So trat männliche Gesellschaft durch das Reich der Sexualität in mein Leben ein und mit ihr die gemeinsame Erforschung der Möglichkeiten von Abenteuern und Leidenschaften jenseits des Schlafgemachs, denn auch der sinnenfreudigste und kräftigste Liebhaber kann kaum mehr als ein paar Stunden täglich in einer Umarmung verbringen, so dass der leidenschaftliche jugendliche Geist seinen Wirkungskreis und seinen Hunger nach Neuem und Abenteuern nicht allein auf das Reich der Erotik beschränken kann.
Auf diese Weise öffnete sich die Schlafzimmertür in die weite Welt um mich, denn jeder Geliebte war auch ein ganzer Mensch, ausgefüllt mit Interessen, Leidenschaften und sogar Besessenheiten, die über sein amouröses Verlangen hinausgingen, und sie waren mehr als bereit, sie mit einer abenteuerhungrigen Freundin zu teilen.
Und so war die kleine Moussa, ohne selbst die Veränderung zu bemerken, kein Kind mehr, das zufrieden in einer heilen Kinderwelt umhertobte; sie wurde hingegen eine echte Heranwachsende, deren Wirkungsfeld nicht mehr der elterliche Garten, sondern ganz Nouvelle Orlean und das Hinterland bildeten.
Mit Genji begann ich die Abwechslung der verschiedenen Cuisine-Stile zu schätzen, die man in Rioville finden kann, und ich lernte die Meisterwerke wahrer chef maestros von gewöhnlicher Cuisine zu unterscheiden; außerdem erwarb ich ein bescheidenes Wissen über die Produkte der Weinbauerkunst. Pallo war musikbesessen, und mit ihm besuchte ich hundert oder mehr Konzerthallen, Tavernen, Open Air-Veranstaltungen und so weiter. Meine Zeit mit Cort war kurz und schwermütig, und meine Eltern waren ganz und gar nicht unangenehm berührt, als ich seiner Gesellschaft müde wurde, denn er war ein Anhänger psychoaktiver Chemikalien – eher mit Begeisterung und rücksichtslosem Mut als mit genauem Wissen und klarer Unterscheidung. Ali flog mit Adlern – das sind große heliumgefüllte Gleitflügel aus feiner Gaze, die uns mit der zauberhaften Erregung antriebslosen Flugs über Land, See und Fluss trugen, wenn auch nicht ganz ohne Gefahr für Leib und Leben. Der Liebhaber, den meine Eltern mit den misstrauischsten Blicken bedachten, war vielleicht Franco, der mich auf Expeditionen in den Bittersüßdschungel mitnahm, manchmal gleich für drei oder vier Tage, wo wir nur zu Fuß weiterkamen, wo wir Betäubungspistolen zum Schutz vor der gefräßigeren Fauna brauchten und einfache Decken auf einem Moosbett als Lager dienten.
Nun kann man nicht sagen, dass ich der bloße Spiegel der Leidenschaften meiner Geliebten wurde, denn auch ich hatte eigene Interessen, die ich mit ihnen teilte, wenn auch keins von ihnen das Ausmaß einer übertriebenen Besessenheit erreichte. Mein Gefährte zu sein bedeutete, Galerien mit Grafiken zu besuchen und vertraut mit dem Stil der Weltblasen zu werden, hundert Kilometer und weiter mit Motorskiern den Rio Royale hinaufzufahren und dort den Bootsverkehr durcheinanderzubringen und endlos lange und ziemlich unerfahren Schach zu spielen.
Außerdem gab es in den Kreisen, in denen ich mich bewegte, häufig gegenseitige Befruchtungen jugendlicher Leidenschaften und Interessen, was heißen soll, dass Pallo sich kulinarisch bildete, indem er mit mir speiste, während Franco neue Psychochemikalien kennenlernte und sogar Cort sich verpflichtet sah, sich mit dem Segeln unter einem Adler zu versuchen. Kurz gesagt, als ich siebzehn wurde, war ich ein selbständiges Mitglied der Gesellschaft, hatte einen Kreis von Freunden, Geliebten, Rivalen, ehemaligen und zukünftigen Liebhabern, die in gewisser Weise soziale Zusammenhänge, veränderte Interessen und Beziehungen spiegelten, und ein Leben, das von der Wohnzimmergesellschaft meiner Eltern unabhängig war, wenn ich auch kaum die Ernsthaftigkeit, die künstlerische und wissenschaftliche Bildung oder die Tiefe des Wissens besaß, die dort zu finden waren.
Falls ich den Eindruck erweckt habe, dass Erotik, Drogen, Sport, Abenteuer und Unterhaltung in unserem Leben eine weit wichtigere Rolle spielten als unsere akademischen Studien, dann muss ich hinzufügen, dass die Forderungen letzterer – sowohl zeitlich als auch dem Aufwand nach – von den erfahrenen Lehrern der Akademie nach dem sechzehnten Geburtstag ihrer Schüler absichtlich stark zurückgenommen wurden. Denn die natürliche Neigung eines jugendlichen Geistes ist es, sich genau die Vergnügungen zu suchen, auf die wir den größten Teil unserer Aufmerksamkeit richteten, und die Flügel ans Nest mühsamer Studien zu binden würde nur die völlig nutzlose Lektion erteilen, dass Wissenschaft eine Plage ist und eine schreckliche Aufgabe, die einem von den Eltern und der Gesellschaft auferlegt wird – und keineswegs eine Freude und ein intellektuelles Abenteuer, dem man aus einem Herzenswunsch heraus nachgeht.
Mit sechzehn nähert sich der erste Teil der Ausbildung seinem Ende; man hat Lesen gelernt und Wortkristalle zusammenzustellen, man versteht die Grundlagen der Mathematik, hat einige Fähigkeiten darin erworben, sich fließend der unendlich vielfältigen Sprachen des menschlichen Lingo zu bedienen, ist mit der Geschichte der Rasse und mehreren Wissenschaften vertraut, wurde mit der Vielfalt möglicher spiritueller Disziplinen und den physischen Künsten, die zur individuellen Entwicklung zur Verfügung stehen, bekannt gemacht, und für den nicht von selbst motivierten Studenten bleibt kaum noch etwas von bleibendem Wert zu lernen. Man hat die Werkzeuge in der Hand, mit denen man Bewusstsein, Körper und Geist entwickeln kann, doch bis man sein eigenes inneres Licht findet, bis man sich ein eigenes Bild von dem macht, was man als erwachsener Angehöriger der Art werden will, bis man seine wahren intellektuellen Leidenschaften gefunden hat, bis zu diesem Punkt wäre das ernsthaftere und spezialisierte Lernen, würde es dem noch unreifen Geist auferlegt, dasselbe, als würfe man Perlen vor die Säue.
Was nicht heißen soll, dass meine Freunde und ich nicht langsam eine ebenso wichtige Lektion lernten, während unsere Schulzeit in einem endlosen Sommer des Vergnügens langsam verging. Einige lernten es schneller als andere, und ich sollte dieses Satori erst mit achtzehn begreifen – die Lektion, die unsere Eltern, unsere Lehrer und die ganze Gesellschaft so klug waren, uns selbst in unserer eigenen Zeit lernen zu lassen: Das schöne Leben eines Jugendlichen, voller Vergnügen, Drogen, Erotik, Sport und fröhlichen Abenteuern, frei von Arbeit, mühsamen Studien oder Schwierigkeiten, wird nach einiger Zeit genauso eintönig, als würde man sich ausschließlich von den Pasteten eines Meisterbäckers ernähren. Durch ein Zuviel dieses endlosen Vergnügens lernt man schließlich die Langeweile kennen, und sobald dieser karmische Zustand allein durch eigene Erfahrung erreicht ist, ist man bereit, den nächsten Quantensprung der spirituellen Entwicklung anzugehen: das Wanderjahr.
Natürlich hatte ich in der Akademie einiges über die Geschichte des Wanderjahrs gelernt, und ich hatte von frühester Kindheit an gewusst, dass auch ich eines Tages an der Reihe sein würde, das Leben eines Kindes des Glücks zu führen.
Die ersten eindeutigen Aufzeichnungen über das Wanderjahr als bewusste Etappe der menschlichen Entwicklung stammen aus dem Mittelalter Europas, wo die Studenten – damals leider nur Männer – zu Fuß auf den Straßen und Wegen wanderten, entweder als finanziell unabhängige Kinder des Glücks oder als Bettler, ehe sie sich für ihre Studien auf den Universitäten einschrieben. Einige Fachleute verweisen allerdings auf ältere und umfassendere Quellen wie zum Beispiel die Wandermönche von Hind und Han, die Namenssuche der angehenden Indianerkrieger, die Jahre, in denen die Massai-Jungen vor den Pubertätsriten von Stamm zu Stamm wandern, die Wanderschaft der Aborigines und so weiter.
Wie dem auch sei, das Wanderjahr schien mit dem Aufkommen des industriellen Zeitalters auf der Erde eine Weile zu verschwinden; damals wurde die spirituelle Erziehung Jugendlicher als lästige Zeitverschwendung im Lichte dessen betrachtet, was man für eine praktische ökonomische Notwendigkeit hielt, nämlich die arbeitsscheuen Jugendlichen in produktive Mitglieder der Arbeitswelt zu verwandeln, indem man sie so schnell wie möglich und ohne Unterbrechung durchs Klassenzimmer über die Universität an ihren Arbeitsplatz schleuste.
Trotzdem tauchte das lange unterdrückte Wanderjahr in der Morgendämmerung des Raumzeitalters in der ziemlich chaotischen Form der Jugendrebellion gegen eben dieses Konzept wieder auf. Leider erhielten diese Kinder des Glücks alles andere als eine von der Gesellschaft umsichtig gewährte Periode der Wanderschaft und der Freiheit zwischen der Schule und den ernsthaften Studien, als Möglichkeit, ihre Berufung und ihren Eigennamen zu entdecken; vielmehr flohen sie häufig in viel zu zartem Alter aus dem Haus ihrer Eltern oder hatten sich auf der anderen Seite bereits für ernsthafte Studien an der Universität eingeschrieben, ehe sie bemerkten, dass sie nicht wussten, wer sie waren, um dann in medias res in einer karmischen Krise und in großer Verwirrung abzubrechen.
Das unglückliche Resultat waren Unruhen, zornige Konflikte zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, Konfrontationen in dem spirituellen und dem sozialen Bereich, Konflikte zwischen der universellen Suche nach spiritueller Identität und den Beschränkungen der institutionalisierten Bildung, zwischen endokrinen Zwängen und staatlicher Ordnung. Viele Ausbildungen wurden, nachdem sie mittendrin abgebrochen wurden, nie ordentlich zu Ende geführt; andere wurden nicht einmal aufgenommen, und jene, die gehindert wurden, je das Leben eines Kindes des Glücks zu führen, erwachten oft in ihren mittleren Jahren wie aus einer Trance und stellten fest, dass sie sich selbst völlig fremd waren.
Abermals wurde das Wanderjahr sozial geächtet, und die wichtige Lektion wurde nicht gelernt: Der jugendliche Geist wurde zu chaotischer Rebellion gezwungen, statt das Kind des Glücks zu fördern, aus dem ein spirituell selbständiger, sich selbst motivierender Erwachsener der Art werden sollte. Nur die Arkies trugen die Fackel weiter ins Erste Raumfahrende Zeitalter.
Doch als die Entwicklung des Sprungantriebs die Dauer interstellarer Reisen von Jahrzehnten und Generationen auf Wochen schrumpfen ließ, tauchte das Wanderjahr wieder als rite de passage auf dem Weg von der Jugend zur Reife auf.
Natürlich wandern in unserem Zweiten Raumfahrenden Zeitalter die Kinder des Glücks nicht zu Fuß von Stadt zu Stadt und auch nicht über die Kontinente und Meere nur eines einzigen Planeten, sondern zu allen weitverstreuten Menschenwelten im zeitlosen Schlaf der Dormodule der Sprungschiffe oder als Geehrte Passagiere in den Kosmokulturen, falls es das elterliche Portemonnaie erlaubt.
Denn die Kinder des Glücks unseres Zeitalters fliehen nicht in rebellischem Trotz vor Elternhaus und Staat; vielmehr ziehen sie mit dem Segen und dem nötigen Kleingeld versehen aus, denn jene, die ihnen eine gute Reise wünschen, haben selbst ihr Wanderjahr absolviert, bevor sie als Erwachsene, die sie dabei geworden waren, ihre Eigennamen wählten.
Wenn man als junger Student auf der Akademie diese soziohistorischen Tatsachen erfährt, sind sie natürlich eine Abstraktion, doch der Augenblick, in dem man erkennt, dass die Zeit gekommen ist, den Fuß auf den Weg des Wanderjahres zu setzen, ist ein Satori des Geistes, das weder willkürlich nach einer bestimmten Zeit provoziert noch dem Geist von außen aufgezwungen werden kann.
Dennoch fällt die Entscheidung fast immer zwischen dem sechzehnten und neunzehnten Lebensjahr, und es ist nicht zu leugnen, dass die Gesellschaft den Boden pflügt und düngt, auf dem der jugendliche Geist erblüht. Denn es ist die Politik der Gesellschaft, nach dem sechzehnten Jahr alle ernsthaften Studien zu unterbrechen, und es ist der darauf folgende endlose, müßige Sommer, der uns die Lektion lehrt, dass dieser Kindertraum vom perfekten Paradies nicht das Gelbe vom Ei für den menschlichen Geist ist, dass die Zeit kommen muss, da wir aus eigenem freien Willen weiterziehen.
Die erste Ahnung von dieser letzten Lektion, die wir lernen, empfand ich als Gereiztheit, ein lästiges Gefühl des Betrugs, als die älteren Angehörigen meines Kreises einer nach dem anderen erklärten, sie wollten unseren Garten jugendlicher Freude verlassen, um zu anderen Welten aufzubrechen. Als jene, deren Gesichter nicht mehr unter uns zu sehen waren, ein und mehr Jahre älter waren als ich, konnte ich die überheblichen Mienen und herablassenden Seufzer, mit denen sie Lebewohl sagten, noch als die Arroganz von Gleichaltrigen abtun, die sich plötzlich für ältere und weisere Wesen hielten und sich denen, die letzte Woche noch ihre Kameraden waren, überlegen fühlten.
Doch als schließlich einige derer, die gingen, an Jahren nicht älter waren als ich, konnte ich mich nicht mehr als die frühreife femme fatale betrachten, die von älteren Jungen begehrt wurde. Stattdessen lehnte ich diese unerwünschte Aufmerksamkeit ein für alle Mal ab; ich hielt sie immer mehr für unreife Jugendliche; mein Unbehagen richtete sich nach und nach immer weniger auf das verfallende soziale Leben draußen und immer mehr auf den wachsenden mal d'esprit im Innern.