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Der Autor führt uns in seiner Trilogie "Eine Woche und sieben Tage" in den Norden Südamerikas. Im ersten Teil werden vier junge Leute, die hier ihren Urlaub verbringen wollen, durch Zufall in eine Reihe seltsamer Geschehnisse verwickelt. Ihre Reise nimmt dadurch einen völlig anderen Verlauf als den ursprünglich geplanten. Begleiten wir sie auf ihrem Weg ins Abenteuer!
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Seitenzahl: 157
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Dienstag, 7. April
Mittwoch, 8. April
Donnerstag, 9. April
Freitag, 10. April
„Nein, Conchita, nein!“ Carlos Augen wanderten unruhig in dem kleinen Raum umher.
„Ach, Carlito, bitte!“
Wie er dieses „Carlito“ haßte. Er wußte, daß es kein Entrinnen gab, er mußte dem Wunsch seiner Frau entsprechen. Er konnte es bestenfalls nur noch etwas hinauszögern.
„Sieh mal, Conchita“, begann er vorsichtig, wissend, daß er sich seine Worte auch sparen könnte, „du weißt, es ist gefährlich und wir waren uns doch einig, daß es im Januar das letzte Mal gewesen ist!“
„Ja“, entgegnete seine Frau und ein langer, tiefer Blick aus ihren dunklen Augen traf ihn, „das ist drei Monate her und da wußten wir doch noch nichts von...“ Ihr Blick senkte sich und ihre Hände strichen sanft über die kleine Wölbung ihres Bauches.
Ja, dachte Carlos, da wußten wir es noch nicht. Er betrachtete seine Frau. Als er sie vor acht Jahren geheiratet hatte, war sie keine 20, das schönste Mädchen im Viertel, mit ihren langen, schwarzen Haaren und eben diesen dunklen, fast schwarzen Augen. Ihre schmale Taille, die ihr gebärfreudiges Becken betonte und ihre prallen Brüste. Ihr Becken war über die Jahre noch gebärfreudiger geworden, die schmale Taille war Erinnerung; sie hatte ihm fünf Kinder geschenkt, von denen zwei gleich nach der Geburt gestorben waren. José, ihr Ältester, war sieben, die beiden Mädchen, Cassiopeia und Maria, vier beziehungsweise fünf Jahre. Und nun noch eins. Trotz allem, Conchita war noch immer schön, sie war seine große Liebe und würde es immer bleiben.
„Vielleicht sollte ich versuchen, einen Job in der Fabrik zu bekommen“, versuchte er es mit schwacher Stimme noch einmal.
„Carlos, wie oft hast du das schon versucht?“
Er wußte, daß sie recht hatte. Wieder und wieder war er zu Señor Rapallo gegangen, hatte Stunden um Stunden gewartet, gehofft, ja auf Knien vor ihm gelegen, er hätte jede Arbeit genommen; aber es gab keine. Es gab zu viele Bewerber, zu viele Münder, die gestopft werden wollten.
„Aber...“
„Carlito“, sie war aufgestanden; der Duft von Schweiß und einem billigen Parfüm drang in seine Nase.
Conchita preßte ihren warmen, weichen Körper an seinen „Carlito, bitte, für mich“, ihre Hände glitten durch seine kurzen, dunklen Haare, ihre Schenkel preßten sich sanft gegen seine: „für uns...“ Er spürte ihre Brüste und die Wärme zwischen ihren Schenkeln.
„Gut, Conchita, gut“, stieß er hervor, "nächste Woche gehe ich!“
„Nein, Carlito“, sie preßte ihren Mund auf seine Lippen, „morgen, Carlito, gleich morgen früh!“ Sie drückte ihn nach hinten auf das Holzgestell, das ihnen als Bett diente.
„Ja, morgen früh“ brachte er noch hervor, bevor er unter ihr versank.
Pablo Rodriguez schaute nervös auf seine Uhr: 13 Uhr! Der Flieger hätte schon längst in der Luft sein müssen. Er fragte sich, ob es technische Probleme gab. Oder ob sie vielleicht doch etwas bemerkt hatten und nun kamen sie und holten ihn noch aus der Maschine in allerletzter Minute! Dabei schien alles überstanden zu sein als er vor einer ewigen Stunde an Bord gegangen war. Er durfte sich seine Nervosität nicht anmerken lassen. Neben ihm saßen zum Glück zwei jüngere Gringos. Touristen wahrscheinlich. Die waren auch aufgeregt, das merkte man ihnen an.
„Aber die sind aus anderen Gründen nervös!“ dachte sich Pablo. Das war gut so, so fiel er weniger auf.
Wieder ertönte die Stimme der Stewardess aus dem Lautsprecher, daß der Abflug sich einen Moment verzögert.
„Noch einen Moment!“ Pablo blickte auf die Aktentasche, die er auf seinem Schoß fest an sich gepreßt hielt. Er dachte an ihren Inhalt und merkte, wie sich noch mehr Schweiß auf seiner Stirn bildete.
Pablo war ein alter Hase in seinem Beruf. Er konnte es nicht mehr zählen, wie oft er schon mit Taschen, Paketen oder Päckchen für die „Firma“ hin- und hergeflogen war. Aber so wie diesmal war es noch nie. Bei der Übernahme des Päckchens war er nur knapp einer Verhaftung entgangen, als der Laden von der Polizei in einer Razzia gestürmt wurde.
Drei Stunden mußte er im winzigen, feuchten Keller, der unter einer Luke im Boden hinter dem Tresen verborgen ist, verbringen. Als dann oben alles ruhig war, kam er vorsichtig aus seinem Versteck und es gelang ihm, durch die Hintertür ungesehen zu verschwinden. Mit dem Päckchen. Deshalb hätte er beinahe den Flieger verpaßt und deswegen war er bei der Zollkontrolle so nervös, daß sie ihn raus gewinkt hatten. Aber man hatte nichts gefunden. Dazu war er zu lange im Geschäft. Und dann das: Die Maschine startete und startete nicht. Er mußte pünktlich bei Don Martinez sein und seine Lieferung übergeben. Davon hing viel ab, nicht nur für ihn. Darüberhinaus war es seiner Gesundheit bestimmt nicht zuträglich, wenn er ein Geschäft dieser Größenordnung verpatzte.
Was war jetzt los? Pablo blickte erschrocken in den Gang der Maschine. Er sah, wie zwei junge Frauen in die Maschine kamen und an ihm vorbeihasteten.
„Blöde Gänse!“ dachte er. „Nicht so lange vor dem Schminktisch stehen, dann müssen nicht alle auf Euch warten!“
„Sehr richtig, Señor!“ hörte er von der anderen Seite des Ganges die Stimme einer älteren Dame, die ihm mit einem freundlichen Lächeln zustimmend zunickte. Pablo nickte kurz zurück.
„Si, Señora, die Jugend!“ sagte er und blickte dann wieder auf die Rückenlehne vor ihm. Er mußte vorsichtiger sein, durfte nicht auffallen. Er hatte, ohne es zu bemerken, laut geredet. „Du mußt dich beruhigen, alles ist in Ordnung!“ sagte er zu sich selbst. Aus den Augenwinkeln sah er, daß die ältere Dame sich wieder ihrer Zeitschrift widmete und aus dem Lautsprecher verkündete die Stimme der Stewardess, daß nun alles zum Start bereit sei.
„Susanne! Su-san-ne!“
Susanne Friedrich zuckte und blickte durch die große Vorhalle des Madrider Flughafens in die Richtung, aus der sie ihren Namen gehört hatte.
„Hier! Susanne! Hallo! Hier!“
Ja, da war sie: Nicole Rösler, ihre beste Freundin. Warum sie das war, fragte sie sich in Momenten wie diesen immer wieder - und, diese Momente gab es oft mit Nicole.
Susanne winkte und dachte: „Schrei doch nicht so, ich habe dich gesehen, sei still, alle schauen schon und jeder auf dem Flughafen weiß jetzt, wer Susanne ist!“ Noch ein paar Schritte und die beiden jungen Frauen lagen sich in den Armen.
„Susanne! Wie ich mich freue!“ Nicole hatte beide Arme um Susanne geschlungen und drückte ihr Gesicht an deren linke Gesichtshälfte.
„Fehlt nur noch, daß sie mich ab schlabbert“, dachte Susanne und ein relativ sachliches „Hallo, Nicole!“ kam aus ihrem Mund. Weiter kam sie nicht. Nicole hatte das Wort:
„Wie war der Flug? Wie geht´s Dir? Hast du meine Nachricht noch bekommen?“
„Nicole!!!“ Susanne versuchte, den Redeschwall zu stoppen. Ja, das war Nicole. Sie hatte sich kein bißchen verändert. „Wird sie sich jemals verändern?" schoß es Susanne durch den Kopf. Dann sagte sie: „Langsam, langsam, wir haben drei Wochen Zeit und müssen nicht alles in der ersten Minute besprechen!“ Nicole holte tief Luft.
„Du hast Recht, Susanne, natürlich, entschuldige. Ich bin nur so aufgeregt. Venezuela! Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal geschlafen habe in den letzten Wochen.“ Sie stellte ihre rollende Reisetasche neben einem Sitzplatz ab.
„Beruhige dich, ich bin ja jetzt hier und- wenn wir erstmal da sind, legt sich deine Aufregung von ganz alleine“, sagte Susanne und versuchte, möglichst ruhig und sachlich zu klingen. In Gedanken fügte sie ein „hoffentlich“ hinzu. Dann schaute sie Nicole an: „Laß uns zu unserem Wartebereich gehen und ein bißchen plaudern, es sind noch fast drei Stunden bis zum Abflug.“
„Gute Idee, also los!“ Schon beim Sprechen hatte Nicole ihr Wägelchen gegriffen und war bereits mehrere Schritte entfernt: „Wohin müssen wir?“
„A ten“ meinte Susanne.
„Gut, also, nichts wie hin und dann muß ich dir unbedingt erzählen…“ Nicole zog mit ihrem Handwägelchen davon, als müsse sie einen neuen Rekord im Flughafenhallendurchqueren aufstellen.
Susanne und Nicole kannten sich seit ihrer Kindheit. Beide waren in Cuxhaven an der Nordsee aufgewachsen. Sie waren nicht immer die besten Freundinnen, das entwickelte sich erst während ihrer gemeinsamen Zeit auf dem Gymnasium. Danach trennten sich ihre Wege. Nicole war nach dem erfolgreichen Abschluß der Schule nach Köln gegangen, wo sie ein Studium der Geschichtswissenschaften aufgenommen hatte.
Susanne hatte eine Ausbildung im Reisebüro gemacht und arbeitete seit dem letzten Jahr als Fremdenführerin in einem Berliner Museum. Trotzdem hatten sich die beiden Freundinnen nie aus den Augen verloren. Dies aber war ihre erste längere gemeinsame Reise.
Nach der Begrüßung kamen wieder Zweifel in Susanne hoch, ob diese Reise die richtige Entscheidung war. Gewiß, sie schrieben sich regelmäßig ihre privatesten Sachen und wenn es sich irgend einrichten ließ, war es auch zu einem persönlichen Treffen gekommen, aber so eine Reise war doch etwas anderes. Skeptisch schaute Susanne zu Nicole, die immer noch wie ein D-Zug durch die Gänge des Flughafens dahinzog.
Nicole war größer als Susanne, hatte dunkelblonde Haare, die leicht gewellt bis fast den halben Rücken hinuntergingen. Susanne beneidete Nicole um ihre Haare, um ihre Figur, um ihre Art. Sie war so ganz das Gegenteil von ihr. Susanne war 1,55 Meter groß und kräftig und kompakt gebaut. Ihre glatten, leicht rötlichen Haare hingen wie eine zu lange Pilzkopffrisur von ihrem Kopf und durch ihre Brille wirkte sie trotz ihrer zweiundzwanzig Jahre wie eine Professorin. Nicole war bei weitem keine Frau mit Modelmaßen, aber ihr Gewicht war nach Susannes Meinung optisch viel besser verteilt. Außerdem strahlte sie immer eine Selbstsicherheit aus, die Susanne fremd war.
„So, hier!“ sagte Nicole und sank in einen der metallenen Flughafensitze. Sie hatte diesen Vorgang noch nicht ganz beendet, als Susanne schon wieder ihre Stimme vernahm: „Erzähl´ mal, hast du inzwischen einen Neuen?“
„Nicole!“ Susanne blickte entrüstet zu ihrer Nachbarin.
„Man darf doch wohl mal fragen!“ sagte Nicole mit betont beleidigter Stimme.
„Und, wie geht´s Christian?“ konterte Susanne.
„Falsche Frage, weiter!“
„Ach, nein“, feixte Susanne, „erzähl´!“ So saßen die beiden Freundinnen und tauschten die wichtigsten und noch mehr die unwichtigsten Neuigkeiten der letzten Wochen aus.
„Oh, nur noch zwanzig Minuten“. Susanne schaute nervös auf die große Anzeigetafel in der hinteren Ecke des Raumes auf der oben „Departures“ stand. „Müßten wir nicht schon aufgerufen sein?“
„Hmm“. Nicole riß sich los von ihrem Artikel in einer bekannten Frauenzeitschrift. „Eigentlich schon.“ Sie legte die Zeitschrift zur Seite und stand auf. „Ich geh´ mal schauen. Du wartest hier, ja?“
„Ja, Nicole“ brummte Susanne und dachte, was sie auch sonst hätte machen sollen.
„Hallo! Hallo, Sie! Ja, Sie!“ hörte sie in diesem Moment Nicole quer durch die ganze Halle rufen und versank ein kleines Stückchen tiefer in ihrem Sitz.
Nicole rannte auf eine uniformierte Person zu, gestikulierte wild mit ihren Armen, rannte weiter und entschwand dem Gesichtskreis Susannes.
Fünf Minuten später griff jemand nach Nicoles Tasche - es war Nicole - und rief im Davonhasten:
„Du hattest recht, Susanne, wir hätten schon längst draufstehen müssen!“ Und mit einem Blick zur völlig verständnislos dreinschauenden Susanne: „Nun komm schon, brauchst du eine extra Einladung? Die Zeit rennt uns weg!“
„Nicht nur die!“ dachte Susanne, die beschlossen hatte, daß es besser war, sich zu erheben und der davon eilenden Nicole zu folgen, obwohl sie nicht wirklich verstand, was ihre Freundin gemeint hatte. Ihre Fragen konnte sie auch auf dem Weg stellen.
„Falsch!“ rief Nicole.
„Wie, falsch?“ hechelte Susanne, die dem Tempo von Nicole kaum folgen konnte und noch gar nichts gefragt hatte.
„Wir sind falsch!“ sagte Nicole.
„Falsch?“
„Nicht a-ten, eighteen!“
Susanne hatte noch nicht ganz begriffen, doch ihr blieb im Moment keine Zeit, groß darüber nachzudenken, denn Nicole schien erneut einen Geschwindigkeitsweltrekord aufstellen zu wollen.
„Eighteen?“ keuchte sie.
„Ja“, rief Nicole! „Nicht A 10, sondern 18!“
„Ahhh!“ Jetzt hatte auch Susanne verstanden. „Wie weit noch?“ Susanne rang nach Luft.
„Nicht mehr weit, wir sind schon bei acht!“
„Schon, acht, schon...“ Susanne dachte, jeden Moment am Ende ihrer Kräfte zu sein. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr, machte sie ihre letzten Kraftreserven frei.
Die Minuten verrannen und damit die Hoffnung, die Maschine noch rechtzeitig erreichen zu können. In Susannes Kopf arbeitete es schon auf Hochtouren: Was war zu tun, wenn sie die Maschine nicht erreichten? Wann ging die nächste? Waren noch Plätze frei? Gab es Zusatzkosten? Nicole dachte daran, daß sie mindestens einen Tag später ihr Ziel erreichen würden und somit kostbare 24 Stunden verlören. Außerdem bedeutete dies eine weitere schlaflose Nacht.
Dann war es da: Gate 18! Eine Stewardess eilte ihnen entgegen:
„Caracas?“ rief sie.
„Si“ antwortete Nicole und hielt ihre Bordkarte hoch. Es ging die Gangway entlang in die Maschine und hinter ihnen schloß sich die Tür. Flug Nummer IB 6707 nach Caracas konnte endlich starten.
Es war schon dunkel als die Räder der Boeing auf dem Rollfeld des Flughafens von Caracas aufsetzten. Flug IB 6707 hatte sein Ziel erreicht.
„Endlich“, dachte Andreas und man sah, wie sich die Gesichtszüge des fünfundzwanzigjährigen Biologiestudenten aus Flensburg entspannten. Andreas war nicht zum Fliegen geboren und ließ seiner Erleichterung freien Lauf. Durch seine altertümlich erscheinende Hornbrille blickte er Thomas mit seinen stahlblauen Augen an, der rechts neben ihm am Fenster saß. „Wir sind unten!“ stieß er hervor.
„Ja“, sagte Thomas, „ein Glück, das hätte ich auch nicht viel länger ausgehalten!“
„Ja, das mit der Verspätung durch die beiden Tussen war schon blöd“, meinte Andreas. Thomas traute seinen Ohren nicht:
„Was?“ Sein Blick war der eines verstörten Tieres.
„Na, daß der Flug dadurch so spät angekommen ist“, sagte Andreas erläuternd. Thomas konnte es nicht fassen:
„Ich meinte eher etwas Anderes!“
„So, was denn?“ sagte Andreas und setzte sein „eskann-doch-nicht-an-mir-gelegen-haben“ Gesicht auf.
„Na, dein Rumgejammere was alles passieren könnte und Dein: Was war das für ein Geräusch? Warum geht die Maschine jetzt runter? Muß das so wackeln? Und so weiter, und so weiter.“
„Nun übertreibst du aber maßlos!“
Thomas durchbohrte Andreas mit einem Blick aus seinen dunkelblauen Augen und sagte nur:
„Stimmt, du warst die Ruhe selbst, Vielflieger von Natur aus! Ich muß das alles nur geträumt haben!“ Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Was soll´s! Jetzt geht´s zum Hotel und morgen sieht alles ganz anders aus!“ Er machte eine Pause und fuhr dann fort: „Ich bin gespannt, was uns erwartet und wie sich alles entwickelt.“
Ja, er war wirklich gespannt. Thomas hatte Andreas die Reise schmackhaft gemacht.
„Venezuela? Nein, danke! Ohne mich! Was gibt´s denn da außer Wald und Drogen?“ war Andreas erste Reaktion.
Thomas kannte Andreas von der Uni in Berlin. Er studierte im Zweitfach Deutsch und bei einem Kurs über „Sprachprobleme bei Migrantenkindern“ hatten sie sich vor zwei Jahren kennengelernt. Da sie beide gerne reisten und dem weiblichen Geschlecht nicht gerade abgeneigt waren, hatten sie schnell Gesprächsstoff. Als Thomas dann vor einem halben Jahr mit dieser Südamerikaidee kam, war Andreas zuerst mehr als skeptisch. Andreas bevorzugte Reisen mit Freunden zu Orten, die bekannt, zivilisiert und gut bebaut waren mit Hotels und ähnlichen Dingen. Mit: „Wir fliegen dahin und dann werden wir sehen“ hatte er bisher keinerlei Erfahrungen. Das, was er von solchen „individuellen Abenteuerreisen“ wie er sie gerne nannte, gehört hatte, hatte ihn eher abgeschreckt.
Das änderte sich erst, als Thomas Andreas einen dicken Reiseführer mit vielen Bildern geschenkt hatte. Was es alles in diesem Land gab: Tafelberge, Fledermaushöhlen, Mangrovenwälder, Hochgebirge, Wüste, Urwald, moderne Großstädte, Urwalddörfer, traumhafte Strände, den höchsten Wasserfall der Welt und nicht zuletzt auch Mädchen, bei deren Anblick auch Andreas nicht nur an Kaffeetrinken dachte. Er war begeistert und sein Entschluß unumkehrbar:
„Venezuela, ich komme - auch ohne Hotel mit Swimmingpool!“ Vielleicht, ja bestimmt sogar, traf man ein paar interessante Leute auf dem Weg durch das Land. Also hatte er zugestimmt und am Ende klang es sogar so, als wenn er Thomas hätte überreden müssen. Thomas war sehr froh über den Sinneswandel von Andreas. Er hatte mangels passender Reisegefährten schon über eine Gruppenreise nachgedacht.
„Gruppenreise! Ich und Gruppenreise! 26 Rentner um die 100 und ich!“ Der Gedanke widerstrebte ihm außerordentlich. Aber es half nichts, er mußte weg, raus aus dem Trott, an einen fernen Ort. Das würde ihm helfen, über seine letzte Beziehung hinwegzukommen. Claudia hatte sich Anfang des Jahres - vier Monate war das nun schon wieder her! - von ihm getrennt. Von heute auf morgen, nach mehr als fünf Jahren intensiven Zusammenseins. Sie hatte einen anderen. Schon seit geraumer Zeit. Thomas war zerschmettert und völlig hilflos. Weg, weit weg, Abstand gewinnen, das war genau das Richtige, das hatte er sich immer wieder gesagt, wenn ihm Zweifel an einer Gruppenreise gekommen waren. Dann kam jener Abend in irgendeiner Pizzeria in Berlin, als Andreas erwähnte, daß er noch keine Pläne für seinen Urlaub hatte. Sie beschlossen, zusammen zu fahren. Jeder machte Vorschläge und Thomas konnte Andreas letztlich überzeugen. Geld spielte zum Glück für Andreas keine Rolle, dessen Eltern wohlhabend waren und ihrem Sohn nicht nur das Studium in Berlin, sondern eben mal auch eine Reise nach Südamerika finanzierten.
Thomas hingegen hatte sich das Geld erarbeiten müssen mit Regalefüllen im Supermarkt. Doch das, was sie erwartete, war es gewiß wert! Er wollte vergessen, sich einfach treiben lassen und in ein Abenteuer- in die Arme einer Conzuela oder Manuela fallen lassen - ohne Zwänge, ohne Ängste, ohne, an ein Morgen denken zu müssen.
„Kommst du?“ Die Stimme von Andreas riß Thomas aus seinen Gedanken, „oder willst du gleich wieder zurückfliegen?“
„Nein, um nichts in der Welt!“ stammelte Thomas. Der Innenraum der Maschine hatte sich fast geleert.
Thomas erhob sich, nahm seine Fototasche und trottete Andreas hinterher, dessen lange blonde Haare wie meist zu einem Zopf gebunden waren und beim Gehen wie das Pendel einer Uhr hin und her wackelten.
Als die beiden die Gepäckrückgabe erreichten, stand eine Menschentraube dicht gedrängt um das ovale Band, auf dem sich die Gepäckstücke im Kreis bewegten.
„Ich geh´ nach da drüben, bleib´ du hier!“ rief Andreas im Davonstürmen. Thomas blickte ihm nach und sah, wie sein Freund sich einen Weg durch die Menge zu bahnen versuchte.
„Gut“, dachte Thomas, „auf in den Kampf!“ Vorsichtig versuchte nun auch er, näher an das Gepäckband zu gelangen.
Er war noch keine zwei Schritte weit gekommen, da sah er seinen Koffer direkt an sich vorbeifahren. Irritiert blickte er in die Richtung und richtig: es war sein Koffer und er wurde gezogen von einem dunkelblonden Mädchen.
„Halt!“ rief er, „Halt! Mein Koffer!“ Der Koffer bewegte sich unbeirrt weiter. Thomas beschloß, ihm zu folgen und als er ihn erreichte, hielt er ihn mit der einen Hand fest. Nicole schaute sich um:
„Was? Bitte?“ sagte sie zu Thomas und blickte ihn verständnislos an.
„Mein Koffer“, antwortete er, „das ist mein Koffer!“
„Ach ja? Natürlich. Und das da“, sie hielt ihre Handtasche hoch „das ist dann wohl auch deine Handtasche?“
„Nein, nur der Koffer. Nur der gehört mir.“ Thomas fühlte sich verschaukelt. Als er in Nicoles Gesicht sah, war dort aber keine Spur eines Lächelns zu entdecken. Im Gegenteil, sie schaute sehr ernst und schien langsam die Geduld zu verlieren.
„Das ist ja wohl die blödeste Anmache, die ich je erlebt habe!“ grunzte Nicole.
„Anmache? Ich – dich? Tickst du noch richtig!“