Der dunkle Tag - Klaus-Jürgen Sparfeld - E-Book

Der dunkle Tag E-Book

Klaus-Jürgen Sparfeld

4,9

Beschreibung

Anton hat ein normales Leben geführt. Irgendwann ist etwas geschehen, das ihn verändert hat. Erst unmerklich, dann immer mehr und mehr. Sein Leben hat den gewohnten Weg verlassen und er hat sich immer weiter von der ihn umgebenden Welt entfernt. Schließlich ist er an den Punkt gelangt, an dem es für sein Überleben nur noch eine Möglichkeit geben konnte ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 148

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
17
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Es war ziemlich dunkel. Es war noch dunkler als dunkel. Man hätte die Hand vor Augen nicht erkennen können, geschweige denn das Ende des Raumes. Das Ende welchen Raumes? War es überhaupt ein Raum, in dem er sich befand? Er wußte es nicht. Seine Augen versuchten, die Finsternis zu durchbohren, aber es gab nichts, daß ihnen einen auch noch so kleinen Anhaltspunkt bot. Alles war schwarz und alles blieb schwarz. Wie war er hierher gekommen? Er mußte irgendwie hierher gekommen sein! Stand oder saß er? Nein, er mußte liegen! Sein Rücken schien Kontakt mit etwas sehr Hartem zu haben. Die Arme spürten eine Art Boden, einen kalten, unebenen Boden. Wo war er? Er versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern. Wer war er? Was hatte er gemacht, bevor er in diesen Raum, wenn es denn einer war, gelangt war? Sein Gehirn arbeitete fieberhaft, aber es fand keine Antworten auf die Fragen.

Vorsichtig bewegte er die Finger seiner rechten Hand. Sie tasteten über die Oberfläche dessen, auf dem er lag. Erst sehr vorsichtig und ganz nah an seinem Körper, dann, als sie nichts entdecken konnten außer dem kalten Boden, bewegten sie sich mit Hilfe der Arme etwas weiter von seinem Körper. Der Boden schien etwas feucht zu sein. Seine linke Hand begann ebenfalls, den Boden abzusuchen. Auch ihr gelang es nicht, etwas anderes als den feuchten, harten, unebenen Boden zu ertasten.

Er schloß die Augen und wartete einige Sekunden. Dann öffnete er sie wieder: Alles war noch immer genauso dunkel wie vorher. Was hatte er erwartet: Daß er die Augen öffnete und gleißendes Licht ihn umgeben würde? Er schloß die Augen erneut, um sie nach einigen Sekunden wiederum zu öffnen. Ihm bot sich dasselbe Nichts wie vorher. Trotzdem wiederholte er diese Prozedur wieder und wieder.

Er wußte nicht, wie oft er es getan hatte, bis er ermattet aufgab. Es war und es blieb dunkel, schwarz.

„Anton, beeil dich! So komm doch, wir kommen ja zu spät!“

Anton sah mit großen Augen in die Richtung seiner Mutter, die mehr aufgeregt zu sein schien als er. Immerhin war es sein erster Flug und nicht ihrer. Ihm stand diese Aufregung daher eher zu, fand er. Anton verzog seine Lippen zu einem Schmollmund:

„Ich komm ja schon, aber Teddy muß mit!“

„Ja, Teddy kann ja mit, aber komm endlich!“

„Ich finde Teddy aber nicht.“

Seine Mutter atmete tief und geräuschvoll aus; es glich eher einem Stöhnen:

„Wo hast du ihn denn zuletzt gesehen? Komm, denk´ nach!“

„Ich weiß nicht, Mama.“

„Anton, gib dir ein bißchen Mühe!“ Seine Mutter bemühte sich, ihre Stimme ruhig erscheinen zu erlassen. Sie wußte, daß Anton ohne Teddy nicht fliegen würde.

„Ja!“ rief Anton plötzlich, „Teddy ist gestern Abend beim Fernsehen eingeschlafen und ich wollte ihn nicht wecken!“

„Na, dem Himmel sei Dank!“

Anton verschwand im Wohnzimmer und kam freudestrahlend mit Teddy im Arm zurück. Teddy war kein großer, eher ein kleiner Teddy. Bei seiner Geburt mußte er weiß gewesen sein. Jetzt wirkte er eher grau. Und Teddy trug ein Kleid. Warum er das tat, wußte Anton nicht mehr genau. Irgendwann hatte er es sich zum Geburtstag gewünscht, weil die Puppen seiner Schwester auch alle Kleider trugen. Anton hatte keine Puppen und so mußte sein Teddy herhalten.

„Anton!“ Seine Mutter stand schon in der weit geöffneten Wohnungstür. Sie winkte Anton, nun endlich mit ihr hinaus ins Treppenhaus zu gehen.

„Wir kommen ja schon“, sagte Anton so, als wenn er alle Zeit der Welt hätte.

Als sie am Flughafen ankamen und seine Mutter ihn der freundlichen Stewardess übergab, war es höchste Zeit. Die nette Frau hatte die Maschine kaum mit ihm betreten, als sie sich schon in Bewegung setzte.

Es war dunkel, als er die Augen öffnete. So dunkel, wie man es sich überhaupt nicht vorstellen konnte. Er wußte nicht, wo er war. Sein Körper schien zu schmerzen. Seine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchbohren. Es gelang ihnen nicht. Er spürte seine Arme und seine Hände. Die Finger konnte er bewegen. Es kam ihm jedenfalls so vor. Langsam tastete er erst mit der einen, dann auch mit der anderen Hand über den Boden. Es war ein kalter, feuchter Boden. Der Boden war hart, sehr hart. Hart und uneben. Das Gefühl, ihn zu berühren war kein angenehmes. Im Gegenteil, die Berührung schien ihm Schmerzen zu bereiten. Trotzdem bemühte er sich, den Bereich seiner Bewegungen zu erweitern, in dem er begann, die Arme langsam von seinem Körper weg zu schieben. Es gelang ihm zwar, aber die Anstrengung hierfür war so groß, daß er nach kurzer Zeit innehalten mußte. Er blickte in die Dunkelheit und versuchte, seine Kräfte zu sammeln.

Es war ein helles, ein gleißendes Licht, das seine Augen traf. Es war nicht das künstliche Licht einer Lampe, es war ein anderes Licht. Er blinzelte und sah direkt in die Sonne. Sofort schloß er seine Augen wieder und senkte den Blick. Nach ein paar Sekunden versuchte er es erneut: Er war am Strand! Vor ihm lag das Meer. Tiefblau und ruhig lag es da. So, als wenn es kein Wässerchen trüben konnte. Er wußte, daß es auch anders sein konnte. Aber heute war es ruhig. Es war ruhig und angenehm. Die Sonne schien von einem klaren, wolkenlosen Sommerhimmel. Die Temperaturen waren trotzdem noch erträglich, da ein Wind vom Meer her wehte. Ein kaum spürbarer, doch vorhandener Wind, der eher einem Luftzug glich.

Er lehnte sich wieder zurück in seiner Liege. Um ihn herum tobte das Leben: Der Strand war dicht gefüllt mit Menschen, die wie er in der Sonne lagen oder sich auf dem Weg zum Wasser befanden. Andere schrien und kreischten, während sie wie wild durch das Wasser wirbelten. Kinder waren damit beschäftigt, Sandburgen zu bauen oder ihre Eltern anders in Bewegung zu halten.

Der Liegestuhl neben ihm war leer. Nur ein dunkelblaues Badetuch, das zur Hälfte in den Sand hing, war zu sehen. Seine Frau war nicht da. Er setzte sich auf und schaute sich nach ihr um. Die Sonne machte es ihm nicht leicht, etwas zu erkennen. Trotzdem entdeckte er sie schließlich:

Sie stand keine 20 Meter von ihm entfernt am Ufer und wedelte mit den Armen. Ihr Blick war auf das Wasser gerichtet. Wahrscheinlich bedeutete sie ihrer gemeinsamen Tochter, nicht zu weit raus zu schwimmen. Die kleine Lisa war zwar schon zehn Jahre alt, aber das hier war nicht das Freibad um die Ecke, sondern das Meer. Das war schon etwas Anderes. Nicht umsonst las man immer wieder von Unfällen leichtsinniger Touristen, die sich selber überschätzt und das Meer unterschätzt hatten.

Seine Frau wirkte ruhig, es schien also alles in Ordnung zu sein. Er ließ sich in den Liegestuhl zurücksinken, zog sich die Schirmmütze tiefer ins Gesicht und schloß die Augen wieder.

Es war dunkel. Sehr dunkel. Eigentlich konnte man nichts sehen außer Schwärze. Er schien zu liegen und sein Körper schmerzte. Er glaubte, schon einmal in einer ähnlichen Situation gewesen zu sein. Der Schmerz, die Dunkelheit, alles schien genauso zu sein, wie schon einmal. Er versuchte verzweifelt, sich zu erinnern.

„Anton, komm endlich, das Essen wird kalt!“

Die Stimme seiner Mutter klang gereizt. Sie hatte ihn nun schon mindestens zum vierten Mal gerufen. Doch Anton kam nicht. Er saß auf dem Teppich am Boden seines Zimmers und bewegte kleine Figuren hin und her. Dabei gab er Geräusche wie „Peng!“, „Ah!“, „Puff!“, „Nein!“ von sich. Kriechend bewegte er sich durch den Raum. In der Mitte des Raumes befand sich eine Art Burg aus Legosteinen. Es war eine sehr große Burg. Anton hatte viele Legosteine. Sie gehörten zu seinem liebsten Spielzeug. Mit ihnen erschuf er sich eigene Welten, in die er so tief versank, daß er alles andere um sich herum vergaß. Im Moment versuchten die roten Ritter die Burg zu erobern, die von den grünen Rittern verteidigt wurde. Eigentlich waren es gar keine Ritter, sondern kleine Plastiksoldaten in unterschiedlichen Farben. Für Anton waren es heute Ritter. Rote und grüne Ritter. Die grünen Ritter waren die guten Ritter, weil er neulich im Fernsehen einen Film gesehen hatte. „Robin Hood“ hieß der Film und dieser Robin Hood war ein guter Mensch, der für die Armen kämpfte. Er und seine Leute trugen grüne Kleidung. Der Sheriff und seine Soldaten hatten Wappen und Fahnen, die rot waren. Sie waren böse. Also waren auch bei Anton die roten Ritter die bösen Ritter. Der Kampf wogte hin und her. Mal gelang es den Roten, in die Burg einzudringen, mal wurden sie bis in den Wald zurück getrieben, der sich unter dem großen Tisch in der Ecke des Zimmers befand. Das in dem Film die grünen Ritter im Wald gelebt hatten und nicht die roten, interessierte Anton nicht. Es galt, die Burg zu verteidigen und die guten Ritter hatten nun einmal dort zu wohnen. Fast war es den roten Rittern gelungen, in den zweiten Hof der Burg vorzudringen, so weit waren sie noch nie gekommen, da hörte Anton die Stimme seiner Mutter und spürte gleichzeitig ein kräftiges Ziehen an seiner rechten Schulter, das ihn in die Realität zurück holte:

„Anton! Es gibt Fischstäbchen, dein Lieblingsessen!“

„Ja, Mama, ich komm´ ja schon“, maulte er und erhob sich widerwillig. „Darf ich nach dem Essen weiter spielen?“

„Wenn du aufgegessen hast, natürlich.“ Seine Mutter lächelte ihn an. Anton war ein aufgewecktes Kind. Was ihr Kummer bereitete war seine Unkonzentriertheit. Die Lehrerin hatte schon mehrmals mit ihr darüber gesprochen:

„Ihr Anton“, hatte sie gesagt, „daß ist ein hoch intelligentes Kind. Wirklich. Aber, er ist oft mit seinen Gedanken ganz woanders. Er sitzt auf seinem Platz und starrt ins Leere. Seine Augen leuchten dann seltsam und wenn man ihn anspricht, reagiert er überhaupt nicht. Erst, wenn man direkt vor ihm steht und ihn berührt, reagiert er. Das kann noch mal zu einem Problem werden. Er bekommt dadurch viele Dinge nicht mit. Sie haben keine Erklärung für sein Verhalten?“

Nein, die hatte sie nicht. Sie hatte dieses Verhalten an Anton auch schon bemerkt, aber sie wußte nicht, wie sie damit umgehen sollte. Also ließ sie ihn, wie er war. Er schien glücklich zu sein, so wie er war.

Anton hatte die Fischstäbchen in Windeseile verschlungen und war schon wieder auf dem Weg in sein Zimmer: Die grünen Ritter brauchten ihn, er mußte mit ihnen die Burg gegen die roten Ritter verteidigen.

Es war dunkel, sehr dunkel. Er schien sich im Innern von Etwas zu befinden. Sein Kopf schmerzte. Langsam hob er die rechte Hand und versuchte, sie an seine Stirn zu führen. Der Arm schmerzte auch. Trotzdem gelang es ihm, seine Stirn zu berühren. Sie war klebrig feucht. Er führte die Finger zum Mund. Blut! Es war Blut! Seine Stirn war blutig. Der Gedanke beruhigte ihn keineswegs. Er versuchte, sich zu erinnern und gleichzeitig, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Beides gelang ihm nur sehr unvollständig. Seine Augen hatten Schwierigkeiten, die Finsternis zu durchdringen.

Seine Hände tasteten die Umgebung ab. Er schien sich am Boden von Etwas zu befinden. Es war eine rauhe, kalte Oberfläche, die ihn umgab. Die linke Seite seines Körpers schien intakt zu sein. Jedenfalls hatte er dort keine Schmerzen, als er den Arm bewegte und die Umgebung abtastete. Vorsichtig, ganz vorsichtig, versuchte er, sich hinzuknien. Es dauerte einige Zeit, bis es ihm gelungen war. Mit seinen Beinen war es genauso, wie mit seinen Armen: Die rechte Seite bereitete ihm Schmerzen, links schien alles in Ordnung zu sein. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft: Was war geschehen? Seine Gedanken formten undeutliche Bilder, die er noch nicht fassen und strukturieren konnte. Er begnügte sich für den Moment, seine nähere Umgebung weiter zu erforschen.

Er wußte nicht, wie lange es gedauert hatte, bis er, fast kriechend, etwas wie eine Wand erreicht hatte. Jedenfalls nahm er an, daß es sich um eine Wand handelte: Der Boden endete und seine Hände konnten sich an etwas nach oben tasten. Er fühlte einzelne Steine, große Steine. Steine, wie man sie in alten Gemäuern fand.

„Feldsteine!“ schoß es ihm durch den Kopf, „das sind Feldsteine!“

Wenn es Licht gegeben hätte in der Dunkelheit hätte man gesehen, daß in diesem Moment eine Art Lächeln über sein Gesicht glitt. Er erinnerte sich an Etwas.

„Ja“, dachte er, „der Ausflug! Wir waren im Wald, im Wald am See!“

Er überlegte und langsam, ganz langsam, nach und nach kamen die Bilder. Den Versuch, aufzustehen, hatte er für den Moment aufgegeben. Sein Rücken lehnte an der kalten, unebenen Wand. Trotzdem war es eine Erleichterung für ihn im Gegensatz zu der Zeit auf dem feuchten Boden. Die Schmerzen waren nicht verschwunden, aber sie hatten nachgelassen. Auch seine Wunde an der Stirn hatte aufgehört zu bluten, nachdem er seine Socken zusammengebunden und um die Stirn gewickelt hatte. Er konzentrierte sich auf den Gedanken, der ihm gerade in den Sinn gekommen war:

Sie waren am See. Sie, das waren er, seine Frau und noch ein paar andere. Wer genau, konnte er noch nicht sagen. Es war ein schöner Spätsommertag. Die Sonne schien auf das Wasser des Sees. Alles war friedlich, hier und da war ein Vogel auf dem Wasser zu sehen und ab und an sprang irgendwo ein Fisch. Ein paar Vögel, deren Namen er nicht kannte, zwitscherten hin und wieder. Es war Natur pur. Ein herrliches Wochenende lag vor ihnen. Es war eine gute Idee gewesen, es hier zu verbringen. Obwohl er sich zunächst dagegen gesträubt hatte. Er wußte nicht mehr, warum er das getan hatte. Es war auch gleichgültig. Er genoß es, am Ufer auf einem Handtuch zu liegen und in den blauen Himmel zu blicken. Seine Gedanken waren irgendwo weit, weit weg.

Seine Freunde, er glaubte sich zu erinnern, daß es seine Freunde waren, mit denen er am See weilte, waren mit dem Boot auf dem Wasser. Wenn er den Kopf hob, konnte er es am anderen Ufer erkennen. Seine Frau war mit ihnen hinüber gefahren. Er konnte sich nicht erinnern, warum er nicht mitgefahren war.

„Ja, richtig! Das war es: Die anderen wollten zu der Ruine!“

Langsam entstanden immer mehr und deutlichere Bilder in seinem Innern: Die Ruine! Das war es! Sie hatten davon gehört, im Dorf unten. Es gab viele Geschichten von diesem alten Gemäuer. Geschichten, die dafür sorgten, daß sich niemand aus der Gegend zu den Mauerresten wagte. Sie lag auf einer Halbinsel und war früher mal ein stattliches Gebäude in dem Fürsten oder ähnliche Edelleute gehaust hatten. Irgendwann wurde sie aus irgendwelchen Gründen verlassen. Er hatte nicht genau hingehört bei den Schauergeschichten. Er glaubte nicht an solche Dinge. Die anderen auch nicht, aber sie fanden es spannend, der Ruine einen Besuch abzustatten. Es war schließlich heller Tag und sie waren nicht allein – was also sollte passieren? Am Ende hatte er, mal wieder, nachgegeben.

Als sie nach längerer Fahrt über holprige Straßen die Stelle erreicht hatten, die man ihnen beschrieben hatte, hatte er den anderen recht geben müssen: die Fahrt hatte sich schon wegen der Lage des Sees gelohnt. Nach der Unruhe des täglichen Lebens, war es genau das, was er brauchte. Es ging ihm in der letzten Zeit nicht besonders. Seine Gesundheit war angegriffen. Die jahrelange Hetze und der immer stärker werdende Druck im Arbeitsleben forderten seinen Preis. Sein Arzt hatte ihm geraten, ein paar Gänge zurückzuschalten, wenn er seinen nächsten Geburtstag noch erleben wollte. Deshalb hatte er sich mit dem Wochenende einverstanden erklärt. Und deshalb wollte er auch nicht zu der Ruine. Er fand es genau richtig, am Ufer zu liegen und das zu tun, was er gerade tat: gar nichts!

Die anderen winkten. Sie schienen jetzt an Land zu sein. Er schaute ihnen nach, bis sie zwischen den Bäumen und Büschen verschwunden waren. Er schloß die Augen und ließ die Strahlen der Nachmittagssonne weiter auf seinem Körper brennen.

Er fröstelte. Als er die Augen öffnete, wollte die Sonne gerade hinter den Hügeln auf der gegenüberliegenden Seite verschwinden.

„Rosi!“ rief er, „ich muß eingeschlafen sein, wie war´s da drüben?“

Er wartete einen Augenblick, aber er erhielt keine Antwort:

„Rosi?“ versuchte er es noch einmal, „Rosi, bist du da?“ Er holte Luft und richtete sich auf. Um ihn herum dämmerte es und seine Augen suchten nach seiner Frau und den Freunden. Es war nichts von ihnen zu sehen:

„Rosi?“ versuchte er es ein drittes Mal, „Rosi? Herbert? Michael? Ist da irgendwer?“

Absolute Stille umgab ihn. Er stand auf und ging zu den Zelten. Zuerst schaute er in das von ihm und seiner Frau: Es war leer. Genauso die beiden anderen. Niemand außer ihm war im Lager.

„Das Boot!“ schoß es ihm durch den Kopf.

Er ging die paar Schritte zum See und suchte mit den Augen das Ufer ab: Es war kein Boot zu sehen!

„Merkwürdig!“ sagte er sich. Er suchte nach seinem Telefon:

„Natürlich! Was auch sonst!“ fluchte er, „kein Empfang! Immer, wenn man die Dinger braucht, gibt es keinen Empfang!“

Er blickte über den See. In der hereinbrechenden Dunkelheit glaubte er, das Boot dort zu sehen, wo die anderen vor Stunden an Land gegangen waren.

„Vielleicht sind sie dort geblieben!“ dachte er bei sich. „Kein Grund, sich Sorgen zu machen, sie sind zu fünft. Was sollte denn passieren?“

Er dachte an die Schauergeschichten und so ganz glaubte er selber nicht an das, was er da vor sich hin brubbelte.

„Ich kann hier nicht so einfach rumsitzen und warten! Ich muß etwas tun!“

Er ging zum Zelt, nahm die Taschenlampe, seine Jacke, zog die Wanderschuhe an und machte sich auf den Weg. Er wollte am Ufer entlang zu der Ruine, deren Schatten sich noch schwach gegen den Abendhimmel abzeichnete.

Er wußte nicht genau, wie lange er so gelaufen war. Seine Uhr hatte er ebenso im Zelt gelassen wie sein Telefon.

„Zum Glück haben wir Vollmond und wenig Wolken!“ sagte er zu sich. Überhaupt sprach er fast die ganze Zeit mit sich selbst. Daß er es deshalb tat um die eigene Unsicherheit zu überspielen hätte er nie zugegeben.