Einer geht noch, Heiko - Niels Philippsen - E-Book

Einer geht noch, Heiko E-Book

Niels Philippsen

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Beschreibung

Heiko Timmermann, 23 Jahre alt und Jungredakteur beim Dithmarscher Landboten, wird wieder einmal mit einem rätselhaften Vorfall konfrontiert: Jan Hageboom, ein wohlhabender ehemaliger Maurermeister aus Hemmingstedt, ist seit ein paar Wochen spurlos verschwunden. Kurze Zeit später werden in der Nähe der Gaststätte Alte Mühle in Braaken die Überreste eines Toten gefunden. Der Vermisste? Nein, so einfach ist es leider nicht. Weitere Todesfälle werden der Polizei noch Rätsel aufgeben, aber Heiko Timmermann kann wieder entscheidend zur Lösung beitragen. Vorher hat er jedoch einige Turbulenzen in seinem Privatleben zu überstehen: Maja von der Zeitung, Heike aus der Bäckerei, die Zahntechnikerin Fee und auch die neue Volontärin Rosanna Schmidtchen machen ihm schwer zu schaffen. Neben diesen jungen Damen treten wieder zahlreiche alte Bekannte auf: Heiner, Donald und Felix, Heikos Familie aus Wesselburener Deichhausen und natürlich die Hauptkommissarin Jutta Weishaupt von der Itzehoer Mordkommission.

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Seitenzahl: 1312

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Als Lügen, Hoffart, laute Trunkenheit,

Als jedes Laster, dessen starkes Gift

Das schwache Blut bewohnt.

(William Shakespeare)

Der erste Satz ist immer der schwerste. Aber das war er ja bereits, der erste Satz, meine ich. Dann haben wir das schon mal hinter uns. Ich frage mich auch gerade, warum ich das überhaupt alles erzähle, was jetzt noch kommen wird. Vielleicht, weil ich die Hoffnung habe, dass es irgendjemanden interessieren könnte. Vielleicht aber auch nur für mich, damit ich mich später, meinetwegen in zwanzig oder dreißig Jahren, mal in aller Ruhe hinsetzen kann und nachlesen kann, was ich früher so erlebt habe und wie ich überhaupt so drauf war. Aber wahrscheinlich ist der wahre Grund, dass ich ganz einfach gerne erzähle und dabei auch nur sehr schwer zu bremsen bin. Also, hört es euch einfach mal an oder lest es, ganz wie ihr wollt. Wenn es euch nicht gefällt, könnt ihr ja auch einen anderen Sender wählen oder einfach große Pause machen.

Warum ich gerne anderen was erzähle, hat natürlich mit meinem Job zu tun. Ich bin bei der Zeitung. Nein, nicht bei der Bild oder beim Hamburger Abendblatt, schon gar nicht bei der Frankfurter Allgemeinen oder der Süddeutschen Zeitung. Schlicht und ergreifend beim Dithmarscher Landboten in Heide. Das ist natürlich kein so super wichtiges Blatt, da wollen wir doch mal ehrlich sein, aber für die Einwohner unseres schönen Kreises an der Westküste von Schleswig-Holstein sind wir sozusagen die Top-Nachrichtenquelle. Meine Kollegen und ich versuchen jeden Morgen die Leser im Kreis Dithmarschen mit unseren Meldungen vom Frühstücksstuhl zu reißen. Nee, das war jetzt irgendwie doch blöd ausgedrückt. Meinetwegen können sie in aller Ruhe frühstücken, solange sie dabei ab und zu mal einen Blick in unser Blatt werfen. Ganz allgemein sind die Zeitungen wohl in einer Krise, es gibt tendenziell weniger Leser als früher, das liegt natürlich an den ganzen neuen Medien, zum Beispiel auch an Facebook und dem ganzen anderen Kram. Mir macht das manchmal schon ein bisschen Sorgen, weil ja auch meine eigene Zukunft davon abhängt. Aber andererseits glaube ich auch nicht, dass wir in meinetwegen zwanzig Jahren gar keine Zeitungen aus Papier mehr haben werden. Genauso wenig kann ich glauben, dass es dann nur noch Elektroautos geben wird. Aber das werden wir dann ja sehen.

Mir fallen jetzt ganz viele Sachen ein, die ich unbedingt erwähnen müsste, aber das geht ja nicht alles gleichzeitig, das geht nur der Reihe nach. Womit soll ich anfangen? So ganz trennen kann ich Berufliches und Privates nicht, das geht sozusagen teilweise ineinander über, darum erstmal zu mir persönlich: Also, ich bin Heiko Timmermann, 23 Jahre alt, weder verheiratet noch verlobt, auch keine Kinder, soweit mir bekannt ist. Nein, das war jetzt Quatsch, ich bin mir relativ sicher, dass ich keinen Nachwuchs habe. Jedenfalls noch nicht. Wer weiß schon, was da noch kommen wird. Eine Familie habe ich natürlich trotzdem, aber eher im Sinne von Elternhaus inklusive Geschwister. Bis vor ganz kurzer Zeit habe ich auch noch zu Hause gewohnt, nämlich in Wesselburener Deichhausen, da hat mein Vater Heinrich Timmermann einen Betrieb, den man Lohnunternehmen nennt. Also so eine Firma für alle möglichen Dienstleistungen. Hauptsächlich in der Landwirtschaft, aber auch Erdarbeiten, Deichbau, Abrissarbeiten, manchmal auch Garten- und Landschaftsbau, im Winter sogar Schneeräumen und so weiter. Meine Mutter arbeitet im Betrieb mit, aber eigentlich fast nur im Büro, außerdem ist sie natürlich auch noch ganz schön mit dem Haushalt beschäftigt. Ich will jetzt nicht sagen, dass mein Vater da gar nicht mithilft, das wäre nicht ganz fair von mir, aber er hat eben hauptsächlich mit seinem Betrieb zu tun.

Also mal kurz zu meinen Geschwistern: Meine etwas jüngere Schwester Linda, sie ist neunzehn, lernt immer noch Krankenschwester beim Heider Krankenhaus. Ganz genau heißt das aber heute Kranken- und Gesundheitspflegerin und Westküstenklinikum. Linda müsste eigentlich auch bald mal mit ihrer Ausbildung fertig sein, ich weiß gar nicht so genau, ob das jetzt drei Jahre oder dreieinhalb Jahre werden sollten, aber da kann ich sie natürlich bei nächster Gelegenheit mal fragen. Mein kleiner Bruder heißt Lasse und ist ungefähr vor einem Monat zwölf geworden. Meine Eltern haben ihn nicht nach Heide zum Gymnasium geschickt, wo ich damals auch war, sondern er geht weiter in Wesselburen zur Schule. Nach den Sommerferien wird er wohl in die sechste Klasse kommen. Das Institut nennt sich seit einiger Zeit Gemeinschaftsschule, früher gab es ja noch die Hauptschule und die Realschule. Das mit der Gemeinschaftsschule ist wohl ganz günstig für Lasse, sonst wäre er wahrscheinlich nur auf der Hauptschule gelandet. Nicht, weil er zu blöd ist, sondern weil er einfach zu faul ist. Vater hat aber die Hoffnung, dass er seinen jüngsten Spross zu seinem Nachfolger heranbilden wird. Meinetwegen, ich habe nichts dagegen. So, jetzt hatten wir ja schon mal in groben Zügen meine Eltern und Geschwister, die ganzen anderen zahlreichen Verwandten habe ich aber lieber noch weggelassen, ich will euch ja nicht total verschrecken.

Bis vor kurzem habe ich noch zu Hause gewohnt, habe ich gerade gesagt. Das muss ich jetzt mal ein bisschen erklären. Mein einer Opa, ehemaliger Zimmerermeister aus Lieth, hat ein paar kleinere Häuser in Heide und auch anderswo gekauft, damit er auch nach seiner aktiven Zeit noch was zu tun hat. Ziemlich schrottreife Buden, muss ich schon sagen. Ein Haus steht in der Turnstraße in Heide, schräg gegenüber vom Tivoli, dieser Gaststätte mit Saal für alle Gelegenheiten. Jedenfalls hat mein Opa mir schon vor zwei Jahren angeboten, dass ich in dem Haus in der Turnstraße wohnen könnte, wenn es fertig ist. Das lag damals noch etwas in weiter Ferne, dann rückte es sozusagen aber wieder näher ran, dann gab es aber irgendwelche Probleme mit einer feuchten Mauer. Die ganzen Bauarbeiten haben sich noch ziemlich dahingezogen, und im Grunde genommen war das Haus dann erst vor ein paar Monaten bezugsfertig. Ich bin dann auch wirklich dahin umgezogen, aber eher so nach und nach, weil ich gerade so viel Stress mit meinem Studium hatte. Studium? Okay, darauf werde ich später noch zurückkommen. Also jetzt habe ich tatsächlich ein Haus in der Turnstraße. Ein sehr kleines Haus, das muss ich schon zugeben. Unten Küche und Bad, oben ist sozusagen die Wohnetage mit einem kleinen Schlafzimmer nach hinten raus. Übrigens hatten Opa und seine Kumpels dann doch noch etwas weiter zum Garten hin ausgebaut, und deshalb ist im Erdgeschoss hinter dem Bad auch noch ein kleines Zimmer entstanden, das man mit sehr gutem Willen als Gästezimmer bezeichnen könnte. Das ist natürlich günstig, wenn mal einer bei mir übernachten will, meinetwegen mein Freund Donald oder meine Schwester oder wer auch immer. Ich werde sicher noch das eine oder andere Wort über meine Bude verlieren, ich kann bisher nur sagen, es ist schon toll geworden, da kann ich meinem Opa nur dankbar sein und ihm ergriffen die Hände schütteln.

Ich will das mal so sagen, so richtig umgezogen mit allen meinen Sachen bin ich noch nicht, da steht zu Hause in Wesselburener Deichhausen noch alles Mögliche herum, aber ich habe hier in der Turnstraße wenigstens schon ein ganz ordentliches Bett und die Küche ist auch schon mehr oder weniger betriebsfertig. Ich musste natürlich eine ganze Menge Sachen kaufen, das Problem war aber, dass ich praktisch gar keine Zeit dazu hatte. Aber das erkläre ich gleich. Fazit: Schlafen und essen kann ich hier schon, aber so richtig gemütlich ist es noch nicht, mir fehlen auch noch jede Menge Möbel. Ich muss mir noch welche kaufen, ich fürchte, bei Ikea oder ähnlichen Häusern. Leisten kann ich mir das schon, ich habe in den letzten Jahren einiges zurückgelegt, aber bisher hat mir vor allem die Zeit gefehlt. Irgendwann muss ich mir mal Vaters MAN ausleihen, der hat auch eine Plane, und dann fahre ich wohl tatsächlich zu Ikea nach Kiel. Mal sehen.

Warum ich in letzter Zeit so viel Stress hatte? Das hatte eher weniger mit meinem Job beim Landboten zu tun, sondern mit dem Studium. Jawohl, ihr habt richtig gehört. Ich habe in den letzten Jahren nebenbei an der FH in Kiel studiert, im Prinzip einmal in der Woche, immer am Dienstag. Journalismus und Medienwirtschaft. Am Anfang war alles easy, aber dann wurde es immer heftiger. Das letzte Jahr, also die letzten beiden Semester, war sogar so schlimm, dass ich so gut wie kein Privatleben mehr hatte. Aber ich habe mir dann einfach gesagt, Heiko, das ziehst du jetzt voll durch, irgendwann hast du das Ziel erreicht, und dann kannst du anschließend gepflegt zusammenbrechen und dich wieder aufpäppeln lassen. Okay, zusammengebrochen bin ich dann doch nicht, ich habe ja alles geschafft. Der letzte Punkt war die Abgabe der Masterarbeit. Das war gestern.

Jetzt versteht ihr hoffentlich, wie ich gerade drauf bin. Einerseits völlig kaputt und andererseits auch irgendwie zufrieden. Außerdem habe ich endlich eine ganze Woche Urlaub. Ab Montag natürlich. Heute ist Samstag. Und um endlich mal etwas konkreter zu werden, Samstag, der sechste Juni 2015. Viertel vor neun in der Küche von meinem Mini-Haus in der Turnstraße in Heide. Ich habe gerade Kaffee aufgesetzt und zwei Scheiben Toast aktiviert. Butter, Kirschmarmelade und Scheibletten-Käse warten auf ihren Einsatz. Moment, ich hole mal schnell die Zeitung. Dafür brauche ich gar nicht rauszugehen, ich habe einen Briefschlitz in der Haustür. War meine Idee. Opa war nicht so sehr dafür, da könnte ja jeder seinen Müll reinwerfen oder Silvesterknaller, aber wir haben uns dann auf einen abschließbaren Briefschlitz geeinigt. Den werde ich wahrscheinlich so gut wie nie abschließen, aber ich könnte das immerhin tun, wenn mir danach ist.

Ich habe mir den ersten Becher Kaffee eingegossen und auch schon die erste Toastscheibe in Angriff genommen. Jetzt mal ein etwas ausführlicherer Blick in den Landboten. Vielleicht mal ein paar Meldungen aus Dithmarschen, Schleswig-Holstein und dem Rest der Welt, damit ihr darüber orientiert seid, was Anfang Juni 2015 überhaupt so los ist. Meinetwegen auch war. Also: 17 bis 19 Grad, örtlich Schauer. Das ist doch gar nicht so verkehrt für Anfang Juni. Martin Schulz genervt von der griechischen Regierung. Kann ich gut nachvollziehen. Der Kita-Streik wird ausgesetzt, ab Montag werden die kommunalen Kindergärten wieder geöffnet sein. Der Paternoster im Kieler Landeshaus ist vorläufig stillgelegt. Das Ding kenne ich sogar, da waren wir mal irgendwann in der Mittelstufe, weil wir mal eine Landtagsdebatte mitkriegen sollten. Diesen Paternoster fand ich ganz cool, das ist im Grunde genommen so eine Art Fahrstuhl in Endlos-Schleife und im Dauerbetrieb, da muss man beim Ein- und Aussteigen schon ein bisschen aufpassen, aber man hat den Dreh dann auch schnell raus. Aha, die Haftungsfrage scheint das Problem zu sein, da gibt es wohl irgendein neues Gesetz. Richtig verboten sind diese Teile aber nicht, es dürfen nur schon seit Jahrzehnten keine neuen Paternoster mehr gebaut werden. Okay. Auf der Rader Hochbrücke wird geblitzt. Unbefristeter Streik bei der Post. Am

10. Juni gibt es ein Konzert von Herbert Grönemeyer auf dem Heider Marktplatz. Obwohl ich mir jetzt bestimmt viele Feinde mache, ich kann den Typen nicht ab. Da muss ich mir für den nächsten Mittwochabend wohl noch Ohrenschützer besorgen oder ich ziehe mich vielleicht doch nach Wesselburener Deichhausen zurück.

Zweiter Toast und zweiter Becher Kaffee. Weiter geht’s. Keine so bedeutenden Meldungen aus meiner Redaktion, also der Redaktion Dithmarschen, Heide, Heider Umland. Vielleicht kann ich an dieser Stelle mal erwähnen, dass ich nicht mehr offizieller Volontär bin, sondern tatsächlich schon Redakteur. Im Grunde genommen müsste es Jungredakteur heißen, aber diese Bezeichnung gibt es nicht. Ich habe aber nur einen Vertrag bis zum Jahresende, der soll irgendwann mal neu verhandelt werden. Das hängt wahrscheinlich auch davon ab, ob ich meinen großen Medien-Meister-Titel von der Fachhochschule Kiel verliehen bekommen werde. Ich hoffe schon, es hängt eben nur noch von der Beurteilung der Masterarbeit ab. Das kann aber noch dauern, bis zum Ende des Sommersemesters, also bis zum 31. August. Das hat man uns jedenfalls so gesagt. Danach soll es spätestens Anfang September sogar eine richtige Abschlussfeier geben. Aber das zieht sich ja noch, vorher haben wir erstmal den Sommer vor uns, das ist auch nicht so verkehrt. Wo war ich jetzt? Bei meiner Redaktion. Es sind immer noch dieselben Mitarbeiter wie früher, es soll nur irgendwann mal ein neuer Volontär kommen oder vielleicht auch eine Volontärin. Der oder die ist im Moment aber noch in einer anderen Redaktion, wir haben ja mehrere.

Jetzt schnell noch ein paar Meldungen: Einbruch in Lundener Schwimmbadcafé, unter anderem ist ein Stück Torte gestohlen worden. In Büsum werden Kuscheltiere versteigert. Wöhrden rockt. Sonnabend, 13. Juni, um 19 Uhr im Park. Sonnabend, komisch, sonst sagen alle immer Samstag. Der TSV Linden betreibt eine bemerkenswerte Judosparte. Uschi, 71, sucht netten Lebenspartner mit ehrlichen Absichten. Heute um 10 Uhr Wattwanderung in Büsum, das schaffe ich nicht mehr. Montag wird in Nordhastedt der Sperrmüll abgeholt. Sebastian Vettel fährt in Montreal mit einem neuen Motor. Lady Sunshine und Mr. Moon sind vierzig Jahre verheiratet. In den nächsten Tagen vorwiegend heiter bis wolkig. Steinböcke sollten jetzt einfach mal fünfe gerade sein lassen und die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Tut mir leid, mein Horoskop muss ich einfach lesen. Man kann Urlaub im Baumhaus machen, das finde ich ja nicht schlecht. 100 Jahre Frauenwahlrecht in Dänemark. Und bei uns? Das müsste ich bei Gelegenheit mal nachgoogeln. Letzter Punkt: Fernsehprogramm. Jawohl, ich habe jetzt einen eigenen Fernseher. Den alten von Oma und Opa aus Lieth, die wollten einen größeren haben, aber wirklich so einen ganz großen. Mein geerbter ist aber auch schon ein Flachbildfernseher, der ist höchstens ein paar Jahre alt. Fand ich schon nett von den beiden, aber im Grunde genommen wäre ich auch erstmal ohne eigene Glotze ausgekommen. Was könnte ich denn heute Abend sehen? Fußball im Zweiten, Juventus gegen Barcelona, naja. Die glorreichen Sieben, dieser alte Western. Kommt aber erst nachts um zehn vor zwei. Ach, ich weiß noch nicht, was ich heute Abend tun werde. Vielleicht bleibe ich ja auch in Wesselburener Deichhausen auf der Timmermann-Ranch. Schauen wir mal.

Frühstück beendet. So richtige Handlung ist das jetzt ja noch nicht, wovon ich gerade erzähle, aber ich fürchte, das bleibt erstmal noch etwas weiter so. Jedenfalls ist kaum zu erwarten, dass heute noch irgendwas Dramatisches passieren wird. Ich muss das im Moment auch nicht unbedingt haben. Während ich am Aufräumen bin, lasse ich mal ein paar allgemeinere Gedanken vom Stapel. Gedanke 1: Es ist schon etwas gewöhnungsbedürftig, mehr oder weniger plötzlich alleine zu leben. Man kann natürlich tun und lassen, was man will, man hat die komplette Freiheit, aber es sagt einem auch keiner, was man als nächstes machen soll. Das muss man sich dann schon selber sagen. Also so was wie Heiko, mach' jetzt endlich dein Bett, putz‘ das Badezimmer oder solche Sachen. Gut, das habe ich ja zu Hause auch getan, da habe ich mich nicht von Mutter und Vater bedienen lassen, aber es ist eben was anderes, wenn zumindest noch eine weitere Person da ist, die mitbekommt, was man gerade tut. Ich merke schon, ich muss mich ganz einfach daran gewöhnen, allein zu wohnen. Gedanke 2: Ich hatte in der letzten Zeit so viel um die Ohren, dass ich überhaupt gar keine Gelegenheit zu irgendwelchen sozialen Kontakten mehr hatte. Monatelang, möchte ich sagen. Also, ich müsste mich da dringend mal wieder drum kümmern. Gedanke 3: Jetzt bin ich fertig mit Aufräumen, dann kann ich ja los.

Anrufen muss ich jetzt nicht, die wissen zu Hause, dass ich irgendwann heute Vormittag komme. Das Schöne am Sommer ist ja, dass man einfach im T-Shirt rumlaufen kann, jedenfalls meistens, manchmal braucht man aber auch eine Jacke. So eher als Handtaschen-Ersatz für Portemonnaie, Schlüssel und den ganzen Kram. Okay, ich habe die Jacke jetzt auch nur in der Hand, als ich die Haustür von draußen abschließe. Nebenan ist eine Schlosserei, den Namen lasse ich jetzt mal weg, die arbeiten heute zum Glück auch nicht. Das kann sonst manchmal schon ziemlich laut sein. Heute steht mein Polo direkt vor der Tür, das ist leider nicht immer möglich. Allgemeiner Parkplatzmangel in der Turnstraße. Schräg gegenüber ist aber ein mehr oder weniger freies Grundstück, da war früher mal ein Reifenhandel. Ich habe mich da mal durchgefragt, wem das Grundstück denn heute eigentlich gehört, und da hat man mir gesagt, dass ich da ruhig meinen Wagen abstellen könnte, da wird sich in nächster Zeit sowieso nichts tun, also keine Bauarbeiten oder was auch immer. Aber wie gesagt, heute brauche ich nur einen großen Schritt zu tun und schon bin ich bei meinem Auto. Polo IV, Baujahr 2003, Benziner mit 55 PS, hat noch ein Jahr TÜV, 175.000 km auf dem Tacho. Der Wagen gehört eigentlich nicht mir, sondern Vaters Firma, aber das muss ja nicht unbedingt jeder wissen. Der Polo ist noch gut in Schuss, das liegt daran, dass Vater alles an unseren ganzen Fahrzeugen selbst macht. Außer Elektronik, da muss er dann auch mal passen. Im letzten Jahr hat er den Polo sogar neu lackiert, ich musste dabei helfen, aber dafür durfte ich mir dann auch die Farbe aussuchen. Bordeauxrot habe ich genommen, weil ich so gerne Rotwein trinke. Also das mit dem Lack ist echt gut geworden, nur die Motorhaube mussten wir ein zweites Mal machen, weil eine von unseren Katzen darüber gelaufen war, als die Farbe noch nicht ganz trocken war. Dafür hatte sie dann rote Pfoten, aber keine Sorge, sie hat keine bleibenden Schäden davongetragen.

Ganz schön warm in der Karre, ich kurbele erstmal die Seitenscheiben runter. Mucke an und auf geht’s Richtung Wesselburener Deichhausen. Im Tank ist noch mehr als genug Sprit, ich habe gestern Abend auf dem Weg von Kiel noch in Elsdorf-Westermühlen getankt. Schräg gegenüber von einem thailändischen Restaurant, das Bunthai heißt. Immer, wenn ich da vorbeifahre, frage ich mich, ob es wohl Bunt-Hai ausgesprochen wird oder Bun-Thai. Wahrscheinlich ja letzteres, wegen Thailand eben. Aber bemerkenswert ist das schon, dass es so was in so einem kleinen Dorf überhaupt gibt. Ach so, falls jemand nicht mehr weiß, weshalb ich gestern in Kiel war, ich musste meine Masterarbeit abgeben. Lokalpolitik im Spiegel lokaler Medien am Beispiel des Landkreises Dithmarschen. Klingt ja irgendwie machbar, aber ich hatte mich da ganz schön verzettelt. Zuerst dachte ich, ich nehme mir einfach mal alle Berichte von einem Jahr in unserem eigenen Blatt zum Thema Lokalpolitik zur Brust, bringe da ein bisschen Ordnung rein und zeige dann am Schluss irgendwelche typischen Muster auf. Dann hat mich mein Prof aber darauf aufmerksam gemacht, dass zu den lokalen Medien doch vielleicht auch Fernsehen und Rundfunk zu zählen sind. Das führte dann dazu, dass ich mir beim NDR in Kiel ein ganzes Jahr Schleswig-Holstein-Magazin im Schnelldurchlauf reinziehen musste und dann natürlich auch diese ganzen Nachrichten und Reportagen von Welle Nord. Ein ganzes Jahr, das wurde mir bald klar, das würde mich total überfordern, also habe ich am Ende doch nur ein Vierteljahr untersucht. Dann aber auch noch mit den Beiträgen von den ganzen anderen Rundfunksendern, also auch RSH und sogar Offener Kanal Westküste, obwohl den wahrscheinlich kaum jemand kennt. Dann musste ich natürlich auch noch auf die Webseiten dieser Sender eingehen. Leute, ich sage euch, ich habe mich nicht nur einmal dafür verflucht, dass ich das Thema überhaupt genommen hatte. Es war jedenfalls eine mordsmäßige Arbeit, sozusagen mit der heißen Nadel gestrickt, und ich bin mir auch wirklich nicht so sicher, ob das Ganze jetzt überhaupt einigermaßen vernünftig geworden ist oder schlicht und ergreifend nur Mist. Aber das werde ich dann ja sehen. Wenn ich die Arbeit total verhauen habe, muss ich eben noch mal antreten. Alles andere hat aber ganz gut geklappt, das Studium insgesamt, meine ich jetzt. Da habe ich sogar einen Schnitt von 1,8. Das muss ja auch mal gesagt werden.

Ich muss jetzt, glaube ich, nicht den ganzen Weg beschreiben, vielleicht tue ich das ein andermal. Es sind wahrscheinlich so ungefähr 15 Kilometer, das geht ja noch, und normalerweise dauert das mit dem Auto knapp zwanzig Minuten. Es kommt natürlich auf das Wetter an, den Verkehr und überhaupt die ganzen Straßenverhältnisse. Ich bin früher manchmal von zu Hause aus auch mit dem Fahrrad nach Heide gefahren, das hat dann so in etwa eine Dreiviertelstunde gedauert. Mit Rückenwind weniger, mit Gegenwind deutlich mehr. Rein theoretisch könnte man sogar zu Fuß von Ort zu Ort gehen, aber das hat noch nie einer von uns getan. Ich schätze mal, das wäre dann schon eine Wanderung von zwei bis drei Stunden.

Da ist der Timmermann-Hof schon in Sicht, sozusagen meine alte Heimat. Ein ziemlich großer ehemaliger Bauernhof, der aber seit längerer Zeit einfach Vaters Betrieb beherbergt. Also auch mit diesen ganzen Hallen für die ziemlich großen Landmaschinen, Trecker, Unimogs, den LKW und auch einige Anhänger. In letzter Zeit ist da auch einiges investiert worden, das fällt einem gleich ins Auge, sämtliche Dächer sind mit Solaranlagen zugepflastert, wir sind jetzt energiemäßig unabhängig und können sogar noch was ins Netz einspeisen. Vater meint aber, damit sich die Investition auch auszahlt, müsste er noch 150 Jahre leben.

Ich bin auf dem Hofplatz angelandet und lenke den Polo in die Lücke zwischen Mutters Escort und Vaters alten Benz. Jawohl, die leben noch, die alten Mühlen, außerdem lebt auch unser guter alter Hofhund noch, Stromer. Ich weiß gar nicht, wer ihm diesen Namen gegeben hat, es soll wohl mal im Fernsehen einen Hund als Vorbild dafür gegeben haben. Ich weiß nicht, um welche Sendung es sich gehandelt haben könnte, vielleicht könnt ihr mir ja mit einer kleinen Auskunft helfen. Okay, also dieser gute alte Stromer kommt gleich angefegt, als ich aussteige. Schnell ein paar gegenseitige Streicheleinheiten, dann zieht er wieder ab. Ich habe seit der großen Autolackieraktion immer ein bisschen das Gefühl, dass er etwas missbilligend auf diese bordeauxrote Farbe guckt, aber wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein. Hunde sollen doch angeblich farbenblind sein, ich habe aber auch mal gelesen, dass sie nur eine Rot-Grün-Sehschwäche haben sollen, so ähnlich wie manche Menschen. Kann ungünstig an der Ampel sein.

Kleine Erklärung zu unserem Eingangsbereich: Wir haben so eine Art durchgehenden Flur, der hat zwei Türen, eine nach vorne raus und eine nach hinten raus, zum Hofplatz. Diese Tür benutzen wir meistens, die Vordertür ist eigentlich nur dafür da, dass man von der vorderen Auffahrt ins Haus gehen kann. Vielleicht war das jetzt etwas zu kompliziert ausgedrückt, stellt euch einfach mal unser Haus von vorne vor, da ist so eine Auffahrt, dass man in einem großen Bogen wieder vom Vorderteil des Grundstücks herunterfahren kann. Vater parkt da auch manchmal seinen Heizöl-Ferrari, also diesen alten Benz in der Nutella-Farbe. Manche Besucher fahren da auch rauf, aber die meisten stellen sich doch eher auf den Hofplatz. Okay, ich komme also jetzt vom Hofplatz her und gehe durch die hintere Haustür. Zu meiner linken Seite ist auch die Gästetoilette, die ist auch erst vor einem Jahr eingebaut worden. Also in einem kleinen Anbau. Auf der anderen Seite, nach vorne raus, ist ein einigermaßen großzügiger Fahrradschuppen entstanden. Da stehen auch noch meine beiden Räder, eigentlich muss ich die auch mal nach Heide verfrachten. Aber eins nach dem anderen, so lange wohne ich ja auch noch nicht in der Turnstraße.

Hallo!, rufe ich, mit einem kleinen Schlenker über dem O.

Hallo, Heiko, höre ich aus der Küche. Aha, Mutter ist gerade dabei, die Samstagseinkäufe einzuräumen.

Sind Vater und Lasse gar nicht da?

Nee, Heiko, Vater ist mit dem alten Unimog unterwegs, Baustellen inspizieren, und Lasse ist nebenan bei Florian.

Florian ist der Sohn vom Nachbarn. Er ist ein bisschen älter als Lasse, ich glaube, er geht in die siebte, aber die beiden sind sozusagen Kumpels. Linda hätte ich jetzt natürlich auch gerne gesehen, aber die ist unterwegs, das konnte ich mir ja fast schon denken. Mit ihrem Mini. Jawohl, sie hat jetzt tatsächlich so ein Teil. Den hat sie zu ihrem achtzehnten verehrt bekommen, kurz vorher hatte sie auch ihren Führerschein gemacht. Mit gar nicht mal so vielen Fahrstunden übrigens, die Fahrbegabung muss sie von Mutter geerbt haben. Die ist ja sogar Kreismeisterin im Rückwärtseinparken. Kleine Abschweifung in Richtung Lindas Mini: Er ist keins von diesen BMW-Teilen, sondern ein echter Austin Mini Cooper, Baujahr 1988. Im Grunde genommen schon fast ein Oldtimer. Der wurde bei Autoscout24 für 2.000 Euro angeboten, von jemandem aus Bonn. Vater ist dann mit Unimog und Tieflader darunter gefahren und hat den Typen, der ihn angeboten hatte, so lange genervt, bis er ihm den Wagen für 950 Euro überlassen hatte. Fahren konnte die alte Mühle überhaupt nicht, weil da was mit der Zylinderkopfdichtung war. Außerdem war wohl die Krümmerdichtung im Eimer und die Unterdruckdose, was immer das auch sein mag. Rein optisch war der Mini aber durchaus noch okay, schwarz mit Glashebedach. Vater hat dann zu Hause in zahlreichen Sitzungen so lange an der Kiste herumgebastelt, bis wieder alles top in Ordnung war. Der hält noch hunderttausend Kilometer. Na gut, Linda hat jetzt also ein Auto, das acht Jahre älter ist als sie selbst. So was hat auch nicht jeder. Jedenfalls ist sie selig und düst mit der Karre dauernd durch die Gegend. Kann man ja auch verstehen. Jahrelang war sie auf den Bus angewiesen oder musste fragen, ob sie einer fährt, und nun ist sie zu jeder Tages- und Nachtzeit voll beweglich. Mit so einem kleinen Teil hat man ja auch weniger Parkprobleme, das ist schon ganz angenehm so. Okay, das war jetzt mein kleiner Ausflug zum Thema Linda und ihr Mini.

Und, wie war Kiel so?, fragt Mutter mich jetzt. Übersetzung: Lieber Heiko, hast du es auf die Reihe gekriegt, deine Masterarbeit abzugeben? War es nicht sowieso schon auf den letzten Drücker?

Ja, antworte ich, die Arbeit habe ich abgegeben. Hab‘ sogar ’ne Quittung mit Stempel und Datum bekommen.

Na, dann herzlichen Glückwunsch.

Gratulieren kannst du mir Ende August, hoffentlich jedenfalls. Bis dahin müssten sie die Arbeit durchgesehen haben.

Gibt es denn auch so eine Art Abschlussfeier in Kiel, wie beim Abi?

Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Aber ich schätze mal, das werde ich schon irgendwie alles zu wissen kriegen. Übrigens, schöne Grüße von Donald.

Kurze Erklärung: Donald Petersen ist mein alter Klassenkamerad, genaugenommen seit der Sexta. Er heißt wirklich so, das ist jetzt kein Spitzname oder so was in der Art. Donald studiert Psychologie in Kiel, ich weiß gar nicht, in welchem Semester er jetzt eigentlich ist. Ich glaube aber, er hat noch ungefähr ein Jahr nach bis zu seinem Diplom. Mein Gott, was sind wir alle schon weit. Gestern gingen wir noch gemeinsam zur Schule und heute sind wir schon fast alle mit der Ausbildung, dem Studium und so weiter fertig. Zum Beispiel auch Felix Mahn, der ist schon richtig ausgelernter Bankkaufmann in Wesselburen. Seit einem Jahr, meine ich. Felix habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen.

Oh, danke, sagt Mutter, während sie eine Schachtel Eier aus dem Kühlschrank holt. Aha, die Vorbereitungen für die Pfannkuchenherstellung haben begonnen. Wo hast du ihn denn getroffen oder habt ihr nur telefoniert?

Nee, er ist auf einen Sprung in unsere Mensa gekommen, einen Kaffee trinken. Da haben wir uns dann ein bisschen verquatscht. Ich hätte sonst auch bei ihm übernachten können, aber ich wollte dann doch lieber noch nach Heide. Von Kiel habe ich erstmal die Nase voll.

Zwei oder drei Pfannkuchen, Heiko?

Drei, wie immer. Wann essen wir denn? Kommen die anderen noch? Soll ich schon mal den Tisch decken?

Um eins, ja, die kommen noch, ja, aber wisch‘ lieber vorher noch mal über.

Okay, das ist ja so wie früher. Samstag ist offizieller Pfannkuchentag im Hause Timmermann, alte Familientradition seit 1447. Immer mit Apfelmus. In der Boskop-Saison frisch, ansonsten aus dem Glas. Aber das aus dem Spreewald muss es sein, das gibt es nur bei Famila. Na gut, vielleicht gibt es das doch noch woanders, aber so genau habe ich noch nicht danach geforscht.

Ich übernehme also die Vorbereitungen der Mittagsmahlzeit am Esstisch im Wohnzimmer. Das geht schnell, ich habe ja noch Routine und weiß, wo alles zu finden ist. Aus der Küche weht schon der Duft der ersten frischen Pfannkuchen herüber. Mutter nimmt sicher wieder zwei Pfannen, dann geht es schneller. Ich setze mich einfach noch mal ein bisschen auf die Couch und blättere in der Funk Uhr und auch in Vaters Bauernblatt. Für landwirtschaftlich Interessierte ist das eine durchaus erbauliche Lektüre, aber mich fasziniert das im Moment nicht so sehr.

Heiko, ein Gedeck mehr, Linda bringt noch jemanden mit, verkündet Mutter gerade.

Nanu, ich habe das gar nicht mitbekommen, dass sie angerufen hat, aber wahrscheinlich hat Linda Mutter gerade eine SMS geschickt, wir sind ja alle hochtechnisch ausgerüstet. Bis auf Lasse, zu seinem Leidwesen, der darf erst ein Handy zur Konfirmation bekommen. Angeblich haben aber alle anderen in seiner Klasse eines und er ist der krasse Außenseiter. Das nehme ich ihm aber nicht so ganz ab.

Wer kommt denn?, frage ich Mutter, aber meine Frage geht ins Leere, weil sie schon wieder in der Küche verschwunden ist. In Ordnung, also noch einen Teller, Besteck und eine von den Papierservietten aus dem Schrank. Bei uns hat alles seine Ordnung, das ist alles bis ins Kleinste geregelt, zum Beispiel auch, dass wir alle Stoffservietten haben, die werden aber erst samstags nach dem Abendbrot ausgetauscht. Gut, dann sind wir heute Mittag also sechs Personen. Wen Linda da wohl mit anschleppen wird, vielleicht ja ihre alte Freundin Maren aus Reinsbüttel, dem Nachbardorf. Maja wird es sicher nicht sein, die hat sich seit zwei Jahren hier nicht mehr blicken lassen. Ich könnte jetzt lang und breit erklären, wer überhaupt Maja ist, aber im Moment habe ich da nicht so viel Lust drauf. Vielleicht ja später mal.

Jetzt ist auf einmal großes Hallo auf dem Flur, wahrscheinlich sind gerade alle zur selben Zeit angekommen, jawohl, stimmt. Vater kommt als erster rein, der ist übrigens ziemlich groß und hat auch gewaltige Hände, aber das nur nebenbei. Hinter ihm taucht Lasse auf, den muss ich jetzt hoffentlich nicht näher beschreiben. Ich könnte höchstens noch erwähnen, dass er schon wieder ein Stück gewachsen ist, irgendwie habe ich sogar den Eindruck, dass er immer dann, wenn man ihn längere Zeit nicht gesehen hat, noch ein Stück in die Höhe geschossen ist. Na gut, in seinem Alter war das bei mir wohl auch so, da muss man sich keine Gedanken drüber machen. Hallo, Heiko, alles klar bei dir, endlich durch mit Kiel?, fragt Vater, marschiert dann aber gleich weiter in Richtung Küche. Linda schiebt da jemanden vor sich her, der mir gar nicht so unbekannt vorkommt. Das ist doch, ja klar, jetzt fällt mir sogar der Name wieder ein, das ist doch diese Nilla Tietge. Wenn man so will, könnte man sie als Klassenkameradin meiner Schwester bezeichnen oder als Kollegin, ganz nach Geschmack. Sie macht auch die Schwestern-Ausbildung in Heide. Ich habe sie vor ungefähr zwei Jahren zum letzten Mal gesehen, da hat Linda bei uns eine kleine Mädels-Party veranstaltet, da war sie auch dabei.

Hallo, Heiko.

Hallo, Nilla.

Nicht nur ich habe ihren Namen behalten, sondern offensichtlich sie auch meinen. Aber es kann genauso gut sein, dass Linda ihr das gerade noch vor der Tür gesagt hat. Egal. Kurzes Porträt von Nilla: Groß, schlank, blonde Kurzhaarfrisur, nettes Lächeln, kein Verlobungsring am Finger. Den hatte sie aber mal, da bin ich mir ganz sicher. Anscheinend sind nicht nur Verlobungen wieder modern, sondern auch Entlobungen. Was war da noch mit ihr? Ich meine, sie wohnte damals im Schwesternwohnheim, weil sie aus Schleswig kam. Komisch, dabei hat Schleswig doch ein eigenes Krankenhaus.

Wir haben uns mittlerweile nicht nur mit Worten begrüßt, sondern auch mit kurzer freundschaftlicher Umarmung, so kurz vor der Bussi-Bussi-Grenze, diese Sitte greift ja immer mehr um sich, aber so unangenehm finde ich das gar nicht. Jedenfalls nicht in diesem Fall. Es ist auch schon ziemlich lange her, seitdem mir das letzte weibliche Wesen so nahe gekommen ist. Wir fangen dann auch gleich an über alles Mögliche zu reden, wie geht’s denn so, was macht denn die Ausbildung und so weiter. Ich will jetzt aber auch nicht Linda vergessen, also wir begrüßen uns natürlich auch, sogar mit diesem Umarmungs-Kram. Alles überstanden, Heiko, wie war’s denn und so weiter.

Vielleicht noch ein kurzer Erzähl-Stopp, um ein paar Worte über meine Schwester zu verlieren: Sie ist ein prima Kumpel, mit ihr verstehe ich mich echt gut, und manchmal sitzen wir auch bei einer Flasche Wein und quatschen die halbe Nacht. Na gut, es könnte auch mal eine Flasche mehr werden. In letzter Zeit war dazu aber leider keine Gelegenheit, warum, das muss ich hoffentlich nicht alles wiederholen. Irgendwelche Bekannten von meinen Eltern sagen immer, dass Linda und ich einander so ähnlich sehen würden, das kann ich aber irgendwie nicht finden. Erstens habe ich nicht so lange Haare, zweitens bin ich mindestens einen Kopf größer und außerdem verfüge ich nicht über ihre weiblichen Rundungen. Als Bruder hat man sich natürlich mit solchen Urteilen zurückzuhalten, aber ein Außenstehender würde sicher sagen, wow, die sieht aber schon scharf aus, die Frau. Wie alt sie ist? Habe ich das nicht schon einmal erwähnt? Neunzehn. Damit ist sie auch die Jüngste unter diesen ganzen Krankenschwestern-Schülerinnen aus ihrem Kurs. Wenn mich nicht alles täuscht, ist Nilla jetzt einundzwanzig. Danach muss ich sie direkt mal fragen. Oder später Linda.

Eigentlich könnten wir uns einfach schon mal hinsetzen, aber wir stehen oder wandern gerade noch etwas im Wohnzimmer herum, als ob wir auf ein besonderes Startzeichen warten würden. Und, was habt ihr so vor?, frage ich 80 % in Richtung Linda, 20 % in Richtung Nilla. Für die Prüfung lernen natürlich, antwortet Linda. Ach ja, richtig, diese Krankenschwesternprüfung. Mein Gott, Linda ist ja auch schon bald so weit, das hatte ich gar nicht auf dem Schirm. Wann habt ihr denn noch mal Prüfung?, frage ich etwas schuldbewusst, weil ich mir sicher bin, dass meine Schwester mir das bestimmt schon mal gesagt hat. Freitag, 19. Juni!, sagen Linda und Nilla gleichzeitig. Oh Mann, sage ich, das ist ja schon in knapp zwei Wochen, dann toi, toi, toi.

Und so weiter und so fort, die Mädels erzählen mir noch ein paar Einzelheiten, also wie das Ganze genau ablaufen soll. Jedenfalls wollen sie sich gemeinsam möglichst gut darauf vorbereiten und notfalls das ganze Wochenende rund um die Uhr durchlernen. Na schön, dann werde ich sie lieber in Ruhe lassen und nicht mit irgendwelchen Vorschlägen belästigen, so was wie baden gehen vielleicht. Nein, nicht unbedingt schon in der Nordsee, die ist mir doch noch etwas zu kalt, aber eventuell in der Heider Wasserwelt oder wie das heißt. Nein, ganz korrekt ist Dithmarscher Wasserwelt in Heide, da war ich auch schon lange nicht mehr.

Jetzt kommt Mutter mit einem Riesenteller Pfannkuchen herein, gefolgt von Vater mit der Apfelmusschüssel. Zu Tisch, ihr Lieben, wo ist denn Lasse? Lasse, Händewaschen nicht vergessen. Ach ja, Händewaschen, Linda und Nilla ziehen sich zu diesem Zweck lieber auch noch mal kurz zurück. Alles angesessen, jawohl, dann kann die Jagd ja losgehen, guten Appetit, danke. Während der Mahlzeit herrscht ein ziemlich heilloses Durcheinander von mehr oder weniger interessanten Wortbeiträgen, die ich jetzt aber nicht alle unbedingt wiederholen möchte. Ich könnte aber erwähnen, dass Lasse in letzter Zeit doch etwas gesprächiger geworden ist, früher hat er kaum den Mund aufgemacht, höchstens zum Essen. Aber jetzt erzählt er, wann die Sommerferien anfangen, nämlich am 20. Juli. Ach, und was ist das denn für ein Wochentag? Montag, Heiko. Donnerwetter, der Kleine ist voll informiert.

Nilla kapituliert vor ihrem dritten Pfannkuchen, den teilen sich dann aber Vater und Lasse, man hilft ja gerne. Noch etwas Apfelmus vielleicht? Oh, die Schüssel ist bald leer. Nachtisch gibt es nicht, man hatte ja sowieso schon was Süßes.

Und, Heiko?, wendet sich Vater an mich, als gerade der gesamte Gesprächsfluss etwas abebbt.

Ja, wo soll ich anfangen, ich hab‘ gerade gestern meine Arbeit abgegeben, und jetzt habe ich endlich mal eine Woche Urlaub.

Dann berichte ich noch ein paar Details, die ihr teilweise auch schon kennt, und deshalb verschone ich euch mal damit. Vater nickt verständnisinnig und schließt dann mit der Bemerkung, dass ich mich mal ordentlich erholen soll. Bin gerade dabei, denke ich.

Mittagessen beendet, die jungen Damen dürfen sich gleich zum Lernen in Lindas Bude zurückziehen. Ich helfe Mutter in der Küche, Lasse muss auch was tun, Sachen in den Schrank stellen und den Müll rausbringen, genaugenommen das, was zum Kompost soll. Echt begeistert ist er nicht gerade, aber er beeilt sich, damit er es schnell hinter sich hat. Vater hat sich schon zu seinem geliebten Mittagsschlaf zurückgezogen, Mutter wird gleich seinem Beispiel folgen. Ich mache dann mal eine kleine Runde mit dem Hund um die Häuser, sage ich, mal gucken, ob es was Neues gibt.

Nein, wirklich beeindruckende Neuigkeiten hat Wesselburener Deichhausen an diesem frühen Nachmittag Anfang Juni nicht zu bieten. Die Natur ist sozusagen in vollem Betrieb, das sieht man schon an den Äckern und Feldern und natürlich auch an den Gärten. So sehr viele Häuser gibt es nicht hier, wir haben auch nur knapp über hundert Einwohner, aber immerhin eine Bürgermeisterin, die muss ja auch mal erwähnt werden. Das Wetter ist im Moment gar nicht so schlecht, darum wird aus der kleinen Runde mit Stromer allmählich eine etwas größere. Wir kommen an drei Höfen und vier Windrädern vorbei und gelangen schließlich nach Reinsbüttel, wo wir dann aber nach links gehen, wieder zurück Richtung Heimat. Schnell noch ein Blick auf die andere Straßenseite, wo eine Ehemalige von mir wohnt, Maren Reimers, die war früher eine Klassenkameradin von Linda und natürlich ein paar Jahre zu jung für mich, das kann man sich ja denken. Später flammte es dann wieder ganz kurz zwischen uns auf, aber wirklich nur ganz, ganz kurz. Was sie heute macht, weiß ich gar nicht, ich schätze mal, sie hat dieses Berufsbildungszentrum oder wie es heißt in Heide weiter besucht, dann könnte sie eventuell kurz vor dem Abi stehen, falls sie nicht sitzengeblieben ist. Ich weiß gar nicht mehr, wann Linda sie das letzte Mal mit nach Hause gebracht hat. Ist sie überhaupt noch mit ihr befreundet? Wahrscheinlich doch, wie ich mein Schwesterherz einschätze. Ich bin jetzt schon an dem Haus von Familie Reimers vorbei, also gesehen habe ich sie nicht, vielleicht ist sie gerade mit ihrem Gaul ausgeritten oder auf einem Turnier. Oder sie sonnt sich hinter dem Haus. Ohne Oberteil. Ach nee, dafür ist es bestimmt nicht warm genug, ich möchte jetzt auch nicht ohne T-Shirt durch die Gegend laufen. Aber mit T-Shirt hält man das ganz gut aus, da kann man nicht meckern. Stromer habe ich lieber wieder an die Leine genommen, ab und zu fährt hier doch einmal ein Auto vorbei. Die Feriensaison hat noch nicht begonnen, aber es gibt schon den einen oder anderen Touristen auf Entdeckungstour.

Ich frage mich immer, warum die Leute ausgerechnet bei uns Urlaub machen wollen, mir selbst würden dafür mindestens zehn andere Gegenden einfallen. Okay, ein Argument ist natürlich die Nordsee, und dann hört man auch immer wieder von Leuten aus dem Süden, dass die Luft hier so gut sein soll. Na schön, Smog herrscht bei uns in Dithmarschen nicht gerade, eigentlich wird immer alles Unangenehme gleich von einem meist westlichen Wind davongepustet.

Da kommt allmählich wieder der Timmermann-Hof in Sichtweite. Stromer wirft mir noch einen dankbaren Blick zu, bilde ich mir wenigstens ein, dann läuft er schon mal voraus in Richtung Hundehütte. Den dankbaren Blick könnte ich eigentlich erwidern, ich gehe auch lieber mit Hund durch die Gegend als völlig allein, da hat man wenigstens auch ab und zu mal einen Zuhörer.

Bin wieder da, lasse ich mich hören, als ich die Tür vom Flur zum Wohnzimmer aufmache. Eine Mischung aus Kaffeeduft und Geräuschen schlägt mir entgegen. Aha, der Kaffeetisch wird gerade gedeckt, das passt dann ja ganz gut. Linda und Nilla machen sich nützlich und da kommt auch schon Mutter mit dem Kaffee um die Ecke. Hallo, Heiko, na, war’s schön draußen?, fragt sie mich. Ja, sage ich, ich war ein bisschen mit Stromer unterwegs. Große Runde bis Reinsbüttel. Nee, war gut. Aber nichts Besonderes, hier ist es ja so wie immer. Kommen Vater und Lasse gar nicht? Nein, tun sie nicht, Vater ist noch beruflich unterwegs und Lasse ist mal wieder bei Florian. Na gut.

Die Mädels, also Linda und Nilla meine ich jetzt, sehen etwas mitgenommen aus von ihrer Lernerei und scheinen die Pause ganz schön nötig zu haben. Wir sagen jetzt auch nicht allzu viel, sondern beschäftigen uns eher mit der Einnahme von Kaffee und Keksen. Keine besonderen, sondern diese gemischten Kekse aus der großen Tüte, wo auch ein paar kleine Waffeln dabei sind. Wenn man Glück hat, erwischt man auch mal einen Schokokeks. Mutter quetscht mich noch ein bisschen nach Details über Kiel aus und über meine neue Wohnung, sie könnte ja auch Haus sagen, aber sie sagt Wohnung. Ich sage, dass ich mich nächste Woche mal um Möbel kümmern will, ansonsten ist aber alles Wesentliche vorhanden. Willst du nicht doch ein richtiges Telefon haben, Heiko. Wozu, ich hab‘ doch das Handy, und da habe ich so einen Tarif, dass das praktisch wie ein Festnetztelefon zu Hause ist. Ja aber, wenn der Akku leer ist, wendet Mutter ein. Wenn bei unserem schnurlosen Telefon der Akku leer ist, ist auch erstmal Pause. Na gut, das scheint sie einigermaßen zu überzeugen.

Keine große Kommunikation zwischen mir und Linda und Nilla im Augenblick, kann ich auch verstehen, mir ging das genauso, als ich noch so unter Prüfungsdampf war. Da ist man eben voll beschäftigt und hat keinen Nerv für irgendwelche Nebensächlichkeiten.

Aber mir ist eigentlich schon danach. Nach dem Kaffee ziehe ich mich ins Büro zurück, das wird im Moment nicht gebraucht, da kann ich mal in aller Ruhe ein paar Anrufe machen, ohne dass ich befürchten muss, dass mir gleich der Saft ausgeht. Mit wem will ich überhaupt reden? Das schreibe ich mir lieber erstmal auf einen kleinen Zettel: Felix, Heiner, Donald. Sonst noch jemand? Nein. Auch keine weiblichen Namen? Ebenfalls nein, ich habe ja schon mal durchblicken lassen, dass sich in der Richtung im Moment gar nichts bei mir abspielt. Also keine Maja, Heike, Maren, Mandy, Inken oder Claudia. Das ist übrigens alles schon lange her, Schnee von gestern sozusagen. Die letzte richtige feste Freundin war Heike, aber wir sind dann ganz plötzlich auseinandergegangen. So plötzlich, dass wir nicht einmal richtig offiziell Schluss gemacht haben. Ich könnte das jetzt alles erzählen, warum das so gekommen war, aber ich will die ganze Geschichte nicht unbedingt wieder aufwärmen. Letzte Bemerkung dazu: Heike habe ich seitdem nicht wiedergesehen. Punkt. Aber jetzt mal zu Felix, Heiner und Donald: Die erreiche ich tatsächlich, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Donald muss ich ja nicht erzählen, was mit mir gerade so los ist, den habe ich erst gestern noch in Kiel gesehen. Aber Felix und Heiner muss ich natürlich ein bisschen aufklären, die beiden habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr zu Gesicht gekriegt.

Ich werde das Ganze jetzt aber nicht im Maßstab eins zu eins wiedergeben, sondern nur die halbwegs wichtigen Sachen berichten, die ich von Felix Mahn und Heiner Ohlsen erfahre.

Felix erreiche ich auf seinem Handy, das habe ich mir fast schon gedacht, dass er bei dem guten Wetter irgendwie unterwegs sein könnte. Ist er aber gar nicht. Nein, er ist gerade beim Renovieren in seiner neuen Wohnung in Wesselburen. Richtig umgezogen ist er noch nicht, im Prinzip wohnt er also noch zu Hause in Hillgroven. Er will aber mit seiner Susanne demnächst zusammenziehen, vier Zimmer, Heiko, stell‘ dir das mal vor, und denn so günstig. Na gut, Wesselburen ist eben nicht Schwabing. Susanne ist übrigens gerade nach Hause gefahren, nach Schülp, die kommt aber nachher wieder und bringt noch eine Leiter mit und was zu essen. Okay, und sonst so? Ja, Felix hat ausgelernt bei seiner Volks- und Raiffeisenbank und Susanne auch gerade bei ihrer Sparkasse schräg gegenüber. Das passt dann ja. Gut, dann können die beiden demnächst wirklich eine eigene Bank aufmachen, andererseits ist es bei diesen ganzen Geschichten mit der Bankenkrise wohl nicht besonders zu empfehlen. Fazit: Felix ist also im Moment in so einer ähnlichen Situation wie ich, ich bin ja auch noch praktisch mitten im Wohnungswechsel, allerdings hat er eine Susanne und ich nicht. Wir meinen dann beide, dass wir uns unbedingt bald mal sehen müssen, aber konkrete Verabredungen treffen wir dafür dann doch nicht. Viel Spaß dann noch beim Tapetenablösen, haha. Schöne Grüße beiderseits und wir sehen uns.

Dann spreche ich mit Donald, weil ich Heiner gerade nicht erreichen kann. Donald ist zu Hause bei sich in Kiel und wundert sich etwas darüber, dass ich mich schon wieder bei ihm melde. Ob ich irgendwas bei ihm vergessen hätte oder so. Nein, ich wollte mich nur mal kurz bei dir melden, hast du ’n Moment Zeit? Doch, hat er, er wollte sowieso gerade auf den Balkon gehen, um eine zu rauchen. Richtige Neuigkeiten gibt es jetzt natürlich nicht zwischen uns, aber ich bringe die Idee rüber, dass ich nächste Woche bei Ikea in Kiel ein paar Möbelstücke erwerben möchte. Ja, ich würde dann mit dem Laster von meinem Vater kommen, wenn er mir den überlässt. Donald sagt, er könnte mir beim Aussuchen und Aufladen helfen, das finde ich ja prima. Er sagt, am besten Montag, da hat er den ganzen Tag nichts an der Uni, wie wäre es um zwölf Uhr mittags bei Ikea? Ist gut, sage ich, wenn es bei mir nichts wird, funke ich dir das noch durch. Im Prinzip bin ich jetzt voll begeistert, da habe ich also am Montag schon richtig was vor. Dann reden wir noch über eher allgemeine Themen, also zum Beispiel die Mädels. Da läuft bei Donald momentan auch nichts mehr, diese Almut aus Wesselburen, die er mal bei uns kennengelernt hat, mit der ist es aus, seit ein paar Monaten schon. Warum denn? Kann man gar nicht so genau sagen, am Anfang war ja alles noch super, aber dann fand sie es nicht so toll, dass Donald auf die Dauer nicht jedes Wochenende in Dithmarschen verbringen wollte und sie hat auch nicht seine Gründe akzeptiert, also dass er auch mal am Samstag und Sonntag was für sein Studium machen müsste. Der eigentliche Auslöser war aber wohl, dass Almut ihn an einem Sonntag in Kiel anrief, und da war gerade eine Kommilitonin von Donald bei ihm, weil sie zusammen etwas ausarbeiten mussten, und die hatte sich dann ganz unbefangen am Telefon gemeldet. Das kam bei Almut nicht so gut an. Sie hat auch Donalds Erklärungen keinen Glauben geschenkt, und dann war es eben endgültig vorüber. So besonders scheint das Donald aber gar nicht zu bedauern. Ja, sage ich noch, bei mir und Heike war das im Grunde genommen so ähnlich, die fand das auch nicht so cool, als sie Maja und Maren bei uns zu Hause gesehen hat, das waren immerhin zwei ehemalige Freundinnen von mir, und sie hat dann wohl gedacht, dass ich mit denen auch noch immer was am Laufen hätte. Wenn man es genauer betrachtet, stimmte das eigentlich auch. Ja, die Weiber, sagt Donald, dass die immer gleich so empfindlich reagieren müssen. Nochmaliges Fazit des Gesprächs: Wir sehen uns Montag bei Ikea, wenn nichts dazwischenkommt.

Ich organisiere mir noch eine letzte Tasse Kaffee, schon eher lauwarm, dann versuche ich es noch einmal bei Heiner. Noch eine kurze Erklärung: Er ist kein ehemaliger Klassenkamerad von mir wie Felix oder Donald, sondern schon ein paar Jahre älter als ich und von Beruf Polizist. Heiner wohnt in Hemmingstedt direkt über der Polizeiwache, ich glaube, so was nennt sich aber offiziell Polizeistation, diese Polizeiwache ist aber geschlossen worden. Wenn man jetzt in Hemmingstedt irgendwelche Untaten zur Anzeige bringen will, muss man nach Heide. Soweit ich es mitbekommen habe, ist Heiners ehemaliger Chef in Hemmingstedt auch ziemlich zur selben Zeit wie die Schließung der Polizeistation in Rente gegangen. Nee, in Pension, er war ja Beamter. Heiner natürlich auch, der wird dann später auch mal pensioniert werden. Also Heiner: Der müsste jetzt schon 27 sein, wenn ich da richtig mitgekommen bin. Außerdem wollte er das Abitur nachmachen, in so einem Fernkurs, aber danach kann ich ihn gleich mal fragen. Dann war da noch seine Freundin, die war doch bei der Post. Moment mal, wie hieß sie denn gleich? Monica. Monica mit C. Die war ja auch ganz nett, hoffentlich sind die beiden dann überhaupt noch zusammen. Okay, ich werde es sicher gleich hören. Da ist er auch schon. Also Heiner Ohlsen am Telefon, meine ich jetzt. Moin Heiner, Heiko hier, ja, Heiko Timmermann, wir haben ja lange nichts mehr und so weiter und so fort.

Kleiner Absatz nach der ganzen Begrüßungszeremonie: Heiner ist befördert worden, er ist jetzt Polizeiobermeister. Gratuliere. Abkürzung POM. Wenn er jetzt mit Nachnamen Fritz heißen würde, wäre er POM Fritz, haha. Nein, das Abi hat er noch nicht, aber er bleibt da dran an dem Thema, nächstes Jahr hat er Prüfung, wenn es so weiterläuft. Ja, und dann muss er mal schauen, ob er noch ein bisschen weiter an der Karriere basteln kann. Es gibt da auch bei der Polizei Fachhochschulen und ähnliche Einrichtungen, da müsste man sich natürlich bewerben und so weiter. Dann höre ich im Hintergrund die Stimme von Monica, so was wie, ach so, du telefonierst gerade. Damit hat sich dann gleich die Frage erledigt, ob er noch mit ihr zusammen ist. Ich mache das Gespräch von meiner Seite etwas kürzer, es ist ja immer ein bisschen unangenehm, wenn man weiß, dass da noch jemand fast alles mitbekommen kann. Ich finde, man kann dann nicht so entspannt vor sich hinplaudern und gar nicht auf die Zeit achten. Wir sagen dann noch sinngemäß, vielleicht sehen wir uns dann bald mal, komm‘ doch mal vorbei und so weiter. Ach so, nicht dass ich das vergessen habe, ich habe Heiner natürlich auch von meinem Häuschen in der Turnstraße erzählt und dass ich praktisch mit dem Studium fertig bin und jetzt eine Woche Urlaub habe. So, das war’s.

Mein rechtes Ohr ist vom vielen Telefonieren richtig heiß geworden, das muss ich erstmal lüften. Wie spät haben wir’s denn eigentlich? Schon kurz vor halb sieben, im Sommer kriegt man das ja nicht so mit, da könnte man um die Zeit auch denken, es ist noch Nachmittag. Im Wohnzimmer wird schon wieder der Tisch gedeckt, natürlich fürs Abendbrot, diesmal ist es aber Lasse, der die Teller verteilt. Teller, gar keine Bretter? Das kann doch nur bedeuten, dass es heute Abend was Warmes gibt. Jawohl, das ist auch so, allerdings nur teilweise: Kartoffelsalat mit Würstchen. Würstchen von Lüth in Wesselburen, die sind durchaus zu empfehlen. Den Kartoffelsalat muss Mutter schon gestern angesetzt haben, sie besteht eigentlich immer darauf, dass der einen ganzen Tag durchziehen muss, damit er so richtig aromatisch wird. Sind denn alle an Bord? Ja, die jüngeren Mädels gehen gerade die Treppe runter, Vater war bis eben noch draußen auf dem Hofplatz, Mutter kommt jetzt mit der großen Salatschüssel aus der Küche. Heiko, du kannst dich eigentlich mal um die Getränke kümmern. Klar, das tut man doch gerne. Dithmarscher Pilsener, aber in den Flaschen mit Kronenkorken, Mineralwasser, Apfelsaft.

Vater ist über die Anwesenheit von Nilla erfreut, bei uns sind ja nicht dauernd irgendwelche weiblichen Gäste. Früher war auch oft Maja hier, für die hatte er auch was übrig. Beim Essen entsteht sofort ein ohrenbetäubendes Gesprächsdurcheinander, so was bin ich gar nicht mehr richtig gewohnt. Der Kartoffelsalat ist mal wieder super lecker, Würstchen sind reichlich vorhanden, und ich greife bereits zu meinem zweiten Bier. Vater schon zum dritten, er ist bei solchen Sachen nur sehr schwer einzuholen. In einer Gesprächspause frage ich ihn, ob ich Montag den MAN haben könnte. Für Kiel, ich wollte mal einen kleinen Einkauf bei Ikea machen. Ich treff‘ mich da mit Donald, der will mir beim Aufladen helfen. Ja, Montag, das geht klar, da brauch‘ ich den nicht, aber wir müssen dann morgen die Plane aufsetzen, das ist nicht so ganz einfach, das ist schon besser, wenn man das zu zweit macht.

Falls sich einer darüber wundern sollte, dass ich mit einem richtigen Lastwagen fahren will, ich habe Führerschein Klasse CE. Früher nannte man das Klasse 2. Diesen Schein musste ich praktisch für Vater machen, damit ich mal einspringen kann, wenn Not am Mann ist. Also, ich will nur sagen, ich kann diese Fahrzeuge auch tatsächlich fahren, obwohl ich das natürlich nicht dauernd tue. Ab und zu bin ich mit unserem einen alten Unimog unterwegs gewesen, in letzter Zeit aber eher gar nicht mehr. Den kann man jedenfalls nicht mit dem normalen Führerschein fahren. Ich weiß, es gibt auch noch ein paar alte Unimogs, die man mit dem Treckerführerschein fahren kann, aber die sind auch höchstens vierzig Stundenkilometer schnell. Zurück zum Tisch und zu unseren Gesprächen: Linda und Nilla sind mit sich selbst ganz zufrieden, sie haben bisher schon viel von dem geschafft, was sie sich vorgenommen hatten. Aber nach dem Abendbrot wollen sie noch weitermachen. Mal sehen, wie weit wir kommen. Ich muss Vater noch etwas ausführlicher von meinen letzten Tagen in Kiel erzählen und vom Haus in der Turnstraße, das hat er ja noch gar nicht in seinem jetzigen Zustand gesehen. Aber dass da noch Möbel fehlen würden, das war ihm schon klar. Nimm aber bloß nicht solchen billigen Kram, der dir beim nächsten Umzug gleich wieder auseinanderfliegt. Nee, nee, da pass‘ ich schon auf.

Das Abendbrot ist beendet, es erklingen allgemeine Lobgesänge über Mutters Kartoffelsalat, das freut sie dann ja auch durchaus. Tisch abdecken, abwaschen, aufräumen, wir packen da fast alle schnell mit an. Jetzt kommt wieder die übliche Frage, was es denn heute Abend im Fernsehen gibt. Im Zweiten Champions-League-Finale, Juventus gegen FC Barcelona. Da ist Vater ziemlich heiß drauf, aber Mutter protestiert, schon wieder Fußball, Heinrich, jetzt langt es mir allmählich. Nein, Vater will es sich nicht mit seiner Frau verderben, er gibt klein bei. Es gibt doch Ohnsorg im Dritten, na schön, eigentlich sieht Vater das auch ganz gerne, dann ist der Familienfrieden ja gerettet.

Ich weiß nicht so recht, was ich jetzt tun soll, ich setze mich einfach mal im Wohnzimmer mit auf die Couch und lasse mich berieseln. Natürlich erstmal von der Tagesschau. Heute im Studio Judith Rakers. Proteste gegen den G7-Gipfel in Garmisch-Partenkirchen. Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Mal wieder schwer zu entscheiden, auf welcher Seite der Stress begonnen hat. Verletzte auf beiden Seiten, aber die Lage hat sich offensichtlich wieder beruhigt. Parteitag der Linken in Bielefeld. Nein, jetzt keine blöden Witze über Bielefeld. Worum geht es ansonsten bei den Linken? Unter welchen Vorzeichen sie sich eine Regierungsbeteiligung im Bund vorstellen könnten. Auch wenn ich nicht mit ihr übereinstimme, Sarah Wagenknecht hat schon was. Und Gregor Gysi natürlich auch. Er will sich aber erst morgen dazu äußern, ob er sich wieder um den Fraktionsvorsitz bewerben will. Diese Ungewissheit müssen wir bis dahin dann schon ertragen. Bürgerkrieg im Südsudan, mehr als zwei Millionen Menschen auf der Flucht. Papst ruft zum Dialog der Religionen auf. Evangelischer Kirchentag in Stuttgart. Pierre Brice ist im Alter von 86 Jahren gestorben, den werden viele noch als Winnetou-Darsteller kennen. Mutter wischt sich verstohlen eine Träne ab. Ein kurzer Bericht aus Berlin vor dem Champions-League-Finale, das im Olympiastadion stattfindet. Vater wischt sich verstohlen eine Träne ab. Nein, nicht wirklich, aber ich finde, das hätte jetzt ganz gut gepasst. Die Lottozahlen, das Wetter. Morgen bei uns trocken und etwas kühler, Wind aus nordwestlicher Richtung. Danke, das war’s. Ich fühle mich mal wieder ganz gut durchinformiert.

Die Berieselung geht weiter mit zwei Stücken aus dem Ohnsorg-Theater. Mutter ist begeistert, Vater hat sich mittlerweile vom Verlust seines Fußballabends erholt und sieht dem weiteren Verlauf der Dinge nicht nur gefasst ins Auge, sondern sogar mit einem gewissen Wohlwollen. Um es etwas einfacher auszudrücken, er guckt ja Ohnsorg auch ganz gerne, besonders die Wiederholungen von den uralten Stücken. Also als noch Henry Vahl, Heidi Kabel und ähnliche Kanonen am Werk waren. Bei anderen Gelegenheiten würde ich mich jetzt in die obere Etage zurückziehen, aber im Moment ist mir alles eher egal und ich bleibe einfach in meiner Couchecke sitzen. Frauen an Bord heißt das erste Stück, sogar mit einem Ausrufezeichen hinter Bord, aber das lasse ich jetzt einfach mal weg. Die Fernsehaufzeichnung aus dem Ohnsorg-Theater in Hamburg ist von 1976. Ich habe früher immer gedacht, der Name Ohnsorg sollte bedeuten, dass man dort praktisch einen Abend ohne Sorgen verbringen kann, was ja im Prinzip auch nichts Schlechtes ist. Tatsächlich ist das Theater aber nach seinem Gründer benannt worden, einem gewissen Richard Ohnsorg. Aber das kann man sicher auch woanders nachlesen.

Ein paar Worte über dieses Stück: Das ist natürlich ein Lustspiel mit drei Türen auf der Bühne und hin und wieder etwas Situationskomik. So richtig in Gang kommt es aber irgendwie doch nicht, weil dauernd irgendwelche tiefgreifenden Konflikte in der Luft hängen. Die lösen sich am Ende zwar alle auf, erfreulicherweise, aber, wie gesagt, so richtig doll ist das Ganze nicht. Heidi Kabel zieht alle Register, diese Frau hat ja eine Mimik, das grenzt schon beinahe an Körperverletzung. Ihre Tochter Heidi Mahler spielt auch mit. Es ist schon merkwürdig, dass Mutter und Tochter denselben Vornamen haben, aber verschiedene Nachnamen. Normalerweise ist das ja genau andersherum. Ach so, worum geht es eigentlich in dem Stück? Eine Tochter aus gutem Hause heiratet gegen den Willen ihrer Eltern den Kapitän eines kleinen Küstenmotorschiffs, sie haben auch schon ein Kind, dann kommen ihre Eltern doch plötzlich einmal zu Besuch. Dabei stellen sie fest, dass ihr Schwiegersohn gar nicht mal so verkehrt ist, aber ihre eigene Tochter nicht einmal den kleinen Haushalt im Griff hat. Und so weiter. Wirkt alles sehr altmodisch. Obwohl, dass die Eltern etwas gegen den möglichen Schwiegersohn haben, so was gibt es auch noch heutzutage. Das habe ich praktisch selbst erlebt bei Mandy aus Ostrohe und mir. Ihre Eltern wollten auch nicht, dass ich irgendwas mit ihr zu tun habe oder sie mit mir. Das war eine ziemlich verfahrene Situation, ich habe dann einfach eine Beziehungspause vorgeschlagen, die ich dann aber selbst nicht eingehalten habe. Will sagen, ich habe dann eben ganz einfach eine andere kennengelernt und das flog dann auf. Okay, diese Geschichte erzähle ich möglicherweise jedes Mal etwas anders.

So, mittlerweile ist das erste Ohnsorg-Stück abgearbeitet, die Getränke sind freigegeben. Als ich gerade mit Wein und Mineralwasser aus dem Hauswirtschaftsraum zurückkomme, stelle ich fest, dass Linda und Nilla aus ihrer Studierstube heruntergekommen sind und ebenfalls im Wohnzimmer vor Anker gegangen sind. Also noch zwei Gläser. Ich hole auch lieber gleich noch eine zweite Flasche Wein. Was gibt’s denn Schönes aus den elterlichen Beständen? Cabernet Sauvignon, aber aus Kalifornien, den hat Mutter wahrscheinlich bei Famila in Heide gekauft. Ich weiß nicht recht, Wein von so weit her muss ich nicht unbedingt haben, wo Europa doch voller Weinberge steckt. Aber egal, schmecken tut das Zeug, da kann man nichts sagen. Prost, Timmermanns plus Nilla. Wo ist eigentlich Lasse? In seinem Zimmer. Er spielt immer noch mit Siku-Autos, man glaubt es kaum. In seinem Alter müsste man doch eigentlich vor der Playstation sitzen oder stundenlang vor sich hin onanieren.

Das zweite Ohnsorg-Stück hat schon längst angefangen, Linda und Nilla wollen das tatsächlich mitsehen, das zeigt mir, wie geistig kaputt sie nach ihrer ganzen Lernerei sein müssen. Die Queen von Quekenbüttel ist immerhin schon von 2006, dann dürfte es ja nicht mehr so total unmodern sein. Die Handlung in einem Satz: Steinreiche Fabrikantenwitwe sponsert Kirche und Gemeinde und versucht damit ihren etwas dösigen Sohn als zukünftigen Bürgermeister zu positionieren, was ihr aufgrund widriger Umstände aber größtenteils nicht gelingt. Naja, das Stück ist auch nicht der absolute Brüller, aber doch ganz amüsant, das muss ich schon zugeben. Der Wein, wie gesagt, ist auch nicht schlecht. Trotzdem halte ich nicht bis zum Ende durch, weil mir dauernd die Augen zufallen. Zunächst abwechselnd das linke und rechte Auge einzeln, dann beide gemeinsam. Ich stehe mühsam auf und mache mich auf in Richtung Bett. Gute Nacht allerseits, Nacht, Heiko.