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In 'Einer vom Hause Lesa' erzählt Johanna Spyri die Geschichte von William, einem jungen Mann aus der Schweiz, der aufgrund eines Erbstreits sein Zuhause verlassen muss und in der Ferne sein Glück sucht. Der Roman ist in einem einfachen und zugänglichen Stil geschrieben, typisch für Spyris Werke, die für ihre detaillierte Beschreibung der Alpenlandschaft und der menschlichen Emotionen bekannt sind. Die Erzählung spielt im späten 19. Jahrhundert und zeigt die sozialen und politischen Konflikte, mit denen die Charaktere konfrontiert sind. 'Einer vom Hause Lesa' reflektiert auch Spyris Interesse an Fragen von Familie, Heimat und Identität.
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Seitenzahl: 310
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Books
Am grünen Abhang über dem Dorfs Leuk leuchtete die Junisonne auf das frische Gras, das weithin die Höhe bedeckte und die Luft mit Wohlgeruch erfüllte. Bei dem vereinzelt siehenden Haus am Wege, der den Berg hinan den Bädern von Leuk zuführt, standen zwei Frauen, die ihr Gespräch in so emsiger Weise führten, als könnten sie kaum mit allem fertig werden, was noch gesagt sein mußte.
»Das kann ich dir sagen, Marianne«, fuhr diejenige der beiden fort, die am meisten mitzuteilen hatte, »wenn du ein paar Zimmer einrichten könntest wie ich, so würdest du bald den Gewinn davon einsehen. Gäste bekämest du schon. Es kommen viele, die mit Leuten zusammenhängen, die oben in den Bädern sind, die aber nicht dort oben wohnen wollen oder nicht sollen, wie die drei, die ich nun habe. Freilich, du wohnst ein wenig weit unten, die Leute sind im Sommer lieber auf halber Höhe wie hier, als unten auf dem Talboden. Wenn du nur so wohntest wie die dort drüben, die haben den besten Platz an der Halde und noch die schönsten Wiesen dazu. Aber die schönsten Leute sind sie nicht«, schloß die Frau mit wenig freundlichen Blicken auf das Haus hinüber, das eine Strecke weiter oben abseits vom Wege stand. »Der Hochmut frißt sie fast, ihn nicht so arg, aber die Frau, die solltest du sehen!«
»Worin sieht man es denn, daß sie so hochmütig ist?« fragte Marianne.
»Worin? Frag du lieber, worin sieht man's nicht«, entgegnete Madlene schnell, »in allem sieht man es. Am Gehen und am Stehen und am hoffärtigen Aussehen, so, als wäre es immer Sonntag für sie. Und die Kinder sind schon gerade wie sie, natürlich, sie hat sie so erzogen. Der Bub hat sein schwarzes Haar immer so gekräuselt, als ging es auf die Kirchweih, und das Kleine streckt sein Näschen immer so in die Luft hinaus, als wollte es jedem sagen: »»Jetzt komm ich««.«
»Wenn dem Kleinen die Nase einmal so in die Luft hinausgewachsen ist, so kann es ja nichts dafür«, meinte Marianne, »und der Bub ist eigentlich an seinem Kraushaar auch nicht schuld. Grüßt dich denn die Frau nicht, wenn du sie antriffst?«
»Doch freilich, das tut sie schon, das wollte ich ihr nicht raten, den Hochmut soweit zu treiben«, sagte Madlene in drohendem Ton; »aber wenn du meinst, sie stehe ein einziges Mal nur eine Minute stille, wenn man ihr begegnet, und sage etwa ein paar Worte, wie man doch mit seinen Nachbarn zu tun pflegt, so bist du im Irrtum. Und fängt man einmal mit ihr an, so gibt sie eine kurze Antwort und läuft gleich davon, als wäre man nicht ihresgleichen. Die kann aber warten, bis ich wieder ein Gespräch mit ihr anfange.«
Marianne hatte unterdessen nach dem bezeichneten Hause hinübergeblickt und sagte ganz verwundert: »Wie ist denn das? Solange ich denken kann, stand dort oben ein altes graues Haus, an dem nie ein Fenster offen war, und alle Scheiben waren vom Alter grau und undurchsichtig, es sah aus wie ein Räubernest. Und jetzt ist ein schneeweißes Haus dort, und alle Fenster glitzern in der Sonne; das kann doch nicht das gleiche sein.«
»Freilich ist es das; da kannst du recht sehen, wie sie der Hochmut sticht«, erwiderte Madlene eifrig. »Da hat der Bauer Lesa mehr als fünfzig Jahre mit seiner alten Wirtschafterin in dem Hause gewohnt und hat die ganze Zeit nicht einen Nagel am Hause anders eingeschlagen; alles war ihm recht und gut, so wie es schon beim Vater und Großvater gewesen war. Kaum hatte er die Augen zugemacht, so kam der Erbe mit seiner Frau über die Gemmi herüber, und es ging an ein Abreißen und Aufmauern und Fegen und Putzen und Aufrüsten, daß man hätte meinen können, es sei ein Landvogt eingezogen. Natürlich kam die ganze Geschichte von der Frau her, der nichts gut genug war, was die Alten in Ehren gehalten hatten.«
»Ich meine aber doch, wenn der letzte Besitzer fünfzig Jahre lang keinen Nagel am Haus eingeschlagen hat und alles so ließ, wie er es von seinem Vater und Großvater übernommen hatte, so wird's wohl nicht unnötig gewesen sein, ein wenig zu putzen und zu räumen«, sagte Marianne; »schön sah das alte Haus nicht aus, jetzt hat's ein anderes Aussehen, das muß ich sagen! Aber warum sagst du, daß der Erbe über die Gemmi gekommen sei, sind denn die Lesa nicht aus unserem Land?«
»Ja, das waren sie schon von Anfang an, du kannst auch durchs Tal hinauf immer wieder einen finden, der Lesa heißt«, erwiderte Madlene. »Aber einer soll drüben über der Gemmi geheiratet haben und dann bei der Frau auf Berner oder Freiburger Boden geblieben sein. Das weiß ich aber nur vom Hörensagen, es ist mehr als hundert Jahre her seitdem, mehr als zweihundert. Als nun der alte Lesa droben tot war, hat es sich gezeigt, daß seine nächsten Verwandten gerade die waren, die dort drüben lebten, und so ist denn der Vinzenz Lesa mit seiner Frau und den zwei Kindern eingerückt; es sind jetzt, denk ich, so zwei Jahre her. Man sagt, sie hätten drüben auch ein schönes Haus und viele Kühe; denn dort sei gutes Grasland und ein schöner Viehschlag. Ein Bruder von Vinzenz sei auf dem Gut, hab ich gehört; ob dieser später auch wieder dorthin zurückkehrt, wenn er alles hier in die Höhe gebracht hat, daß er es gut verkaufen kann, das weiß man nicht, er sagt auch nicht viel.«
»Potztausend, ich muß gehen«, rief Marianne erschrocken aus, als jetzt vom Dorf herauf eine Glocke erschallte. »Ich muß in die Bäder hinauf, und zu spät darf ich auch nicht heimkommen; der Mann will sein Abendessen, und die Kinder warten auch nicht gern. Wo ist denn die alte Wirtschafterin von dem Lesa dort oben hingekommen?«
»Die starb ganz kurze Zeit nach ihm«, berichtete Madlene; »die hatte alle fünfzig Jahre bei ihm zugebracht und war weit über siebzig, die konnte nichts Neues mehr aufnehmen, sie war seine Base. Sieh, sieh«, fuhr Madlene lebhafter fort, »dort kommen sie gerade über die Wiese her. Jetzt kannst du die Frau vom Lesa selbst sehen und ihre aufgeputzten Kinder dazu; wart noch, bis sie kommt.«
Marianne ließ sich nicht lange bitten, noch zu bleiben, sie war sehr begierig darauf, die eben besprochenen Personen zu sehen.
Nun kamen sie näher.
Die Kinder mußten der Mutter vieles mitzuteilen haben. Von beiden Seiten redeten sie beständig und so lebhaft auf sie ein, daß man hätte denken müssen, sie könne weder Ohr noch Auge für irgend etwas anderes mehr haben. Sobald sie aber dem Hause nahe war, wo die zwei Frauen sich ein wenig in den offenen Hausgang zurückgezogen hatten, grüßte sie freundlich. Augenblicklich riß der Junge seine Mütze vom Kopf, und das Mädchen rief mit heller Stimme: »Gott grüß Euch!« Sowie sie einige Schritte weiter gegangen waren, fing die lebhafte Unterhaltung von neuem an.
»Die sehen gut aus«, sagte jetzt Marianne und schaute mit Wohlgefallen den dreien nach. »Da seh ich gar keine Hoffart, Madlene; aber sauber und ordentlich sehen die Kinder aus wie wenige und die Mutter dazu. Der steht auch alles so gut an, mich nimmt nur wunder, wie sie's macht. Sie trug nichts anderes, als was wir auch tragen; aber es sah an ihr ganz anders aus. Und dem Buben fiel das schwarze Lockenhaar so schön unter der Mütze hervor, und das Kleine mit dem Luftstechernäschen hat seine braunen Zöpfe so schön ordentlich um den Kopf gebunden und sieht überhaupt flink und lustig aus wie ein Vögelein.«
»Weißt du noch mehr zu erzählen?« fragte Madlene etwas ärgerlich.
»Ja, du hast recht, ich täte besser, meiner Wege zu gehen, als so viel Unnützes zu reden«, sagte Marianne, sich zum Gehen anschickend. »Es macht einem eben große Freude, wenn man einmal wieder Leute sieht, die ihre Kinder in Zucht und Ordnung halten und etwas Rechtes aus ihnen machen wollen. Man sieht soviel andere und meint dann manchmal, es sei nicht mehr möglich, seine Kinder zum Guten zu halten. Die Frau hat mir recht Lust gemacht, es nachzumachen, soviel ich kann, daß meine Kinder auch so ordentlich aussehen und so artig grüßen. Nun will ich gehen. Nichts für ungut, leb wohl, Madlene.«
Jetzt führte Marianne ihr Vorhaben wirklich aus und lief eilig den Wiesen entlang der Höhe zu.
Unterdessen stieg Frau Lesa mit ihren Kindern den Berg hinan. Die Unterhaltung ging ununterbrochen weiter, einmal von der einen Seite der Mutter, einmal von der anderen, und manchmal auch von beiden Seiten zugleich.
»Du kannst es glauben, Mutter«, fuhr eben jetzt der Junge in seiner Mitteilung fort, »das Kind ist nicht viel größer als Stefeli, und denk nur, es stand vor der Haustür, als wir gestern abend am Haus der Frau Troll vorbeigingen, und dann lief es hinein, und auf einmal klang es aus dem offenen Fenster so schön wie ein Lied. Der Bruder saß noch draußen mit einem Buch, und ich fragte: ›Was klingt so schön?‹ Er sagte: ›Alida spielt Klavier.‹ Denk doch, so ein kleines Kind! Ich hätte gern noch zugehört; aber ich dachte, ich dürfe nicht; Stefeli sagte, wir müßten heim, es sei spät.«
»Ja, das war es auch«, bestätigte Stefeli. »Ich wäre auch noch gern dort geblieben; aber wir mußten heim, der Vater saß ja schon am Tisch, als wir kamen. Ich habe auch noch gehört, daß der Bub Hugo heißt, und ein krummes Fräulein ist auch noch da; denn die Alida hat zu dem Bruder gesagt: ›Nun muß ich hinein, sonst holt mich das Fräulein noch selbst hinein, und es geht ganz krumm‹.«
»Nein, nein, Stefeli, das war nun wohl nicht so gemeint«, sagte die Mutter, »das Fräulein wird wohl nicht krumm sein, sondern daß es mit Alida krumm gehen könnte, wenn sie nicht gehorchte, war die Meinung. Sind denn die Eltern der Kinder nicht mit ihnen da?«
»Nein, ich glaub es nicht, ich weiß es aber doch nicht. Was meinst du, Vinzi?« fragte Stefeli, sich an den Bruder wendend.
Er gab keine Antwort.
»Was starrst du so in die Ferne und gibst keine Antwort?« fragte jetzt die Mutter
»Hör, hör, Mutter!« sagte Vinzi leise, »hörst du, wie schön es klingt?«
Die Mutter stand still. Aus der Ferne trug der Wind die Klänge einer Abendglocke vom Tal herauf; leise verklangen sie über den Höhen, und wieder lauter stiegen sie aus der Tiefe empor. Der Wind mußte heute besonders nach dieser Seite wehen, daß man sie so deutlich hörte. Jetzt waren die Töne verklungen.
Halb in Sorge, halb in fragender Verwunderung hatten die Blicke der Mutter auf ihrem Buben geruht, während er in tiefes Lauschen versunken stand. Noch blieb sie still; denn noch rührte Vinzi sich nicht, und es war, als lausche er immer noch mit der größten Spannung in die Ferne, obschon kein Ton mehr zu hören war.
»Vinzi, kannst du jetzt wieder verstehen, was man sagt?« fragte Stefeli, das über die Weise des Bruders gar nicht verwundert schien.
»Ja«, antwortete er, wie aus einem Traum erwachend.
»Ist das Fräulein krumm, das bei der Alida und dem Hugo ist?« fragte Stefeli jetzt angelegentlich; es mußte offenbar über den Punkt Gewißheit haben.
»Ja, vielleicht«, sagte der Bruder, noch wie ein wenig abwesend. Aber solche Ungewißheit konnte Stefeli nicht ertragen.
»Wenn sie nicht krumm ist, dann ist sie gerade, aber nicht vielleicht«, warf es ein wenig erzürnt hin. »Jetzt wollen wir gleich noch einmal zum Haus der Frau Troll hinabgehen, dann können wir selbst sehen, wie das Fräulein ist, gelt Mutter, wir dürfen?«
»Nein, deswegen gehen wir nun nicht zu dem Haus zurück«, erwiderte die Mutter; »aber es ist Zeit umzukehren, sonst kommt der Vater früher heim als wir, das darf nicht sein. Am besten ist es, wir gehen denselben Weg zurück, es ist der kürzeste; aber du mußt nicht denken, daß wir dann vor dem Hause der Frau Troll stillstehen, Stefeli, und warten, ob wir ihre Hausbewohner sehen können.«
»Sie sitzen vielleicht vor dem Haus«, sagte Stefeli, seine Absicht im stillen festhaltend.
Nun die Mutter die Rückkehr antrat, rannte es voraus, um recht bald das Haus zu erblicken und zu entdecken, ob jemand davor sitze. Nicht nur um der Frage willen, die zu erledigen war, sondern noch mehr, weil Stefeli gar so gerne die zwei fremden Kinder wieder gesehen hätte, die in dem Hause eingezogen waren und die es am Abend vorher bei der Heimkehr mit Vinzi vor dem Hause der Frau Troll erblickt hatte.
Vinzi wanderte still neben der Mutter her. Er war nicht mehr so gesprächig wie im Hinaufsteigen. Die Mutter war an diesen Wechsel bei ihrem Buben gewöhnt.
»Sag mir, Vinzi«, fragte sie jetzt, »warum hast du immer noch so hingehorcht, als die Glockentöne schon lange verklungen waren?«
»Oh, ich habe sie immer noch gehört«, entgegnete Vinzi, »und dann auf einmal sang es von all den Hügeln nieder, so lieblich, und aus den schwarzen Tannen droben tönte ganz tief der Baß herab, und zwischendurch sang wieder die Glocke ein schönes, helles Lied, oh, so schön, wenn ich dies nur singen könnte!«
»War es nicht ein Lied, das du schon singen gehört hattest?« fragte die Mutter, in großer Teilnahme nach einem rechten Verständnis suchend, »wenn du mir etwas davon vorsingen könntest, fände ich vielleicht das Lied genau und könnte dir die Worte sagen.«
»Nein, nein«, wehrte Vinzi, »es ist gar kein Lied, das ich habe singen hören, es hat keine Worte, es waren ganz neue Weisen, die ich noch nicht kannte. Ich höre sie noch; aber ich kann sie nicht nachsingen.«
Die Mutter schwieg nachdenklich stille, sie konnte nicht recht verstehen, was in ihrem Vinzi vorging. Auch sie hatte an Musik und Gesang von jeher große Freude gehabt. Sie hatte mit ihren Kindern gesungen, sobald sie nur stammeln konnten, und jeden Abend war ihr das liebste, mit den Kindern noch ein Lied zu singen. Das war auch, was der Junge vor allem gern mochte.
»Komm, Vinzi, wir wollen ein Lied zusammen singen«, sagte sie jetzt, »das wird uns beide fröhlich machen. Was wollen wir singen? Zu welchem Lied hast du Lust?«
»Ich weiß nicht; wenn ich nur singen könnte, was ich noch in den Ohren habe«, entgegnete er.
»Du meinst vielleicht nur, du habest so etwas in den Ohren; sing nur einmal frisch heraus, dann freut's dich selbst«, sagte die Mutter und begann mit heller Stimme nun ein Lied zu singen, das Vinzi wohl kannte.
Er zauderte erst noch ein wenig; aber die bekannten Klänge zogen ihn bald mit. Nun fiel er mit sicherer Stimme ein und sang das Lied mit der Mutter zu Ende, so wie sie's gern hörte. Noch bevor sie das Saus der Frau Troll erreichten, war der Gesang zu Ende gekommen. Jetzt stürzte Stefeli plötzlich hinter einem Baum hervor. Es hatte dort von dem verborgenen Platz aus die fremden Kinder betrachtet, die vor dem Hause saßen, jedes mit einem Buch in der Hand. Es war aber dem Stefeli nicht entgangen, daß Alida gar nicht viel in ihr Buch sah, sondern den Kopf nach allen Seiten drehte, um zu sehen, was etwa vorging. Stefeli wäre gar zu gern hingerannt und gätte ein wenig Freundschaft mit Alida geschlossen. Aber nun war das Fräulein herausgekommen und war gar nicht krumm, sondern so gerade und aufrecht, daß Stefeli von einer großen Scheu ergriffen wurde und sich mehr und mehr hinter dem Baum verbarg, um ja nicht entdeckt zu werden. Das hatte Stefeli alles eilig den Ankommenden berichtet, und nun war es sehr froh, mit der Mutter und Vinzi weiterwandern zu können; denn nun führte der Weg gleich ganz nah an dem Hause vorüber. Da wollte es sehr gern hinkommen, aber lieber in Begleitung von Mutter und Bruder; denn das Fräulein saß noch dort. Als sie dem Hause nahe waren, schauten die Kinder sich gegenseitig sehr forschend an; denn alle vier waren begierig zu sehen, wie die anderen aussahen.
»Es sind die Kinder von gestern«, sagte Alida halblaut, »ich möchte hinübergehen und Bekanntschaft mit ihnen machen.«
»Nein, das tust du nicht, Alida, wir wissen nicht, wer sie sind«, entgegnete rasch das Fräulein.
Obgleich auch diese Worte nur halblaut gesprochen wurden, konnten die Vorübergehenden sie doch verstehen.
»Sie will nicht, daß Alida mit uns rede, hast du's gehört, Mutter?« sagte Stefeli, als sie eine Strecke weitergegangen waren.
»Jawohl«, erwiderte die Mutter, »es ist recht, daß du nicht hingelaufen bist, du mußt es nie tun, Stefeli, hörst du?«
»Ja, aber so kommen wir ja gar nie zusammen, und Alida wollte es doch auch gern«, sagte Stefeli ein wenig aufrührerisch.
»Siehst du, Stefeli, das Fräulein muß vielleicht die zwei Kinder erziehen; da hat sie alles zu verantworten, was sie tun und treiben und mit wem sie zusammenkommen, weil sie von anderen Kindern allerlei hören und annehmen können, was sie nicht sollen«, sagte die Mutter erklärend. »Vielleicht treibt es diese Alida ein wenig wie du, Stefeli, daß sie ihr Näschen gern in jede Öffnung stecken und durch jede Hecke gucken möchte; so muß ihr das Fräulein schon ein wenig aufpassen und acht geben, mit wem sie Bekanntschaft machen will.«
Jetzt hatte Stefeli erst recht Lust, mit Alida zusammenzukommen und ein wenig Freundschaft mit ihr zu schließen.
»Dort geht der Vater«, sagte Vinzi, »wenn wir mit ihm daheim sein wollen, müssen wir schneller gehen.«
Das hatte die Mutter auch im Sinn. Sie beschleunigte ihren Schritt, und nur eine kleine Strecke von ihrem Kaufe entfernt trafen die drei mit dem Vater zusammen, und bald saß die kleine Familie beim Abendessen um den viereckigen Tisch in der geräumigen Stube.
Am Tisch ging es still zu. Die Kinder wußten, daß sie da zu schweigen hatten; die Eltern sprachen auch nicht viel. Sowie die Kinder fertig waren, fragte Vinzi: »Dürfen wir hinaus?« Es wurde erlaubt, und sie rannten in aller Eile der Scheune zu. Da drinnen und ringsum draußen gab's eine Menge Winkel und Ecken, wo man sich herrlich verstecken und verkriechen konnte.
Der Juniabend war hell und warm. Vinzenz Lesa hatte sich nun gemächlich vom Tisch erhoben; er ging hinaus, zündete sein Pfeischen an und setzte sich auf die Bank vor dem Kaufe. Bald nachher kam die Frau heraus und setzte sich neben ihn. Nun wurde er gesprächig. Er erzählte von seinem heutigen Besuch bei einem Bekannten unten im Tal und wie er dessen Wiesen und Felder und seinen Viehstand besichtigt habe und dann im stillen immer seine eigene Besitzung damit habe vergleichen müssen. Als sie dann alles gründlich miteinander durchgesehen hatten, habe er zu sich selbst sagen müssen: »Vinzenz Lesa, dir ist ein schönes Erbteil zugefallen.«
»Ja, wir haben zu danken, und wir wollen es auch tun, Vinzenz«, setzte hier die Frau ein.
»Ja, das ist schon recht«, fuhr der Mann fort; »aber wenn ich mich daran freuen will und recht mit Lust ausdenken, wie ich das schöne Heimwesen noch ausdehnen und auch den Viehstand noch vergrößern könnte, dann ist's gerade, als würfe mir auf einmal einer einen Bengel (Knüppel) zwischen die Füße, daß ich keinen Schritt mehr weiter kann. Das ist der Bub, der Vinzi, der mir in den Sinn kommt. Für wen wollte ich denn das alles tun als für ihn? Und was ist das für ein Bub? Keine Augen hat er im Kopf! Keine Freude, keine Teilnahme zeigt er, wenn er auch die schönsten Kühe, die weit und breit zu finden sind, auf die Weide führen kann. Sag ich zu ihm: ›Sieh doch, was diese Wiese für ein prächtiges Futter gibt!‹, dann sagt er >ja< und schaut in die Weite, daß man sieht, er hat weder zugehört, noch hat er die Wiese angesehen, auf der er steht. Ich glaube, der ist aus der Art geschlagen.«
»Nein, nein, Vinzenz, das ist denn doch zuviel gesagt«, warf jetzt die Frau lebhaft ein. »Wenn der Vinzi auch etwa nicht zugehört hat und seine Gedanken anderswo sind und auch noch nicht die rechte Freude an der Landwirtschaft hat, die er haben sollte, so hat er doch noch nichts Schlimmes angestellt, das kannst du nicht sagen.«
»Das sag ich ja nicht«, fuhr der Mann fort; »aber das sag ich: Was fehlgeschlagen ist, das ist fehlgeschlagen, und wenn ein Bub keine Empfindung hat für Wiesen und Felder, wie wir sie haben, für Kühe, wie sie in meinem Stalle stehen, und für alles, was zu dem erlesenen Heimwesen gehört, so ist er aus der Art geschlagen, und wie dem zu helfen ist, weiß ich nicht.«
»Es kann ihm ja auch von selbst noch anders kommen, er ist doch noch jung«, sagte seine Frau beschwichtigend, obschob ihre heimliche Sorge um den Buben auf dem heutigen Gang wieder schwerer geworden war. Es war ja etwas Unverständliches an dem Buben. Sie wußte es wohl, und daß er immer wie anderswo war, als da, wo er sein sollte, kannte die Mutter am besten. Sie fand jetzt für gut, die Gedanken ihres Mannes auf eine andere Seite zu lenken, und erzählte ihm, wie sie heute im Vorübergehen bei der Frau Troll Leute gesehen, die für den Sommer die oberen Zimmer bei ihr gemietet haben. Es seien zwei so nette Kinder dabei, daß sie habe denken müssen, solche Kinder nähme sie auch gerne ins Haus. Sie könnten auch so etwas gut einrichten, das Haus wäre groß genug, und ein paar Zimmer könnte sie wohl so herrichten, daß man sie anbieten dürfte.
»Man weiß doch gewiß nie, wenn du über Nacht etwas erfindest, daß man in seinem eigenen Kaufe nicht mehr sicher ist«, sagte der Mann halb im Ärger, halb im Schrecken. »Wir haben ja eigene Kinder, warum sollten wir anderen Leuten ihre Kinder abnehmen?«
»Aber wenn sie so nett sind wie diese und wohl erzogen, dann könnten unsere Kinder doch nur Gutes von ihnen lemen«, entgegnete die Frau, »wir sehen ja unsere Kinder auch lieber, wenn sie sauber sind und sich manierlich betragen, als wenn sie wie die Ferkelchen herumstolpern und grobe Worte reden.«
»Ach was, Kinder tun alle ungebärdig, und wenn es bös kommen will, so kann man ihnen den Meister zeigen; aber ich weiß schon, wohin du zielst; laß es nur sein, es hilft dir nicht«, sagte der Bauer abwehrend. »Ich will nichts Fremdes im Haus haben, ich will für mich sein, und mit diesen fremden Herrenleuten brauchen die Kinder auch nichts zu tun zu haben, du mußt sie nicht dort hinübergehen lassen, sonst wird das Stefeli auch noch verdorben, wie es her Bub schon ist. Jetzt ist es noch ganz anders als der. Es läuft den Kühen nach und streichelt sie wie Freundinnen, und das junge Rind läuft wiederum ihm nach und frißt dem Kind aus der Kand und reibt den Kopf an ihm wie an einem Kameraden. Und sagt man etwas, so paßt das Kind auf und ist bei der Sache, und sieht auch mit eigenen Augen, wo etwas fehlt, im Stall oder in der Scheune, und weiß genau, was sein muß. Der Bub nie, der sieht nichts und weiß nichts. Wenn ich die zwei vertauschen, das Mädle zum Buben und den' Buben zum Mädle machen könnte, dann wär's etwas anderes. Aber wenn's doch einmal so sein muß, so will ich doch das Kind nicht auch noch angesteckt haben.«
»Man könnte meinen, das Gut-gezogen-sein sei eine böse Krankheit, Vinzenz«, sagte die Frau mit Nuhe. »Du mußt aber keine Sorge haben; ich habe drüben ein Fräulein gesehen, das die Kinder hütet, und es sorgt schon dafiir, daß diese Kinder den unseren nicht zu nahe kommen. Jetzt wird's aber Zeit sein hineinzugehen.«
Sie rief nach den Kindern, sie sollten kommen, ihr Abendlied zu singen. So wie sie da waren, stimmte die Mutter ein, und beide sangen gleich mit heller, sicherer Stimme mit. Sie kannten das Lied wohl, und für die Töne der Musik mußten beide ein gutes Ohr haben. Sie hatten als ganz kleine Kinder schon die Lieder der Mutter alsbald richtig nachgesungen. Wie nun das Lied so schön durch die friedliche Abendstille klang, da kehrte auch dem Vater Vinzenz die gewohnte Ruhe zurück, nachdem er durch seine eigenen Gedanken und Befürchtungen in ungewohnter Weise in Aufregung geraten war.
In den Sommermonaten war der Schulunterricht aufgehoben. Da gab es so vielerlei in Feld und Wiesen zu tun, wobei die Kinder mithelfen konnten, daß erst im Spätherbst die Pflichten der Schule wieder aufgenommen werden konnten.
Am Montagmorgen in aller Frühe, als die Sonne erst die Spitzen der Berge gerötet hatte, aber noch nicht über die waldige Höhe emporgestiegen war, stürzte Stefeli schon sauber gewaschen und angezogen in Vinzis Kammer und fand ihn noch in tiefem Schlafe liegend.
»Vinzi, schnell, wach auf«, schrie es ihn an, »der Knecht hat schon die Kühe zur Tränke geführt, und der Vater hat gesagt, sobald wir mit dem Morgenessen fertig sind, müssen wir dem Knecht nach auf die Weide hinaus, daß er zur Arbeit zurückkommen kann. Dann müssen wir den ganzen Tag die Kühe hüten, und auch zum Mittagessen dürfen wir nicht fort, weil es von der oberen Weide zu weit ist; wir essen dann draußen, das ist dann recht lustig; mach nur schnell!«
Vinzi war unterdessen erwacht und schaute nun mit seinen großen, dunkeln Augen wie halb im Traum nach seiner Schwester hin.
»Oh, es hat mir etwas so Schönes geträumt«, sagte er jetzt, »ich bin mit der Mutter in Sitten gewesen, weißt du, einmal war ich im letzten Jahr mit ihr dort. Wir waren dann in einer Kirche. Jetzt träumte mir ganz so, wie es damals war. Da oben war eine Orgel, die klang, man kann gar nicht sagen, wie schön. Weißt du, wie eine Orgel ist?«
»Mach doch schnell, Vinzi, und komm, wir können jetzt nicht von einer Orgel reden«, sagte Stefeli drängend, »der Vater sitzt schon am Tisch, und die Mutter hat den Kaffee hineingetragen, und wenn der Vater bös wird, daß wir nicht kommen, so ist es nicht mehr lustig; mach doch schnell!« Jetzt lief Stefeli davon.
Vinzi hatte die Wahrheit von Stefelis Worten erkannt und war aus dem Bett gesprungen. Rasch folgte nun eins aufs andere, was sein mußte, und in wirklich kurzer Zeit trat er zum Ausgang fertig in die Stube. Hier hatte er auch schon seinen bereitstehenden Milchkaffee hinuntergeschluckt und sein Brot in die Tasche gesteckt, bevor noch eins von den drei anderen sein Frühstück nur halb beendet hatte. Der Vater schaute auf den Buben, als dächte er bei sich: »Er kann doch noch recht flink sein, wenn er bei der Sache ist, vielleicht kommt er doch noch zurecht.« Die Mutter hatte das Mittagessen für die Kinder schön in einen kleinen Korb gepackt und hing diesen jetzt dem Vinzi um die Schultern, und Stefeli hüpfte heran, den kleinen Strohhut auf dem Kopf und das Rütlein in der Hand, das ihm der Vinzi schon zurechtgeschnitten hatte, das es aber nicht zum Schlagen der werdenden Kühe, nur zu ihrer Ermunterung gebrauchte. Nun ging's hinaus; Vater und Mutter gingen auch noch mit. Draußen in der Scheune mußte Vinzi noch seine Geißel (Peitsche) holen, eine solche hatten alle Hüterbuben, bloß um damit von Zeit zu Zeit furchtbar zu knallen, daß es von allen Bergen zurückdonnerte. Vinzi hatte keine Freude an dem Knallen, so war ihm die Geißel gleichgültig, und er wußte nie recht, wo er sie hingestellt hatte. Er ging auch jetzt unbestimmt von einer Ecke zur anderen, und schon runzelte der Vater stark die Stirne, da schoß Stefeli herbei, die Geißel in der Hand. Es hatte wohl gesehen, wo Vinzi sie das letzte Mal hingestellt hatte.
Jetzt zogen die beiden aus. »Paß auf, Vinzi, daß keine von den Kühen über den Bach kommt«, rief der Vater noch nach.
»Und gebt auch acht, daß ihr nicht selbst dem Bach zu nahe kommt, wo er reißend ist«, rief die Mutter nach.
»Ja, ja«, tönten fröhlich die Stimmen der beiden zurück, und nun ging es rasch vorwärts der Weide zu. Sobald sie da angekommen waren, erhob Stefeli ein großes Schreien und Rufen. Es hatte nicht vergessen, daß der Knecht alsbald an die Arbeit zurück mußte, sobald sie zum Hüten der Kühe da waren. Er hörte lange nichts; denn er war drüben am Bach, und der rauschte laut. Aber Stefeli gab nicht nach, bis er die schreienden Rufe hörte, und dann auch gleich verstand, was sie bedeuteten und davonlief.
»Nun müssen wir aufpassen, daß die Kühe auch schön auf der eigenen Wiese bleiben und das Schwärzeli nicht immer Sprünge macht; denn es muß auch fressen, sonst wird es mager«, sagte Stefeli. »Komm, Vinzi, wir wollen uns dort unter den Baum setzen, der Sack muß auch im Schatten liegen, sonst wird das Brot ganz dürr.«
Vinzi, der sich schon gelagert hatte, stand auf und folgte Stefeli zum Baum hinüber und sah zu, wie es sorgsam das Säckchen im Schatten der breitesten Äste verbarg. Nun setzte es sich auf den boden, der, von Sonne und Wind schön getrocknet, jetzt im kühlen Schatten der breiten Baumäste lag. Vinzi hatte sich auch hingesetzt.
Jetzt rauschte der frische Morgenwind durch die Zweige und über die Weide hin weiter und weiter, bis er in tiefen Tönen in der Ferne verhallte. Wieder kam das Rauschen durch die Zweige, und Stefeli war eben aufgesprungen; wie ein abgeschossener Pfeil stürzte es davon. Vor ihm her mit aufgehobenem Schwänze rannte das glänzend schwarze Rind in hohen Sprüngen dem Bache zu. »Schwärzeli, Schwärzeli«, rief das Kind ein Mal ums andere, »Schwärzeli, warte doch!« Aber das übermütige Tierlein machte immer höhere Sprünge, jetzt war es dem Bach schon ganz nahe. »Wenn es hineinspränge, es könnte ja ertrinken«, dachte Stefeli mit Schrecken, dort war gerade die Stelle, vor der die Mutter gewarnt hatte. »Schwärzeli«, rief das Kind jetzt so laut und gebieterisch in seiner Aufregung, daß es weithin hallte und das Echo zurückrief: »Schwärzeli, Schwärzeli!«
Plötzlich stand der Flüchtling still und schaute sich um. Atemlos kam Stefeli dahergerannt. Das Tierlein stand jetzt ganz still und wartete ruhig die Ankunft seiner Herrin ab.
»Du böses Schwärzeli du, mich so zu erschrecken!« rief Stefeli aus, nun es mit seiner Hand fest den Strick erfaßt hatte, an dem die kleine Schelle an Schwärzelis Hals befestigt war. »Wart nur, wenn du so ungezogen sein willst, bring ich dir auch kein Salz mehr, das du so gern leckst, als ob es Zucker wäre.« Das Schwärzeli rieb jetzt seinen Kopf zärtlich an Stefelis Schulter, als wollte es sagen: »Es war nicht so bös gemeint, es war eben so lustig, so über die ganze Weide hin zu rennen, ohne abzusetzen.«
»Ja, ja«, sagte Stefeli antwortend, als habe es ganz gut verstanden, was das Schwärzeli ausdrücken wollte, »du willst nur gern, daß ich jetzt wieder gut mit dir bin. Das will ich; aber du mußt nicht wieder gegen den Bach rennen, du kannst ja auch auf die obere Seite laufen. Aber gelt, es geht eben da bergab, das ist lustiger als bergauf zu rennen, ich weiß schon. Komm jetzt.«
Nun zogen die beiden miteinander friedlich wieder dem Platze zu, der für diesmal zum Abweiden bestimmt war. Auf dem halben Weg dahin kam ihnen der Vinzi entgegen. Ganz verwundert fragte er: »Warum bist du denn auf einmal fortgegangen, Stefeli, es war ja so schön unter dem Baum. Ich habe etwas so Schönes gehört, zwei- oder dreimal, und als ich dir sagen wollte: ›Hörst du's auch?‹, da warst du auf einmal nicht mehr da. Dann erst habe ich dich gesehen von da unten mit dem Schwärzeli heraufkommen.«
Stefeli war doch sehr erstaunt, daß er von allem, was vorgegangen war, nichts gemerkt hatte, obschon es ja wußte, wie es dem Vinzi oft erging. Es erzählte ihm nun von seiner Jagd und seinem Schrecken; denn es mußte ja denken, da das Schwärzeli so unvernünftig dem Bach zu galoppierte, es müßte gleich über den Rand stürzen und dann ertrinken. Aber dann sei es auf einmal brav geworden. Nun wollte Stefeli auch noch wissen, was Vinzi unterdessen gehört hatte.
»Oh, es ist so schade, daß du's nicht gehört hast!« sagte er, »man kann es nicht beschreiben. Es klang wie ein großer Chor von tiefen, starken Stimmen und brauste aus dem Baum heraus und über die Weide hin, und dann kamen klare, hohe Stimmen mit hinein, und so klang es weithin in die Ferne und verklang immer leiser, weißt du, wie ein großes Wasser, das weit weg sich verliert. Es war so schön! Komm, wir wollen uns wieder dorthin setzen, Stefeli, vielleicht können wir's noch hören.«
»So geh, Schwärzeli, und tu nun recht«, sagte Stefeli und ließ den Strick los, den es bis jetzt festgehalten hatte. Nun folgte es dem Vinzi.
Kaum aber hatte es sich neben ihm niedergelassen, so sprang es wieder auf und Vinzi mit ihm. Diesmal hatten sie zu gleicher Zeit entdeckt, daß die Braune bis zu der Hecke gewandert war, die die Grenze gegen eine fremde Weide bildete, und dort an den Latten herumstieß, um hinüberzukommen. Nun liefen sie beide; die Braune mußte zurückgeholt werden. Das war bald geschehen, die Braune wanderte ganz bedächtig wieder dem erlaubten Boden zu. Stefeli hatte ein Plätzchen entdeckt, wo sich hinzusetzen besonders schön sein mußte; denn die kleinen roten Steinnelken nickten fröhlich ringsherum. »Komm, hier wollen wir bleiben, Vinzi, es klingt nun gewiß nicht mehr so wunderbar unter dem Baum.« Vinzi setzte sich hin, es war ihm auch recht. Eine friedliche Stille lag jetzt auf der ganzen Weide. In aller Ruhe zogen die Kühe grasend ihres Weges; Schwärzeli einmal voran, einmal hinterdrein, aber mit ordentlichem Gange, ohne hohe Sprünge, nur dann und wann sich ein wenig in Trab setzend, wenn die Stelle wieder gewechselt sein mußte.
Vergnügt schauten die Kinder in den sonnigen Morgen hinaus. Nach einer Weile des stillen Genusses sagte Stefeli: »Am liebsten wollte ich mein ganzes Leben lang ein Kuhhirt sein, du nicht auch, Vinzi?«
»Nein, das wollte ich nicht«, antwortete er.
»Warum denn nicht?« fragte Stefeli etwas vorwurfsvoll. »Es ist doch nirgends schöner als hier, das mußt du doch selbst sagen.«
»Ja, das ist schon wahr«, gab Vinzi zu; »aber der Beruf wäre dann, immerfort auf die Kühe achtzugeben, daß nichts geschieht und keine fortläuft, ich wollte lieber einen anderen Beruf.«
»Welchen wolltest du denn am liebsten?« wollte Stefeli wissen.
Vinzi sann ein wenig nach, dann sagte er: »Ich weiß nicht, welcher Beruf das wäre, in dem ich tun könnte, was mir am besten gefällt.«
»Was tust du denn am allerliebsten? Das habe ich noch gar nicht gesehen«, sagte Stefeli verwundert, daß es davon noch nichts wußte.
»Am liebsten mag ich zuhören, wie die Glocken klingen und wie es in den Zweigen der Bäume tönt und von den Bergen herunter und allenthalben. Hörst du, hörst du, wie es leise um uns singt, hörst du's?« Vinzis Augen wurden immer größer und glänzender, wie er hinhorchte.
Stefeli spitzte die Ohren. »Das sind ja nur die Mücken, die summen«, sagte es jetzt etwas geringschätzig.
Vinzi fuhr fort: »And wenn es dann so schön klingt, dann möchte ich es ganz fest im Sinn behalten, und dann möchte ich es auch wieder heraussingen oder anders nachmachen, ich denke mir dann immer aus, wie ich es machen könnte.«
»Das gibt ja gar keinen Beruf«, unterbrach ihn Stefeli.
»Ja, ich glaub es auch«, sagte Vinzi ziemlich verzagt; »aber ich muß doch immer daran denken. Ich habe auch viele Pfeifen geschnitten und habe versucht, was ich darauf nachmachen könnte. Fünf hatte ich schon beisammen. Aus der einen konnte ich ganz tiefe Töne blasen und aus der anderen ganz hohe, und die übrigen klangen dann so mitten durch, und da habe ich alles ausgedacht, wie es nun anzustellen wäre, daß ich zwei oder drei zusammen blasen könnte, daß es zusammenklang, weißt du, wie die Glocken.«
»Du kannst gewiß ein Pfeifer werden«, fiel Stefeli rasch ein, sehr erfreut über die Eingebung, »das wäre doch ein guter Beruf, nicht?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Vinzi ein wenig unsicher; »aber wenn ich es auch könnte, so ließe mich der Vater doch nicht. Er hat in der Scheune die Pfeifen gefunden und hat sie alle fortgeworfen und hat gesagt, ich solle lieber an etwas Nützlicheres denken und nicht solche Haufen von Pfeifen sammeln und solchem Zeug nachsinnen, das sei gar nichts.« Vinzi sah sehr niedergeschlagen aus, wie er so berichtete. Das konnte Stefeli nicht aushalten.
»Du mußt darum nicht so traurig sein, Vinzi«, sagte es in tröstendem Ton, »der Vater meinte gewiß nur, daheim im Stall und in der Scheune müßtest du solche Pfeifen nicht haben und denen nachsinnen; aber hier auf der Weide darfst du sie wohl haben. Ich will dich dann schon rufen, wenn es etwas mit den Kühen gibt. So kannst du gut neue Pfeifen schneiden, die legen wir dann in ein Loch unter den Baum und nehmen sie nur immer heraus, wenn wir hier sind. Und dann helf ich dir auch beim Blasen, weißt du, ich blase dann die hohe Pfeife und du die tiefe, daß sie dann so zusammenklingen wie die Glocken.«
Vinzi schien den Trost noch nicht zu erfassen; er schaute traurig vor sich hin auf den Boden und sagte nichts mehr.