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Katharina Höftmanns selbstironisches Generationenportät "Einfach weitertanzen" – exlusiv als E-Book Only:
Sie sind um die 30, gut ausgebildet, total vernetzt, voller Ideen und Ideale, stehen sozusagen mitten im Leben. Doch plötzlich klopfen leise Zweifel an: Heiraten? Sich niederlassen? So richtig mit festem Job? Oder doch noch mal reisen? Gucken, was es da draußen noch so gibt? Man ist ja schließlich kein Spießer. Oh Gott – oder doch? Selbstironisch und unterhaltsam beschreibt Katharina Höftmann die Wachstumsschmerzen ihrer eigenen zerrissenen Generation, die alles tun könnte, wenn sie nur wüsste, was sie will …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 218
Wann ist man erwachsen? Wenn man das erste Mal die Worte Verantwortung und Altersvorsorge in einem Satz benutzt? Wennauf dem Konto das erste Mal eine höhere Geldsumme eingeht, die nicht von Oma oder Mama und Papa überwiesen wurde? Wenn man einen Ring aus dem Dessert pult und dann Ja sagt? Wenn einem die eigenen Gene zum ersten Mal ins Ohr brüllen? Und muss man das überhaupt, erwachsen werden? Und wenn ja, wann? Und wenn wann, wie?
Das alles sind Fragen, die ab Mitte Zwanzig immer lauter Pingpong im Kopf spielen. Die Kindheit ist zu Ende, die Pubertät durchgestanden, die lustige Studienzeit vorbei, und plötzlich wird alles so ernst. Auf einmal heißt es, Entscheidungen zu treffen, die weitreichende Konsequenzen haben. Hilfe! Doch kein Grund zu verzweifeln, wir bestimmen, wie wir das machen. Und am besten funktioniert’s mit ganz viel Humor …
KATHARINA HÖFTMANN
EINFACHWEITERTANZEN
Von der Kunst,erwachsen zu werden
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Die im Buch beschriebenen Personengibt es so oder so ähnlich auch in Wirklichkeit –ihre Namen allerdings sind frei erfunden.
Originalausgabe 12/2014
Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Kathrin Wolf
Umschlaggestaltung:yellowfarm gmbh, s.freischem, unter Verwendungeines Fotos von © shutterstock, Everett Collection
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-12423-6V002
www.heyne.de
Für meine Eltern, die Liebe meines Lebens, die ich jetzt offiziell meinen Mann nennen darf, für Britta, Anne, Sho, meine wundervolle Familie und die besten Freunde der Welt … für uns.
Inhalt
Hallo, liebe Generation …
Über sieben Brücken – oder die Frage: Wann ist das alles so kompliziert geworden?
Forever Young
Die Visitenkarte
Süßer Vogel Jugend
Über die Freiheit, niemandem gefallen zu wollen… was Julia darüber denkt
Wo die Liebe hinfliegt
Wir sind Til Schweiger – eine Geschichte vom Facebook-Ich
Kein Recht auf Unglücklichsein
Badgespräch I
Komplizierte Unkompliziertheit
Die Nespresso-Jahre
Das Reißverschlussverfahren… was Sachiko darüber denkt
Badgespräch II
»So bringen Sie Ihren Liebsten dazu, Ihnen einen Antrag zu machen«
Revolution 2.0
Küchengespräch
Wenn Eltern Papayasalat essen
Leben mit Herrn Wolfskin
Muskelspiele… was der Vater darüber denkt
Badgespräch III
Wie es wäre, wenn da noch was wäre
Das Straßenfest
Pinke Blousons und das Ende der Kindheit
Nutella am Sakko… was der Bruder darüber denkt
Freundschaft
The Golden Years
Wir sind ja noch jung
Dank
I’m not trying to influence anybody or try to change the way people think. I’m just suggesting observations of mine.
KNOW HOPE
Hallo, liebe Generation …
… ja, wie denn eigentlich? Generation Y, Generation Unverbindlich, Generation Peter Pan, Millennials, Digital Natives, Generation Global – nicht mal für einen Namen können wir uns entscheiden. Wir, diese Generation der tausend Möglichkeiten. Wir, das sind diejenigen, die irgendwann zwischen den Achtzigern und Neunzigern geboren wurden. Plus/minus fünf Jahre. Zwei modisch wie musikalisch umstrittene Jahrzehnte. Die Sechziger findet jeder toll, die Siebziger waren sowieso super groovy – aber die Zeiten von Schulterpolstern und Loveparade bleiben fragwürdig. Wenn man »wir« sagt, hat man übrigens auch schon einen Fehler gemacht. Denn »wir« sind mit dem Gedanken aufgewachsen, einzigartig zu sein. Mehr »ich« als »wir«. Das liegt auch an unseren Eltern, die uns von Anfang an zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung ermutigt haben. So sind wir beispielsweise von Kindesbeinen an daran gewöhnt mitzuentscheiden. Kartoffelbrei oder Salzkartoffeln. Blaues T-Shirt oder rotes? Gefragt zu werden und ernst gemeinte Antworten zu bekommen. Vor allem aber ging es unseren Eltern, anders als vorherigen Generationen, schon ziemlich gut, und so haben sie uns, wenn auch manchmal unbewusst, mit einer großen Erwartungshaltung und einer fast unnatürlichen Selbstsicherheit für ein erfolgreiches Leben ausgestattet.
Unsere Eltern gehören zu der Generation der Babyboomer, wir hingegen sind in der Unterzahl. Deutschland ist die zweitälteste Nation der Welt. Nicht wir, sondern die 48- bis 67-Jährigen, die Babyboomer, sind die wichtigste kommerzielle Zielgruppe. Wir sind so was wie die kleinere Schwester oder der kleinere Bruder, der besonders laut schreien muss, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Wir sind der Benjamin, das Nesthäkchen, und wie jeder Nachzügler übernehmen wir nur ungern Verantwortung. Es hat ja auch lange niemand von uns erwartet. Gleichzeitig platzen wir fast vor Selbstbewusstsein. Was die Welt kostet, interessiert uns gar nicht, wir kaufen sie in jedem Fall.
Die anderen und vor allem wir selbst kritisieren uns gerne. Wir seien nur auf Konsum, Karriere und Kinder aus. Aber wo bleibt die Revolution? Wo der Punkrock? Wo der Protest? Stattdessen hören wir angeblich nur sanfte Indie-Mucke, sehen selbst mit unseren maximal individuellen Nerd-Brillen alle gleich aus, sind anpassungsfähig und flexibel und überlegen berechnend, wann es sich für uns lohnt zu protestieren. Wenn da was dran sein sollte, dann liegt das vielleicht unter anderem daran, dass unser Leben auch ohne unser Zutun schon wahnsinnig kompliziert ist. Diese Welt ist verdammt unübersichtlich geworden. Mit ihrer Globalisierung, den tausend Ausbildungswegen, unsicheren Arbeitsverhältnissen, technischen Möglichkeiten, ja überhaupt mit all ihren Möglichkeiten.
In diesem Sinne ist dieses Buch auch eine Möglichkeit. Meine eigene Sicht auf das Erwachsenwerden. Ein Potpourri aus verschiedenen Geschichten, die unser Leben beschreiben und wie wir älter werden. Alle Eltern, Lehrer und Ratgeber reden immer über die Pubertät und die extremen Einschnitte, die damit verbunden sind. Aber wer warnt einen eigentlich vor der Zeit ab Mitte 20? Wenn plötzlich jede Entscheidung einen Rattenschwanz an Konsequenzen nach sich zieht und die totale Selbstständigkeit einen manchmal schier zu lähmen scheint? Ich zumindest wusste nicht, dass alles plötzlich so ernst werden würde. Und ich muss zugeben, dass mir dieser Ernst des Lebens manchmal sehr zu schaffen macht.
Darum geht es in diesem Buch. Ums Jungsein, dann ums Altwerden und die Erinnerung ans Jungsein, um Konsum, Karriere, Liebe, die Angst vor Entscheidungen und die maximal mögliche Weiterentwicklung. Manchmal geht es auch einfach nur um die Hoffnung, nicht völlig zu verspießern, oder die Angst vor der Unabhängigkeit. Manch einer mag sich in allen Geschichten wieder erkennen, manch einer nur in einer (diese Vorsicht, nicht zu verallgemeinern, ist übrigens auch ein typisches Merkmal meiner Generation, Stichwort »Einzigartigkeit«). Deswegen habe ich mich dazu entschieden, neben meiner Perspektive auch die einiger meiner Freunde und meiner Familie, um die es in diesem Buch geht, darzulegen. Sie kommen direkt und ungefiltert in Gastbeiträgen zu Wort. Bei ihnen möchte ich mich auch in erster Linie bedanken. Dafür, dass sie mir immer das Gefühl geben, nicht allein dazustehen. Denn seien wir mal ehrlich: Erwachsenwerden ist gar nicht mehr so furchterregend, wenn die anderen mitmachen.
Über sieben Brücken – oder die Frage: Wann ist das alles so kompliziert geworden?
Alles tut weh. Hals. Kopf. Nacken. Schultern sowieso. Beine. Bauch. Und Füße. Ich bin die Art von krank, bei der man sich kaum noch erinnern kann, wie sich Gesundsein anfühlt. Es ist die Art von Krankheit, die elementare Fragen des Daseins aufwirft. Wer bin ich und wenn ja, warum so krank?
Es muss wohl eine Grippe sein. Oder irgendeine andere vernichtende Krankheit, die sich in den Ackerhallen verbreitet. Das war der letzte Ort, an den ich mich vor meinem Sterben begeben habe. Die Ackerhallen in Berlin-Mitte. Auch Fashion-Rewe genannt. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Einkauf dort, vor sechs Jahren. Als ich, die alte Umzugshose tragend, nur mal kurz zum Supermarkt neben der neuen Wohnung wollte. ER und ich waren gerade zusammengezogen, und das war … Aber ich greife vor. Ich also in die sorgfältig für Salami und Gemüse ausgeleuchteten Ackerhallen. Doch im Angesicht ihrer Konsumenten verblassten die Lebensmittel völlig. Im ersten Moment dachte ich, ich sei in eine Art Guerilla-Fashion-Show hineingeraten. Eine große Dürre im Couturekleid lief mit großen, federnden Schritten an den saftigen Tomaten vorbei. Sie sah aus, als hätte man sie gerade aus der neuen Vogue oder dem VICE-Magazin herausgeblättert. Links neben der Wurst posierte ein schneidiger Kerl, Typ Max Herre, mit dunklen Locken und Vollbart, den grauen Schal lässig über die schmalen Schulterblätter gelegt. Die kaputte Jeans genau richtig kaputt. Das Second-Hand-T-Shirt nur auf den ersten Blick alt und abgenutzt. Und dazwischen ich. Mit verklebten Haaren und Flecken auf der Hose. Wie ein CSU-Wähler auf dem CSD. Nur eben völlig anders unpassend.
Dieses Erlebnis war mir eine Lehre, weswegen ich die Hallen seitdem nur noch in durchgeplanten Komplett-Outfits betrete (außer frühmorgens, da schlafen die Kreativen noch). Mein stylischer Look hat mich aber leider nicht gegen ansteckende Mitte-Menschen-Viren immunisiert. Und deswegen bin ich ja jetzt auch so krank.
Ich schleppe mich zum Allgemeinarzt auf der Fischerinsel. Hier, in Berlins uncoolster Mitte, habe ich mal in einem der Hochhäuser gewohnt. Ganz am Anfang, als ich in die Hauptstadt gekommen bin, um mit 19 mein Psychologiestudium zu beginnen. Der Arzt heißt Jens und sieht aus wie Mister Big für Arme. Ich kann mir seinen Nachnamen nie merken, deswegen nenne ich ihn nur Dr. Jens.
Als ich 20 war, hat Dr. Jens mich mal gefragt, ob wir etwas essen gehen wollen. Da war er schon gute 35. Ich habe natürlich abgelehnt, mir aus purer Faulheit aber keinen neuen Allgemeinarzt gesucht. Ich habe ja eigentlich auch nie was. Bis. Ja, bis ich dann doch mal was habe. So wie jetzt.
Dr. Jens guckt mir in den Rachen. Tastet am Hals herum. Dann platziert er das kalte Stethoskop auf meinem Rücken.
»Ja. Is wohl ’ne Grippe«, sagt er schließlich so unmotiviert wie nur möglich.
»Können Sie mir bitte Antibiotika verschreiben?«, flehe ich.
»Hilft nicht bei ’nem Virus.« Dr. Jens’ wegwerfende Handbewegung verschwimmt schon vor meinen Augen.
»Ja, aber gegen die Halsschmerzen hilft nur das. Da sind auch Bakterien drin. Das weiß ich. Und dagegen brauche ich Antibiotika.«
»Schwanger?«
Ich schüttle vehement den Kopf. Etwas zu vehement für Dr. Jens’ Geschmack.
»Immer noch nicht?«
Hat der das jetzt wirklich gesagt? »Was soll das denn heißen? Wir probieren es doch gar nicht«, gebe ich vorsichtshalber zurück.
»Wie alt sind Sie jetzt?«, Dr. Jens tut gar nicht erst so, als würde er das in seinen Unterlagen nachsehen wollen.
»28.«
Dr. Jens nickt wissend.
»Ich habe ja wohl noch gut fünf Jahre Zeit«, protestiere ich. »Zur Not zumindest«, schiebe ich etwas leiser hinterher. Was will der Kerl von mir? Dr. Jens hat bestimmt selbst auch noch keine Kinder. Der sieht aus, als würde er sein ganzes Geld in einen weißen BMW und Reisen nach Las Vegas investieren.
»Fünf Jahre Zeit? Wo denn? In Hollywood?« Dr. Jens sieht mich halb zweifelnd, halb mitleidig an. »Wissen Sie denn nicht, dass es ab 25 abwärtsgeht? Ihr Gesicht, Ihr Körper, Ihre Haut, Ihr Gewebe, Ihre Knochen … das wird ja alles nicht besser! Und glauben Sie mir, Ihre Krähenfüße, die ich hier schon eindeutig sehen kann …« – er pocht schwungvoll auf meine Wangenknochen, als wolle er testen, ob meine Falten schon eigene Reflexe haben – »… sind nur das geringste Übel. Ganz zu schweigen von Ihren Eierstöcken – die schrumpfen Ihnen einfach so im Unterleib weg, und Sie merken es nicht mal. Ach so, und das Risiko, an einer schizophrenen Psychose, Angststörung oder Neurose zu erkranken, steigt selbstverständlich auch. Aber das muss ich Ihnen als Psychologin ja nicht sagen.« Dr. Jens lacht schallend. In diesem Moment wird mir klar, dass er etwas völlig anderes gesagt haben muss, als bei mir im Kopf angekommen ist. Ich habe halluziniert. Solche Dinge darf ein Arzt ja gar nicht sagen. Aber woher kommen plötzlich diese Gedanken? Wie kann eine einfache kleine Grippe derart existenzielle Fragen auslösen? Ticken in meinem aufgeblähten Bauch plötzlich so starke, durch chemische Reaktionen ausgelöste biologische Uhren, dass ich den Leuten Sachen in den Mund lege? Vielleicht stecke ich ja auch nur mitten in einem Fiebertraum. Ich verlasse Dr. Jens’ Praxis so schnell wie möglich. Schwester Anne-Kathrin ruft mir noch etwas hinterher. Aber meine biologische Uhr tickt so laut, ich höre sie nicht.
Vor der Praxis zücke ich mein iPhone. »Sofia«, schreie ich meine beste Freundin an, »unsere Eierstöcke schrumpfen! Die schrumpfen einfach weg! Und ER nimmt jetzt schon dieses Haarwuchs-Medikament, das die Spermien langsamer macht. Ogottogottogott.«
»Du willst doch noch gar keine Kinder«, schnauft Sofia mäßig interessiert. Meine liebe Freundin sitzt schon in ihrem Büro, vergisst aber immer, dass man sie über Facetime sehen kann.
»Ich sehe, dass du gelangweilt auf den Computer guckst. Hallo, kannst du mir mal zuhören?«
»Scheiß Facetime.« Sofia – seit wir uns kennen meine beste Freundin und außerdem meine zumeist besser funktionierende Gehirnhälfte – dreht sich langsam zu ihrem iPhone um, das wohl neben ihr auf dem Schreibtisch liegt. Jetzt sehe ich nur noch ihre Nasenlöcher.
»Beruhige dich. Es ist alles gut. Du bist gerade mal 28. Deine Eierstöcke strotzen nur so vor Kraft und Energie. Du hast alle Zeit der Welt. Abgesehen davon: Ich kann meinen 30. Geburtstag nicht erwarten! Endlich wissen wir, wer wir sind! Gott, was stehen da für großartige Zeiten an!« Die Nasenlöcher haben gesprochen.
Ich lege auf und drehe mich kurz um die eigene Achse. Die gute alte Fischerinsel umgibt mich wie ein warmer Schoß. Vor dem trüben Kanal die grauen Hochhäuser. Daneben der abgekämpfte Edeka, der früher mal Spar hieß. Dort die Schwimmhalle mit dem Flachdach. Ein Stück DDR mitten in Berlins Mitte. Wir wissen, wer wir sind, hat Sofia gesagt. Es war wohl kein Zufall, dass ich, geboren in einem Land, das es nicht mehr gibt, aufgewachsen zwischen Plattenbauten, ausgerechnet hier in einer Dreier-WG landete, als ich nach Berlin gezogen bin. Alle wollten in einen Altbau mit abgezogenen Dielen und Flügeltüren. Und ich strandete im elften Stock eines Plattenbau-Hochhauses und fühlte mich sofort heimisch. Hier auf der Fischerinsel ist immer noch alles wie vor zehn Jahren. Wahrscheinlich sogar wie vor 30 Jahren. Langsam schaue ich an dem grauen Gebäude hoch, das mal mein Zuhause war. Erinnerungsfetzen an vergangene Zeiten blitzen mir durch den Kopf. Partys, haarige Jungs und Frühstücke mit Fremden, die mir von der Bar 25 nach Hause gefolgt sind. Eine schmuddelige Küche und mein kleines 18-Quadratmeter-Zimmer, das immer aussah, als hätte dort gerade ein Junkie nach Drogen gewühlt. Unser Hängemattensitz im knallrot gestrichenen Wohnzimmer, auf dem ich mich manchmal sonnte, indem ich einfach das Fenster öffnete. Das kleine Bad mit dem großen Kurt-Cobain-Poster, das man gezwungenermaßen anstarrte, wenn man auf dem Klo saß. Wechselnde Mitbewohner und am Ende, nach fast vier Jahren, das Gefühl, es nicht abwarten zu können, dort herauszukommen.
Einerseits fühlt es sich wie ein anderes Leben an, andererseits spüre ich das alles noch so intensiv, als wäre es erst gestern zu Ende gegangen und nicht schon vor vielen Jahren. Es wäre schlimm, wenn sich seitdem nichts verändert hätte. Wenn man nicht erwachsener geworden wäre. Aber fühle ich mich schon erwachsen?
Was heißt das denn überhaupt, erwachsen werden? Während sich die Pubertät durch ein sichtbares, äußerliches Wachstum ankündigt, ist der Prozess des Erwachsenwerdens deutlich diffuser und schwieriger zu definieren. Ich versuche es trotzdem mal:
Bis Mitte 20 hängt der Lebenshimmel noch voller Geigen. Alles wird immer nur besser. Mehr Freiheit, mehr Party, mehr Persönlichkeit, mehr Spaß. Man zieht bei den Eltern aus und geht wann und mit wem man will ins Bett. In schmuddeligen WG-Küchen diskutiert man engagiert über die großen Themen des Lebens wie Klimaschutz, Kinderarbeit und Kapitalismus. Gerade wir Psychologiestudenten haben gelernt, dass man nie wieder so fit im Kopf ist wie mit Anfang 20. Fit im Kopf und offen für alles: fremdes Essen von absurder Konsistenz, Schwarz-Weiß-Stummfilme mit Untertiteln, experimentelle Musik ohne Instrumente. In diesen Jahren, mit Anfang 20, haben wir alles getan, um unabhängig zu sein und den Teenie in uns zurückzulassen. Selbstständigkeit zu probieren, von allem und jedem Individualität und Emanzipation zu fordern. Und doch waren wir nicht annähernd auf das gefasst, was auf uns zukam. Das Erwachsenwerden kann über die viel diskutierte Pubertät nur müde lächeln. Es dauert außerdem viele Jahre. Jahre, die sich wie Kaugummi ziehen. Von 18 bis 32, manchmal noch ein Jahrzehnt länger. Und selbst dann behaupten die wenigsten von sich, dass sie erwachsen sind. Erwachsensein ist irgendwie verpönt, das »Kind im Manne« gilt beiden Geschlechtern als cool. In den Kaugummijahren des Erwachsenwerdens nehmen wir uns ausführlich Zeit, über die Lebensveränderungen, die ganz vorsichtig auf Samtpfötchen angetapst kommen, nachzudenken, zu sprechen, uns ihnen anzupassen. Und trotzdem: Auf manche Sachen kann man sich nicht vorbereiten, und ehe man sich’s versieht, starrt einem die Realität ins faltiger werdende Gesicht. Sie schleicht sich langsam an und wirft einem mit Schmackes fiese Fragen entgegen: So; jetzt haste ja endlich fertig studiert: Und nun? Wovon willst du eigentlich leben? Und wie soll es mit deiner Beziehung weitergehen? Du bist noch Single? Dann aber hopp jetzt, sonst sind irgendwann nur noch Freaks und Scheidungsopfer übrig! Und überhaupt, Kinder wären ja wohl auch mal angesagt, oder? Wie, du kannst dich nicht entscheiden? Entscheid dich mal! Angsthase oder Löwenherz? Wer willst du sein? Wie willst du leben? Und wen willst du morgens sehen, wenn du in den Spiegel schaust?
Die Hochhäuser, grau in grau, drehen sich um mich wie ein Brummkreisel. Warum lassen wir uns eigentlich so verrückt machen? Woher kommt diese fiese innere Stimme? Dieser Druck?
Ich gehe ein paar Schritte zum Kanal und denke an IHN, mit dem ich seit so vielen, meist wunderbaren Jahren zusammen bin. Er hat einiges zu meinem Erwachsenwerden beigetragen, und das nicht nur weil er aus einem anderen Land kommt, was die Beziehung nicht gerade vereinfacht. Auf dem Amt kreuzt der Kuli in unserer Hand immer noch das Kästchen »ledig« an. Aber ich denke schon darüber nach, ob mir so ein Ehering stehen würde. Und wie es wäre, wenn da noch was wäre. Gleichzeitig bin ich mir nicht sicher, ob ich das wirklich will oder ob es sich nicht bloß um rationale Überlegungen handelt, so nach dem Motto: »Es wird ja langsam mal Zeit.« Denn eigentlich fühle ich mich nicht bereit. Immer noch nicht. Gedankenversunken laufe ich über die große befahrene Brücke, die die Fischerinsel mit der Leipziger Straße verbindet. »Über sieben Brücken musst du gehen«, klingt der Refrain von Peter Maffay und Karat plötzlich in meinen Ohren. Das passiert mir oft, dass mir je nach Situation passende Lieder einfallen und dann nicht mehr aus meinem Kopf verschwinden. Für einen Moment vergesse ich meine Gliederschmerzen, und mir fällt auf, dass sechs Jahre vergangen sind, seit ich aus der WG an der Fischerinsel ausgezogen bin. Eins fehlt noch zur Sieben. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Im Wasser spiegelt sich mein Gesicht, leicht verschwommen und voller Fragen: Wann ist das alles so kompliziert geworden? Wann ist das endlich vorbei? Und kann mal jemand sagen, wo’s langgeht?
Im Hintergrund singen Peter Maffay und Karat weiter Arm in Arm: »Sieben dunkle Jahre überstehen, siebenmal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein …«
Ausgerechnet dieses Lied. Ein Lied, das sich wohl eher meine Mutter anhören würde.
Womöglich bin ich im Geiste längst über 50.
Forever Young
Ich hatte mal diese Lehrerin. Nennen wir sie Frau K.
Frau K. hatte auch eine Tochter an der Schule, und manchmal trugen die beiden haargenau die gleichen Outfits. Die gleichen engen Bluejeans, dazu knappe, bunte Oberteile und kurze Biker-Jacken. Weil sie dazu auch noch den gleichen watschelnden Gang hatten (wobei, wer watschelt nicht in zu engen Jeans), konnte man sie von hinten leicht verwechseln. Ich fand diesen Jugendwahn von Frau K. damals ziemlich peinlich und lächerlich. Sich so zu kleiden wie die eigene Tochter war irgendwie … deprimierend.
Der Trend geht in Richtung Jugend. Die Menschen wollen nicht mehr älter werden, beziehungsweise bitteschön nur so, dass man es nicht sieht. Wir leben in einer Zeit, in der Kinder gut und gerne das Gleiche anziehen können wie ihre Eltern. Nicht nur bei Frau K. und ihrer Tochter ist das so. Meine Mutter und ich haben zwar einen unterschiedlichen Geschmack, was Kleidung angeht – ihr Stil ist definitiv sportlicher und konservativer als meiner –, aber trotzdem: Manchmal könnten wir tauschen, und hin und wieder kaufen wir sogar die gleichen Teile. In der Generation meiner Mutter wäre das noch unmöglich gewesen. Früher hatten Menschen über 50 alt auszusehen. Und damit basta. Noch früher sind sie einfach mit 30 gestorben. Was für einfache Zeiten das doch waren! Wenn man heute eine Zeitschrift durchblättert, kann man oft nicht zwischen einer Miley Cyrus und einer Demi Moore unterscheiden. Und das obwohl die eine 20 ist und die andere 50. Doch nicht nur in den Medien und in der Mode sind wir von ewig jungen Menschen umgeben. Auch in jedem H&M, Zara oder Sportladen arbeiten vor allem junge Leute. Egal, wo man hingeht, das Personal wird immer hipper, immer jünger. Wann und wo sieht man überhaupt noch über 45-jährige Verkäufer? Ich vermute, da gibt es den Fleischer, den Bäcker, den Supermarkt im Allgemeinen und vielleicht noch den Blumenladen. Aber im Grunde genommen leidet der gesamte Einzelhandel an einer Art Jugendwahn.
In so einer Umgebung älter zu werden bringt einige Tücken mit sich. Wenn ich die Instyle oder Vogue aufschlage, würde ich mich manchmal am liebsten sofort in den nächsten Altpapiercontainer stürzen, weil dort eine 49-jährige Elle Macpherson im Surfanzug eine deutlich bessere Figur macht als ich mit Ende 20. Wie soll man älter werden und auf seine Falten, die es sich langsam und endgültig im Gesicht bequem machen, stolz sein (weil: »sind ja alles Erfahrungen und Geschichten«), wenn um einen herum alle immer jünger aussehen? Und das ist nicht nur eine optische Angelegenheit. Es will ja auch insgesamt niemand mehr als erwachsen gelten. Woher soll das Bedürfnis danach auch bitte kommen, wenn 40-Jährige auf einem Roller zur Arbeit fahren oder 60-Jährige Rockkonzerte besuchen, bei denen Mick Jaggers Gesicht auf der Bühne gegen die Schwerkraft ankämpft? Jungsein ist angesagt in dieser Gesellschaft, nicht nur im Einzelhandel, es ist das Mantra ganzer Generationen. Und wer alt aussieht oder sich gar alt fühlt, ist selber schuld.
Die Folgen dieses radikalen Altersrassismus erlebe ich auch in meinem Freundeskreis: Meine Freundin Sabine botoxt sich mit 32 schon seit vier Jahren. Eine andere Bekannte will zum Schönheitschirurgen, um etwas gegen ihre hängenden Brüste zu unternehmen. Natürlich hängen ihre Brüste nicht. Vielleicht strecken sie sich irgendwann, wenn sie Kinder bekommen hat, in Richtung Bauchnabel aus, aber im Moment ist davon nichts zu sehen. Und dennoch sind verjüngende Maßnahmen mittlerweile an der Tagesordnung, und zwar, noch bevor das Alter überhaupt kommt. Im Großen wie im Kleinen. Ich glaube nicht, dass meine Mutter damals schon über das Cremchenrepertoire verfügte, das ich in meinem Badschränkchen stehen habe. Wie Zinnsoldaten sind sie aufgereiht, die Fässchen und Tübchen. Waffen im Krieg gegen das Unvermeidliche. Und ich als Befehlshaber. Morgen für Morgen, Abend für Abend. Schmieren, klopfen und einmassieren, schmieren, klopfen und einmassieren. Als gelte es, einen Weltrekord im Schmieren, Klopfen und Einmassieren aufzustellen. Das alles übrigens nur, weil mir meine Tante (um die 60 und zugegebenermaßen ziemlich erfolgreich im Krieg gegen das Altern) vor rund vier Jahren plötzlich, wie aus dem Nichts, bei strahlendem Sonnenschein, mein bis dahin harmonisches Selbstbild verdüsterte: »Mensch, du hast aber auch schon viele Falten um die Augen. Na ja, bei dem einen kommt das früher, beim anderen später …«
Seitdem kann ich nichts anderes mehr sehen als Falten, die sich wie Schlingpflanzen um meine Augen schlängeln. Und wenn dann ein modeinteressierter Mensch wie ich noch die Hochglanzmagazine aufschlägt und darin selbst 50-Jährige besser aussehen als man selbst, dann kann man schon verzweifeln. Doch zu glauben, dies seien Themen, die ausschließlich Frauen betreffen, ist Unsinn. Freund Lasse beispielsweise erzählte mir neulich, dass es in keiner Community so schwer sei, erwachsen zu werden, wie in der schwulen. Es heißt ja, mit 30 fände der gesellschaftliche Tod des schwulen Mannes statt. Das kann Lasse nicht bestätigen, dafür findet er plötzlich Matt Damon attraktiv. Allerdings nicht den Matt Damon von heute, sondern den aus dem Jahr 2000. Als er noch jung war. Seltsamerweise meint Lasse, er hätte ihn nie attraktiv gefunden, als er selbst noch jung war, sondern eben erst jetzt. Eine solche Faszination für Jugend gibt es natürlich nicht nur in der schwulen Community, aber sie spielt dort laut Lasse eine übergeordnete Rolle. Weitverbreitete Dating-Webseiten wie gayromeo oder dudesnude filtern potenzielle Partner über ihr Alter heraus. Wenn Mann also auf Männer steht, von denen er glaubt, dass sie nichts mit über 30-Jährigen anfangen können, bleibt er in seiner virtuellen Existenz einfach immer 29, um in ihrem Suchraster aufzutauchen. Lasse meint, dass in seinen Kreisen mit dem Zurücklassen des jugendlichen Ichs der Kampf um eine Nische beginnt. Die Männer rennen entweder in Fitnessstudios, um ihr Alter mit Muskeln zu überspielen, oder fangen an, richtig fett und bärig zu werden. Die Irritation über diese Prozesse geht so weit, dass mein lieber Freund, der übrigens auch Psychologe ist, mittlerweile ein erfolgreiches Seminar mit dem Namen »Gay Community – Heimat oder Horror?« in seinem Psychodramaforum anbietet.