Einführung in die Angewandte Ethik - Dagmar Fenner - E-Book

Einführung in die Angewandte Ethik E-Book

Dagmar Fenner

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Beschreibung

Der Bedarf an ethischer Orientierung ist durch den enormen wissenschaftlich-technischen Fortschritt im 20. Jahrhundert stark gestiegen. Die noch junge philosophische Disziplin der Angewandten Ethik versucht, mittels einer kritischen Analyse der Positionen und Argumente zur Lösung aktueller moralischer Konflikte in der Gesellschaft beizutragen. Dieser Band führt mit vielen Anschauungsbeispielen in die Grundlagen und die wichtigsten Bereichsethiken der Angewandten Ethik ein: Medizinethik, Naturethik (Umwelt- und Tierethik), Wissenschaftsethik, Technikethik, Medienethik und Wirtschaftsethik. Die völlig überarbeitete Zweitauflage berücksichtigt neue Entwicklungen in den verschiedenen Handlungsbereichen. So wurde z. B. ein neues Kapitel zur KI und Robotik eingefügt (Wissenschaftsethik). 'Die Autorin hat ein Werk vorgelegt, das überaus geeignet erscheint zum Standardwerk hinsichtlich der Angewandten Ethik zu werden. Es überzeugt durch seinen profunden Kenntnisreichtum und die starke Praxisorientierung.' (socialnet.de)

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Seitenzahl: 942

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Dagmar Fenner

Einführung in die Angewandte Ethik

2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Prof. Dr. Dagmar Fenner ist Titularprofessorin am Departement Künste, Medien, Philosophie der Universität Basel und Lehrbeauftragte für Ethik an verschiedenen deutschen Universitäten und Hochschulen. Sie ist Autorin zahlreicher philosophischer Bücher, die sich auch an ein größeres Publikum richten. Als utb erschienen sind von ihr bereits „Selbstoptimierung und Enhancement. Ein ethischer Grundriss“ (2019) und „Ethik. Wie soll ich handeln?“ (Zweitauflage 2020).

 

Umschlagabbildung: Chirurgen diskutieren am Tisch im Sitzungsraum © Nomad/iStock

 

2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2022

1. Auflage 2010

 

DOI: https://www.doi.org/10.36198/9783838559025

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung

 

utb-Nr. 3364

ISBN 978-3-8252-5902-0 (Print)

ISBN 978-3-8463-5902-0 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Einleitung1.1 Ethik und Angewandte Ethik1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis1.3 Ethik-Experten und Ethik-Kommissionen1.4 Bereichsethiken2 Medizinethik2.1 Arzt-Patient-Beziehung2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe2.3 Schwangerschaftsabbruch und ReproduktionsmedizinSchwangerschaftsabbruchReproduktionsmedizin2.4 Organtransplantation2.5 Gerechtigkeit im Gesundheitswesen3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik)3.1 Anthropozentrismus3.1.1 Instrumentelle Argumente3.1.2 Eudaimonistische Argumente3.1.3 Moralpädagogisches Argument3.2 Physiozentrismus3.2.1 Pathozentrismus und Sentientismus3.2.2 Biozentrismus3.2.3 Ökozentrismus und Holismus3.3 Anwendungsfall: Tierethik4 Wissenschaftsethik4.1 Interne Verantwortung: Wissenschaftsethos4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung4.3 Humanexperimente4.4 Tierversuche5 Technikethik5.1 Vermeintliche Neutralität der Technik5.2 Techniksteuerung und Verantwortungsteilung5.3 Anwendungsfall 1: GentechnikA) Genetik in der Medizin: HumangenetikB) Gentechnik in der Landwirtschaft: transgene Pflanzen und Tiere5.4 Anwendungsfall 2: RobotikKünstliche Intelligenz und autonome SystemeRoboterethik6 Medienethik6.1 Produzentenethik6.1.1 Nachrichten und Meinungen6.1.2 Unterhaltung6.2 Rezipientenethik (Publikums-/Nutzungsethik)6.2.1 Individualethische Verantwortung6.2.2 Sozialethische Verantwortung6.3 Internetethik (Prosumentenethik)7 Wirtschaftsethik7.1 Makroebene: Wirtschaftsordnungsethik7.1.1 Wirtschaftsliberalismus: Freie Marktwirtschaft7.1.2 Planwirtschaftlicher Sozialismus: Zentralplanwirtschaft7.1.3 Bürgerliberalismus: Soziale Marktwirtschaft7.2 Mesoebene: Unternehmensethik7.3 Mikroebene: Mitarbeiter-, Führungs- und Konsumentenethik8 Nachwort und AusblickBibliographieSachregisterPersonenregister

Vorwort

Diese Einführung in die anwendungsorientierte oder „Angewandte Ethik“ gibt einen Überblick über die wichtigsten Anwendungsbereiche der Ethik mit den maßgeblichen aktuellen Diskussionsthemen, Positionen und Argumenten. Grundkenntnisse in der begründungsorientierten, normbegründenden „Allgemeinen Ethik“ sind für die Lektüre von Vorteil, aber nicht Voraussetzung. Für ein vertiefendes Studium der theoretischen Grundlagen eignet sich meine UTBbasics-Einführung Ethik. Wie soll ich handeln?, die einen systematischen Überblick über die wichtigsten ethischen Theorien und Begründungsmethoden bietet. Wo im Text auf diesen 2020 neu aufgelegten Band verwiesen wird, steht statt Autorenname und Jahreszahl wie bei den anderen Literaturverweisen lediglich das Kürzel: Ethik.

Die nun vorliegende vollständig überarbeitete und aktualisierte Zweitauflage der Einführung in die Angewandte Ethik berücksichtigt nicht nur neuere Entwicklungen in bestimmten Bereichsethiken wie z. B. der Tier-, Technik- oder Internetethik und entsprechende neue Regelungen und Normen. Sie stellt vielmehr auch in sprachlicher und struktureller Hinsicht in großen Teilen einen neuen Text dar. Die Kapitel zu den einzelnen Themenfeldern oder „Bereichsethiken“ wie Medizin-, Medien- oder Wirtschaftsethik sind so konzipiert, dass sie je nach Interessenlage auch einzeln gelesen werden können. Dank einer schlichten, unkomplizierten Sprache und zahlreichen konkreten Diskussionsbeispielen aus der moralischen Alltagspraxis entstand ein gut lesbarer, anschaulicher und spannender Text, der sich nicht nur an Studierende und Dozierende richtet, sondern an alle ethisch interessierten Bürger und Entscheidungsträger. (Obgleich der Einfachheit halber nur das generische Maskulinum verwendet wird, sind stets alle möglichen Geschlechtsidentitäten mitgemeint.)

Eine Einführung in die Angewandte Ethik ist deswegen ein äußerst schwieriges Unterfangen, weil ein kompetentes ethisches Urteil in den verschiedenen Handlungsbereichen jeweils ein erhebliches Fach- und Faktenwissen erfordert. Den ganzen aktuellen Forschungsstand in sämtlichen Handlungsfeldern lückenlos aufzuarbeiten und zusammenzufassen, ist angesichts der immensen Fülle an Literatur schlechterdings unmöglich. Als außerordentlich hilfreich erwiesen sich Einführungen und v. a. Handbücher zu den einzelnen Themenfeldern mit Artikeln von verschiedenen ausgewiesenen Wissenschaftlern, die sich allerdings ausschließlich an ein akademisches Fachpublikum richten. Inspirierend und lehrreich waren für mich auch die intensiven Diskussionen in meinen regelmäßigen transdisziplinären Seminaren und Workshops an den Universitäten Basel, Tübingen, Kassel und Frankfurt zur Medizin-, Medien- und Wissenschaftsethik sowie den Blockseminaren „Ethisches Argumentieren in der Praxis. Bausteine zur begründeten Entscheidungsfindung“ an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Baden-​Württemberg. Um die Korrektheit der Darlegungen bestmöglich sicherzustellen, war darüber hinaus der Austausch mit Spezialisten unverzichtbar. Mein großer Dank gilt folgenden namhaften Professoren und Experten für die einzelnen Bereichsethiken, die sich bereit erklärten, die entsprechenden Kapitel der Erstauflage sorgfältig durchzusehen und kritisch zu kommentieren:

Medizinethik:

(Kap. 2)

Prof. Dr. med. Georg Marckmann, (Ludwig-Maximilians-Universität München)

Naturethik:

(Kap. 3)

Prof. em. Dr. phil. Dieter Birnbacher (Universität Düsseldorf)

Wissenschaftsethik:

(Kap. 4)

Prof. em. Dr. phil. Dr. h. c. mult. Hans Lenk (Universität Karlsruhe)

Technikethik:

(Kap. 5)

Prof. em. Dr. Ing. Günter Ropohl (Universität Frankfurt)

Medienethik:

(Kap. 6)

Prof. em. Dr. Rüdiger Funiok (Hochschule für Philosophie in München)

Wirtschaftsethik:

(Kap. 7)

Prof. em. Dr. rer. Pol. Peter Ulrich (Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen)

Einen außerordentlichen Zuwachs an Aufmerksamkeit erfuhr im letzten Jahrzehnt der sich als immer problematischer erweisende Umgang mit der außermenschlichen Natur. In der Angewandten Ethik wird der Teilbereich der „Naturethik“ heute meist weiter unterteilt in eine Umwelt- und Tierethik. Für die Lektüre, die vielen Anregungen und Diskussionen des entsprechenden Kapitels der Neuauflage danke ich ganz herzlich der Tübinger Umweltethikerin Uta EserEser, Uta und dem Ethikdozenten und Mitarbeiter der Pharmazeutischen Biologie der Universität Tübingen Wolfgang Kornberger.

Im Zuge der Digitalisierung kam es zwischenzeitlich auch zu erheblichen Veränderungen im Gegenstandsbereich der Medien- und Technikethik. Die neu geschriebenen bzw. stark überarbeiteten Kapitel zur Robotik (Kap. 5.4) und zur Medienethik, insbesondere der Internetethik (Kap. 6.3), wurden dankenswerterweise begutachtet von PD Dr. Jessica HeesenHeesen, Jessica, Medienethikerin an der Universität Tübingen, und Prof. Karoline Reinhardt, Juniorprofessorin für Angewandte Ethik an der Universität Passau.

1Einleitung

Die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik eröffnet den Menschen viele neue Handlungsmöglichkeiten. Sie sind teilweise mit erheblichen ethischen Schwierigkeiten und Konflikten verknüpft, die durch die bestehenden Rechtsnormen und traditionellen moralischen Normen nicht geregelt werden. Viele neue ethische Fragestellungen beziehen sich auf Handlungsbereiche, die erst seit wenigen Jahren oder Jahrzehnten überhaupt offenstehen oder die erst jetzt als ethisch relevant betrachtet werden: Sollen neue Biotechnologien wie z. B. die Gentechnik für ManipulationenManipulation am Erbgut von Embryonen oder Erwachsenen mittels einer Genschere angewandt werden, obgleich die Risiken schwer abschätzbar sind und die Würde der Lebewesen verletzt werden könnte? Kommt es durch immer einfachere Möglichkeiten der pränatalen und Präimplantationsdiagnostik nicht zu einer vorgeburtlichen „Qualitätsprüfung“ und gezielten Selektion der Embryonen? Fördert die egalitäre interaktive Struktur und emanzipatorische Kraft des Internets die Demokratie mit öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozessen oder führt sie ganz im Gegenteil zum Zerfall der Öffentlichkeit in Filterblasen und Blogs mit Radikalisierungstendenzen und sinkender moralischer Hemmschwelle? Dürfen weiterhin Autoabgase und Kohlendioxide aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe in die Atmosphäre entlassen werden, die den fortschreitenden Klimawandel mit weltweiten verheerenden Folgen verstärken? Ist der Fleischkonsum noch zu verantworten angesichts der desaströsen Öko-Bilanz und der sich verschlechternden Lebensbedingungen der Tiere in der industriellen Massentierhaltung infolge der zunehmenden Technisierung? Wie ist der Einzug von künstlicher Intelligenz in immer mehr Lebensbereiche wie z. B. beim Autonomen Fahren oder beim Einsatz von Pflegerobotern in einer alternden Gesellschaft zu bewerten? Ist es ethisch vertretbar, im Rahmen einer globalisierten Wirtschaft die Handelsware Tausende von Kilometern weit von einem Land ins andere zu transportieren, um höhere Gewinne zu erzielen?

Alle diese gegenwartsdringlichen Fragen zeigen komplexe gesellschaftliche Problemfelder auf. Sie lassen sich letztlich alle auf die Grundfrage der philosophischen EthikEthik zurückführen: „Wie sollen wir handeln?“ bzw. „Welches Handeln ist gut oder richtig?“. Gerade angesichts der hohen Risiken der in Frage stehenden Handlungsweisen müssen in der Praxis oft rasch konkrete Lösungen und Regelungen gefunden werden. Infolge des gestiegenen praktischen Orientierungsbedarfs setzen viele in der Politik und in der Öffentlichkeit ihre Hoffnung auf die EthikEthik und insbesondere die noch junge Angewandte Ethik. Überall werden Ethik-Kommissionen, Ethik-Räte und Gremien ins Leben gerufen und institutionalisiert, sodass bisweilen von einem Ethik-Boom die Rede ist. Nur wenige der zur Diskussion stehenden Probleme sind dabei ausschließlich eine Sache der privaten Lebensführung, des persönlichen guten Lebens. Es geht meist nicht oder nicht allein um das Wohl Einzelner, sondern das Wohl der Gemeinschaft und oft sogar die natürliche Lebensgrundlage aller Lebewesen. Die Probleme sprengen aber auch insofern den privaten Entscheidungsbereich von Individuen, als nach Handlungsorientierungen für eine ganze Gemeinschaft gesucht wird: Es handelt sich um öffentliche Angelegenheiten, die allgemeine ethische Richtlinien erfordern. Daher entfachen sie breite und lebhafte öffentliche Debatten, die allzu oft sehr emotional ausgetragen werden. Das vorliegende Buch möchte einen Beitrag zur Versachlichung dieser Diskussionen leisten, indem es die Standpunkte und Argumentationen bezüglich der verschiedenen Streitfragen systematisch dargelegt und sachlich analysiert. Die verschiedenen Beurteilungsperspektiven werden freigelegt und auf ihre Voraussetzungen oder Hintergrundannahmen hin geprüft. Es wird gezeigt, wie sich die Stichhaltigkeit von Begründungen und Positionen kritisch hinterfragen und die Pro- und Kontra-Argumente gegeneinander abwägen lassen. Ziel ist es, die Leser für die drängenden ethischen Probleme unserer Gesellschaft zu sensibilisieren, ihr persönliches ethisches Urteilsvermögen zu schärfen und ihnen eine eigene klare und begründete Stellungnahme zu aktuellen ethischen Fragen zu ermöglichen.

1.1Ethik und Angewandte Ethik

Die EthikEthik versucht ganz generell die Frage zu beantworten, wie die Menschen handeln sollen. Anders als die theologische Ethik setzt die philosophische säkulare EthikEthik bei der Beantwortung dieser Frage keinen Glauben an eine bestimmte Religion voraus. Sie verzichtet auf jeden Rückgriff auf heilige Texte oder einen göttlichen Willen und appelliert ausschließlich an die kritische Vernunft der Menschen. Die philosophische Ethik ist eine Disziplin der praktischen PhilosophiePhilosophie, die allgemeine Prinzipen oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage nach dem richtigen menschlichen Handeln zu begründen sucht (vgl. Ethik, 18). Im Unterschied zur theoretischen Philosophie, die sich dem „Sein“, also dem, was ist, widmet, beschäftigt sich die praktische Philosophie mit dem „Sollen“, d. h. den Empfehlungen oder Vorschriften bezüglich des Handelns. Sie zielt nicht wie jene auf theoretisches Wissen und auf das Ideal der Wahrheit ab, sondern auf praktische Orientierung und die Idee des Guten oder normativ Richtigen. Ihre Grundfrage lautet nicht „Was kann ich wissen?“ oder „Was kann ich erkennen?“, sondern „Was soll ich tun?“ bzw. „Warum ist es gut, dies oder jenes zu tun?“. Diese ethische Grundfrage lässt sich entweder mit Blick auf die persönliche Lebensführung und die Eigeninteressen der handelnden Person stellen (prudentielle Perspektive) oder aber hinsichtlich dessen, was mit Blick auf die Gemeinschaft als Ganze oder die Interessen aller Betroffenen das Beste wäre (moralische Perspektive). Wo es um das für das Individuum Gute, um sein persönliches GlückGlück oder gutes Lebengutes Leben geht, spricht man von Individual-EthikIndividual-/Strebensethik oder Strebensethik oder auch von Ethik des guten Lebens. Steht hingegen das für die Gemeinschaft Gute oder Gerechtigkeit im Zusammenleben der Menschen im Zentrum, nimmt man die Perspektive der SozialethikEthikSozial-/Sollensethik, Sollensethik oder Moralphilosophie ein. Es werden für diese beiden grundlegenden Perspektiven oder Dimensionen in der EthikEthik auch die Attribute „prudentiell“ und „moralisch“ verwendet (vgl. Ethik, 21f.).

Es soll noch angemerkt werden, dass mit dieser Ethik-Definition genau genommen die normative Ethik bestimmt worden ist. Neben einer „normativen Ethik“ gibt es nämlich auch noch die „deskriptive“ sowie eine „MetaethikEthiknormative/deskriptive/Meta-Ethik“ (vgl. ebd., 19f.): Die deskriptive Ethik beschreibt lediglich, welche Wertvorstellungen und Normen in einer historisch-kulturellen Gemeinschaft tatsächlich galten oder gelten. Man stellt also beispielsweise fest, dass in christlichen Gemeinschaften die Selbsttötung verboten ist oder bei gewissen Völkern der Innuit alte, schwache Menschen in den Tod geschickt wurden. Solche deskriptiven Aussagen gehören eher zum Aufgabenbereich eines empirisch arbeitenden Soziologen oder Ethnologen als eines Philosophen. Demgegenüber analysiert die MetaethikEthiknormative/deskriptiveMeta-Ethik als Wissenschaftstheorie der EthikEthik die ethischen Grundbegriffe und Begründungsmethoden, etwa die Termini „sollen“ oder „gut“. Wer normative EthikEthik betreibt, kommt um wenigstens rudimentäre metaethische Erwägungen nicht herum. Denn die Klärung der sprachlichen Grundlagen und der Möglichkeiten ethischer Begründung ist für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit EthikEthik unverzichtbar. Wenn im Folgenden von „Ethik“ die Rede ist, soll aber in erster Linie die normative Ethik als Kernbereich dieser Disziplin gemeint sein.

Unter MoralMoral versteht man in der Neuzeit meist die Gesamtheit der NormenNormen zur Regelung des Zusammenlebens, die in einer Gemeinschaft gelten oder gelten sollen (vgl. SteiglederSteigleder, Klaus 2006, 16). NormenNormen sind Handlungsregeln in Form von Geboten oder Verboten wie etwa „Du sollst nicht lügen!“, „Du sollst Notleidenden helfen!“ oder „Du sollst nicht töten!“. Anspruch einer MoralMoral ist es, die Interessen der potentiell vom Handeln Betroffenen zu schützen und eine gerechte Form des Zusammenlebensgutes Leben in einer Gemeinschaft zu ermöglichen. Sie teilt mit der SozialethikEthikSozial-/Sollensethik also das moralische Anliegen des richtigen oder verantwortungsvollen Umgangs miteinander. Im Unterschied zu solchen situationsspezifischen Normen der MoralMoral gibt die Sozialethik oder Moralphilosophie aber keine direkten Handlungsanleitungen für konkrete Einzelhandlungen vor. Sie entwickelt vielmehr auf einer allgemeineren Ebene Prinzipien oder Kriterien, um konkrete Handlungen oder faktisch geltende NormenNormen zu beurteilen. Auf dieser abstrakten Ebene geht es etwa um die Begründung von Prinzipien wie „Menschenwürde“, „Autonomie“ oder „Gerechtigkeit“. Neben solchen inhaltlichen Prinzipien suchte man in der Philosophiegeschichte stets auch nach höchsten Moralprinzipien wie z. B. dem Kategorischen Imperativ von Immanuel KantKant, Immanuel, aus denen man sämtliche Prinzipien und Normen für das menschliche Handeln ableiten kann. Die Ethik bzw. Moralphilosophie befindet sich also auf einer höheren Reflexionsebene als die gelebte Moral und hinterfragt und prüft anhand solcher Prinzipien, welche in einer Gemeinschaft anerkannten oder neu einzuführenden moralischen NormenNormen den Anspruch auf ethische Legitimität erheben können. Die Moralphilosophie bzw. Sozialethik lässt sich auch aufgrund ihres höheren methodischen Anspruchs z. B. an das rationale Argumentieren als „Wissenschaft der MoralMoral“ bezeichnen (vgl. Ethik, 19).

Ethik: Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage zu begründen sucht, wie man handeln soll

Individual-/Strebensethik/Ethik des guten Lebens

Sozial-/Sollensethik/Moralphilosophie

Theorie des Glücks bzw. des guten Lebens der Einzelindividuen

Theorie der Moral bzw. des gerechten Zusammenlebens in der Gemeinschaft

prudentielle Perspektive:

gut für das handelnde Individuum;

Blick auf persönliche Interessen

moralische Perspektive:

gut für die Gemeinschaft als Ganze;

Rücksicht auf die Interessen anderer

Ratschläge und Empfehlungen für die je eigene Lebensgestaltung

allgemeine Sollensforderungen (Gebote, Verbote) zum Schutz aller vom Handeln Betroffenen

z.B. Wenn Du glücklich sein willst, kümmere Dich um Deine Gesundheit!

z.B. Du sollst in der Gegenwart von Nichtrauchern nicht rauchen!

Moralische Perspektive

Da die meisten Probleme der Angewandten Ethik das Wohl der Gesellschaft bzw. Weltgemeinschaft oder deren Lebensgrundlage betreffen, erfordert ihre Beantwortung die Einnahme der moralischenMoralPerspektive. Während die IndividualethikEthikIndividual-/Strebensethik lediglich Empfehlungen für die je eigene Lebensgestaltung gibt, zielt die SollensethikEthikSozial-/Sollensethik auf allgemeingültige Sollensforderungen ab. Kennzeichnend für moralischesMoral Denken und Handeln ist daher zum einen das formale Kriterium der Allgemeinheit und kategorischen Gültigkeit, das sich auch als formales Universalisierungsprinzip oder Gleichheitsgebot formulieren lässt: Was in einer bestimmten Situation geboten oder verboten ist, muss für jede Person in einer vergleichbaren Situation unter ähnlichen Umständen geboten oder verboten sein (vgl. Ethik, 14). Als materiales Kennzeichen moralischen Denkens und Handelns fungiert die Einnahme des typischen „objektiven“ oder „unparteiischen Standpunktes der Moral“: Während aus der prudentiellen Perspektive nur die eigenen BedürfnisseBedürfnisse und Wünsche ins Blickfeld treten, gilt es aus moralischer Sicht diesen subjektiven Standpunkt des privaten GlücksstrebensGlück gerade zu transzendieren. Ungeachtet persönlicher Freundschafts- und Feindschaftsbeziehungen müssen von einer höheren Warte aus alle berechtigten, d. h. argumentativ rechtfertigbaren Bedürfnisse und Interessen der vom Handeln Betroffenen gleich und unparteiisch berücksichtigt werden. Keine Beachtung dürfen dabei rein egoistische und asoziale Interessen finden, etwa der Wunsch nach dem Tod des persönlichen Erzfeindes oder nach dem Eigentum des wohlhabenden Nachbarn. Die moralische Rücksichtnahme beschränkt sich hingegen nicht nur auf Menschen, sondern erstreckt sich in der Angewandten Ethik auch auf Tiere oder die gesamte Natur. Der Begriff „Sozialethik“ erweist sich insofern als zu eng, wie im Kapitel 3 zur „Naturethik“ deutlich wird.

Moral: Gesamtheit der geltenden Normen zur Regelung des menschlichen Zusammenlebens bzw. zum Schutz aller potentiell vom Handeln Betroffenen

formales Kennzeichen moralischer Normen:

Allgemeinheit, Universalisierbarkeit

Was für eine Person moralisch richtig ist, muss für jede andere Person in einer vergleichbaren Situation auch moralisch richtig sein.

materiales Kennzeichen moralischer Normen:

unparteiischer, objektiver Standpunkt

Moralisch richtig ist eine Handlung oder eine Norm, wenn dabei von einem unparteiischen Standpunkt aus die berechtigten Interessen oder das Wohl aller Betroffenen gleichermaßen berücksichtigt wurden.

Akteurs- und InstitutionenethikEthikInstitutionenethik

In der Angewandten Ethik wird der „IndividualethikEthikIndividual-/Strebensethik“ häufig nicht die „SozialethikEthikSozial-/Sollensethik“, sondern die „InstitutionenethikEthikInstitutionenethik“ entgegengesetzt, die teilweise als Synonym zu „Sozialethik“ verwendet wird (vgl. KettnerKettner, Matthias 1994, 247; GöbelGöbel, Elisabeth, 42f.): Während es bei der individualethischen Betrachtungsweise um das Handeln, die ethische Grundhaltung oder das Berufsethos einzelner Personen geht, beziehe sich die sozialethische Perspektive auf die organisatorischen bzw. institutionellen Zusammenhänge (vgl. FuniokFuniok, Rüdiger 2002, 47). Eine InstitutionenethikEthikInstitutionenethik soll hier als ein Teilbereich der Sozialethik verstanden werden, der sich mit der Klärung der Legitimität von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen oder rechtlichen Institutionen sowie der Frage nach einer kollektiven VerantwortungVerantwortung beschäftigt. Institutionen sind generell ethisch wünschbar, wenn sie als eine geeignete Rahmenordnung das moralische Handeln der beteiligten Akteure begünstigen und der Verwirklichung des moralischen Ideals eines gerechten Zusammenlebens dienen. Sie können zwar nicht wie handelnde Personen Verantwortungssubjekte sein, sehr wohl aber Verantwortungsträger, die im Fall negativer Folgen für Um- oder Mitwelt die Verantwortung übernehmen müssen. Im Gegensatz zur individuellen Verantwortung einzelner Handlungssubjekte spricht man beim kollektiven Handeln z. B. in Unternehmen oder Forschungsgruppen von einer kollektiven oder institutionellen Verantwortung. Diese Verantwortung von Institutionen oder Korporationen ist stets zurückgebunden an die individuelle Verantwortung von Personen, z. B. durch ein Sanktionensystem oder Mechanismen einer internen Verantwortungsverteilung (vgl. Werner, 545). In der Ethik geht es letztlich immer um Handlungen von Personen, auch wenn diese hochgradig koordiniert und aggregiert sind (vgl. Kettner 1994, 247). Um der begrifflichen Klarheit willen wird hier der Institutionenethik als Teiltheorie der Sozialethik nicht die Individualethik, sondern die sich an einzelne Akteure oder Handlungssubjekte richtende AkteursethikEthikAkteursethik entgegengesetzt.

Akteursethik

Institutionenethik

Handlungssubjekte

Institutionen (Unternehmen, Forschungsgruppen, etc.)

Verantwortung für die Folgen des individuellen Handelns und die persönliche Handlungsabsicht beim kollektiven Handeln

Verantwortung für die Folgen des kollektiven Handelns

 

individuelle Verantwortung

kollektive/institutionelle Verantwortung

Institutionen sind ethisch wünschbar, wenn sie:

das moralische Handeln der Einzelnen begünstigen

dem Ideal des gerechten Zusammenlebens dienen

Moral und RechtMoralMoral/Recht

Da viele gegenwartsdringliche moralische Konflikte Folgen kollektiven Handelns darstellen und menschliche Handlungsverflechtungen im Zuge der GlobalisierungGlobalisierung immer vielfältiger und weitreichender geworden sind, erfordern die meisten auch politische und rechtliche Maßnahmen. Im Idealfall ergänzen sich moralische und rechtliche NormenNormen, also Moral und Recht. Der grundlegendste Unterschied zwischen moralischen und rechtlichen Regeln besteht darin, dass die rechtlichen Regeln schriftlich fixiert sind und prinzipiell für alle Menschen einsehbar sind. Sie steuern primär das äußere Verhalten der Menschen. Wer sich an die Gesetze hält und beispielsweise fremdes Eigentum unangetastet lässt, handelt juristisch betrachtet richtig. Gleichgültig ist hingegen, welche Gesinnung hinter seinem Verhalten steht, ob er es also beispielsweise zähneknirschend oder aus Überzeugung tut (vgl. ThurnherrThurnherr, Urs, 87f.). Anders verhält es sich bei moralischen Normen, die nicht in allgemeingültigen Gesetzestexten niedergeschrieben sind und so lange gelten, wie sie von einer Gruppe von Menschen anerkannt werden. Sie stellen grundsätzlich innere Regulierungsformen dar, die auf die Einsicht der Menschen, auf ihre Selbstverpflichtung und Selbstregulation setzen. Anders als Rechtsverletzungen sind sie nicht einklagbar, und Verstöße werden nicht mit institutionalisierten juristischen Sanktionen wie Buße und Gefängnisstrafen geahndet. Neben den inneren Sanktionen wie Scham oder schlechtes Gewissen stehen ihnen nur soziale Sanktionsmöglichkeiten wie Verachtung, Tadel oder Ausgrenzung zur Verfügung. Da moralische Normen auf Einsicht und Freiwilligkeit der Menschen bauen, sind sie in vielen Handlungsbereichen zu schwach und müssen durch rechtliche Regulierungen unterstützt werden. Andererseits können sie im Unterschied zum schriftlich fixierten Recht viel flexibler auf gesellschaftliche Veränderungen oder neue moralische Probleme reagieren.

Rechtliche Normen

Moralische Normen

Geltung durch Autorität des schriftlichen Gesetzes

Geltung durch Einsicht und Anerkennung

Steuerung des äußeren Verhaltens

Steuerung der inneren Gesinnung

juristische Sanktionen wie Bußen oder Gefängnisstrafen

moralische Sanktionen wie Scham, schlechtes Gewissen, Tadel, Ausgrenzung

Allgemeine und Angewandte EthikAllgemeine/Angewandte Ethik

Die Bezeichnung Angewandte Ethik ist nicht unumstritten. Wenn Ethik eine Disziplin der praktischen Philosophie darstellt und „angewandt“ so viel wie „praktisch“ bedeutet, wäre die „Angewandte Ethik“ eine „praktische praktische Philosophie“, was tautologisch klingt (vgl. ViethVieth, Andreas, 19; StoeckerStoecker, Ralph u. a., 3). Noch viel offenkundiger liegt ein Pleonasmus vor bei terminologischen Alternativen wie „praktische Ethik“ bzw. „practical ethics“ (vgl. KettnerKettner, Matthias 1992, 9; Beauchamp u.a.Beauchamp/Childress, 4). Denn im Unterschied zur theoretischen Philosophie bemüht sich die praktische Philosophie seit ihren Anfängen nicht nur um theoretisches Wissen, sondern um die Orientierung der Menschen im Handeln (vgl. AristotelesAristoteles: NE, 1103, 27b). Die Anwendungsdimension ist also ein Zielpunkt jeder ethischen Reflexion, und nicht nur ein nachträglich der Theorie hinzugefügtes Anhängsel (vgl. DüwellDüwell, Marcus 2011, 243). Nun hat sich aber die neuzeitliche Ethik seit Immanuel KantKant, Immanuel immer stärker auf die schwierige Problematik einer rationalen Begründung allgemeiner Moralprinzipien konzentriert, wodurch der Anwendungsbezug in den Hintergrund rückte. Paradebeispiel für diese Einseitigkeit ist Kants Vernunftethik, bei der das höchste Moralprinzip des Kategorischen Imperativ rein durch vernünftige Überlegungen hergeleitet wird: Gemäß dem formalen Kennzeichen der Moral kann ein Handeln nur universelle Gültigkeit und moralische Richtigkeit beanspruchen, wenn sich die ihm zugrundeliegende Handlungsregel als allgemeines Gesetz denken lässt (vgl. GMS, BA 52; Ethik, 257). Kant hat zwar das Verfahren zur Prüfung der Verallgemeinerbarkeit von Handlungsregeln anhand von vier Anschauungsbeispielen erläutert, um deren richtige Interpretation in der Sekundärliteratur bis heute gestritten wird (vgl. ebd., BA 53-56). Die Beispiele dienen aber an dieser Stelle nur als Mittel zur Illustration der ethischen Theorie, sodass die Anwendung bei Kant nebensächlich bleibt. Eine weitere, insbesondere im angelsächsischen Sprachraum verbreitete Strömung führt von der Anwendung weg, indem sie sich ganz auf metaethische Fragestellungen konzentriert (vgl. Düwell 2011, 244). Dabei wird teilweise radikal an der Begründbarkeit moralischer Normen und damit an der Möglichkeit einer normativen Ethik gezweifelt. Diese Fokussierung der akademischen praktischen Philosophie auf Grundsatzfragen führte zu einer Vernachlässigung und Abwertung des Anwendungsproblems (vgl. BayertzBayertz, Kurt 1991, 13).

In den 1960er Jahren traten aber die negativen Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts immer deutlicher zutage, allen voran die ökologischen Krisen wie Waldsterben und Ozonloch (vgl. DüwellDüwell, Marcus 2011 244; StoeckerStoecker, Ralph u. a., 4). Auch wuchs die öffentliche Kritik an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen wie z. B. der Rassendiskriminierung, dem Vietnamkrieg oder der Unterstützung diktatorischer Regime. Angesichts dieser enormen gesellschaftlichen Herausforderungen wurde der Ruf nach mehr konkreter Orientierung durch die Ethik in der Öffentlichkeit lauter. Immer mehr jüngere Philosophen begannen sich für die Rehabilitierung des Anwendungsbezugs einzusetzen, um den Menschen Hilfestellungen beim Lösen der konkreten Probleme geben zu können. Die normative Ethik spaltete sich auf in eine „begründungsorientierte“ und eine „anwendungsorientierte“ oder „problembezogene“ Ethik bzw. in eine Allgemeine EthikAllgemeine/Angewandte Ethik und eine Angewandte Ethik (vgl. BayertzBayertz, Kurt 1991, 23). Trotz aller Vorbehalte gegenüber dem Begriff einer Angewandten oder anwendungsbezogenen Ethik bringt er treffend zum Ausdruck, dass die Beschäftigung mit Ethik aus dem praktischen Interesse an bestimmten Anwendungen bzw. konkreten Problemen hervorgeht (vgl. Stoecker u. a., 5). Diese dienen anders als in der Allgemeinen EthikAllgemeine/Angewandte Ethik nicht nur als Anschauungsmaterial, sondern bilden vielmehr den Ausgangspunkt genauso wie den Zielpunkt anwendungsbezogener ethischer Reflexionen: Angewandte Ethik versucht den Menschen Hilfestellungen zur richtigen moralischen Entscheidungsfindung zu geben in Situationen, in denen Unklarheit über das moralisch Richtige vorliegt (vgl. ebd., 4). Wie in Kapitel 1.4 zu zeigen sein wird, hat sich die Angewandte Ethik in den letzten Jahrzehnten in verschiedene Anwendungsbereiche ausdifferenziert. Angewandte Ethik wird daher häufig rein extensional definiert als Summe der einzelnen sogenannten BereichsethikenEthikBereichsethik.

Top down- und Bottomup-ModelleAngewandte EthikBottom up-ModellAngewandter Ethik

Die Angewandte Ethik wird durchaus unterschiedlich definiert, je nachdem wie der Anwendungsbezug näher konkretisiert wird. Zunächst liegt ein deduktives Modell oder Top down-ModellAngewandte EthikTop down-Modell nahe, bei dem die in der Allgemeinen Ethik begründeten universellen Prinzipien auf die praktischen Probleme angewendet werden (vgl. StoeckerStoecker, Ralph u. a., 5). Analog zum Hempel-Oppenheim-Schema wird in diesem Modell davon ausgegangen, dass sich aus den gegebenen allgemeinen Prinzipien und den konkreten situativen Umständen die richtige Handlungsweise ableiten, d. h. „deduzieren“ lässt. Als grundlegende Prinzipien bei diesem Vorgehen bieten sich beispielsweise KantsKant, Immanuel Kategorischer Imperativ oder das utilitaristische Moralprinzip an. Definiert wird die Angewandte Ethik bei diesem Verständnis als „philosophische Disziplin“, die eine „systematische Anwendung normativ-ethischer Prinzipien auf Handlungsräume, Berufsfelder und Sachgebiete“ leistet (ThurnherrThurnherr, Urs, 14). Es handelt sich dann um eine „angewandte Wissenschaft“, die genauso wie die begründungsorientierte Allgemeine Ethik von akademischen Philosophen betrieben wird (PieperPieper, Annemarie 2001, 78). Von dieser soll sie sich lediglich durch ihre Spezialisierung auf medizinische, ökologische, medienspezifische o. ä. Probleme unterscheiden.

Demgegenüber werden in einem induktivenBegründungsmodelleinduktiv Modell oder Bottom up-ModellAngewandte EthikBottom up-Modell Angewandter Ethik generelle Prinzipien nicht abgeleitet, sondern aus den gesammelten Erfahrungen mit ähnlichen Problemfällen hergeleitet oder „induziert“. Im Gegensatz zum deduktiven Modell stehen hier nicht ethische Theorien, sondern kontextgebundene Einzelurteile, fallbezogene Erfahrungen und persönliche Wertvorstellungen im Zentrum. Wo nicht gänzlich auf allgemeine Regeln oder Prinzipien verzichtet wird, sind sie höchstens nachträgliche Systematisierungen partikularer Urteile ohne eigene Begründungsfunktion (vgl. Schöne-SeifertSchöne-Seifert, Bettina, 25). Angewandte Ethik stellt aus dieser Warte ein Gegenmodell zu den Ansprüchen der neuzeitlichen Ethik auf Universalität und Unparteilichkeit dar (vgl. ViethVieth, Andreas, 14). Ein durch akute Schwierigkeiten ausgelöstes Klärungsbedürfnis erfordere keineswegs die Ethik als wissenschaftliche Disziplin der PhilosophiePhilosophie, da diese vielmehr selbst Gegenstand der Kritik sei (vgl. Kaminsky, 144). Folglich ließe sich Angewandte Ethik weder als philosophische Disziplin noch über ihren Anwendungscharakter definieren. Sie wird statt als „reine Wissenschaft“ als Tätigkeit des demokratischen Sich-Beratens aufgefasst, die zwischen Wissenschaft und Politik vermittelt (vgl. ebd., 149; KettnerKettner, Matthias 2000, 398). So wird etwa die Bioethik in der Öffentlichkeit weniger als akademischer wissenschaftlicher Diskurs von Philosophie und Theologie verstanden, sondern als öffentliche Debatte und „Aktivität auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ (DüwellDüwell, Marcus 2011, 245).

Top down-Modell: deduktiv

Definition (1) Angewandter Ethik

Bottom up-Modell: induktiv

Definition (2) Angewandter Ethik

Disziplin der normativen Ethik, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien auf spezifische Handlungsbereiche anwendet

Handlungsanweisungen werden aus universellen Prinzipien abgeleitet („deduziert“)

Tätigkeit des öffentlichen Sich-Beratens mit dem Ziel, Probleme in konkreten Situationen zu lösen

 

Allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien werden aus praktischen Erfahrungen hergeleitet („induziert“)

primär: ethische Theorie

Begründung von Moralprinzipien

z.B.: Kants Kategorischer Imperativ

ethische Theorie: fehlt

daraus abgeleitete Prinzipien

z.B.: Verbot des falschen Versprechens

daraus hergeleitete Prinzipien

z.B.: Verbot des falschen Versprechens

sekundär: daraus abgeleitete moralische Einzelurteile

z.B.: Du sollst in dieser Situation kein falsches Versprechen ablegen!

primär: Erfahrungen und Urteile in Einzelfällen des praktischen Alltags

z.B.: Falsches Versprechen wird von den meisten Menschen verurteilt.

Wenn von der „Entstehung“ der Angewandten EthikAngewandte Ethik in den 1960er Jahren die Rede ist, hat man dabei primär die Institutionalisierung der Angewandten EthikAngewandte Ethik als einer neuen philosophischen Disziplin im Sinne der Definition (1) im Auge (vgl. StoeckerStoecker, Ralph u. a., 4f.). Während Angewandte EthikAngewandte Ethik als „practical ethics“ in den USA bereits in den 1970er Jahren einen spektakulären Boom erlebte, schwappte dieser erst mit einiger Verspätung auf die Alte Welt über (vgl. KettnerKettner, Matthias 1992, 9): Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden an deutschen Universitäten die ersten Lehrstühle für Angewandte EthikAngewandte Ethik eingerichtet, und es werden immer mehr weiterbildende Masterstudiengänge zur Erlangung eines „Master of Advanced Studies in Applied Ethics“ angeboten. Es entstanden beispielsweise „Akademien für Ethik in der Medizin“, und Medizinethik hat seit 2003 einen festen Platz im Lehrplan des Medizinstudiums. Neben neuen Lehrstühlen gab es immer mehr Forschungsinstitute, Fachvereinigungen und Fachzeitschriften wie etwa Ethik in der Medizin oder Ethics and the Environment, sodass die Bedingungen für ein neues wissenschaftliches Paradigma erfüllt sind. Wird Angewandte EthikAngewandte Ethik demgegenüber allgemeiner im Sinne (2) einer Beschäftigung mit konkreten praktischen Problemen verstanden, hat sie eine lange Tradition z. B. im Standesethos der Ärzte oder in der Kasuistik des 17. Jahrhunderts (vgl. DüwellDüwell, Marcus 2011, 244; vgl. Kap. 1.2).

Je größer das Themenspektrum der Angewandte EthikAngewandte Ethik und die gesellschaftliche Bedeutung der verhandelten Themen ab den 1960er Jahren wurde, veränderte sich auch das Profil der Angewandten EthikAngewandte Ethik: Insbesondere in den USA ist eine starke Tendenz der Angewandten Ethik zu erkennen, sich institutionell und professionell von der philosophischen Ethik abzukoppeln (vgl. Friesen u. a., 19). Auf der einen Seite (1) hat sich also die Angewandte Ethik eindeutig als neue philosophische Disziplin an den Universitäten etablieren können. Dabei kommt sie nicht um die interdisziplinäre Arbeitsweise herum, weil je nach Art der konkreten Probleme sehr viel empirisches Fachwissen aus den jeweiligen Handlungsfeldern erforderlich ist (vgl. Kap. 1.3). Auf der anderen Seite (2) treibt die Angewandte EthikAngewandte Ethik über die Grenzen der akademischen Philosophie hinaus und wird von vielen Vertretern als transakademisches Engagement in Ethikkommissionen, Gremien und in der Politikberatung verstanden (vgl. BayertzBayertz, Kurt 2004, 54). Es drohen dann allerdings die Grenzen zu verwischen zwischen der Politik, in der es um Mehrheitsverhältnisse zwischen verschiedenen weltanschaulichen und Interessengruppen geht, und der Ethik, die moralische Argumentationen einer Prüfung und Kritik unterzieht (vgl. DüwellDüwell, Marcus 2011, 245). Eine weite Begriffsverwendung scheint nur so lange legitim zu sein, als zumindest die philosophischen Methoden der Begriffsanalyse und kritischen Prüfung von Argumenten auf ihre logische Folgerichtigkeit und ungenannten Voraussetzungen hin „angewendet“ werden (vgl. Kap. 1.3).

Angewandte Ethik: sowohl eine an Universitäten etablierte interdisziplinäre wissenschaftliche Disziplin (1) als auch eine transakademische Beratertätigkeit in Kommissionen und Gremien (2), die mit philosophischen Mitteln der Begriffsanalyse und kritischen Prüfung von Argumenten öffentliche Entscheidungsprozesse bezüglich drängender gesellschaftlicher Zeitfragen voranzubringen versuchen.

1.2Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis

Wie im vorangegangenen Kapitel bereits anklang, wird das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Angewandten EthikAngewandte Ethik sehr unterschiedlich beurteilt. Die meisten wissenschaftlichen Beiträge von Philosophen beschäftigen sich mit abstrakten ethischen Konzepten und theoretischen Überlegungen, die sie im Sinne des Top down-ModellsAngewandte EthikTop down-Modell für die Orientierung in der Praxis fruchtbar machen wollen. Bottom up-ModelleAngewandte EthikBottom up-Modell hingegen bekamen Ende des 20. Jahrhunderts Auftrieb durch die Renaissance der Kasuistik in der Medizinethik, ausgelöst durch die Abhandlung The Abuse of Casuistry: A history of moral reasoning (1988) der beiden Philosophen Albert JonsenJonsen, Albert und Stephen Toulmin. Bei der Kasuistik, abgeleitet von lateinisch „casus“: „Fall, Vorkommen“ steht die Einzelfallbetrachtung im Zentrum. Die in der Biomedizin angewandte reine Kasuistik versucht, durch eine sorgfältige Beschreibung konkreter Probleme oder zusätzlich noch durch Vergleiche und Analogien mit ähnlichen Fällen oder Präzedenzfällen zu moralischen Entscheidungen zu gelangen (vgl. StoeckerStoecker, Ralph u. a., 8; Schöne-SeifertSchöne-Seifert, Bettina, 25). Bei ihrer Tätigkeit in Ethikkommissionen machten Jonsen und Toulmin die Erfahrung, dass sich ein Konsens in moralischen Konfliktfällen wie z. B. über einen konkreten Schwangerschaftsabbruch niemals auf der Ebene abstrakter Prinzipien wie „Recht auf LebenRecht aufLeben“ des Embryos und „Recht auf SelbstbestimmungRecht aufSelbstbestimmung“ der Frau herstellen lasse (Jonsen u. a., 5). Einigkeit finde man immer nur „in einer geteilten Wahrnehmung dessen, was in ganz bestimmten menschlichen Situationen spezifisch auf dem Spiel steht“ (ebd., 18). Es gehe darum, in der jeweiligen konkreten Situation ein gerechtes Gleichgewicht zwischen Situationswahrnehmungen und -deutungen, Befürchtungen und Interessen, Wertvorstellungen und -intuitionen der Beteiligten zu finden (vgl. ViethVieth, Andreas, 8; 20). „Moral ernstnehmen heißt zuallererst, Menschen ernstnehmen“ (KymlickaKymlicka, Will 2000, 205). Die Rede ist auch von evaluativen Erfahrungen als einer Art und Weise,

wie Personen sich und Situationen bewertend erfahren: In der Ethikberatung beschreibt und bewertet man eine Situation, einen Fall oder auch mehr generelle Aspekte des Handelns. Beschreibung und Bewertung gehen Hand in Hand und folgen zunächst keinen anderen Regeln als denen, nach denen Personen gewohnt sind, sich und ihr Umfeld wertend (also evaluativ) zu erfahren. (ViethVieth, Andreas, 51)

 

Kritik an theoriefeindlichen Bottomup-ModellenAngewandte EthikBottom up-Modell

Insbesondere transakademisch engagierte Anhänger des Bottom up-ModellsAngewandte EthikBottom up-Modell (2) legen bisweilen eine beträchtliche Theoriefeindlichkeit an den Tag. Eine theoriefreie, rein praxisbezogene Angewandte Ethik hat aber mit einigen konzeptuellen Schwierigkeiten zu kämpfen: Wie präzise und sensibel auch immer eine konkrete Handlungssituation beschrieben wird, ergeben sich aus deskriptiven Schilderungen keinerlei Hinweise auf normative Handlungsorientierungen. Schließt man vom faktischen Sein, d. h. von wahrgenommenen Einzelfällen auf normative Aussagen, begeht man den in der philosophischen Ethik verpönten Sein-Sollen-FehlschlussSein-Sollen-Fehlschluss (vgl. Ethik, 120f.). Wird von „evaluativen Erfahrungen“ gesprochen, werden die Differenzen zwischen Beschreibungen und Bewertungen absichtlich verwischt, die angeblich „Hand in Hand“ gehen (vgl. ViethVieth, Andreas, 51). Hinsichtlich eines Schwangerschaftsabbruchs lässt sich aber beispielsweise im frühen menschlichen Embryo ein bloßer Zellhaufen sehen und daraus die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs herleiten. Oder aber man nimmt ein menschliches Leben wahr, dem Würde zukommt und das daher nicht getötet werden darf. Solche moralischen Intuitionen, Einzelfallurteile und Überzeugungen der beteiligten Personen können irrtümlich oder falsch sein, indem sie z. B. auf Unwissen, Vorurteilen, unreflektierten Prägungen durch Erziehung und Sozialisation oder irrationalen Ängsten und Hoffnungen basieren. Damit Einzelfallurteile nicht dezisionistisch, d. h. willkürlich sind, muss angegeben werden, welche Merkmale in einer vorliegenden Handlungssituation z. B. für den Beginn menschlichen Lebens oder die Zuschreibung von Würde entscheidend sind (vgl. BayertzBayertz, Kurt 1991, 19). Erforderlich sind allgemeine Gesichtspunkte oder Kriterien, die sich für alle nachvollziehbar begründen lassen. Auch bei Analogien und Verweisen auf Präzedenzfälle braucht es den Bezug auf generelle Prinzipien, um Ähnlichkeiten und deren ethische Relevanz aufzuweisen (vgl. StoeckerStoecker, Ralph u. a., 8). Angesichts des frühen Embryos lässt sich nämlich ebenso eine Analogie herstellen zu einer ethisch zulässigen Verhütung einer Schwangerschaft durch nidationshemmende Mittel als auch zu einem Neugeborenen, dessen Tötung nach allgemeinem Konsens verboten ist.

Sofern sich in aktuellen Handlungssituationen keine Übereinstimmung in den Einzelfallbetrachtungen einstellt und auch keine Analogie zu einem bereits gelösten Präzedenzfall weiterhilft, stoßen Bottom up-ModelleAngewandte EthikBottom up-Modell an ihre Grenzen. In der Angewandten Ethik werden jedoch meist moralische Konflikte erörtert, die sich häufig erst seit der Möglichkeit neuer Handlungsalternativen stellen. Empfohlen wird in Bottom up-Modellen dann oft ein kohärentistischer BegründungsansatzBegründungsmodellekohärentistisch, bei dem es mehr auf „Stimmigkeit“ als auf logische Schlüssigkeit ankommt: „Man stellt eine Balance her zwischen relevanten Gesichtspunkten und gewichtet alle Faktoren so lange immer wieder neu, bis sich ein klares Bild ergibt“ (ViethVieth, Andreas, 51). Wie unterschiedliche Sichtweisen und Werthaltungen sich ins Gleichgewicht bringen lassen, bleibt aber unklar. Wenn exemplarisch die Enkelin das Ableben der Großmutter als menschenunwürdig erlebt, für den behandelnden Arzt aber jedes biologische Am-Leben-Sein lebenswert ist, lässt sich schwerlich eine einzelfallbezogene Balance erzielen. Ob aus der Suche nach Kohärenz und Übereinstimmung überhaupt ein moralisch richtiges Urteil hervorgehen kann, ist ohnehin fraglich, wenn dabei sämtliche Interessen, Wertvorstellungen und Überzeugungen gleich gewichtet werden. Auch falsche moralische Intuitionen und irrtümliche Überzeugungen können nämlich in ein kohärentes System gebracht werden, wie etwa der lange Zeit bestehende Konsens über die Legitimität der Sklaverei zeigt. Sowohl individuelle Einzelfallurteile als auch angebliche Präzedenzfälle müssten deswegen kritisch hinterfragt und ethische Entscheidungen allgemein nachvollziehbar begründet werden. Statt von „induktiven“ Modellen wird manchmal in einer abgeschwächten Form von „rekonstruktiven Modellen“ gesprochen, wenn anders als bei einem rein empirischen induktiven Vorgehen die vorgefundenen moralischen Überzeugungen immerhin von logischen Unzulänglichkeiten befreit und systematisiert werden (vgl. BirnbacherBirnbacher, Dieter 2006, 35; StoeckerStoecker, Ralph u. a., 8).

Wenn radikale Vertreter von Bottom up-ModellenAngewandte EthikBottom up-Modell sämtliche allgemeinen Kategorien zurückweisen, müsste konsequenterweise in jedem Fall stets situativ neu entschieden werden. Einzelfalldarstellungen werden den meisten Problemen Angewandter Ethik aber auch deswegen nicht gerecht, weil es nur selten um isolierbare Einzelsituationen oder individuelle Entscheidungen geht. Weder das Problem der AbtreibungAbtreibung noch das der SterbehilfeSterbehilfe lässt sich auf die individualethische Fragestellung reduzieren, ob die Abtreibung für eine bestimmte schwangere Frau oder der Tod für eine sterbewillige Person in ihren je spezifischen Lebenssituationen vernünftig und ratsam seien. Die meisten moralischen Konflikte weisen vielmehr eine gesellschaftliche und politische Dimension auf: Zu diskutieren ist die sozialethische Frage, ob die institutionellen Rahmenbedingungen für bestimmte Handlungsweisen wie Abtreibung oder Sterbehilfe geschaffen werden dürfen. In demokratischen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen muss geklärt werden, ob diese Handlungsweisen als legitime institutionalisierte Praxis zugelassen werden sollen. Da sich Angewandte Ethik in der Regel mit öffentlichen Institutionen und politischen Handlungsoptionen zu befassen hat, ist eine „Fall-zu-Fall“-Ethik unzureichend (vgl. BayertzBayertz, Kurt 1991, 23). Ob eine Handlungsweise im Prinzip zulässig oder unzulässig ist, erfordert eine öffentliche Entscheidung und kann nicht durch Einzelfallabwägungen begründet werden. Um einen Dezisionismus zu vermeiden, müssen Vertreter des Bottom up-Modells die Ebene einzelner Fälle verlassen und sich auf einen grundsätzlichen argumentativen Diskurs über Gründe einlassen.

Kritik am Bottom up-Modell Angewandter Ethik

kohärentistische Begründung: In-Zusammenhang-Bringen von persönlichen Erfahrungen, Situationsdeutungen, Wertvorstellungen, moralischen Intuitionen und Interessen der Beteiligten

Kritik 1: Ergebnis hängt von ungeprüften Voraussetzungen ab:

Basis ethischer Entscheidungen

Einwände

Situationswahrnehmungen und Erfahrungen mit Einzelfällen

Befürchtungen, Interessen

Wertvorstellungen und -intuitionen (evaluative Erfahrungen)

Sein-Sollen-Fehlschluss (Tatsachen- aussagen → normative Aussagen)

Abwägung in Konfliktfällen unklar

Kriterien für berechtigte Interessen und für Güte der Wertvorstellungen und Intuitionen notwendig

Kritik 2: dezisionistische Fall-zu-Fall-Entscheidungen sind unzureichend:

Entscheidungen müssen auf der Basis von Gründen nachvollziehbar sein

gesellschaftliche Lösungen für institutionalisierte Praxis erforderlich

Kritik an kontextunsensiblen Topdown-ModellAngewandte EthikTop down-Modellen

Klassische Ansätze der philosophischen Ethik erscheinen für Problemlösungen in der moralischen Alltagspraxis als hinderlich oder irrelevant, weil sie von den konkreten evaluativen Erfahrungen, moralischen Überzeugungen, Ansprüchen und Interessen der Beteiligten in bestimmten Problemsituationen ablenken (vgl. ViethVieth, Andreas, 45f.). Die traditionelle moralphilosophische Perspektive der Universalität und Unparteilichkeit, die einzunehmen insbesondere etwa KantsKant, Immanuel Ethik des Kategorischen Imperativ auffordert, verhindert aus Sicht der Theorieskeptiker kontextsensible Situationswahrnehmungen. Je größer aber die Distanz zur Praxis und den Alltagserfahrungen der Betroffenen sei, desto weniger wahrscheinlich werde die Lösungsfindung bezüglich eines akuten Konfliktfalls (vgl. Kaminsky, 145f.). Häufig lehnen Vertreter des Bottom up-ModellsAngewandte EthikBottom up-Modell genau aus diesem Grund schon den Begriff der „Angewandten Ethik“ ab, weil er eine technische Anwendung philosophischer Theorien oder allgemeiner Prinzipien auf konkrete praktische Probleme im Sinne des Top down-ModellsAngewandte EthikTop down-Modell nahelegt. Die meisten Konfliktfälle in der moralischen Alltagspraxis sind aber zweifellos viel zu komplex, als dass eine simple, quasi-mechanische Anwendung allgemeiner Gesetze oder Normen zu angemessenen Lösungen führen würden (vgl. Hesse, 10f.).

Obgleich die Grundzüge dieser Kritik zutreffend sind, erweisen sich einige Pauschalisierungen bei näherer Betrachtung als überzogen. So ist es schwerlich korrekt, dass theoretisches Wissen und allgemeine Prinzipien automatisch die sensible Wahrnehmung des Einzelfalls vereiteln und von der Besonderheit einer spezifischen Situation ablenken. Dank allgemeiner Kriterien oder Prinzipien kann vielmehr die Aufmerksamkeit auf diejenigen Aspekte gelenkt werden, die in der jeweiligen Entscheidungssituation relevant sind. Allgemeine Gesichtspunkte oder Grundsätze regen also bestenfalls die ethische Reflexion an und weisen auf wichtige beondere Merkmale hin (vgl. KymlickaKymlicka, Will 1997, 231). Unangemessen ist aber in der Angewandten Ethik zweifellos die Vorstellung eines rein instrumentell-technischen Mitteleinsatzes und einer simplen Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine. Mit dem missverständlichen Begriff der „Anwendung“ kann nur eine hermeneutische Applikation oder ein Aktualisieren theoretischer philosophischer Erkenntnisse in verschiedenen lebenspraktischen Kontexten gemeint sein (vgl. OttOtt, Konrad 2004, 173; DüwellDüwell, Marcus 2011, 243). Meist geht es weniger um das Subsumieren des Einzelfalls unter generelle NormenNormen als um eine „normenbildende Anwendung“ (vgl. BayertzBayertz, Kurt 1991, 36f.): Die in der allgemeinen Ethik begründeten Prinzipien müssen inhaltlich fortgeschrieben und mit Blick auf bestimmte Handlungsfelder neu interpretiert, konkretisiert und weiterentwickelt werden. Wenn sich beispielsweise in der Abtreibungsfrage die abstrakten Prinzipien „Selbstbestimmung“ der Frau und „Recht auf LebenRecht aufLeben“ des Embryos scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen, müssen beide in der jeweiligen Handlungssituation inhaltlich präzisiert und miteinander vermittelt werden. Dieses Vorgehen wird in der Medizinethik und den anderen BereichsethikenEthikBereichsethik anhand von Beispielfällen näher erläutert (vgl. Kap. 2.3).

Gegen das Top down-ModellAngewandte EthikTop down-Modell wird außerdem immer wieder eingewandt, es gebe in der Ethik gar keine gesicherten Erkenntnisse, von denen ähnlich wie in der Angewandten Mathematik auf das moralisch richtige Handeln geschlossen werden könnte (vgl. StoeckerStoecker, Ralph u. a., 6). Tatsächlich wurden in der 2000jährigen Geschichte der Ethik ganz unterschiedliche und sich teilweise widersprechende allgemeine Moralprinzipien begründet. Als Paradebeispiel gilt der Gegensatz zwischen Kantianismus, der zur Universalisierung der in Erwägung gezogenen Handlungsregel im eigenen Kopf aufruft, und UtilitarismusUtilitarismus, der auf die größtmögliche Erfüllung der empirischen Bedürfnisse oder Interessen abzielt. In vielen Einführungen in die Angewandte Ethik werden die wichtigsten Theorietypen kurz charakterisiert (vgl. etwa DüwellDüwell, Marcus 2008, 60–99; Nida-RümelinNida-Rümelin, Julian 2005, 7–37, Beauchamp u.a.Beauchamp/Childress 47–110). Obschon die methodische Offenheit für verschiedene Theorien grundsätzlich zu begrüßen ist, werden die einzelnen Ansätze häufig einer so vernichtenden Kritik unterzogen und die Gegensätze zwischen ihnen derart hervorgehoben, dass der Wert ethischer Theoriebildung überhaupt bezweifelt werden muss. Wird hinsichtlich einer möglichen Anwendung dieser Theorien lediglich konditional angegeben, wie ein konkretes Problem aus Sicht des Kantianismus, Utilitarismus etc. gelöst werden könnte, wenn die entsprechende Theorie richtig wäre, ist dies zynisch und für die Angewandte Ethik wenig hilfreich (vgl. Beauchamp u. a., 44; KettnerKettner, Matthias 1992, 19). Trotz des Fehlens einer logisch zwingenden einheitlichen Theorie haben doch viele Philosophen beachtenswerte Aspekte, Perspektiven, Beurteilungskriterien und Argumente geliefert für die Beantwortung der Frage „Wie soll ich handeln?“. Ziel müsste es sein, alle kritikresistenten Theorieelemente zu einer umfassenderen normativ-ethischen Theorie als Grundlage Angewandter Ethik zu integrieren (vgl. Ethik, Kap. 9). Auch lassen sich durchaus Kriterien für eine gute ethische Theorie nennen wie z. B. Einfachheit (1), Klarheit (2), Widerspruchsfreiheit (3), Relevanz für möglichst viele Praxisfelder (4), die Übereinstimmung mit wissenschaftlichen und moralischen Grundüberzeugungen (5) und ein einleuchtendes Begründungsverfahren (6) (OttOtt, Konrad 1996, 75ff.). Eine rationale Theoriewahl stellt bereits einen Teil der Angewandten Ethik dar (vgl. ebd., 79).

Kritik am Top down-Modell Angewandter Ethik

Kritik 1: Mechanistische „Anwendung“ von Theorien/Prinzipien verhindert kontextsensible Situationswahrnehmung und lenkt von Alltagserfahrungen und Wertvorstellungen der Betroffenen ab.

Einwand: „Anwendung“ meint „hermeneutische Applikation“/„Aktualisieren“ theoretischer (philosophischer) Erkenntnisse in lebenspraktischen Kontexten.

→ Konkretisierung und Weiterentwicklung ethischer Prinzipien

Kritik 2: widersprechende Prinzipien/Kriterien in der philosophischen Ethik

Einwände:

Kombinierbarkeit kritikresistenter Theorieelemente

 

Kriterien für gute ethische Theorie:

Einfachheit

Klarheit

Widerspruchsfreiheit

Relevanz für möglichst viele Praxisfelder

Übereinstimmung mit wissenschaftlichen/moralischen Überzeugungen

einleuchtendes Begründungsverfahren

DiskursethikEthikDiskursethik

Besonders gut schneidet bei der Prüfung nach den erwähnten Kriterien die DiskursethikEthikDiskursethik ab, die im 20. Jahrhundert von Karl-Otto ApelApel, Karl-Otto und Jürgen HabermasHabermas, Jürgen begründet wurde (vgl. ebd., 79). Das diskursethische Moralprinzip lautet (vgl. Habermas 1996, 103): Eine Norm ist ethisch legitim, wenn sie von allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung findet (oder finden könnte). Während bei KantKant, Immanuel das einzelne Handlungssubjekt monologisch im eigenen Kopf die Universalisierbarkeit der Handlungsregeln testen kann, setzt die Diskursethik eine reale Kommunikationsgemeinschaft voraus (vgl. ApelApel, Karl-Otto, 220; Habermas 1996, 77f.). In einem realen praktischen Diskurs werden die strittigen Handlungsregeln auf ihre normative Richtigkeit hin geprüft, um einen rationalen, von allen Teilnehmern einsehbaren Konsens über NormenNormen zu erzielen. Als rational und begründet gilt ein Konsens, wenn bestimmte Gesprächsbedingungen erfüllt sind und sich alle Beteiligten an grundlegende Diskursregeln halten: So muss grundsätzlich jedes sprach- und handlungsfähige Wesen am Diskurs teilnehmen und seine Bedürfnisse, Wünsche und Interessen äußern dürfen. Alle Gesprächsteilnehmer werden als gleichberechtigte, vernünftige Gesprächspartner anerkannt, müssen ihre Ansprüche und Positionen mit Argumenten und Gründen rechtfertigen und auf einen gemeinsamen Konsens hinarbeiten. In einer solchen „idealen Sprechsituation“ darf es keine inneren oder äußeren Zwänge geben, sondern nur den Zwang des besseren Arguments (vgl. Habermas 1996, 96ff.). Dabei leiten die Diskursregeln nicht nur zu einer qualifizierten Konsensfindung an, sondern sichern auch den unparteiischen oder objektiven Standpunkt der Moral (vgl. Habermas 1992, 13). Denn alle Gesprächsteilnehmer sind dazu aufgefordert, ihre eigenen Argumente und Standpunkte kritisch zu hinterfragen und sich auf die Standpunkte der anderen zu stellen. Sie müssen sich gegebenenfalls dem Zwang des besseren Arguments beugen und ihren eigenen Standpunkt aufgeben. Können alle Betroffenen einer Norm zustimmen, darf von einer angemessenen Berücksichtigung der berechtigten Bedürfnisse und Interessen aller Beteiligten ausgegangen werden.

Diskursethisches Moralprinzip: Ethisch legitim ist eine Norm, wenn sie von allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung findet (oder finden könnte).

Diskursregeln:

Jedes sprach- und handlungsfähige Wesen darf am Diskurs teilnehmen und seine Bedürfnisse und Interessen äußern.

Alle Gesprächsteilnehmer werden als zurechnungsfähige, wahrhaftige und vernünftige Gesprächspartner anerkannt.

Es wird kommunikativ statt strategisch gehandelt: Alle Ansprüche müssen argumentativ gerechtfertigt werden und Ziel des Diskurses ist der Konsens.

Jede Verzerrung der Sprechsituation durch innere oder äußere Zwänge ist ausgeschlossen. Es herrscht allein der Zwang des besseren Arguments.

sichern unparteiischen Standpunkt der Gesprächsteilnehmer und leiten zu qualifizierter Konsensfindung an

Ziel des praktischen Diskurses: rationaler, begründeter Konsens über Normen

Mit ihrem Moralprinzip scheint die DiskursethikEthikDiskursethik den formalen Kriterien Einfachheit (1), Klarheit (2) und Widerspruchsfreiheit (3) gerecht zu werden. Bezüglich des Kriteriums der Praxisrelevanz (4) wird gegen die Diskursethik jedoch häufig eingewendet, ein zwangfreier und prinzipiell unbegrenzter Diskurs sei völlig unrealistisch. Gerade gegenwartsdringliche Fragen der Angewandten Ethik müssen meist in zeitlich engem Rahmen geklärt werden und in einer politischen Entscheidungsfindung münden. Die ideale Sprechsituation liegt aber auch deswegen häufig nicht vor, weil sich meist nicht alle Gesprächspartner an die Diskursregeln halten. Nichtsdestotrotz müssen alle immer schon kontrafaktisch eine ideale Sprechsituation unterstellen, wenn sie sich zur Klärung strittiger moralischer Forderungen oder Gebote an einem gesellschaftlichen Diskurs beteiligen. Aus Sicht der Diskursethiker tragen zudem alle eine Mitverantwortung dafür, dass bessere Gesprächsbedingungen institutionalisiert werden (vgl. ApelApel, Karl-Otto, 429ff.). Immer wieder wird aber auch auf das Problem hingewiesen, dass in Praxisfeldern wie Tier- oder PflanzenethikEthikPflanzenethik die Betroffenen gar keine diskursfähigen Wesen sind. Diskursethiker halten dem entgegen, Tiere oder Naturobjekte könnten genauso wie Föten, Komatöse oder zukünftige Generationen in einem „advokatorischen“, d. h. stellvertretenden Diskurs repräsentiert werden (vgl. HabermasHabermas, Jürgen 1996, 104). Mit Blick auf das Ökosystems wird zwar nicht über seine Interessen oder Ansprüche diskutiert, sondern über seine Schutzwürdigkeit (vgl. OttOtt, Konrad 1996, 97). Der Miteinbezug von Lebewesen oder der Natur insgesamt dürfte allerdings die Konsensfindung im realen Diskurs erheblich erschweren. Denn es ist unklar, wer überhaupt als Advokat für wen oder was auftreten kann, und unter den Advokaten dürfte über Art und Ausmaß der Schutzwürdigkeiten nicht von vornherein Einigkeit herrschen (vgl. Kap. 3). Grundsätzlich ist die Diskursethik aber dank dieser methodischen Erweiterung durch einen advokatorischen Diskurs auch für den Umgang mit nichtdiskursfähigen Entitäten relevant.

Gemäß der Forderung in Kriterium (5) liegt beim diskursethischen Konzept zudem eine Übereinstimmung mit den moralischen Grundüberzeugungen in pluralistischen demokratischen Gesellschaften vor: Die meisten gegenwärtigen Ethiker und eine breite Öffentlichkeit sind sich einig darüber, dass sich allgemeingültige NormenNormen heute nur noch auf dem Weg gemeinsamer Argumentation finden lassen. Bezüglich des letzten Kriteriums eines einleuchtenden Begründungsverfahrens (6) liegt bei der DiskursethikEthikDiskursethik eine konstruktivistische bzw. reflexive BegründungsmethodeBegründungsmodellereflexiv/konstruktivistisch vor (vgl. Ethik, 134f.): Bei diesem Begründungsverfahren wird auf die unhintergehbaren Grundlagen der moralischen Alltagspraxis reflektiert, um die notwendigen kognitiven, sprachlichen, pragmatischen oder sozialen Bedingungen moralischen Urteilens und Handelns aufzudecken. Mit Blick auf diese notwendigen Voraussetzungen der Moral lassen sich dann höchste Moralprinzipien formulieren. Wer in gesellschaftlichen Diskussionen für oder gegen eine bestimmte Norm argumentiert, hat den Diskursethikern zufolge immer schon die erwähnten Diskursregeln akzeptiert. Wenn Teilnehmer an ethischen Debatten die Geltung der Diskursregeln bestreiten, begehen sie einen performativen SelbstwiderspruchPerformativer Selbstwiderspruch, d. h. einen Widerspruch zwischen dem, was sie sagen, also dem Bestreiten der Diskursregeln, und dem, was sie tun, nämlich dem Argumentieren nach den Diskursregeln (vgl. HabermasHabermas, Jürgen 1996, 90–105). Die Diskursregeln enthalten aber implizit das diskursethische Moralprinzip, nur diejenige Norm als moralisch richtig gelten zu lassen, die von allen im praktischen Diskurs akzeptiert werden kann. Dieses reflexive Begründungsverfahren weist deutliche Vorteile gegenüber alternativen kohärentistischenBegründungsmodellekohärentistisch und linearen BegründungsmodellenBegründungsmodelle auf (vgl. DüwellDüwell, Marcus u. a., 14): Bei einer linearen oder deduktiven BegründungBegründungsmodellededuktiv wird ein normatives Urteil durch den Verweis auf ein anderes normatives Urteil oder Prinzip begründet. Es kann dann aber immer wieder erneut nach einer Begründung des zur Begründung Herangezogenen gefragt werden. Es ergibt sich das sogenannte „Münchhausen-TrilemmaMünchhausen-Trilemma“ mit der Wahl zwischen einem infiniten Regress, einem Zirkelschluss und einem dogmatischen Abbruch des Verfahrens (vgl. AlbertAlbert, Karl, 15).

Bezüglich der Praxisrelevanz einer ethischen Theorie (4) und des erwähnten Problems der praktischen Umsetzung der DiskursethikEthikDiskursethik gibt es aber noch folgende weitere Bedenken: Selbst, wenn sich tatsächlich alle Gesprächsteilnehmer um einen rationalen Konsens bemühen und ihre Interessen und Wertvorstellungen argumentativ rechtfertigen, divergieren diese erfahrungsgemäß oft so stark, dass häufig kein Konsens gefunden wird. Diskursethisch gesehen sind zwar nur diejenigen Ansprüche ethisch relevant und verdienen Anerkennung, die interpersonal gerechtfertigt werden können. Dabei geben die Diskursethiker aber keine vorausliegenden Kriterien für die Beurteilung der subjektiven Interessen oder die Qualität von Gründen und Argumenten ihrer Verteidigungen. Diese müssen sich erst im realen praktischen Diskurs selbst zeigen (vgl. HabermasHabermas, Jürgen 1992, 165). Es sind alle Argumentationsformen und normativen Überzeugungen zugelassen, also utilitaristische Argumente genauso wie solche, die auf moralische Gefühle oder Intuitionen verweisen. Wichtig ist nur, dass die aufgeführten Gründe aus der Perspektive aller Beteiligten nachvollzogen werden können. Die Diskursethik stellt damit nur eine Art „Rahmenethik“ für die Diskussion unterschiedlicher moralischer Prinzipien und Überzeugungen dar. Ein solches offenes Konzept einer normativen Ethik allein scheint daher eine zu dürftige theoretische Grundlage für die Tätigkeit Angewandter Ethik zu sein. Erforderlich wäre zusätzlich eine ArgumentationstheorieArgumentationstheorie, die den Umgang mit heterogenen Gründen und Argumenten klärt (vgl. OttOtt, Konrad 2005a, 194). Es seien hier wenigstens einige Argumentationstypen vorgestellt, die in den Diskussionen zur Angewandten Ethik eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn in der philosophischen Ethik meist suggeriert wird, man müsse sich für die oppositionellen Theorietypen des Konsequentialismus (UtilitarismusUtilitarismus) oder der Deontologie (Kantianismus) entscheiden, lassen sich die verschiedenen Perspektiven und Beurteilungskriterien mit Blick auf konkrete Fragestellungen durchaus als Argumentationsformen miteinander kombinieren und gegeneinander abwägen (vgl. Ethik, Kap. 6.4). Sie können wie optische Linsen eingesetzt werden, dank derer verschiedene normative Gesichtspunkte eines komplexen moralischen Problems in den Fokus rücken.

 

Konsequentialistische Argumentationsformen

Von erheblicher Bedeutung in den aktuellen Debatten sind konsequentialistische und darunter vornehmlich utilitaristische Prinzipien und Überlegungen. Bei konsequentialistischen Argumentationsformen bemisst sich der Wert einer Handlung an den „Konsequenzen“, d. h. an den HandlungsfolgenHandlungsfolgen. Für ein verantwortungsvolles moralisches Denken und Handeln ist es zweifellos unverzichtbar, die Folgen des Handelns für alle Betroffenen zu bedenken. Denn eine zentrale Funktion moralischer Sollensforderungen ist es, Menschen, Tiere und Pflanzen vor den schädlichen Folgen rücksichtslosen Handelns zu bewahren. Am Ursprung der Moral trifft man auf den Umstand, dass Menschen von den Handlungsfolgen anderer in ihrem Wohlergehen betroffen sein können. Bei einer konsequentialistischen Argumentation stellt sich stets die empirische Frage, welche konkreten Folgen ein bestimmtes Handeln aller Wahrscheinlichkeit nach haben wird. Darüber hinaus ist die normative Frage zu klären, nach welchen Wertmaßstäben diese Folgen beurteilt werden sollen (vgl. Ethik, Kap. 6.1). Im UtilitarismusUtilitarismus als der bedeutendsten konsequentialistischen Theorie kommt es grundsätzlich auf den „Nutzen“ (lateinisch „utilitas“) der Handlungsfolgen an, der allerdings unterschiedlich definiert werden kann, z. B. als Vermeidung von Leid, Vermehrung von Lust oder Erfüllung von PräferenzenPräferenzen (vgl. Ethik, Kap. 4.2). Als ethisch richtig gilt diejenige Handlung, die den größtmöglichen Gesamtnutzen für alle Betroffenen erwarten lässt. Solche utilitaristischen Argumente dürfen aber keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen. Denn bei einer ausschließlichen Orientierung an der allgemeinen Nutzenmaximierung läuft man Gefahr, die einzelnen Betroffenen zu instrumentalisieren. Im Zeichen eines totalitaristischen Kollektivismus wird keine Rücksicht genommen auf die Würde und moralischen Rechte der Individuen wie z. B. die Rechte auf Leben und Selbstbestimmung oder auf moralische Prinzipien der Gleichheit oder Gerechtigkeit. Der Zweck heiligt dann buchstäblich die Mittel (vgl. Ethik, Kap. 6.1). Es kann aber vom unparteiischen objektiven Standpunkt der Moral aus gesehen nicht richtig sein, einer Minderheit große Übel zuzumuten, nur um den Nutzen für die Mehrheit zu steigern.

 

Deontologische Argumentationsformen

Daneben genießen auch deontologische Argumentationsformen einen hohen Stellenwert in praktischen Diskursen. Während konsequentialistische Ansätze den Wert einer Handlung ausschließlich an den HandlungsfolgenHandlungsfolgen bemessen, gibt es in deontologischen Ethikmodellen Handlungen, die ungeachtet ihrer Folgen und situativen Bedingungen an sich gut oder schlecht sind. Eine Handlung ist deontologisch gesehen ethisch richtig, wenn die handelnde Person eine gute Absicht hat und sich an kategorischen Sollensforderungen orientiert (griechisch „to deon“: „was man tun soll“). Dies sind Verbote, Gebote oder allgemeine Prinzipien, zu denen man sich um ihrer selbst willen verpflichtet. Beim Befolgen solcher Sollensforderungen geht es nicht um erwartete positive Folgen des Handelns, sondern um etwas, das moralisch selbständigen Wert hat wie Menschenwürde, Freiheit, gegenseitige Achtung oder Gleichbehandlung aller Menschen. Anders als im Konsequentialismus sind moralische Rechte der Menschen unbedingt zu achten, sodass Betroffene niemals zu einem noch so guten Ziel instrumentalisiert werden dürfen (vgl. Kap. 6.2). Die höchsten deontologischen Moralprinzipien klassischer ethischer Theorien wie KantsKant, Immanuel Kategorischer Imperativ oder das diskursethische Moralprinzip werden unabhängig von Folgenüberlegungen anhand reflexiver Verfahren begründet. Genauso wie die konsequentialistische Forderung einer Orientierung an den Handlungsfolgen scheint auch die deontologische Kernthese grundsätzlich richtig zu sein, da es moralisch inakzeptable Handlungen wie Töten oder Foltern gibt und grundlegende MenschenrechteMenschenrechte geachtet werden müssen (vgl. Kap. 6.4). Bei einer Verpflichtung zu bestimmten Geboten oder Verboten kann es allerdings leicht passieren, dass man die konkreten spezifischen Handlungskontexte ausblendet. Ein blindes Befolgen absoluter Prinzipien und ein rigoroses Pochen auf die Einhaltung bestimmter Pflichten und Rechte ohne Rücksicht auf die Handlungsfolgen wäre verantwortungslos. Denn wie es ein Sprichwort sagt, ist „gut gemeint oft das Gegenteil von gut“. Um für eine kontextsensible Abwägung im Einzelfall offen zu bleiben, wäre nicht von einer absoluten, sondern nur von einer relativen Ausnahmslosigkeit der Sollensforderungen auszugehen. Abzulehnen ist ein deontologischer Rigorismus, bei dem die ethische Urteilskraft verkümmert und die Verantwortung für möglicherweise schlimme Folgen ausgeblendet wird.

konsequentialistische Ethik

deontologische Ethik

moralisch richtig ist die Handlungsalternative mit den bestmöglichen Folgen

moralisch richtig ist ein Handeln aus Pflicht (Sollensforderungen befolgen)

Problem: Instrumentalisierung von Individuen für Nutzenmaximierung

Problem: Rigorismus und Ausblenden der Handlungsfolgen

Theorie mittlerer Prinzipien

Angesichts der Vielzahl verschiedener ethischer Theorien gibt es auch Versuche, auf einer mittleren Ebene zwischen allgemeinen ethischen Theorien und den konkreten ethischen Urteilen konsensfähige mittlere Prinzipien zu formulieren. Großen Einfluss in der Angewandten Ethik und insbesondere in der Bioethik hat der von Tom Beauchamp und James Childress begründete „PrinciplismPrinciplism“, den sie in ihrem erstmals 1979 erschienenen Lehrbuch Principles of Biomedical Ethics entwickelten. Er wird im Deutschen meist irreführenderweise als „Prinzipienethik“ übersetzt. Da aber die meisten traditionellen Ethikkonzeptionen oberste Moralprinzipien wie z. B. den Kategorischen Imperativ bei KantKant, Immanuel vorgeschlagen und begründet haben, müsste man im Deutschen präziser von einer Theorie mittlerer Prinzipen sprechen: Die „principles“, „mittleren Prinzipien“ oder „Prinzipien mittlerer Reichweite“ befinden sich auf einer mittleren Ebene zwischen den höchsten Moralprinzipien auf der Theorieebene und praktischen Handlungsregeln im je spezifischen Einzelfall. Die beiden Autoren führen folgende vier Prinzipien auf: 1. Autonomie, 2. NichtschadenPrinzipienNichtschaden, 3. WohltunPrinzipienWohltun, 4. Gerechtigkeit (vgl. Kap 2-5). Diese Prinzipien haben den Vorteil, dass sie im Sinne des fünften Kriteriums (5) mit einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz rechnen können und auch mit verschiedenen Moraltheorien vereinbar sind. Bemängelt wird allerdings die Beschränkung auf genau diese vier Prinzipien, weil andere relevante moralische Gesichtspunkte wie z. B. Wert des Lebens oder Menschenwürde nicht berücksichtigt werden (vgl. StoeckerStoecker, Ralph, 178). Ein anderes, dem biomedizinischen Beratungskontext entstammendes Modell schlägt alternativ dazu sieben Prinzipien für den Umgang mit den neuen Reproduktionstechnologien vor (KymlickaKymlicka, Will 2000, 207): 1. Autonomie, 2. Verantwortlichkeit, 3. Achtung menschlichen Lebens, 4. Gleichheit, 5. angemessene Nutzung von Mitteln, 6. Nicht-Kommerzialisierung der Fortpflanzung, 7. Schutz der besten Interessen des Kindes und anderer besonders verletzlicher Parteien.

Principlism (Theorie mittlerer Prinzipien)

Der ethische Wert einer Handlung bemisst sich an Prinzipien mittlerer Reichweite (zwischen obersten Moralprinzipien und konkreten Handlungsregeln).

z.B. vier Prinzipen von Beauchamp/Childress: Autonomie, Nichtschaden, Wohltun und Gerechtigkeit

Problem: Auswahl der Prinzipien unklar (z. B. Wert des Lebens, Menschenwürde etc. fehlen)

Auch bezüglich der Kriterien Einfachheit (1), Klarheit (2) und Relevanz für möglichst viele Handlungsfelder (4) scheint ein Werkzeugkasten mit vielseitig einsetzbaren Prinzipien auf den ersten Blick gut abzuschneiden. Von den Autoren und einigen Interpreten wird es durchaus als Stärke betrachtet, dass die generellen Leitlinien viel Interpretationsspielraum bei der Beurteilung des je besonderen Einzelfalls offenlassen (vgl. Beauchamp u.a.Beauchamp/Childress, 38; MarckmannMarckmann, Georg u. a., 33f.). Gleichwohl verhindert es natürlich die einfache Handhabbarkeit (1), wenn sich z. B. der genaue Inhalt des Prinzips Gerechtigkeit erst in Auseinandersetzung mit zahlreichen, sich teilweise widerprechenden Gerechtigkeitstheorien genauer bestimmen lässt (vgl. DüwellDüwell, Marcus 2011, 246). Hinsichtlich des dritten Kriteriums der Widerspruchsfreiheit (3) ist außerdem ein Konflikt zwischen den verschiedenen Prinzipien voraussehbar, die in keiner Hierarchie zueinander stehen (vgl. ebd.). Zu denken ist an einen Arzt, der nach dem Prinzip des WohltunsPrinzipienWohltun um das Wohl eines Patienten besorgt ist, der aber gleichzeitig gemäß AutonomieprinzipPrinzipienAutonomie dessen autonomen Wunsch nach SterbehilfeSterbehilfe respektieren möchte. Ein Standardvorwurf richtet sich schließlich gegen das unzulängliche schwache Begründungsverfahren (6), weil die Prinzipien selbst nicht nochmals mittels einer bestimmten ethischen Theorie begründet werden (vgl. Düwell 2008, 92; StoeckerStoecker, Ralph, 178). Die beiden Autoren haben in späteren Auflagen auf diese Kritik reagiert, indem sie sich auf den kohärentistischen BegründungsansatzBegründungsmodellekohärentistisch beriefen: Alternativ zu einem induktiven oder deduktiven linearenBegründungsmodellededuktiv Begründungsmodell werden im Kohärentismus alltägliche Moralvorstellungen, Einzelfallbewertungen und philosophische Theorien in ein „Überlegungsgleichgewicht“ („reflective equilibrium“) gebracht, wie es John RawlsRawls, John in seiner Theorie der Gerechtigkeit schildert (vgl. Rawls, 38). Das Problem bei einem kohärentistisch-rekonstruktiven Vorgehen besteht aber wie erwähnt darin, dass ein faktischer Konsens keine ethische Legitimität von Normen verbürgt, wenn die Qualität der Meinungen oder Argumente nicht eingehend geprüft wurde und es sich nicht um einen begründeten, rationalen Konsens handelt.

Argumente gegen die Theorie mittlerer Prinzipien

Relativierungen der Einwände

Konflikte zwischen Prinzipien

 

erheblicher Interpretationsspielraum

 

„schwache“ kohärentistisch-rekon- struktive Begründung

}

Hinwendung zur konkreten Handlungssituation und zu persönlichen Erfahrungen und Wertvorstellungen notwendig

„starke“ rationale Begründung prinzipiell möglich

Gerechtigkeitstheorien

Wie gesehen verlangt der objektive und unparteiische Standpunkt der Moral, ungeachtet persönlicher Freundschafts- oder Feindschaftsbeziehungen, alle BedürfnisseBedürfnisse und Interessen der Betroffenen in gleicher Weise zu berücksichtigen (vgl. Kap. 1.1). Wer unparteiisch gleichsam von einer höheren Warte eines neutralen Beobachters aus urteilt und entscheidet, handelt moralisch und in einem allgemeinen Sinn auch gerecht: Er hat wie die Göttin der Gerechtigkeit, die „Justitia“, die Augen verbunden und sieht nicht, wer welche Interessen vertritt. Was genau und nach welchen Beurteilungskriterien oder -hinsichten mit der Waage in ihrer Hand gegeneinander abgewogen werden soll, darüber gibt es allerdings unterschiedliche Intuitionen und Theorien. Bei einer personenbezogen-inegalitären Gerechtigkeit soll jeder Einzelne das bekommen, was ihm aufgrund seiner konkreten Bedürfnisse, Verdienste oder Ansprüche nach absoluten Maßstäben zusteht (vgl. Ethik, 219f.). So soll beispielsweise jeder Mensch genügend Nahrung oder eine passende Therapie bekommen, damit er ein menschenwürdiges Leben führen kann. Bei diesem Gerechtigkeitsmodell spielt der Vergleich mit anderen Menschen keine Rolle, weil nur das Wohl der einzelnen Person an sich betrachtet zählt.

Obgleich dieser Ansatz mit dem Fokus auf den betroffenen Einzelnen grundsätzlich überzeugend ist, kommt man bei vielen Gerechtigkeitsfragen in der Praxis um einen interpersonalen Vergleich nicht herum. Dies gilt v. a. für soziale Verteilungssituationen, in denen nur eine begrenzte Zahl von GüternGüter oder Ressourcen wie z. B. Studienplätzen oder Intensivbetten zur Verfügung steht. Im Gegensatz zum personenbezogen-inegalitären Modell stellt das interpersonal-egalitäre Gerechtigkeitsmodell die in den philosophischen und alltäglichen Gerechtigkeitsvorstellungen dominierende Idee der Gleichheit ins Zentrum (vgl. Ethik, 213f.): Gleiche sollen gleich und Ungleiche ungleich behandelt werden (vgl. AristotelesAristoteles