Selbstoptimierung und Enhancement - Dagmar Fenner - E-Book

Selbstoptimierung und Enhancement E-Book

Dagmar Fenner

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Beschreibung

Selbstoptimierung ist der in der Gegenwart derzeit am meisten diskutierte gesellschaftliche Trend. Diese ethische Einführung konzentriert sich auf die Selbstoptimierung im engen Sinn oder das „Enhancement“, d.h. auf technikbasierte, vorwiegend biomedizinische Methoden zur menschlichen Selbstverbesserung im Unterschied zu traditionellen Methoden. Sie erläutert zunächst die grundlegenden, aber in der Debatte meist nicht genauer beachteten Konzepte „Glück“, „Gerechtigkeit“, „Freiheit“ und „Natur“. Im Anschluss gibt sie einen Überblick über die unterschiedlichen Formen des Enhancements, arbeitet in einer klaren Sprache die verschiedenen Problemebenen heraus und systematisiert und prüft die wichtigsten Positionen und Argumente zur Selbstoptimierung. Ziel ist es, durch eine kritische Prüfung der Argumente für und gegen einzelne Optimierungsmaßnahmen zur Versachlichung und Rationalisierung der öffentlichen Diskussion beizutragen.

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Dagmar Fenner

Selbstoptimierung und Enhancement

Ein ethischer Grundriss

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

ISBN 978-3-8252-5127-7 (Print)

ISBN 978-3-8463-5127-7 (ePub)

Inhalt

Prof. Christoph Horn gewidmet ...1  Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext1.1  Analyse der Begriffe „Selbstoptimierung“, „Selbst“ und „Enhancement“1.1.1 Selbstoptimierung1.1.2 Das „Selbst“1.1.3 Enhancement1.2 Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends1.2.1 Kulturelle Voraussetzungen1.2.2 Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement1.3.1  Deskriptive Analyse verschiedener Krankheits- und Gesundheitsmodelle1.3.2 Notwendigkeit einer normativen Rechtfertigung von Therapie und Enhancement1.4  Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten1.4.1 Elementare Differenzierungen von Verbesserungs-Handlungen1.4.2 Opposition zwischen Biokonservativen und Bioliberalen2  Normative Bezugsgrößen2.1  Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab2.1.1 Definitionen vom „Glück“ oder „guten Leben“2.1.2 Philosophische Theorien des Glücks oder guten Lebens2.1.3 Empirische Untersuchungen zum Glück2.2 Gerechtigkeit als sozialethischer Maßstab2.2.1  Egalitarismus: komparative, egalitäre Gerechtigkeit2.2.2 Nonegalitarismus: adressatenbezogene inegalitäre Gerechtigkeit2.3 Freiheit und Würde2.3.1 Philosophische Konzepte von „Freiheit“2.3.2 Würde2.4 Normalität und Natur2.4.1 Mehrdeutigkeit von „Normalität“2.4.2 Mehrdeutigkeit von „Natur“2.4.3 Die „menschliche Natur“2.4.4 Menschenbilder3  Körperliches Enhancement3.1 Schönheitsoperationen1) Pro-Argument: Einbettungen in die plastische Chirurgie2) Pro-Argument: Ästhetische statt medizinische Indikation3) Pro-Argument: Steigerung der individuellen Freiheit4) Pro-Argument: Aufhebung einer Identitätsstörung und „authentisches Selbst“5) Pro-Argument: Zufriedenheit, Glück und Erfolg6) Kontra-Argument: Sozialer Druck und Biopolitik7) Kontra-Argument: Diskriminierung und Ungerechtigkeit8) Kontra-Argument: Komplikationen und hohe Risiken9) Kontra-Argument: Widerspruch zum ärztlichen EthosFazitUnsterblichkeit ist ein uralter ...3.2 Unsterblichkeit und Lebensverlängerung3.2.2 Sozialethische Argumente3.3 Digitale Selbstvermessung und Quantified Self3.3.1 Pro-Argumente3.2.2 Kontra-Argumente3.4 Doping im Sport1) Kontra-Argument: Künstlichkeit der Substanzen und Methoden2)  Kontra-Argument: Unfairness und Beeinträchtigung der Chancengleichheit3) Kontra-Argument: Schädigung der Gesundheit4) Kontra-Argument: Falsches Vorbild und nachlassendes Interesse in der Bevölkerung4  Neuro-Enhancement4.1 Emotionales Enhancement4.1.1 Zur chemischen Induzierbarkeit von „Glück“ oder „Stimmung“4.1.2 Gefährdung der „emotionalen Authentizität“4.1.3 Gefährdung der „Authentizität der Persönlichkeit“4.2 Kognitives Enhancement4.2.1 Analyse der Begriffe „Kognition“ und Intelligenz“4.2.2 Zum Wert von Intelligenz und ihrem Beitrag zum Glück4.2.3 Wirkungen und Nebenwirkungen der wichtigsten kognitiven Neuroenhancer4.3 Moralisches Neuroenhancement4.3.1 Emotionales moralisches Enhancement4.3.2 Kognitives moralisches EnhancementFazit: indirektes kompensatorisches moralisches Enhancement4.4  Kritik am Neuroenhancement insgesamt1) Pro-Argument: Analogie zwischen Psychopharmaka und anerkannten Genussmitteln2)  Kontra-Argument der Künstlichkeit der Mittel3) Kontra-Argument eines Selbstbetrugs4) Kontra-Argument eines Fremdbetrugs5) Kontra-Argument der falschen Lebensführung6) Argument des falschen Selbstverhältnisses7) Kontra-Argument der Verdrängung wertvoller Alternativen8) Kontra-Argument: Sozialer Druck und Verlust individueller Freiheit9) Kontra-Argument: Ungleichheit und Ungerechtigkeit5  Genetisches Enhancement1) Pro-Argument: Das Beste für die Kinder oder Steigerung des Kindeswohls2) Pro-Argument: Das Beste in moralischer Hinsicht3) Kontra-Argument: Verletzung von Freiheit und Würde des Kindes4) Kontra-Argument: Verstoß gegen das Recht auf eine offene Zukunft5) Kontra-Argument: Verhinderung bedingungsloser Liebe6) Kontra-Argument: Entsolidarisierung und Diskriminierung7) Kontra-Argument: Ungerechtigkeit und Zwei-Klassen-GesellschaftFazit6  Schluss1) Vermeidbare Diskursblockaden durch Pauschalisierungen2) Notwendigkeit öffentlicher Diskurse über normative StandardsBibliographiePersonenregisterSachregister

Prof. Christoph Horn gewidmet für all die vielen intensiven philosophischen Diskussionen

1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext

Immer mehr Journalisten, Zeitdiagnostiker und Wissenschaftler aus den verschiedensten Disziplinen beschäftigen sich mit der Selbstoptimierung, einem gegenwärtig kontrovers diskutierten gesellschaftlichen Trend. „SelbstoptimierungSelbstoptimierung“ ist ein gesellschaftliches Leitbild oder Orientierungsmuster, das dem Einzelnen zur Regulierung seines eigenen Handelns und zur individuellen Lebensgestaltung zur Verfügung gestellt wird. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich insofern von einem Trend sprechen, als dieses Selbst- und Lebenskonzept in westlichen Gesellschaften eine enorme öffentliche und mediale Aufmerksamkeit genießt und Optimierungsprogramme immer stärker die Lebenswelt und die persönliche Lebensführung der Menschen prägen. Zahlreiche historisch-soziologische zeitdiagnostische Untersuchungen stimmen darin überein, dass es sich bei den hochkomplexen, dynamischen und beschleunigten modernen Gesellschaften um „Optimierungsgesellschaften“ mit einer bis dahin unbekannten Radikalisierung und Omnipräsenz der menschlichen Optimierungsbestrebungen handelt (vgl. Balandis u.a., 133; 135/StraubStraub, Jürgen u.a., 15). Das permanente Ringen um Selbstoptimierung sei zu einer der „gegenwärtig bedeutsamsten kulturellen Leitvorstellungen“ geworden (vgl. KingKing, Vera u.a., 283). Von der Trendforscherin Corinna MühlhausenMühlhausen, Corinna wurde das 21. Jahrhundert als „Zeitalter der Selbstoptimierung“ ausgerufen (vgl. MühlhausenMühlhausen, Corinna u.a. 2013). Auch wird bisweilen von einem „Optimierungsglauben“ als einer Art „säkularer Religion“ gesprochen mit ihrem Credo des modernen Fortschrittsoptimismus, dass alles immer besser werde und optimierbar sei (vgl. GugutzerGugutzer, Robert, 2). Je mehr dieses neue gesellschaftliche Rollenangebot zur allgemeinen Norm avanciert, wächst seitens der Gesellschaft die Erwartungshaltung, dass die Individuen selbstverantwortlich das Beste aus sich und ihrem Leben machen. Im neuen Selbstverständnis mutiert der Einzelne ökonomisch-technisch ausgedrückt zum „Manager“ oder „Unternehmer“, in der Sprache der Kunst zum „art“ oder „creative director“ seines Selbst und seines Lebens (vgl. GammGamm, Gerhard, 34). Ulrich BröcklingBröckling, Ulrich bezeichnet das „unternehmerische SelbstSelbstunternehmerisches“ als wirkmächtige Realfiktion, die sowohl ein normatives Menschenbild als auch die Gesamtheit von Selbst- und Sozialtechnologien umfasst und auf die Ausrichtung der ganzen Lebensführung abzielt (vgl. BröcklingBröckling, Ulrich, 46f.). Da zentrale Voraussetzungen für das Gelingen des Selbstoptimierungs-Projekts die kontinuierliche Selbsterforschung, erhöhte Selbstthematisierung und Selbstkontrolle sind, wird eine Fülle verschiedenster Methoden zur Selbstvermessung und Potentialanalyse professionell vermarktet und massenmedial umworben.

Wie bei vielen anderen „Trends“ ist allerdings nicht leicht auseinanderzuhalten, wie weit die Medienberichterstattung und philosophisch-literarische Zeitdiagnostik die Entwicklungsrichtung nur passiv widerspiegeln und beschreiben oder aktiv beeinflussen und verstärken (vgl. dazu WagnerWagner, Greta, 54). Nach einer repräsentativen Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung kannten 2014 nicht einmal 40 % der befragten Deutschen den Begriff „SelbstoptimierungSelbstoptimierung“, sodass es sich noch nicht um einen „Volkssport“ handeln könne (vgl. GfK). Wenn sich nach einer Befragung des TNS Infratest 2016 bereits 59 % aller Deutschen „mehr oder weniger“ zur Selbstoptimierung „bekennen“, dürfte „Selbstoptimierung“ dabei sehr weit gefasstSelbstoptimierungenger/weiter Begriff worden sein (vgl. MühlhausenMühlhausen, Corinna u.a. 2016, 5). In Einzelfällen mögen die Kritiker den Kommentatoren mit gewissem Recht vorwerfen, der behauptete Trend sei ein bloßer „Medienhype“ (vgl. WagnerWagner, Greta, 27f./Schoilew, 29): Mit plakativen Titeln wie „Die Hoffnung auf schnelleres Denken verführt Akademiker zu GehirndopingHirn-Doping“ oder „Immer mehr Menschen greifen zu Glückspillen oder legen sich um der Schönheit willen unters Messer“ wird eine exponentiell zunehmende Verbreitung suggeriert. Eine direkte empirische Überprüfung ist aber insbesondere bei den z.B. für die Leistungssteigerung verwendeten Psychopharmaka schwierig, weil die meisten davon in Deutschland offiziell nur beim Vorliegen bestimmter Krankheiten verordnet werden dürfen. Zwar könnte die mediale Botschaft von einem dramatischen Anstieg des Konsums im Sinne einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“ dazu führen, dass tatsächlich mehr Menschen sich für einen nichtmedizinischen Gebrauch von angeblich optimierenden Substanzen entschließen. Mutmaßlich geht aber die Entwicklung des neuen Trends und die Verbreitung biotechnologischer Hilfsmittel tatsächlich langsamer vonstatten als von den Medien dargestellt, zumal viele Optimierungstechniken noch Utopien oder Science Fiction sind. Nichtsdestotrotz braucht es schon jetzt dringend eine öffentliche gesellschaftliche Debatte, um Indizien drohender negativer kultureller Entwicklungen möglichst frühzeitig erkennen und mittels geeigneter Forschungsstrategien oder politischer Regulierungsmaßnahmen korrigieren zu können. Für eine ethische Beurteilung ist es daher zweitrangig, wie weit bestimmte technologische Optimierungsmaßnahmen überhaupt schon realisierbar oder bereits verbreitet sind. Es reicht die Tatsache aus, dass unter den sich selbst optimierenden Personen, in Forschung oder Industrie bestimmte Veränderungen menschlicher Fähigkeiten oder Eigenschaften als erstrebenswert angesehen werden.

1.1 Analyse der Begriffe „Selbstoptimierung“, „Selbst“ und „Enhancement“

1.1.1Selbstoptimierung

Vom lateinischen „optimus“: „der Beste, Tüchtigste“ abgeleitet, meint „Selbstoptimierung“ ganz formal und allgemein jede Selbst-Verbesserung eines Subjekts hin zum bestmöglichen oder vollkommenen Zustand. Unmittelbares Objekt solcher Verbesserungs-Handlungen ist also wörtlich verstanden das „Selbst“ der handelnden Personen, das aber begrifflich ebenfalls nicht leicht zu fassen ist und weiter unten genauer analysiert wird (1.1.2). Während Verbesserung generell jede Veränderung in Richtung auf einen besseren, vollkommeneren Zustand meint, zielen Handlungen des Optimierung, OptimumOptimierens oder des „Perfektionierens“ strenggenommen direkt auf die höchstmögliche Stufe oder den Bestzustand ab. Denn das Optimum ist der bestmögliche oder vollkommene Zustand, den ein System, ein Mensch oder auch eine Institution unter den gegebenen Voraussetzungen tatsächlich erreichen kann. Wer sich also zu optimieren oder perfektionieren trachtet, will nicht nur besser werden, sondern so gut wie möglich. Damit unterscheidet sich das „Optimum“ einerseits vom „Ideal“ als der schlechthin besten denkbaren Variante ohne Rücksicht auf Realisierungsbedingungen und andererseits vom „Maximum“ als absolut höchster Steigerung mit Blick auf verschiedene Parameter und ein anvisiertes Ziel. Je nach Kontext ist ein quantitatives „Maximum“ nämlich nicht immer auch das qualitativ verstandene „Optimum“, was besonders für komplexe Systeme wie den menschlichen Organismus zutrifft. So bedeutet beispielsweise hinsichtlich des menschlichen Gedächtnisses eine Steigerung bis zu einem Maximum an Gedächtnisinhalten schwerlich das Optimum, weil das Speichern sämtlicher verfügbarer Informationen und somit auch aller negativer Erinnerungen kein wünschenswerter Zustand wäre. Die Begriffskombination „Selbst-OptimierungSelbstoptimierung“ („self-optimization“) entstammt den noch jungen Neurowissenschaften und bezeichnet den charakteristischen Lernprozess des Nervensystems, durch Rückkoppelungsmechanismen und ständige Verbesserungen der vorangegangenen Vorgehensweisen immer optimalere Funktionen zu erzielen (vgl. Stangl). Später wurde der Begriff auch im technischen Bereich insbesondere in der Netzwerktechnologie benutzt, bis er in jüngerer Zeit auch auf den Menschen übertragen wurde. Frühe Formen der Selbstoptimierung wie das „TrackingQuantified-Self“ spiegeln genau dieses gezielte, rationale und selbstdistanzierte Vorgehen einer Verbesserung durch Rückkoppelung und Selbststeuerung wider: Dank digitalen Helfern wie Apps oder „Fitness-Trackern“ werden Schritte gezählt und Vitalität und Schlafrhythmus gemessen und kontrolliert, um Arbeitsproduktivität, Fitness oder Schlafqualität zu verbessern (vgl. DuttweilerDuttweiler, Stefanie, 7f./Kap. 3.3).

Da die oben erläuterten exakten begrifflichen Differenzierungen zwischen „Verbessern“ und „Optimieren“ weder im gesellschaftlichen Diskurs noch unter den praktizierenden Selbstoptimierern eine Rolle spielen, können sie im Folgenden als Synonyme verwendet werden. Statt um eine radikale Wandlung hin zu einem vollkommeneren oder perfekten Menschen geht es fast immer um eine graduelle Verbesserung bestimmter menschlicher Eigenschaften oder Fähigkeiten: Zumeist wird unter Selbstoptimierung ein kontinuierlicher, allmählicher Prozess der Veränderung verstanden, der über ständige Rückmeldungen, Selbstkontrolle und Verbesserung der Lebensführung sukzessive zur bestmöglichen persönlichen Verfassung hinführt (vgl. DuttweilerDuttweiler, Stefanie, 3f.). Optimiert werden können prinzipiell alle Dimensionen des Selbst: physische, psychische, soziale und geistige Zustände oder Eigenschaften, Handlungsabläufe, Arbeitsprozesse und Kompetenzen in sämtlichen menschlichen Lebensbereichen. Selbstoptimierung ist aber nicht nur für die verschiedensten Ziele offen, sondern auch für alle nur denkbaren Mittel. Selbstoptimierung im weiten SinnSelbstoptimierungenger/weiter Begriff umfasst alle von Menschen je ins Auge gefassten Verbesserungen mit allen möglichen Methoden, also sowohl neuste Technologien als auch traditionelle und technikfreie Praktiken wie Bildung, Erziehung, Meditation und Training. In programmatischen Beiträgen zur Debatte wird der Begriff zwar häufig derart ausgeweitet, dass letztlich alle menschlichen Tätigkeiten und Phänomene darunter verbucht werden. Damit die weite Begriffsverwendung nicht inflationiert und der Begriff bedeutungslos wird, müssen aber typische Merkmale von Selbstoptimierungsprozessen wie systematisches und rationales Vorgehen, Selbstreflexion und Verbesserung durch gezielte Rückmeldungen vorliegen. Es ist also z.B. zu unterscheiden zwischen dem Gang zum Frisör zwecks routinemäßigen Haareschneidens ohne eigene Verbesserungswünsche und dem Ziel der Annäherung an ein bestimmtes Schönheits- oder Lifestyle-Ideal. Auch ist eine vom Jobcenter zum Zweck der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt angeordnete Weiterbildungsmaßnahme genauso wenig eine Selbstoptimierung wie das Zubereiten von Speisen zur ausschließlichen Stillung primärer Bedürfnisse. Diesen Schwierigkeiten einer weiten Begriffsverwendung entgeht man bei einer Einschränkung der Mittel auf neue technologische Verfahren: Selbstoptimierung im engen Sinn bezieht sich lediglich auf technikbasierte, zumeist biomedizinische oder pharmakologische Methoden. Viele Missverständnisse in der aktuellen Selbstoptimierungs-Debatte ließen sich vermeiden, wenn klar zwischen einem „engen“ und „weiten Begriff“ von Selbstoptimierung unterschieden würde (vgl. Röcke, 321).

Notwendigkeit der Bestimmung normativer Standards

„Verbesserung“ und „Optimierung“ sind insofern normative, d.h. wertende Begriffe, als sie eine Bewertung der Veränderung enthalten. Denn eine Verbesserung oder Optimierung meint im Gegensatz zu einer Verschlechterung stets eine begrüßenswerte Veränderung zum Positiven oder zum Guten hin. Der Begriff „Selbstoptimierung“ ist also nicht neutral, sondern positiv konnotiert und impliziert eine positive Bewertung der bezeichneten Phänomene (vgl. SchleimSchleim, Stefan, 181/Schoilew, 9). Um Handlungsweisen oder Veränderungen als „OptimierungOptimierung, Optimum“ oder „Verbesserung“ ausweisen zu können, müssten daher korrekterweise Bewertungskriterien oder normative Standards angegeben werden (vgl. AchAch, Johann 2016, 118/Röcke, 321). Statt die dahinterstehenden normativen Maßstäbe oder Wertstandards offen zu legen suggerieren aber Befürwortern neuer Selbsttechnologien häufig, es handle sich bei sämtlichen Selbstoptimierungs-Maßnahmen schon aus begriffslogischer Notwendigkeit um Verbesserungen hin zu einem positiven Zustand (vgl. exemplarisch HarrisHarris, John 2007, 9; 36). Damit greifen sie einer ethischen Beurteilung der verschiedenen Selbstoptimierungs-Praktiken vor, die jedoch erst das Resultat ihrer kritischen Prüfung anhand bestimmter ausgewiesener Wertstandards sein kann. Zum Zweck einer näheren Untersuchung sollen hier zwar unter „SelbstoptimierungSelbstoptimierung“ erst einmal aus einer rein deskriptiven Perspektive sämtliche Praktiken, Methoden und Veränderungen in Richtung auf einen Zustand hin gezählt werden, der von den Betroffenen aus ihrer jeweiligen Perspektive zu einem bestimmten Zeitpunkt subjektiv als wünschenswert empfunden wird. Aus dieser deskriptiven Zuordnung bestimmter Veränderungen zur Klasse der „Selbstoptimierungen“ wird aber nicht automatisch auf eine positive normative Bewertung geschlossen werden. Vielmehr ist in Rechnung zu stellen, dass es sich im Einzelfall vielleicht statt um Verbesserungen genau besehen um Verschlechterungen hinsichtlich des persönlichen oder gesellschaftlichen Lebens handelt. Denn es ist grundsätzlich möglich, dass Selbstoptimierer oder die Gesellschaft bestimmte Selbstoptimierungsziele oder -methoden fälschlicherweise für gut oder unbedenklich halten. Aus ethischer Sicht kommen als grundlegende Beurteilungshinsichten primär das gute Leben oder eine gesteigerte Lebensqualität der handelnden Personen selbst und sekundär die Gerechtigkeit in Frage, wobei allerdings beide normativen Bezugsgrößen inhaltlich sehr verschieden konkretisiert werden können (Kap. 2.1/2.2). Die normativen Standards zur Bestimmung der Richtung von „Verbesserungen“ müssen daher selbst zum Gegenstand der Selbstoptimierungs-Debatte gemacht werden, da sie einer rationalen Begründung mittels Argumente bedürfen.

Was eine Selbst-Verbesserung oder das „OptimumOptimierung, Optimum“ eines Menschen oder gar „der“ Menschen sein soll, steht also nicht von Anfang an fest. Hierin unterscheiden sich Optimierungsprozesse des „Selbst“ von Optimierungsaufgaben in der Mathematik oder der Wirtschaft, bei denen ein bestimmtes Ziel in maximaler Weise erreicht werden soll (vgl. MeißnerMeißner, Stefan, 221f.). Der DUDEN behauptet allerdings mit seiner Definition, dass das „Optimum“ und die normativen Standards den Individuen von außen vorgegeben werden und sie zur Anpassung gezwungen werden: „Selbstoptimierung“ sei „jemandes (übermäßige) freiwillige Anpassung an äußere Zwänge, gesellschaftliche Erwartungen oder Ideale“. Obgleich die Einzelpersonen ihre Wert- und Zielvorstellungen stets in einer hochkomplexen Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld entwickeln, ist diese Darstellung allzu verkürzt. Der von Kritikern des Selbstoptimierungstrends vielfach beklagte soziale Druck soll zwar ein wichtiges Thema dieser Studie sein, ohne dass aber mit einer solchen definitorischen Festlegung schon eine pauschale Vorverurteilung vorgenommen wird. Die Reduktion auf „Anpassung an äußere Zwänge“ ist auch deswegen einseitig, weil die gesellschaftlichen Normen und Ideale auf die Anerkennung der Menschen angewiesen sind und sich mit einem Wandel ihrer Wertvorstellungen verändern. Umfragen deuten auf eine Verlagerung der individuellen Zielsetzungen seit dem Aufkommen des Trends weg von außenorientierten instrumentellen Bewertungsmaßstäben wie Produktivität, Effizienz und Leistungssteigerung hin zu innenorientierten Werten wie Gesundheit, Lebensqualität und Entspannung hin (vgl. MühlhausenMühlhausen, Corinna u.a. 2016, 5; 7). Aus der Teilnehmerperspektive hat Selbstoptimierung weniger mit Druck, Erfolg und Ehrgeiz zu tun, sondern viel mehr mit Gestaltungsfreiheit, Selbstbestimmtheit und Selbstverwirklichung. Nach einer neueren Befragung des Markt- und Meinungsforschungsinstituts TNS Infratest aus dem Jahre 2016 optimieren die Menschen ihr Leben konkret dadurch, dass sie „für Ruhe und Entspannung sorgen“ (62 %), sich um „gute Ernährung“ (59 %) und „genug Schlaf“ (56 %) kümmern, „regelmäßig Sport treiben“ (46 %) und „auf eine Balance von Arbeit und Freizeit achten“ (32 %) (vgl. ebd., 5). Selbstoptimierung bedeutet also keineswegs zwingend die Anpassung an Ideale des olympischen „höher, schneller, weiter“, sondern im Rahmen einer „Selbstoptimierung 2.0“ vermehrt auch ein „ruhiger, langsamer, weniger“ (vgl. ebd.). Gegensatzmodell zu der immer noch dominierenden „Selbsteffektivierung“ ist die „Selbststeigerung“ als ästhetische Selbstverwirklichung, bei der gesellschaftliche Anforderungen gerade zurückgewiesen und neue Selbsterfahrungen gesucht werden (vgl. MeißnerMeißner, Stefan, 224; 228f.).

Definitorische Verengung auf wirtschaftliche und technische „Optimierung“

Viele Selbstoptimierungsgegner stoßen sich bereits am Begriff OptimierungOptimierung, Optimum, der einen unsympathischen technoiden Klang aufweist und dem technisch-ökonomischen Bereich entstammt. Denn er wurde im 20. Jahrhundert zunächst im Bereich der angewandten Mathematik z.B. in der Informatik für die Effizienzsteigerung von Computerprogrammen verwendet, später auch in der Wirtschaft für die Gewinnmaximierung eines Unternehmens. Während der Begriff „Optimierung“ für technische Prozesse oder Wirtschaftsunternehmen gut passt, scheint er für die menschliche Lebensführung und das praktische Selbstverhältnis von Personen gänzlich unangemessen zu sein (vgl. KipkeKipke, Roland 2011, 83). Insbesondere in der Soziologie avancierte Selbstoptimierung zur „Chiffre für die neoliberale und/oder technisch basierte Transformation der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Subjekte“, zur „zentralen neuzeitlichen Metapher unserer marktförmig ausgerichteten Wettbewerbsgesellschaft“ (Röcke, 331/Becker u.a., 5/vgl. UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 32). Nach dieser Interpretation stellen die individuellen BemühungenNeoliberalismuskritik um Selbstoptimierung eine Reaktion auf einen zunehmenden LeistungsdruckLeistungsdruck in einem ausbeuterischen Wirtschaftssystem dar, das mit seiner unerbittlicher Steigerungslogik zu mehr EffizienzEffizienz-/ Leistungssteigerung und Leistungsfähigkeit und damit zur SelbstausbeutungSelbstausbeutung antreibt. Seit BröcklingBröckling, Ulrich wird Selbstoptimierung gern im Kontext der neoliberalismuskritischen These der Ökonomisierung der LebensweltÖkonomisierung des Sozialen gelesen, derzufolge die Regulierungsmechanismen des Marktes wie etwa Konkurrenz, Vorteils-Nachteils-Kalkulationen, Nutzenmaximierung und Durchorganisation immer mehr Bereiche der Lebenswelt durchdringen und am Ende auch soziale und Selbstbeziehungen prägen (vgl. BröcklingBröckling, Ulrich, 244/KingKing, Vera u.a., 284ff.). Diese Zeitdiagnose erfreut sich zwar einer so großen gesellschaftlichen Plausibilität, dass sogar die Begriffsbestimmung von „Selbstoptimierung“ regelmäßig über diese Deutung erfolgt. Wird Selbstoptimierung ausschließlich als Symptom einer inhumanen Ökonomie betrachtet und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit kritisiert, handelt es sich aber um einen „Kurzschluss in der wissenschaftlichen Beobachtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ (MeißnerMeißner, Stefan, 332). Ohne Frage ist das ökonomische Menschenbild des homooeconomicushomo oeconomicus und die damit verbundene Vorstellung vom guten Leben auch aus philosophisch-ethischer Sicht zu verurteilen (vgl. Fenner 2010, 256ff.). Anstatt Selbstoptimierung pauschal zu verwerfen und sozusagen ein „Symptom“ zu bekämpfen, sollte jedoch die auf der Praxis menschlicher Individuen basierende kapitalistische Wirtschaft mit ihren nicht wünschenswerten Mechanismen und Wertmaßstäbe verändert werden (vgl. AchAch, Johann 2016, 125).

Deskriptiv gesehen wird nicht nur die beliebte neoliberalismuskritische begriffliche Reduktion der Selbstoptimierung auf einen ökonomischen Auswuchs dem komplexen Phänomen Selbstoptimierung mit verschiedensten Praktiken und Zielsetzungen nicht gerecht. Auch die gängige Einschränkung der Selbstoptimierung auf Mittel der Technik, Medizin, Pharmazie und Neurowissenschaft im Sinne des engen SelbstoptimierungSelbstoptimierungenger/weiter Begriffsbegriffs führt zu einem einseitigen Bild von gegenwärtigen Selbstoptimierungsbestrebungen. Denn auch im Zeitalter der Selbstoptimierung verbessern sich die Menschen keineswegs nur mit technischen Mitteln, sondern auch oder sogar vorwiegend durch ihre Lebensführung und die Arbeit an sich selbst (vgl. KipkeKipke, Roland 2012, 269f.): Der Selbstoptimierungstrend hat einen riesigen Selbstentwicklungsmarkt mit Lebenshilfeliteratur, Internetforen, Beratungsangeboten und Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung hervorgebracht. Allgegenwärtig sind Appelle zum lebenslangen Lernen und zur Steigerung verschiedenster kognitiver, sozialer und emotionaler Kompetenzen (vgl. Balandis u.a., 133). Unüberschaubar ist das Angebot an Erziehungs- und Beziehungsberatung, zum Zeit- und SelbstmanagementSelbstmanagement oder zum Willens- und Motivationstraining, die alle gänzlich ohne den Einsatz technischer Hilfsmittel auskommen (vgl. ebd., 14f.). Problematisch ist zudem die normative These, die Rede von „Optimierung“ statt von „Verbesserung“ sei symptomatisch für den Wandel von einer moralischen hin zu einem technizistischen MenschenbildMenschenbildertechnizistische (vgl. LiessmannLiessmann, Konrad, 9). Es wird dabei unterstellt, dass die traditionelle Verbesserung des Menschen durch Moral, Aufklärung und eine humanistische Kultur verdrängt oder gar abgelöst wird durch moderne Technik und Gentechnik. Diese weiterführende Verdrängungsthese muss aber gesondert diskutiert werden und rechtfertigt nicht den Generalverdacht konservativer TechnikkritikTechnikkritik, sämtliche technischen Entwicklungen stellten eine Bedrohung der Humanität dar. In der vorliegenden Studie wird zwar „SelbstoptimierungSelbstoptimierungenger/weiter Begriff“ durchaus in einem weiten Sinn verstanden, ohne dass ihr von vornherein bestimmte Zielsetzungen wie ökonomisch-technische Effizienz, Gewinn- oder Leistungssteigerung unterstellt würden. Es werden aber in den Kapiteln 3–5 aus dem Grund ausschließlich technikbasierte Formen der Selbstoptimierung genauer analysiert, weil diese wegen ihrer noch unbekannten Folgen für Individuum und Gesellschaft ganz anders auf dem Prüfstand stehen als traditionelle Verbesserungsbestrebungen durch Bildung, mentales Training oder Ernährungsprogramme. Dieser ethische Grundriss erhebt also nicht den kaum erfüllbaren Anspruch, die ganze Breite gegenwärtiger Selbstoptimierungs-Praktiken mit ihren anvisierten Zielen und zugrundeliegenden Wertvorstellungen kritisch zu sichten.

1.1.2Das „Selbst“

Das „Selbst“ ist bei Selbstoptimierungs-Handlungen sowohl das Subjekt als auch das Objekt. Allerdings ist das „Selbst“ ein sehr komplexes, aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven unterschiedlich darstellbares Phänomen, sodass es keine einheitliche Begriffsverwendung gibt. Grundlegende Voraussetzung für jedes zielgerichtete Handeln ist jedoch, dass sich das „SelbstSelbst“ in einem theoretischen Selbstverhältnis bewusst wird: Ein „Selbst-Bewusstsein“ entsteht, indem sich ein „kognitives Ich“ oder „reines Selbst“ auf seine Bewusstseins-Akte wie Meinen, Urteilen, Wünschen und Erleben zurückwendet und sich selbst zum Objekt macht. Das Sich-Wiedererkennen und Identifizieren-Können in einem Spiegel dient gerne als Symbol und Zeichen für ein „Selbst“ bzw. „Selbstbewusstsein“, weshalb in der empirischen Forschung ein sogenannter Spiegeltest eingesetzt wird. Gemäß den Sozialpsychologen William James und George Mead lässt sich das Selbst oder die Ich-Identität als ein Gleichgewicht zwischen a) dem aktiven, vollzugshaften Moment des „I“ oder „reinen Selbst“ und b) dem passiven, objektivierten Moment des „me“ oder „empirischen Selbst“ verstehen.

Das reine Selbst, das „Ich“ oder „erkennende Selbst“ (a) meint die mentale Fähigkeit, zu den charakterlichen, biographischen und situativen Gegebenheiten bewusst und reflexiv Stellung zu beziehen. Demgegenüber setzt sich das empirische Selbst (b) aus einem „materiellen Selbst“ mit Körper, Kleidung etc., dem „sozialen Selbst“ mit Status und sozialen Rollen und dem „geistigen Selbst“ mit psychischer Disposition und Charaktereigenschaften zusammen. Ein Selbst, eine Ich-IdentitätIdentität oder persönliche Identität ergibt sich aber erst, wenn die empirischen Aspekte mit den persönlichen kognitiven Deutungen und Bewertungen dieser Tatsachen vermittelt werden. Das verbindende Dritte in diesem Strukturmodell des „Selbst“ ist das „SelbstkonzeptSelbstkonzept/ -bild“ oder „Selbstbild“ eines Menschen, das erst eine gewisse zeitliche Stabilität der persönlichen Identität herzustellen vermag: In der Psychologie wird das Selbstkonzept meist deskriptiv verstanden als das auf eigenen Erinnerungen basierende Wissen davon, wer man selbst ist. Philosophen interessieren sich vornehmlich für die normative Dimension des Selbstkonzepts und sprechen von einem „normativen Selbst“ oder „normativen Selbstbild“ (vgl. KipkeKipke, Roland 2011, 61/Fenner 2007, 98f.): Das normative Selbst oder normative Selbstbild ist ein prospektiver Selbstentwurf, der auf der Grundlage einer umfassenden Interpretation und Bewertung der materiellen, körperlichen, sozialen und geistigen Dispositionen die wichtigsten Lebensziele und Ideale für die zukünftige Entwicklung festlegt.

Bei einem auf Handlungen ausgerichteten praktischen Selbstverhältnis bestimmt das „reine SelbstSelbst“ in einem solchen persönlichen Selbstentwurf, welche Anlagen, Fähigkeiten und sozialen Rollen im eigenen Leben wichtig sind und in welcher Form sie realisiert werden sollen. Wenn jemand allerdings ein völlig realitätsfremdes „normatives Selbst“ oder „Ideal-Selbst“ entwirft, wird dieses ein bloßes Phantasieprodukt bleiben. Ein erfolgreicher Selbstoptimierungsprozess vom Ist- zum Soll-Zustand setzt daher eine möglichst genaue deskriptive Analyse des bereits in Erscheinung getretenen „empirischen Selbst“ voraus. Dem Projekt der Selbstoptimierung sind aber nicht nur durch die genetischen Anlagen und die Faktizität Grenzen gesetzt, sondern auch durch kulturelle und gesellschaftliche Bewertungsmaßstäbe, Idealvorstellungen und faktische Selbsttechnologien. Schon hinsichtlich der Genese eines Selbstbilds und eines prospektiven Selbstentwurfs wäre es ein individualistisches Missverständnis anzunehmen, es handle sich um Kreationen sozial isolierter Einzelindividuen (vgl. dazu KipkeKipke, Roland 2011, 63). Vielmehr findet der Einzelne in seinem sozialen Umfeld Inhalte und Methoden der deskriptiven Selbstbeschreibung und eine Vielfalt an kulturellen normativen Selbstbildern vor, mit denen er sich auseinanderzusetzen hat. Was jemand ist und sein will ist nicht völlig abgekoppelt von anthropologischen und kulturellen Vorstellungen davon, was ein Mensch ist oder sein sollte. Natürlich können sich die Individuen zu den sozialen Deutungsmustern und normativen Standards von gelingender Selbstverwirklichung oder Selbstoptimierung verhalten und sich davon distanzieren, aber sie bleiben doch stets auf diese Maßstäbe bezogen (vgl. ebd., 65). Nicht zuletzt sind auch die Möglichkeiten und Grenzen der konkret zur Verfügung stehenden Praktiken und Techniken zur Selbstverbesserung kulturell vorgegeben. Von der anderen Seite aus gedacht erhebt der Einzelne mit seinem normativen Selbstkonzept oder seinen Selbstoptimierungszielen implizit auch immer schon den Anspruch, dass das von ihm Angestrebte und für wichtig Erachtete auch von den anderen geschätzt und als gut beurteilt werden sollte. Aufgrund der Angewiesenheit auf soziale Anerkennungsverhältnisse dürfte ein grundlegender Widerspruch zwischen einem persönlichen „Optimum“ oder „normativen Selbstbild“ zu den Menschenbildern und Wertvorstellungen im sozialen Umfeld dazu führen, dass das eigene Selbstwertgefühl mehr und mehr untergraben wird. Auf lange Sicht wird es niemanden glücklich machen, wenn er erfolgreich Selbstoptimierungs-Ziele verwirklicht, die von allen anderen Menschen als völlig wertlos eingestuft und verachtet werden (vgl. Fenner 2007, 65f.).

1.1.3Enhancement

Der aus dem Englischen übernommene Neologismus „EnhancementEnhancement“ von „to enhance“: „Steigerung, Erhöhung“ wurde bereits in den 1990er Jahren in der Bioethik und der Technikfolgenabschätzung geprägt, als in verschiedenen Bereichen wie Humangenetik, Chirurgie und Pharmakologie neue wirkmächtige Technologien entwickelt wurden (vgl. Coenen u.a., 11). Zwar scheint beim „Enhancement“ anders als bei der „Optimierung“ die Vorstellung eines zu erreichenden „Optimums“ zu fehlen, aber wie gesehen meint auch Selbstoptimierung letztlich immer den Prozess einer schrittweisen Selbstverbesserung (1.1.1). Anders als die „Selbstoptimierung im weiten Sinn“ beschränkt sich das „Enhancement“ jedoch auf naturwissenschaftlich fundierte und technisch voraussetzungsvolle Methoden zur menschlichen Verbesserung, vornehmlich aus Medizin, Biochemie und den Neurowissenschaften. „Enhancement“ kann also mit der Selbstoptimierungenger/weiter BegriffSelbstoptimierung im engen Sinn gleichgesetzt werden und stellt eine Sonderform von Selbstoptimierung dar (vgl. Balandis u.a., 137/Röcke, 321f.). Gemäß der in der Bioethik geläufigen Begriffsbestimmung meint Enhancement im Allgemeinen bzw. das biomedizinische EnhancementEnhancementbiomedizinisches im Besonderen sämtliche Verbesserungen menschlicher Eigenschaften oder Fähigkeiten durch technologische bzw. biomedizinische Interventionen, die nicht dem Zweck einer Therapie von Krankheiten dienen, sondern über ein bestimmtes Maß an „Normalität“ oder „normalem Funktionieren“ eines Menschen hinausgehen (vgl. GesangGesang, Bernward, 4/HeilingerHeilinger, Jan-Christoph, 91f./Woyke, 21f.). Demgegenüber umfasst im alternativen Definitionsansatz der Transhumanisten (welfarist definition) „Enhancement“ alle biologischen oder psychischen Veränderungen, die zu einer Steigerung der Chancen auf ein gutes Leben der betreffenden Person führen (vgl. SavulescuSavulescu, Julian u.a., 7). Auch wenn bei dieser Betonung der allgemeinen normativen Bewertungshinsicht ohne Einschränkung der Mittel eine sehr weite Begriffsverwendung vorzuliegen scheint, setzen doch gerade Trans- und Posthumanisten auf neueste Technologien (Kap. 1.4). Im Gegensatz zur bioethischen Definition würden hingegen auch therapeutische Interventionen mit dem Resultat einer verbesserten Lebensqualität zu den Enhancement-Maßnahmen zählen, obwohl die deskriptive Abgrenzung von „Enhancement“ und „Therapie“ durchaus ethisch relevant ist (Kap. 1.3). Da sich diese Einführung auf neue technologische und insbesondere biomedizinische Verbesserungen konzentriert, kann für die thematische Gliederung die in der Enhancement-Debatte bereits gebräuchliche Einteilung in Körper-Enhancement (Kap. 3), Neuro-Enhancement (Kap. 4) und genetisches Enhancement (Kap. 5) verwendet werden.

1.2Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends

1.2.1Kulturelle Voraussetzungen

Individualisierung

Ideengeschichtlich betrachtet lässt sich der Trend zur Selbstoptimierung als konsequente und logische Fortsetzung verschiedener neuzeitlicher IndividualisierungsschübeIndividualisierungsprozesse verstehen: Auf gesellschaftlicher Ebene verloren traditionelle Sozialzusammenhänge wie Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Religionsgemeinschaft immer mehr an Bindungskraft. Zu den großen sozialen und geistesgeschichtlichen Umbrüchen auf diesem Weg zählen die Reformation und die Glaubenskriege mit dem Zerbröckeln eines einheitlichen, stabilen Orientierungssystems, der besonders im Calvinismus geförderte, mit erhöhter Selbstbeobachtung und Selbstdisziplinierung verbundene religiöse Individualismus, die Idealisierung der Innerlichkeit in der Romantik und der drastische Rückgang der religiösen Sozialisierung seit den 1960er Jahren in Europa (vgl. LeefmannLeefmann, Jon, 102). Auf individueller Ebene hat sich in der Aufklärung das in der Renaissance aufkommende Selbstverständnis eines einzigartigen und autonomenAutonomie, s. Freiheit, Willens- Subjekts durchgesetzt, das sich mittels seiner subjektiven Rationalität sein eigenes Gesetz gibt. Dank des Siegeszugs der sich aus ihrem metaphysischen und religiösen Korsett befreienden Naturwissenschaften und der Technik macht sich der neuzeitliche Mensch die äußere Wirklichkeit verfügbar, um seine eigenen Bedürfnisse zu stillen. Unter Zurückweisung vorgegebener traditioneller Rollenbilder und Lebensmuster orientieren sich die Menschen zunehmend an selbst gesetzten Zielen, sodass in den 1960er Jahren ein Wertewandel weg von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu ästhetischen und Selbstentfaltungswerten diagnostiziert wurde (vgl. Fenner 2003, 467). Auf wirtschaftlicher Ebene wurde die Individualisierung durch eine liberalistische Ökonomie und eine kapitalistische Kultur mit dem Prinzip des freien Marktes begünstigt, in der das individuelle Streben nach Gewinn und dem maximalen Erfüllen der subjektiven Wünsche den zentralen Motor darstellt. Neben seinen zahlreichen negativen Seiten hat der Kapitalismus den meisten Menschen in den westlichen Wohlfahrtsstaaten infolge des Wirtschaftswachstums einen hohen Lebensstandard, eine enormen Erweiterung der Lebensmöglichkeiten, mehr Freiheit, Flexibilität und Mobilität gebracht. Nicht zuletzt auch dank mehr freier Zeit wurden damit die Bedingungen dafür geschaffen, dass die Menschen sich vermehrt mit sich selbst und ihrem Leben beschäftigen konnten. Der aus der Soziologie stammende Begriff der IndividualisierungIndividualisierungsprozesse bezeichnet also den historischen Prozess eines Zugewinns an Autonomie und Wahlmöglichkeiten der Individuen, die sich aus fragwürdig gewordenen metaphysischen, religiösen und sozialen Ordnungssystemen und Strukturen herauslösen.

Je weniger der Einzelne von Gott, dem Schicksal oder der Tradition vorgegebene Aufgaben und Rollenmuster zu übernehmen gewillt ist, desto mehr rückt nun das eigene Selbst als einziger Orientierungspunkt in den Vordergrund und wird zur neuen Quelle von Normativität. Individuelle Selbstgestaltung und Lebensplanung gelten als die großen existentiellen Herausforderung des modernen Menschen, der alle Entscheidungen über Ausbildung, Beruf, Familie und Wohnort selbstreflexiv und selbstverantwortlich treffen und seinen individuellen Lebenslauf selbst entwerfen muss (vgl. Beck 2003, 216ff./SelkeSelke, Stefan 2014a, 188). Noch vor der Konjunktur des Schlagworts „Selbstoptimierung“ war in den 1970er und 80er Jahren der Begriff „SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung“ für diese neue Innenorientierung in Mode gekommen, der gleichfalls eine Schlüsselkategorie des modernen Selbstverständnisses darstellt. Obgleich das Konzept der „Selbstverwirklichung“ von den deutschen Idealisten in die Philosophie eingeführt wurde, verhalf ihm erst die humanistische PsychologiePsychologiehumanistische in den 1970er Jahren zum Durchbruch. Selbstverwirklichung meint allgemein die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, indem man seine eigenen Möglichkeiten und Talente ungeachtet gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ausschöpft. Dabei hat auch die Vorstellung von „Selbstverwirklichung“ eine Individualisierung erfahren, da grundsätzlich zwei Deutungsmöglichkeiten offen stehen (vgl. Fenner 2007, 92): Im essentialistischen capacity-fulfillment-ModellSelbstverwirklichungcapacity-fulfillment-Modell wird von einem bereits vorgegebenen metaphysischen oder biologisch angeborenen „Selbst“ ausgegangen, das lediglich in der Welt realisiert werden muss. Dieses von vielen humanistischen Psychologen von Goldstein über Fromm bis Maslow vertretene Entfaltungsmodell der Selbstverwirklichung wird gern mit der Analogie zum Wachstum eines Samenkorns illustriert, bei der allerdings die zentrale Rolle von Vernunft, Erziehung und Bildung in der menschlichen Entwicklung unterschätzt wird. Denn die genetischen Anlagen und Fähigkeiten sind beim Menschen so unbestimmt, dass sie zu höchst unterschiedlichen positiven oder negativen Zwecken einsetzbar sind (vgl. dazu Fenner 2003, 372; 472f.). Aufgrund dieser zweifelhaften Prämissen dominiert heute das individualistische aspiration-fulfillment-ModellSelbstverwirklichungaspiration-fulfillment-Modell, bei dem die Freiheit der Individuen viel stärker betont wird. Es gilt dann nicht ein vorgegebenes „Selbst“ zu realisieren, sondern die wichtigsten Wünsche oder Ziele eines Individuums (vgl. KipkeKipke, Roland 2011, 82f.; 209).

Subjektivierung und Psychologisierung des Glücks

Dieser vielschichtige Prozess der Individualisierung und die Suche nach neuen innerlichen Quellen normativer Handlungsorientierung haben zu einer Renaissance der antiken IndividualethikEthikIndividual-, Strebens- geführt: Nachdem Themen der individuellen Lebensführung wie die Frage nach dem Glück und guten Leben sowohl in der Philosophie als auch in der Öffentlichkeit jahrhundertelang zugunsten moralischer Belange vernachlässigt wurden, genießen sie seit den 1970er Jahren erneut hohe Aufmerksamkeit (vgl. Fenner 2007, 7). Die Dominanz der Fremdorientierung und des Ideals der Selbstlosigkeit war gebrochen, sodass Selbstorientierung und Selbstsorge nicht länger als egoistisch verpönt waren. Während allerdings in Antike und Mittelalter von objektiven Kriterien für menschliches Glück ausgegangen wurde, hat im Laufe der neuzeitlichen IndividualisierungsprozesseIndividualisierungsprozesse eine GlückSubjektivierung/Psychologisierung desSubjektivierung und Individualisierung des Glücks stattgefunden: Das Individuum soll keine vorgegebenen Aufgaben mehr im Kosmos oder einem göttlichen Schöpfungsplan erfüllen, sondern seine ganz persönlichen Wünsche und Ziele realisieren und sein Glück in der Selbstverwirklichung finden (vgl. Höffe, 19/KipkeKipke, Roland 2011, 209f.). Im Zeichen eines anhaltenden „Glücksbooms“ wird der Büchermarkt überschwemmt von einer Fülle populärwissenschaftlicher, spiritueller bis hin zu kabarettistischer Ratgeberliteratur, die zusammen mit Feuilletonbeiträgen und Blogs den Weg zum GlückGlück weisen. Es wird im Sinne des typisch neuzeitlichen Macht- und Machbarkeitsdenkens suggeriert, das Glück sei planbar und herstellbar und jeder könne sein eigenes Glück „schaffen oder aufbauen“ (Lyubomirksy, 24). In ihrer schlichtesten Form bietet die Lebenshilfeliteratur Anleitungen zum Selbermachen und gibt einfache Rezepte, wie man sein Leben zu einem glücklichen machen kann. So soll man etwa „Krisen als Chancen“ betrachten und widrige Umstände positiv deuten, „achtsam“ oder „authentisch“ leben, sich selbstgewählte Ziele setzen und sich selbst optimieren. Je aufdringlicher die Werbeindustrie den Menschen Glück durch den Erwerb bestimmter Güter oder die Nutzung spezifischer Dienstleistungsangebote verspricht, scheint das Glück selbst zur Pflicht erhoben zu werden. Kritische Zeitgenossen sprechen angesichts der omnipräsenten Glücksverheißungen von einer „Diktatur des Glücks“ und einer „Glückshysterie“, weil jedem eingeimpft wird: „Du musst glücklich sein, sonst lohnt sich dein Leben gar nicht“ (SchmidSchmid, Wilhelm 2012, 8). Das intensivierte Glücksstreben und die Betrachtung des individuellen Glücks als Indiz für eine gelingende Selbstverwirklichung und Lebensführung haben dem Selbstoptimierungstrend den Weg bereitet und ihn angekurbelt.

Nachdem in der Antike vornehmlich die Philosophie für Fragen der Lebenskunst und des Glücks der Einzelnen zuständig war, scheinen sie aber seit ihrer Renaissance in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie gerückt zu sein: Von einer Therapeutisierung oderPsychologisierung des GlücksGlückSubjektivierung/Psychologisierung des lässt sich insofern sprechen, als sich immer häufiger Psychologen und Psychotherapeuten für Experten menschlichen Glücks erklären und Unterstützung bei einer gelingenden Selbstverwirklichung bieten. In den 1970er Jahren kam es zu einem allgemeinen „Psycho-Boom“, weil das Interesse der Bevölkerung an einer im weitesten Sinn verstandenen Therapie als sozialer Praxis wuchs und sich immer mehr Zeitungen, Zeitschriften und Ratgeber therapeutischer Konzepte bedienten (vgl. Elberfeld, 176). Einen Beitrag zur Popularisierung der Psychologie leistete auch die 1990 gegründete Positive PsychologiePsychologiepositive, die nach der ausschließlichen Beschäftigung der Psychologie mit psychischen Krankheiten bzw. Störungen die Steigerung der psychischen Gesundheit und positiver Gefühle wie Glück zum Programm erhob (vgl. Seligman, 11). Neben die psychologischen Therapie- und Beratungsangebote trat seit den 1980er Jahren das Coaching, das verschiedene Trainings- und Beratungsmethoden umfasst. Ursprünglich aus dem Sport stammend wurde das Coaching zunächst auf das Training von Führungskräften übertragen und später auf individuelle Beratung aller Menschen ausgedehnt, sodass aus dem Management-Coaching Anleitungen zum Selbstmanagement wurden (vgl. Eberfeld, 189ff.): Coaches helfen den Kunden, ihre persönlichen Potentiale, Stärken und Perspektiven besser einzuschätzen und zu entwickeln, neue Kompetenzen und Strategien zur besseren Bewältigung von Krisen zu erwerben und sich adäquater und erfolgreicher an ihren persönlichen Zielen zu orientieren. Während es beim SelbstmanagementSelbstmanagement in den frühen Phasen vorwiegend um die Steigerung der Arbeitsproduktivität mittels Zeitplanung und To-do-Listen ging, rückte mit jeder Generation mehr die Verbesserung der Lebensqualität mit Zielen wie etwa persönliches Wachstum, Erarbeiten inspirierender Zukunftsperspektiven und befriedigender Beziehungen zu anderen ins Zentrum. Ähnlich wird im Glücks-Coaching typischerweise die Stärkung des Selbstwertgefühls und Selbstvertrauens, mehr Freude in Beruf und Partnerschaft, Gelassenheit und Kreativität im Umgang mit Um- und Mitwelt versprochen. Je populärer die sich auf psychologisches Wissen beziehenden Programme zum Überschreiten des Gesunden und Normalen auf Selbstoptimierung hin werden, desto mehr avancieren therapeutische Praktiken zu „universell einsetzbaren Technologien des Selbst“ (Elberfeld, 194).

1.2.2Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends

1)Positive Aspekte

Das Programm des Selbstoptimierungstrends erscheint als ein grundsätzlich positivesSelbstoptimierungpositive Aspekte, da es zu einem positiven Denken, einem optimistischen Selbstverhältnis und einer auf Verbesserungen abzielenden, aktiven Lebensführung auffordert. Die Kernbotschaft lautet, dass jeder jederzeit unliebsame schädliche Gewohnheiten und Einstellungsweisen verändern, sein Schicksal in die eigene Hand nehmen und etwas für seine Gesundheit und sein Glück tun kann. Es geht bei diesem neuen gesellschaftlichen Leitbild nicht wie in vergangenen Jahrhunderten vorwiegend um den Kampf gegen Entbehrung, Leid und Krankheit, sondern um positive Zielvorstellungen wie Gesundheit, Kreativität, Produktivität und Zufriedenheit. Die allgegenwärtige Motivation zur Arbeit am eigenen Selbst und am eigenen Glück durch sukzessives Feilen an der persönlichen Lebensgestaltung fördert aus Sicht der Befürworter die individuelle Freiheit und Verantwortung der Einzelnen und bestenfalls auch ihr Wohlergehen (vgl. DuttweilerDuttweiler, Stefanie, 8). Im gegenwärtigen Streben nach individueller Selbstverbesserung komme das moderne Ideal persönlicher AutonomieAutonomie, s. Freiheit, Willens- oder Selbstbestimmung zum Ausdruck, das in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft als oberster Wert gilt (vgl. GammGamm, Gerhard, 47ff.): Der Einzelne versteht sich nicht mehr als Opfer der Verhältnisse und muss nicht religiöse oder traditionelle Aufgaben erfüllen, sondern tritt als selbstbewusster Autor seiner selbst und seines Lebens in Erscheinung und führt die Eigenregie bei seiner Selbstdarstellung. Während für vergangene Generationen selbstverständlich war, dass Frauen Kinder großziehen und den Haushalt führen und Männer den Beruf ihres Vaters erlernen und den väterlichen Betrieb oder Hof übernehmen, kann heute jeder zwischen schier unüberblickbaren Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten das für ihn Passende auswählen. Dank des hohen Lebensstandards steht nicht mehr die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse im Zentrum, sondern die Suche nach einem eigenen Lebensstil hinsichtlich Bildung, Freizeitaktivitäten, Ernährung und Umgang mit dem eigenen Körper (vgl. Schimank, 2). Anstelle der ehemaligen Stände oder gesellschaftlichen Milieus hat sich eine Vielfalt von Lebensstil-Szenen zu verschiedenen Möglichkeiten der Selbst- und Lebensgestaltung ausdifferenziert, so z.B. der „Lifestyle of health and sustainability“ (LOHASLOHAS). Aus dieser Perspektive steht also das moderne Projekt der Selbstverwirklichung und SelbstoptimierungSelbstoptimierungpositive Aspekte für den Übergang von einer autoritätsgläubigen unterwürfigen Persönlichkeit zu einem emanzipierten autonomen Subjekt, der als Befreiungsschlag und höchst positive Errungenschaft bewertet wird.

Aus kritischer Distanz erscheint der hinter dem Selbstoptimierungs-Trend stehende IndividualismusIndividualisierungsprozesse und LiberalismusLiberalismus allerdings oft als einseitig und realitätsfremd. Denn Anleitungen zur Selbstoptimierung und populäre Glücksratgeber suggerieren mitunter, ein erfolgreiches und glückliches Leben sei nur das Resultat der Arbeit am eigenen Selbst oder gar von Autosuggestion (vgl. Hirschhausen, 154/Lyubomirsky, 16). Genährt werden unter Umständen sogar trügerische Omnipotenzphantasien, mit mehr Eigenaktivität, Selbstwirksamkeit und Resilienz alle äußeren Hindernisse überwinden zu können (vgl. dazu UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 35). Kritiker der IndividualisierungSelbstoptimierungnegative Aspekte und Psychologisierung des Glücks bezeichnen es als „kollektive Selbsttäuschung“, dass jeder Mensch als ein freies, gestaltungsfähiges Individuum allein mit den richtigen Einstellungen und Taten sein Glück in der Welt schmieden könne (vgl. Hampe, 56). Denn unbestreitbar findet er zum einen eng gezogene individuelle biologische Grenzen vor, weil auch mit Schönheitsoperationen Alterungsprozesse lediglich verzögert und ein fehlendes Bewegungstalent oder ein niedriger IQ durch Training oder Enhancement nicht kompensiert werden können. Zum anderen wird ein Mensch nach wie vor hineingeboren in bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse mit gewissen Ressourcen und Beschränkungen und kann jederzeit Opfer von Naturkatastrophen oder Gewalttaten werden. Angesichts dessen mutet die positiv-anspornend gemeinte individualistische Lesart des Sprichworts „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ naiv an, jeder brauche nur positiv zu denken oder an seiner persönlichen Lebensgestaltung zu arbeiten. Das Pochen auf den Zugewinn an Chancen und Möglichkeiten dank des modernen IndividualismusIndividualisierungsprozesse und LiberalismusLiberalismus wird dann sozialethisch bedenklich, wenn es zur Verweigerung einer Auseinandersetzung mit den bestehenden sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen führt. Ein naiver OptimismusOptimismus, naiver/funktionalerist aber auch individualethisch problematisch, weil eine durchgängig positive Einstellung zum Leben und zur Zukunft zu einer Überschätzung der eigenen Kontrollfähigkeit und Kompetenzen führt und gegen berechtigte Kritik immunisiert. Damit kommen Optimisten aber die Voraussetzungen für ein „lernendes System“ abhanden, weil sie nicht aus Fehlern in der Vergangenheit lernen und Gefahren und Risiken rechtzeitig erkennen und verhindern können (vgl. dazu Schmied 2012, 44/Seligman, 73). Individualethisch günstig ist nur ein funktionaler Optimismus, bei dem Probleme nicht ausgeblendet, sondern als Herausforderungen betrachtet und stets die offen stehenden Chancen in den Fokus gerückt und voll ausgeschöpft werden (vgl. Fenner 2007, 134f.).

Zur Verteidigung des Programms der Selbstoptimierung wird gern auf die KontinuitätArgumenteKontinuitäts- verwiesen, mit der die Menschen seit Jahrtausenden auf Selbstverbesserung ausgerichtet sind. In der Tat waren die Menschen noch nie einfach zufrieden damit, wie sie waren, sondern versuchten sich und ihr Leben stets mittels physischer, psychischer und mentaler Anthropotechniken zu verbessern (vgl. Leuthold, 11/WiesingWiesing, Urban 2006, 324). Das Streben nach Höherem und Besserem scheint im Menschen angelegt zu sein und bildet sozusagen seinen Lebensmotor und den Antrieb zur kulturellen Weiterentwicklung. So lässt sich der Mensch anthropologisch als „homo modificanshomomodificans“ und „das sich optimierende und normierende Lebewesen“ bestimmen (StraubStraub, Jürgen u.a., 19). Allerdings haben sich die theoretischen Zielvorstellungen und praktischen Methoden im Laufe der Geschichte stark gewandelt, und die angestrebten oder erlangten Veränderungen erscheinen von außen nicht immer als „Verbesserungen“ (vgl. ebd.). Für die Menschen der Antike war das „OptimumOptimierung, Optimum“ in der teleologischen Ordnung der Natur vorgegeben, und alle Maßnahmen sollten nur das vollenden, was in der Natur angelegt ist (vgl. WiesingWiesing, Urban 2006, 324ff.). Dieser Vorstellung immanenter Zwecke in der Natur folgte im Mittelalter der Glaube an die vollkommene göttliche Schöpfungsordnung, wobei Abweichungen des Menschen von der gottgewollten Vollkommenheit als Resultat der Ursünde verstanden wurden. Sie sollten vorwiegend mit geistigen und religiösen Anstrengungen so weit wie möglich schon im Diesseits abgeschwächt werden, auch wenn das eigentliche „OptimumOptimierung, Optimum“ erst dank Gottes Gnade im Jenseits erreichbar war. Das Streben nach Perfektionierung gewann in der Aufklärung als umfassendes Denk- und Lebensmodell mächtigen Auftrieb, weil der Mensch einerseits als grundsätzlich veränderbares und erziehbares Wesen, andererseits zugleich als mangelhaft und verbesserungswürdig galt (vgl. Glockentöger u.a., 74f.). Es wurde in der Aufklärungsphilosophie geradezu als moralische Pflicht angesehen, seine leiblichen, seelischen und geistigen Kräfte zu vervollkommnen (vgl. KantKant, Immanuel, 55f./LenkLenk, Christian, 50f.). Im Laufe der Neuzeit verloren die Vorstellungen der Naturteleologie und einer göttlichen Ordnung immer mehr an Bedeutung, sodass sich die Eingriffsmöglichkeiten nicht länger vor traditionellen Orientierungsvorgaben legitimieren mussten. Mit dieser Entgrenzung der Möglichkeiten gingen aber die normativen Kriterien für die bahnbrechenden technischen und medizinischen Errungenschaften im 19. und 20. Jahrhundert wie etwa Mensch-Maschine-Verbindungen oder Gentechnik verloren, anhand derer sich „Verbesserungen“ und ein „Optimum“ des Menschen bestimmen lassen.

2)Negative Aspekte

Der enorme Zuwachs an Wahlmöglichkeiten und individueller Autonomie im Zuge der verschiedenen Individualisierungsschübe weist offenkundig auch SchattenseitenSelbstoptimierungnegative Aspekte auf wie die Zunahme an Entscheidungszumutungen und persönlicher Selbstverantwortung (vgl. Schimank, 3). Nachdem sichere normative Orientierungsstrukturen abhanden gekommen sind und es zu jeder Handlungsoption zahllose Alternativen gibt, quälen sich viele Menschen mit ständigen Selbstzweifeln: Hätte ich es nicht vielleicht anders machen sollen und hätte es nicht noch besser laufen können oder müssen? Das sich selbst optimierende „unternehmerische SelbstSelbstunternehmerisches“ scheint notwendig ein „unzulängliches Individuum“ zu sein, das nie mit sich selbst zufrieden ist, weil es stets hinter seinen eigenen Ansprüchen zurückbleibt (BröcklingBröckling, Ulrich, 289). Als „Tragödie des Erfolgs“ bezeichnet Leon KassKass, Leon, dass die Menschen trotz enormen wissenschaftlich-technischen Fortschritten z.B. in der Medizin nicht zufriedener mit ihrem Gesundheitszustand geworden sind (vgl. 133f.). Da das Streben nach Perfektion zu Intoleranz gegenüber Fehlern und dem Unvollkommenen führe, gelte das Paradox: „Je perfekter der Mensch werden will, desto unvollkommener wird er.“ (MaioMaio, Giovanni 2018, 251) Selbstoptimierungnegative AspekteWenn individuelle Unsicherheit und Selbstunzufriedenheit mit dem omnipräsenten gesellschaftlichen Appell zur Perfektionierung und Selbstverantwortung zusammentreffen, können sie sich leicht zu einem negativen Lebensgefühl verdichten und zu Erschöpfungszuständen führen. Das erschöpfte SelbstSelbsterschöpftes ist nach Alain EhrenbergEhrenberg, Alain ein ausgebranntes Selbst, das kaum mehr Orientierungsstrukturen und Regeln im Außen vorfindet, sondern sich flexibel und mobil an eine komplexe, sich ständig verändernde provisorische Welt anpassen und dabei alles selbst entscheiden und verantworten muss (vgl. EhrenbergEhrenberg, Alain, 141; 222; 277). Die in westlichen Ländern steigende Zahl von Burn-outBurnout-Vorkommnissen, Depressionen und Angststörungen wird in direkten Zusammenhang gebracht mit den gegenwärtigen Welt- und Selbstdeutungen mit ihren maßlosen Perfektionsidealen. In vielen Bestsellern wie etwa Ariadne von Schirachs Du sollst nicht funktionieren (2015) oder Arnold Retzers Miese Stimmung (2012) wird daher eine radikale Abkehr vom Optimierungswahn und dem Diktat des positiven Denkens gefordert, wohingegen Pessimismus und negative Gefühle aufzuwerten seien. Der Perfektionierungsthese wird von Philosophen wie Harry FrankfurtFrankfurt, Harry und Michael SloteSlote, Michael die Suffizienzthese entgegengesetzt, derzufolge eine Haltung der zufriedenen Selbstbescheidung und Mäßigung rationaler ist als eine unbegrenzte Optimierung der Lebenssituation (vgl. SloteSlote, Michael, 10/Knell, 368f.).

Kritiker des Selbstoptimierungstrends bestreiten auch einen ursprünglichen inneren Drang der Individuen zur Selbstverbesserung, weil sich die Subjekte lediglich dem steigenden sozialen DruckDruck, sozialer anpassen (vgl. KingKing, Vera u.a., 285). Gemäß vielen aktuellen Gesellschaftsdiagnosen stellt die Selbstoptimierung für den Einzelnen längst keine Option mehr dar, sondern eine gesellschaftliche Pflicht oder einen „moralischen Imperativ“ (vgl. SelkeSelke, Stefan 2014a, 189/GammGamm, Gerhard, 34). Der von außen kommende Fremd-Zwang werde zum Selbst-Zwang umverwandelt, wobei sich der Einzelne die „Illusion der Autonomie“ erschaffe (vgl. KingKing, Vera u.a., 286; 289): Die institutionelle „Verbesserungslogik“ knüpfe nur an das moderne Autonomieideal und Selbstverwirklichungsstreben an, um das „Maß der Unterwerfung“ zu kaschieren (vgl. KingKing, Vera u.a., 286). Zu unterwerfen hätten sich die Menschen den Idealen der Effizienz- und LeistungssteigerungEffizienz-/ Leistungssteigerung, wie sie v.a. für die Arbeitswelt mit ihrem verschärften WettbewerbsdruckLeistungsdruck, hohen Ansprüchen an Flexibilität, Mobilität und Selbstorganisation und einer Beschleunigung der Arbeit typisch sind. Aufgrund der Totalität beruflicher Anforderungen und einer fortschreitenden Ökonomisierung der Lebenswelt Ökonomisierung der Lebensweltweite sich dieses ökonomische Effizienz- und Konkurrenzdenken des neoliberalenNeoliberalismuskritikSelbstoptimierungnegative AspekteKapitalismus von der Arbeitswelt auf das Privatleben, die sozialen Beziehungen und die gesamte Lebensführung aus (vgl. ebd., 284/Becker u.a., 5/Kap. 1.2). Da die ungünstigen Arbeits- und Lebensbedingungen bestehen bleiben, bedeute die „Ermächtigung“ zu Freiheit und Selbstverbesserung paradoxerweise eine Anleitung zur ständigen kompromissbereiten Anpassung an gegebene Umstände (vgl. DuttweilerDuttweiler, Stefanie, 8). Die Einzelnen unterwerfen sich aus dieser Sicht den gesellschaftlichen Anforderungen lediglich aus Angst vor dem Verlust an Anerkennung, dem sozialen Abstieg und dem Scheitern im permanenten Ausscheidungswettkampf (vgl. BröcklingBröckling, Ulrich, 289/UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 32; 46). Statt um einen Imperativ zur Selbstoptimierung handle es sich dabei genau genommen um einen „Imperativ zur SelbstausbeutungSelbstausbeutung“, weil die Getriebene unter den Zwängen leiden (vgl. UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 46). Während viele Menschen die destruktiven Risiken und psychischen und somatischen Symptome bagatellisieren, liegen bei anderen Erschöpfung und ohnmächtiges Leiden offen zutage (vgl. ebd., 32f./Salfeld u.a., 10f.). Obwohl es für das mediale Schlagwort BurnoutBurnout bis heute keine validen allgemeingültigen Diagnosekriterien gibt und die komplexen inneren und äußeren Ursachen noch erforscht werden, fungiert der Begriff in öffentlichen Selbstoptimierungs-Debatten geradezu als Synonym für Leistungsträger, die rund um die Uhr erreichbar sind und bis zur Erschöpfung arbeiten (vgl. MühlhausenMühlhausen, Corinna 2013, 122f.).

Diese neoliberalismuskritische Darstellung des Selbstoptimierungsstrebens als einverleibter Fremd-Zwang ist allerdings genauso einseitig und tendenziös wie die radikale Autonomiethese. Die skizzierten neuzeitlichen Emanzipations- und IndividualisierungsbestrebungenIndividualisierungsprozesse lassen sich schwerlich auf eine reaktive Anpassung an wirtschaftliche Anforderungen reduzieren, weil sich die Menschen vom Kampf um mehr Freiheit und ein individualisiertes Glücksstreben vielmehr eine Steigerung der Lebensqualität erhofften. Die „Verschmelzung“ steigender individueller Ansprüche und marktrelevanter Forderungen ist also viel komplexer und konzeptuell schwer zu fassen (vgl. KingKing, Vera u.a., 286). Auch gibt es in der gegenwärtigen Optimierungsgesellschaft durchaus positive Muster der Lebensführung, bei denen eine begeisterte Bejahung der zahllosen Möglichkeiten des Optimierens mit angemessener Selbst- und Fremdsorge einhergehen (vgl. Salfeld u.a., 10/UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 34). Menschen scheitern offenkundig nur, wenn bestimmte ungünstige psychische Startbedingungen wie niedriges Selbstbewusstsein und mangelnde Zuwendung in Primärbeziehungen und unerfüllbare äußere berufliche Anforderungen oder unsichere Arbeitsverhältnisse aufeinandertreffen (vgl. ebd., 32; 44/KingKing, Vera u.a., 287). Sie zerbrechen dann aber nicht am generalisierten Zwang zur permanenten Selbstoptimierung, sondern an Überlastung z.B. infolge von ArbeitsverdichtungArbeitsverdichtung, unrealistischen Arbeitserwartungen oder entgrenzter Arbeitszeit, prekärer befristeter Arbeitsverhältnisse, Doppelbelastung durch Beruf und Familie etc. Folgerichtig müsste sich die Kritik auch gegen solche ganz konkreten Missstände richten. Da nur unter bestimmten problematischen Bedingungen der Appell zur Selbstoptimierung negativ als Zwang und nicht positiv als Motivationsschub erlebt wird, gibt es keinen einfachen Zusammenhang zwischen Optimierungs- und Leistungsdruck und Erschöpfungsreaktionen oder BurnoutBurnout (vgl. UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 33; 47). Aus psychologischer Sicht sind die wenigsten Menschen masochistisch veranlagt und verschreiben sich auf Dauer Selbstoptimierungsprogrammen, die autodestruktiv sind und weder Vergnügen noch Befriedigung bringen (vgl. Balandis u.a., 148). Die befürchtete Entsolidarisierung der individualisierten Gesellschaft drohte nur dann, wenn der gesellschaftliche Ruf nach Selbstoptimierung zur Entlastung von Politik und Gesellschaft führte und der Einzelne ungeachtet unwürdiger Erwerbs- und Lebensbedingungen auch für sein Unglück selbst verantwortlich sein soll. Der sozialethisch höchst problematische Umkehrschluss zur positiven liberalen Maxime „Jeder ist seines Glückes Schmied“ lautete dann: Wer im Leben nicht alles erreicht hat und nicht sein Glück macht, hat sich nicht genug angestrengt!

3)Notwendigkeit einer Ambivalenztoleranz

Klare Einordnungen der Selbstoptimierung in oppositionelle Kategorien wie „positiver Ansporn“ oder „Selbstausbeutung“, „Freiheitszuwachs“ oder „sozialer Druck“, „Weg zum Glück“ oder „Wahn“ werden der Komplexität der Thematik nicht gerecht und behindern die gesellschaftliche Debatte. Bei multifaktoriellen und vielschichtigen kulturellen Entwicklungsprozessen ist es nicht leicht auseinanderzuhalten, was „von innen“ von den Menschen selbst oder „von außen“ von der Gesellschaft kommt, deren Teil die Menschen sind. Individuelle Autonomie und gesellschaftliche Orientierungsmuster und Wertstandards schließen einander in demokratischen Gesellschaften keineswegs kategorisch aus. Optimierungsbemühungen führen nicht zwingend zu Selbstausbeutung und Erschöpfung, sondern viele Menschen haben Spaß an den neuen Möglichkeiten der Weiterentwicklung, der erhöhten Selbstkontrolle und Selbstverantwortung und dem besseren Erreichen ihrer Ziele (vgl. Balandis u.a., 134; 148/KingKing, Vera u.a., 292). Selbstoptimierungnegative AspekteSchwerlich ist schon das typisch menschliche Bestreben problematisch, sich selbst zu verändern und das Beste aus sich und seinem Leben zu machen. Nur unangemessene, unerreichbare Perfektionsideale und ein übersteigerter PerfektionismusPerfektionismus/perfektionistisch und Kontrollzwang führen zu Selbstüberforderung und Minderwertigkeitsgefühlen. Weder ein erfolgszuversichtliches, strukturiertes und effektives Handeln und lebenslanges Lernen zum ständigen Effizienz-/ LeistungssteigerungErwerb neuer Kompetenzen noch auch erhöhte Selbstverantwortung, Eigeninitiative und Selbstorganisation sind einem guten Leben abträglich, sondern begünstigen es im Gegenteil. Verwerflich sind nur die sich darauf abstützenden, maßlos gesteigerten und unerfüllbaren beruflichen oder gesellschaftlichen Anforderungen an die Einzelnen. Werden auch unverantwortete, sozial oder natürlich bedingte Kosten und Risiken dem Einzelnen angelastet, so werden die Ansprüche an die individuelle Selbstverantwortung deutlich überzogen und die „Pflicht zum Glück“ wird „asozial“ (vgl. SchmidSchmid, Wilhelm 2012, 7ff./GugutzerGugutzer, Robert, 2). Es braucht eine gelassene und sachlich-nüchterne Einstellung, um diese grundlegende und hochgradige Ambivalenz der Selbstoptimierung erst einmal wahrnehmen zu können (vgl. Balandis u.a., 148). Ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatten sollten dann jedoch die zukunftsgerichteten Fragen rücken, welche Aspekte des Selbstoptimierungstrends sich positiv oder negativ auf das individuelle oder gesellschaftliche Leben auswirken und mit welchen Regulierungsmaßnahmen sich seine Weiterentwicklung gezielt beeinflussen lässt. Die Anwendungskontexte und verschiedenen Formen von Selbstoptimierung sind allerdings so vielfältig, dass pauschale Urteile wenig sinnvoll sind und sorgfältige Einzelfallanalysen durchgeführt werden müssen (vgl. AchAch, Johann 2016, 141).

1.3Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement

Zum Zwecke der Selbstoptimierung werden immer stärker auch die ständig erweiterten und präziseren Verbesserungsmöglichkeiten der Medizin nachgefragt. Parallel zum Selbstoptimierungstrend wird infolgedessen auch ein Gestaltwandel im traditionellen Grundverständnis der Medizin hin zu einer wunscherfüllenden MedizinMedizinwunscherfüllende/kurative diagnostiziert (vgl. KettnerKettner, Matthias, 81f./Junker u.a., 66f.): Während die traditionelle Medizin wesentlich kurativ war und der Heilung und Prävention von Krankheiten diente, werden medizinische Verfahren in der modernen Medizin zunehmend zur Erfüllung individueller Wünsche nach Vitalität, Lifestyle, Lebensplanung, Verschönerung des Körpers und Optimierung der normalen Funktionsfähigkeiten eingesetzt. Traditionell war die Medizin am Krankheitsbegriff orientiert und konzentrierte sich auf die Pathogenese als Entstehung von Krankheiten, wohingegen Gesundheit negativ als Abwesenheit von Krankheit definiert wurde. Im Gegensatz dazu wendet sich die wunscherfüllende MedizinMedizinwunscherfüllende/kurative der Gesundheit als einer positiven und beliebig steigerbaren komplexen „soziobiologischen Qualität“ zu und kümmert sich um die Salutogenese, d.h. die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit (vgl. KettnerKettner, Matthias, 86). Zu diesen tiefgreifenden Strukturveränderungen gehört auch ein grundlegender Wandel im Rollenverständnis und in der wechselseitigen Beziehung von Arzt und Patient: An die Stelle des zu behandelnden Patienten als einem bedürftigen, kranken oder krankheitsgefährdeten Menschen in der kurativen Medizin tritt im Rahmen der wunscherfüllenden Medizin ein gesunder und autonomer Klient oder Kunde, der eine von ihm gewünschte individualisierte Dienstleistung nachfragt. In seiner traditionellen Rolle beurteilt der Arzt mit objektivem Blick und nach etablierten Kriterien die Indikation, d.h. die Behandlungsbedürftigkeit des Patienten und übernimmt die Verantwortung für die allenfalls einzuleitende angemessene Therapie. Im neuen wunschorientierten Modell wird das Angebot hingegen nicht durch den Arzt mit seinem medizinischen Wissen und Können gesteuert, sondern letztlich durch die Nachfrage der Klienten (vgl. ebd., 87). Im Verlauf des Paradigmenwechsels in der Medizin gewinnt somit die Patientenautonomie gegenüber dem ärztlichen Paternalismus an Bedeutung, und es kommt zu einer Deregulierung und Kommerzialisierung des Gesundheitssystems. Aufgrund der dabei vorwiegend zum Einsatz kommenden biomedizinischen Methoden ist die wunscherfüllende Medizin zu einem großen Teil Enhancement-MedizinMedizinEnhancement-. Zur wunscherfüllenden Medizin zählen außerdem noch die gegen die „Schulmedizin“ gerichtete „Komplementär“- oder „Alternativmedizin“ mit einem ganzheitlichen Gesundheitsbegriff und die von den Kunden selbst zu zahlenden, medizinisch sinnvollen, aber nicht notwendigen „individualvertraglichen Gesundheitsleistungen (IGeL)“ (vgl. KettnerKettner, Matthias, 84ff./Junker u.a., 64f.).

Da die geschilderten medizinischen Strukturveränderungen in komplexe kulturelle Prozesse wie politische Programme zur Förderung medizinischer Forschung und Entwicklung, soziale Gesundheitssysteme und gesellschaftliche Hintergrundannahmen von Gesundheit und Krankheit eingebettet sind, bedarf es öffentlicher ethischer Diskurse über den Wandel im Grundverständnis der Medizin. Denn im Wettbewerb um Mitglieder geraten beispielsweise die Krankenkassen zunehmend unter Druck, über die kurativen Maßnahmen hinaus entsprechend der Wünsche der Kunden auch alternative und medizinisch nicht indizierte Leistungen anzubieten. Indem Ärzte von heilenden Versorgern zu medizinischen Dienstleistern und Helfern individueller Wunscherfüllung mit ganz neuen Einkommensmöglichkeiten werden und die Kunden die gewünschten Gesundheitsleistungen selbst zahlen, droht Gesundheit zu einem Konsumgut im freien Wettbewerb der kapitalistischen MarktwirtschaftGesundheitssystem, marktliberales (Präferenz-Effizienz-Modell) zu werden. Entgegen weit verbreiteter impliziter Unterstellungen ist der neue medizinische Leitbegriff einer präferenzorientierten Dienstleistung keineswegs „wertneutral“, sondern muss kritisch reflektiert werden (vgl. MaioMaio, Giovanni 2006, 340). Befürchtet wird von Skeptikern eine problematische Verschiebung im ärztlichen Ethos von der traditionellen altruistischen „Humanität des Arztes“ zur „Egozentrik des ‚Patienten‘“ (Eberbach, 13). Ärzte und Kliniken könnten sich statt an Werten wie Gemeinwohl und Volksgesundheit bzw. an einem allgemeinmenschlichen Recht auf Gesundheit immer mehr an ökonomischen Eigeninteressen orientieren. Abzulehnen ist klarerweise ein radikalliberales Modell mit einer totalen Kommerzialisierung medizinischer Leistungen und der Einebnung des Unterschieds zwischen medizinisch indizierten und wunschmedizinischen Behandlungen, weil eine marktförmige Verteilung leicht zu einer „Fehlallokation“ der Gesundheitsleistungen führt (vgl. KettnerKettner, Matthias, 88/Kap. 3.1, Argument 2): Während zahlungskräftige Kunden ihre Luxusbedürfnisse befriedigen können, bleiben berechtigte Ansprüche auf eine medizinische Grundversorgung möglicherweise unerfüllt. Im vorliegenden Kapitel soll es aber erst einmal nur um eine deskriptive Unterscheidung von „Enhancement“ und „Therapie“ gehen, die für eine definitorische Bestimmung des „Enhancements“ unverzichtbar ist (vgl. SynofzikSynofzik, Matthias 2006, 37/Kap. 1.1). Die Möglichkeit einer solchen trennscharfen Unterscheidung wird vielfach bestritten, weil schon die Begriffe „Krankheit“ und „Gesundheit“ höchst unterschiedlich gebraucht werden. Es ist also erst einmal mittels einer Analyse der wichtigsten Krankheits- und Gesundheitsmodelle zu klären, ob das Enhancement überhaupt eine eigene, klar abgrenzbare Klasse von Handlungen bezeichnet, die im Kontrast zur ethisch unkontroversen Krankheitsbehandlung einen abgesonderten ethischen Problembereich darstellt.

1.3.1 Deskriptive Analyse verschiedener Krankheits- und Gesundheitsmodelle

1)Objektives biostatisches Krankheitsmodell

In der medizinischen Praxis äußerst beliebt ist das auf Christopher BoorseBoorse, Christopher zurückgehende objektive biostatische KrankheitsmodellGesundheits-/Krankheits-Modellebiostatisches, bei dem „Gesundheit“ negativ als Abwesenheit von Krankheit und „Krankheit“ als Abweichung von einem speziestypischen „normalen Funktionieren“ definiert wird (vgl. BoorseBoorse, Christopher, 567/DanielsDaniels, Norman, 28). NaturalistischGesundheitnaturalistisches Konzept ist dieses in der Tradition der physiologischen Medizin entworfene Modell, insofern es die Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit „wertfrei“ in Bezug auf objektive, naturwissenschaftlich überprüfbare Fakten zu treffen beansprucht. Unter „normaler Funktionsfähigkeit“ wird dabei eine statistische Norm einer typischen, alters- und geschlechtsspezifischen Referenzklasse des jeweiligen Organismus verstanden. Anders als bei einem rein statistischen Normalitätsbegriff werden beim biologischen Funktionsbegriff nur diejenigen Abweichungen von einem statistischen Mittelwert als krankhaft interpretiert, die speziestypische Funktionen verhindern. Damit sind aber nicht alle Probleme einer statistischen Krankheitsdefinition überwunden, weil bezogen auf die altersspezifische Referenzklasse statistisch häufige Erscheinungen wie z.B. Karies, Osteoporose oder Prostatakrebs trotz einschränkender biologischer Funktionen „normalNormalitätbiostatische“ und damit eigentlich keine „Krankheiten“ wären (vgl. WernerWerner, Micha, 146). Zudem lassen sich bei vielen organischen Funktionen durch statistische Erhebungen nur gewisse Normbereiche festlegen, wobei die Grenze zwischen „normal“ und „krankhaft“ von kulturellen Deutungen abhängt und somit nicht völlig wertfrei ist. Ein typisches Beispiel wäre ein niedriger Blutdruck jenseits eines bestimmten Normbereichs, der nur in Deutschland als Indiz für eine Krankheit aufgefasst und in Großbritannien spöttisch „German disease“ genannt wird. An seine Grenzen stößt das biostatische Modell v.a. auch im psychosozialen Bereich, da psychische Krankheiten bzw. Störungen noch viel stärker von kulturellen Vorstellungen von „normalem“ und „nichtnormalem“ Verhalten und von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen abhängen. BoorsesBoorse, Christopher Definition von psychischen Krankheiten als Störungen der Wahrnehmung und der kognitiven Funktionen analog zu physischen Funktionsstörungen erscheint als reduktionistisch und inadäquat (vgl. LenkLenk, Christian 117f.; 120f.). Die Kritik am biostatischen Krankheitsmodell richtet sich entsprechend gegen den Anspruch auf naturwissenschaftliche Exaktheit und Wertfreiheit, obschon durchaus nicht alle Anhänger einen Naturalismus im strengen Sinn vertreten (vgl. etwa DanielsDaniels, Norman, 30/BuchananBuchanan, Alan u.a., 151). Auf der physiologischen Ebene von Zellen und Organen lassen sich jedoch unwillkürliche Funktionsstörungen wie beispielsweise entartete und unkontrolliert wuchernde Tumorzellen, eine Lungenventilationsstörung oder eine Störung des Bewegungsapparates relativ wertfrei und deskriptiv als „Krankheiten“ ausweisen, sodass auch die Grenze zwischen Therapie und Enhancement klar gezogen werden könnte.

2)Subjektivistischer lebensweltlicher Wohlbefindens-Ansatz

Im Kontrast zum objektiven Krankheitsmodell geht der Gesundheits-/Krankheits-Modellesubjektivistisches, lebensweltlichessubjektive lebensweltliche Wohlbefindens-Ansatz von einem positiven, maximalistischen BegriffGesundheitMinimal-/Maximalbegriff von „Gesundheit“ als einem Idealzustand subjektiven Wohlbefindens aus. „Krankheit“ hingegen stellt eine Beeinträchtigung des subjektiven Wohlbefindens dar. Exemplarisch dafür ist die bekannte Definition der WHO von „Gesundheit“ als „Zustand vollkommenen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit und Behinderung“ (WHO 1946). Im Zuge des Selbstoptimierungstrends kam es zu einer Individualisierung des Gesundheitsverständnisses und einem Erstarken des sogenannten zweiten Gesundheitsmarktes (vgl. MühlhausenMühlhausen, Corinna u.a. 2013, 5f.; 17): Gesundheit wird nicht mehr allein über die Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern von rund 80 % der Befragten mit persönlichem Wohlbefinden assoziiert. Statt mit „Wohlbefinden“ wird „Gesundheit“ auch mit „Glück“ oder „Lebensqualität“ gleichgesetzt, so etwa von Horst BaierBaier, Horst oder Lennart Nordenfelt (vgl. Baier, 100/Nordenfelt, 7). Für das medizinische Gesundheitssystem und eine klare Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit eignen sich solche subjektive lebensweltliche Modelle von Gesundheit allerdings nicht, weil positive Gesundheitsvorstellungen von Wohlbefinden oder Glück nach oben hin keine Grenze kennen. Da sich die meisten Menschen weit weg vom Zustand vollkommenen Glücks oder maximaler Lebensqualität entfernt wähnen und sich eine Steigerung ihres aktuellen Wohlbefindens wünschen, wären dann strenggenommen alle Menschen krank. Auch die Trennung von Therapie und Enhancement wäre obsolet, weil jede das subjektive Wohlbefinden und damit die Gesundheit befördernde Maßnahme als Therapie zu bezeichnen wäre. Aus einer wissenschaftlichenGesundheitwissenschaftlicher/lebensweltlicher Begriff philosophischen und medizinischen Perspektive können das subjektive Erleben einer Störung des Wohlbefindens und ein subjektives Leid lediglich dafür bedeutsam sein, ob sich der Einzelne als krank ansieht oder nicht. Sie können aber nicht die Kernbedeutung des Krankheitsbegriffs ausmachen und bestimmen, was Krankheit ist, sondern stellen nur Zusatzkriterien dar (vgl. SchrammeSchramme, Thomas 2013, 10). Da die Quellen von vermindertem Wohlbefinden oder subjektivem Leid neben organischen Ursachen ganz unterschiedliche sein können, drohte bei einer lebensweltlichen Interpretation von Krankheit und Gesundheit die Gefahr einer MedikalisierungMedikalisierung von Umwelt- und Lebensproblemen: Würden beispielsweise auch Beeinträchtigungen aufgrund ungünstiger gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen als individuelle Krankheiten interpretiert, fielen auch sie irrtümlicherweise in den Zuständigkeitsbereich der Ärzte und mutierten zum Gegenstand individueller Therapie (vgl. LenkLenk, Christian, 145; 177).

3)Relationale Ansätze von Gesundheit und Krankheit

Zur Überwindung der Einseitigkeit in der Betonung der subjektiven und objektiven Komponenten der anderen Modelle beziehen relationale KrankheitsmodelleGesundheits-/Krankheits-Modellerelationales die äußere Umwelt mit ein und definieren Krankheit als Unfähigkeit zur Erreichung selbstgesetzter Ziele oder zur Bewältigung von äußeren gesellschaftlichen Anforderungen (vgl. Heiliger, 66f./Walcher, 52f.). „Krankheit“ bedeutet in diesem Verständnis also ein gestörtes Verhältnis oder ein Ungleichgewicht zwischen internen Ressourcen oder Fähigkeiten des Individuums und externen Umweltfaktoren. Es lassen sich dabei Adaptionstheorien mit ähnlichem empirischem Selbstverständnis und dem Anspruch auf universelle Geltung wie biostatische Modelle sowie normativistischeGesundheitnormativistisches Konzept und stärker lebensweltlich geprägte handlungstheoretische Ansätze unterscheiden (vgl. LenkLenk, Christian, 40f.). Während in naturalistischen Krankheitsmodellen „Krankheit“ und „Gesundheit“ wie gesehen objektive, wertfrei beschreibbare Zustände darstellen, sind sie in handlungstheoretischen normativistischen Theorien Zuschreibungen vor dem Hintergrund individueller Handlungsziele oder gesellschaftlich anerkannter Wertvorstellungen und Normen. Gemäß dem Vertreter der individualistischen Spielart handlungstheoretischer Ansätze und schärfsten Kritiker des biostatischen Krankheitsmodells Lennart Nordenfelt ist eine Person „vollkommen gesund“, wenn sie „fähig ist, unter gegebenen normalen Umweltbedingungen alle ihre maßgeblichen Ziele zu realisieren.“ (Nordenfelt, 96) Bei kulturalistischen Varianten treten an die Stelle individueller Ziele gesellschaftliche Vorgaben, sodass je nach den spezifischen Anforderungen einer Gesellschaft etwa an Körperkraft oder kognitiven Fähigkeiten ein Unvermögen wie Legasthenie entweder