Was kann und darf Kunst? - Dagmar Fenner - E-Book

Was kann und darf Kunst? E-Book

Dagmar Fenner

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Beschreibung

Immer wieder gibt es Skandale um Kunst, wenn sie ästhetische und moralische Grenzen überschreitet. Schnell stellen sich dann die Fragen: Wozu Kunst? Was darf Kunst? Eine Ethik der Kunst als Teilbereich der Philosophie oder der Angewandten Ethik gibt es bislang jedoch noch nicht. Dagmar Fenner fragt nach der ethischen Dimension von Kunstproduktion und -rezeption: Welche Rolle spielt Kunst in unserer Gesellschaft und welchen Beitrag kann sie zu einem guten Leben und gerechten Zusammenleben leisten? Müssen der Freiheit der Kunst in manchen Fällen Grenzen gesetzt werden? Dagmar Fenner diskutiert anhand von Themen wie der Verletzung von Persönlichkeitsrechten, dem Einsatz von Tieren, der Darstellung von Gewalt und Sexualität oder Blasphemie, wie weit die Verantwortung des Künstlers für die Wirkung seiner Werke reicht. Der systematische Grundriss richtet sich an Künstler, Kunstvermittler, Dozenten und Studierende im Kunstbereich an Hochschulen und Gymnasien sowie an alle Kunstinteressierten.

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Dagmar Fenner

Was kann und darf Kunst?

Ein ethischer Grundriss

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Die Philosophin und Musikerin Dagmar Fenner erörtert in diesem Buch die grundlegenden Fragen einer Ethik der Kunst, die sich im Prozess der Produktion und Rezeption stellen: Welche Rolle spielt Kunst in unserer Gesellschaft und welchen Beitrag kann sie zu einem guten Leben und gerechten Zusammenleben leisten? Müssen der Freiheit der Kunst in manchen Fällen Grenzen gesetzt werden? Anhand von moralischen Konflikten wie der Verletzung von Persönlichkeitsrechten, dem Einsatz von Tieren, der Darstellung von Gewalt und Sexualität oder der Blasphemie diskutiert sie, wie weit die Verantwortung des Künstlers für die Wirkung seiner Werke reicht. Zahlreiche Beispiele aus der Bildenden Kunst, aus Literatur, Theater, Film und Musik dienen zur Veranschaulichung.

Über die Autorin

Dagmar Fenner, Philosophin und Germanistin sowie diplomierte Kontrabassistin, unterrichtet Ethik an den Universitäten Tübingen und Basel und ist Autorin zahlreicher philosophischer Bücher.

Inhalt

Vorwort

1Einleitung

1.1Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst

1.2Die Rede vom »Ende der Kunst«

1.3Was ist Kunst?

1.4Was ist Ethik?

1.5Braucht die Kunst eine Ethik?

2Verhältnis von Ästhetik und Ethik

2.1Ästhetik/ästhetisch: Begriffsbestimmung

2.2Philosophische Positionen zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik

2.3Autonomie der ethischen und ästhetischen Perspektive

3Funktionen von Kunst

3.1Entlastung und Entspannung

3.2Positive Gefühle und Gefühlskultur

3.3Unterhaltung

3.4Wahrnehmen und Erkennen

3.5Symbolisieren der Transzendenz

3.6Förderung der Phantasie

3.7Kreativitätsförderung

3.8Psychohygiene und Katharsis

3.9Freiheit und Erweiterung des Handlungsspielraums

3.10Identitätsbildung, Handlungs- und Lebensmodelle

3.11Perspektivenübernahme, Empathie und Solidarität

3.12Veranschaulichen moralischer Entscheidungssituationen und Konflikte

3.13Gesellschaftliches und politisches Engagement

4Konflikte in der Kunst

4.1Gefährdung von Gesundheit oder Leben der Darsteller und Rezipienten

4.2Nutzung von Tieren

4.3Lügen

4.4Verletzung von Persönlichkeitsrechten

4.5Darstellung von Gewalt

4.6Darstellung von Sexualität

4.7Politische Themen

4.8Blasphemie

5Schluss

5.1Zusammenfassung

5.2Wie lässt sich staatliche Kunstförderung rechtfertigen?

6Literatur

Sachregister

Personenregister

Vorwort

Die Ethik erfreut sich gegenwärtig einer Hochkonjunktur und es werden immer mehr spezialisierte Bereichsethiken begründet. Neben den bereits als klassisch geltenden Bindestrichethiken wie der Medizin-, Umwelt-, Wirtschafts-, Medien-, Wissenschafts- und Technik-Ethik spricht man mittlerweile auch von einer Ernährungs-Ethik, Friedens-Ethik, Militär-Ethik, Computer-Ethik oder Abfall-Ethik (vgl. Meggle 1993: 218). Noch kaum entwickelt ist eine Kunst-Ethik oder Ethik der Kunst, die für den Handlungsbereich der Kunstproduktion und -rezeption zuständig ist. Sie richtet sich hauptsächlich an die Kunstschaffenden und -produzenten sowie an die Kunstrezipienten oder -konsumenten; in einem weiteren Sinn aber auch an alle im Kunstbetrieb Tätigen wie Kunstvermittler, Kunstkritiker oder Kunstförderer; darüber hinaus an den Staat und die steuerzahlende Bevölkerung, die zumindest indirekt über die Medien mit Debatten über Kulturetats, Subventionskürzungen, Kunstskandalen oder Gerichtsprozessen konfrontiert werden. Von ethischem Interesse sind besonders die grundlegenden Fragen, welche Rolle die Kunst hinsichtlich des individuellen und gesellschaftlichen Lebens spielt und ob der Kunstfreiheit Grenzen gesetzt werden müssen. In diesem Buch werden die vielfältigen Probleme und Fragestellungen gesammelt und in einen systematischen Zusammenhang gebracht. Ich verbinde mit der vorliegenden anwendungsorienterten Einführung die Hoffnung, dass sie aktuelle Diskussionen strukturieren hilft und eine Plattform für weitere Reflexionen und wissenschaftliche Arbeiten auf diesem Feld bildet.

Getrieben wurde ich bei dieser Arbeit von der eigenen Faszination am Phänomen »Kunst«, mit dem ich schon früh in Berührung kam: Mit vier Jahren begann ich Geige zu spielen, wechselte dann mit sieben auf das größere Cello, bis mir mein Eltern mit 17 endlich einen Kontrabass herbeischafften. Ich las und schrieb leidenschaftlich, sobald ich lesen und schreiben konnte, zeichnete und gestaltete Figuren aus Ton und Holz. Lange Zeit wollte ich Bildhauerin werden, entschied mich aber nach dem Abitur aufgrund der düsteren Grabstein-Perspektive für ein Doppelstudium in Philosophie/Germanistik und Musik (Kontrabass) in Basel. Seither schrieb ich nicht nur zahlreiche philosophische Bücher wie beispielsweise die Dissertation zum Thema »Kunst – jenseits von Gut und Böse?« (2000), sondern spielte daneben in vielen professionellen Orchestern. Um das vorliegende Buchprojekt über meinen persönlichen Erfahrungshorizont hinaus auf eine breitere empirische Basis stützen zu können, entwickelte ich zwei Fragebögen. Den einen Fragekatalog schickte ich an zwanzig Künstler, zu denen auch künstlerisch aktive Personen gezählt werden, die nicht international bekannt sind und nicht allein von ihrer Kunstproduktion leben könnten. Der zweite war an Kunstrezipienten adressiert, die regelmäßig Musik hören, Belletristik lesen, sich Kunstfilme, Kunstausstellungen oder Theateraufführungen anschauen. Dabei handelt es sich wegen der kleinen und willkürlichen Stichprobe nicht um eine repräsentative quantitative Erhebung, sondern um eine qualitative Befragung ohne vordefinierte Antwortkategorien. Die teilweise sehr ausführlichen individuellen Antworten halfen mir, die Bedeutung der Kunst in unserer Lebenswelt in ihrer Komplexität zu erfassen. Sie machten mich aufmerksam auf viele Facetten der Thematik, die ich sonst übersehen hätte.

Man kann die Entstehung dieses Buches als eine Art dialogisches Schreiben bezeichnen: Es ist im Dialog, im engen Austausch mit vielen Menschen entstanden, die entweder künstlerisch tätig sind, sich für Kunst interessieren oder sich wissenschaftlich mit kunstspezifischen Themen auseinander setzen. Für dieses neue Modell eines »dialogischen Schreibens« bietet das Internet eine enorme Chance, weil man sich über E-Mails mit Menschen auf der ganzen Welt austauschen und ihnen zu jeder Tages- und Nachtzeit Fragen oder Textteile zur kritischen Kommentierung zuschicken kann. Gerade Studien zu brisanten aktuellen Fragen in unserer Gesellschaft erhalten neben dem Einbezug der einschlägigen Fachliteratur durch den Austausch mit den direkt Betroffenen und Akteuren eine erweiterte empirische Grundlage. Mein größter Dank geht entsprechend an alle, die sich Zeit genommen haben, von ihren eigenen Erfahrungen oder Forschungen im Kunstbereich zu berichten. Vertiefte Gespräche und Korrespondenzen führte ich vor allem mit dem Komponisten René Wohlhauser, meinem ehemaligen Basler Musiktheorielehrer, dem jungen Künstler und Assistenten an der Luzerner Kunsthochschule Lorenz Schmid und dem mir nicht persönlich bekannten, in England arbeitenden Künstler Volkhardt Müller. Das Kapitel »Psychohygiene und Katharsis« hat Gottfried Waser, niedergelassener Facharzt für Psychiatrie/Psychotherapie und Privatdozent für Gestaltende Psychotherapie/Kunsttherapie an der Universität Basel, begutachtet und ausführlich kommentiert. Hinsichtlich der Kunstvermittlung hat mich der Kunstmanager Christoph Schmid, in philosophischen Fragen Marcus Düwell beraten, der in Tübingen eine Dissertation zum Thema »Ästhetische Erfahrung und Moral« (1999) vorlegte und heute als Professor an der niederländischen Universität Utrecht lehrt.

Den Fragebogen an Kunstrezipienten beantworteten Claudia Beck, Marianne Blattner, Barbara Brachmann, Cornelia Brüllmann, Axel Braig, Irma Erny, Georg Erny, Rea Gisler, Henry Kerger, Katharina Kühl, Max Kühl, Wolfgang Larbig, Frank Petermann, Berthold Rein, Christoph Schmid, Andreas Sommer, Barbara Steinmann, Aite Tinga, Alice Walter, Christian Würz. Die interviewten Künstler sind Yutaka Asada, Kathrin Brunner, Betina Carvalho, Heiko Fischer, Thomas Gertiser, Nicole Janowski, Christa Lambertus, Nicole Montag, Volkhardt Müller, Erika Schäfer, Lorenz Schmid, Barbara Schnetzler, Sabine Siegrist, Beat Stauffer, Claudia Storz, Hugo Suter, Silv Trummer, Anna Vintan, René Wohlhauser, Matthias Zimmermann. Wo immer in Klammern auf Personen mit Vor- und Nachnahmen ohne weitere Angaben hingewiesen wird, handelt es sich um Teilnehmer dieser Befragung. Bedanken möchte ich mich nicht zuletzt bei den Studierenden aus den Fachbereichen Philosophie, Literatur-, Musik- und Theaterwissenschaften, Psychologie, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, die sich 2011 in meinem interdisziplinären Seminar »Ethik der Kunst« an der Universität Basel an spannenden und oft kontroversen Debatten beteiligten.

Kapitel 1Einleitung

Philosophische Schriften über Kunst gelten, gleich wie alle anderen philosophischen Abhandlungen, als schwer verständlich, abstrakt und kunst- bzw. weltfremd. Die meisten fördern die weit verbreitete Meinung, dass »aus diesen trockenen und inhaltsleeren Analysen nichts Wissenswertes über die Kunst zu erfahren sei« (Danto 1991: 93). Oft geht es weniger um das reale Phänomen der Kunst als um die Entfaltung des eigenen philosophischen Systems. Die Kunst dient der Philosophie dann lediglich als Medium der Selbstvergewisserung (vgl. Bubner 1989: 11). Infolge der rasanten Entwicklungen der Kunst im 20. Jahrhundert munkelt man, dass sich »Kunst der Moderne und Philosophie der Gegenwart ohnehin nicht mehr viel zu sagen« haben (Koppe 1991: 7). Die Verformung der gegenständlichen Welt zur abstrakten Kunst und schließlich das Ausstellen realer oder nachgebildeter Flaschentrockner oder Suppendosen in Museen schienen alle traditionellen Kunsttheorien Lüge zu strafen. Diese verblüffenden Veränderungen ließen allerdings nicht nur viele Philosophen und Kunsttheoretiker ratlos zurück, sondern auch die übrigen Kunstinteressierten. Vor einem signierten Pissoir von Duchamp oder einem mit groben Strichen gemalten Ölbild eines missgestalteten Gnoms mit überdimensionalem Penis von Georg Baselitz fragt sich manch ein Betrachter: »Was soll das?«, »Ist das (noch) Kunst?« oder »Wozu Kunst?«. Wenn man Kunst einfach nicht mehr »versteht«, liegt akademisch gesprochen eine »kognitive Überforderung durch Kunst« vor (Tegtmeyer 2008: 135). In Anbetracht zeitgenössischer Bilder werden bisweilen Erinnerungen an Kinderzeichnungen und Klecksereien geweckt, so dass man denkt: »Das kann ich auch!« (Saehrendt/Kittl 2007). Von einem großen Teil der Bevölkerung wird zeitgenössische Musik als »Katzenmusik« beschimpft (vgl. Bertram 2007: 112). Auch mir schmerzen manchmal regelrecht die Ohren. Als Bassistin kann ich bei Aufführungen Neuer Musik nicht das während meines Studiums erworbene Können auf der Grundlage traditioneller Notenschrift unter Beweis stellen, sondern muss nach komplizierten, auf mehreren Seiten erklärten symbolischen Zeichen an verschiedenen Stellen auf dem Kontrabass mit Bogen oder Hand schlagen und ihm bestimmte Geräusche entlocken. Wo das Phänomen »Kunst« derart zu Irritationen führt, ist die Rede vom »Ende der Kunst« oft nicht weit.

1.1 Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst

Die Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst sind teilweise dieselben, die wir mit »moderner Kunst« haben: Moderne Kunst meint in der Regel die Avantgardekunst ab 1880 mit Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus etc. In dem von mir bevorzugten weiten Sinn umfasst die »Moderne« auch die Gegenwart und ist somit noch nicht abgeschlossen. In einem engen Sinn wird sie ungefähr in den 1970er-Jahren durch die »Postmoderne« abgelöst. Auf verschiedene Weisen könnte man versuchen, die Dramatik der Lage hinsichtlich der Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst zu entschärfen: Zum Beispiel lässt sich verweisen auf einen boomenden Kunstmarkt, auf dem Rekordpreise erzielt werden, oder darauf, dass noch nie so viele Steuergelder für Kunstinstitutionen ausgegeben wurden, oder dass es noch nie so viele Kunstschulen, Kunstsammler und Künstler gegeben habe wie heute (vgl. Ullrich 2005: 233). Auch mangelt es nicht an international berühmten und äußerst gefragten Gegenwartskünstlern, in der bildenden Kunst etwa Gerhard Richter, Bruce Nauman oder Franz West. Diese stehen ganz oben auf der Liste der Top 30 der zeitgenössischen Künstler, zusammengestellt nach verschiedenen Kriterien wie Aufmerksamkeit, Ausstellungspräsenz und Netzwerken (vgl. www.art-report.com/de). Doch ist die Tatsache, dass Werke zeitgenössischer Künstler im MoMA (Museum of Modern Art) in New York ausgestellt werden und auf dem Kunstmarkt horrende Summen erzielen, wohl noch kein Beweis dafür, dass sie auch von einer breiteren Bevölkerung »verstanden« werden. Vermutlich kaufen sich viele Kunstwerke nur aus Prestige, weil sie gerade in »Mode« sind oder schlicht als Geldanlage. Am Ende sind es doch nur die Fachleute, im Fall der bildenden Kunst also die Galeristen, Kuratoren und Sammler, die den Wert zeitgenössischer Kunst überhaupt erkennen können. In Konzertaufführungen mit ausschließlich Neuer Musik im Programm sitzt bekanntlich nur ein handverlesenes Publikum aus Kennern, dem einzig diese Musik sich erschließt. Es entbehrt also nicht der phänomenalen Triftigkeit, wenn von einem »Faktum der Kommunikationsstörung« in der Kunst der Gegenwart gesprochen wird (Kausch 2005: 27).

Vielleicht legt sich aber die Aufregung über dieses Faktum der Kommunikationsstörung, wenn man sich folgenden Umstand vergegenwärtigt: Meistens vergeht ein halbes Jahrhundert, bis die Kunstwerke einer Zeit von den Spätergeborenen verstanden werden. Es ist also kein neues Phänomen, dass die Werke zeitgenössischer Künstler auf Unverständnis oder gar Empörung und Widerstand stoßen. So beurteilen die meisten von uns beispielsweise die Gemälde des Impressionismus und Expressionismus als technisch brillant, qualitativ hochstehend oder einfach als »schön«. Beide Stilrichtungen lösten aber zu ihrer Zeit regelrechte Skandale aus: Die heute weltberühmten atmosphärischen Sonnenaufgänge und Seelandschaften Monets wurden bei der ersten gemeinsamen impressionistischen Ausstellung 1874 als unfertige, widerliche Schmierereien und das Resultat einer »bedauerlichen Geistesgestörtheit« gegeißelt (vgl. Schüler/Täuber 2008, 61ff.). Ähnlich herablassend wurden 1892 die Bilder von Edward Munch kommentiert, und angesichts der heftigen Proteste wurde damals die Berliner Ausstellung nach einer Woche wieder geschlossen. Man bezeichnete das Werk »als einen Hohn für die Kunst, als Schweinerei und Gemeinheit« und zog den heute zu Rekordpreis gehandelten Schrei ins Lächerliche wegen seines Himmels in »wirren Streifen, in dem Eigelb und Tomatensauce durcheinanderfluten« (ebd., 80)! Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sorgte Pablo Picasso mit seinen kubistischen Bildern für große Verwirrung, weil bei den in viele Flächen zerlegten Frauengestalten Vorder- und Rückseite merkwürdig ineinander griffen. Auch die heute viel gespielte Ballettmusik Le sacre du printemps von Igor Strawinsky löste bei der Uraufführung in Paris im Jahre 1913 aufgrund des neuartigen Übereinanderschichtens verschiedener Tonarten und Rhythmen heftige Tumulte aus. Man könnte aus dieser exemplarischen Zusammenstellung schließen: kein Grund zur Aufregung, die nachfolgenden Generationen werden unsere Gegenwartskunst verstehen und sogar genießen können!

In meinen Gesprächen mit denjenigen, die sich selbst als Kunstschaffende oder Kunstwissenschaftler zu den Kennern der Kunstszene zählen dürfen, kristallisierten sich zwei unterschiedliche Grundeinstellungen heraus: Die einen postulieren, jeder Mensch verstehe Kunst und könne sich ein Urteil über Kunstwerke bilden. Diese würden sich grundsätzlich aus sich selbst heraus erklären und erforderten also keinerlei Vorwissen. Als unrealistisch oder naiv beurteilen die anderen hingegen die weit verbreitete Idee oder Erwartung, ein Kunstwerk sollte »immer jedem sofort zugänglich bzw. nachvollziehbar sein« – so die Worte des in England arbeitenden Künstlers Volkhardt Müller. Der junger Schweizer Künstler Lorenz Schmid versucht gleichsam einen Mittelweg zwischen diesen beiden Positionen zu finden, indem er ein modernes Kunstwerk für »polyvalent« erklärt. Er meint damit, dass es auf verschiedenen Verständnisebenen »funktioniere«. Was dies konkret bedeutet, illustriert er anhand einer eigenen, an der Seepromenade in Luzern angebrachten Arbeit mit dem Titel Parheliorama: Über einem Bild der Schweizer Bergwelt wölben sich vielfarbig die Ringe von Nebensonnen-Erscheinungen. Ein Messingschild daneben erklärt den Passanten, es handle sich um eine »Prognose für Nebensonnen über dem Luzerner Seebecken«. Auf einem zweiten kleinen Schild findet sich ein längeres Zitat aus Jean Pauls Siebenkäs, in dem Nebensonnen vorkommen. Der Künstler gesteht zwar zu, dieses Kunstwerk sei »kryptisch« und erwarte vom Betrachter, dass er Jean Paul gelesen habe und via Handy vor Ort Erkenntnisse über Nebensonnen »ergoogle«. Dies wäre dann wohl sozusagen der »ideale Betrachter«. Darüber hinaus schildert er aber noch weitere mögliche Betrachtungsweisen: Ein Meteorologe freute sich über die künstlerische Auseinandersetzung mit dem astronomischen Phänomen. Ein indischer Tourist erzählte dem Künstler, in Indien sehe man solche Phänomene andauernd, und ein anderer Betrachter fand es großartig, dass man auf dem Bild die Berge auch dann gestochen scharf erkenne, wenn der Himmel verhangen ist. Bei solchen »einfacheren« Lesarten besteht allerdings die Gefahr, dass das Kunstwerk gar nicht mehr als Kunstwerk wahrgenommen wird. Auch wenn das Kunstobjekt den Betrachtern durchaus »etwas sagt«, machen sie nicht unbedingt ästhetische Erfahrungen mit dem Objekt-als-Kunstwerk. Dies mag der Grund sein, wieso der Künstler am Ende resümiert: »Ich müsste eigentlich die ganze Zeit bei meiner Arbeit stehen und erklären und fragen.« (Lorenz Schmid)

Unabhängig von der zeitlichen Distanz zu einem Kunstwerk scheint ganz grundsätzlich zu gelten: Kunst erfordert eine langwierige ernsthafte Auseinandersetzung mit ihr, um sie richtig verstehen und beurteilen zu können. Oft sind dazu kunstgeschichtliche Kenntnisse oder das Wissen um das gestalterische Konzept eines Künstlers nötig. So versteht man beispielsweise die schmalen und überlangen Figuren Giacomettis besser, wenn man sein existentialistisches Weltbild kennt und weiß, dass er damit die Distanz zwischen seinen Figuren und dem Betrachter veranschaulichen wollte. Darüber hinaus sind oft allgemeine formale Kenntnisse verschiedener Gattungen, Formen oder Strukturen hilfreich. Wer etwa ein klassisches Musikstück als Sonatensatzform, Menuett oder Rondo hört, gelangt möglicherweise zu einem vollständigeren Kunstverständnis. Wie der Galerist Hans-Jürgen Müller in seinem Erlebnisbericht über 15 Jahre Kunstvermittlung richtig registriert, lässt man sich zwar beim Kauf eines Autos oder einer Waschmaschine in aller Regel von einem Fachmann beraten. Nur im Bereich der Kunst meint plötzlich jeder, er sei selbst ein Fachmann (vgl. 1976: 108f.). Kunstgeschichtliches Wissen und formale Kenntnisse reichen aber freilich nicht aus für ein adäquates Kunstverständnis. Dazu bedarf es auch einer gewissen Übung und Schulung der Sinne an Kunstwerken und einer vergleichenden Betrachtung. Nur in der konkreten Auseinandersetzung mit Kunst kann das sensorische Unterscheidungsvermögen verfeinert und die Gewandtheit im Umgang mit verschiedenen Interpretationsperspektiven erhöht werden. Ziel ist ein verstehendes Sehen oder »verstehendes Hören«, bei dem sich Wissen und Anschauung verbinden (vgl. Tegtmeyer 2008: 136): Wer seine Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit für komplexe Bilder oder Musikstücke geschult hat, kann die einzelnen Komponenten von Kunstwerken besser auseinander halten und die sie verbindenen Strukturen erfassen.

Gottfried Boehm spricht von einer generellen »Verwissenschaftlichung des Zugangs zur Kunst«, weil die gegenwärtige Kunsterfahrung in viel höherem Maße Spezialkenntnisse verlangt als früher (1983: 359). Um einen »authentischen« Umgang mit Kunst zu haben, seien heutige Kunstrezipienten viel stärker gefordert als beispielsweise Zeitgenossen von Tizian im 16. Jahrhundert. Das schwierige Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst verdankt sich wohl aber auch dem simplen Umstand, dass über vergangene Stilepochen und ihre Künstler viel mehr Wissen systematisch aufbereitet ist und vermittelt wird. Angesichts einer unüberschaubaren Vielfalt von Stilen, Techniken und gattungsübergreifenden Praktiken setzt die Lesbarkeit eines zeitgenössischen Kunstwerks oft die Kenntnis der Individualsprache eines Künstlers voraus. Darüber hinaus gilt eine reflexive Wendung auf sich selbst als ein typisches Merkmal moderner Kunst. Je mehr sich aber Kunstwerke mit anderen Kunstwerken oder Kunststilen oder mit den Bedingungen des Kunstschaffens auseinander setzen, desto schwerer erschließen sie sich den Außenstehenden. Gegen den häufig gehörten Vorwurf, »Kunst beschäftige sich nur noch mit sich selbst«, wenden Künstler aber mit gewissem Recht ein, die Verortung innerhalb der Kunstlandschaft, die Auseinandersetzung mit den neuesten Entwicklungen und die Reflexion auf den Kunstbetrieb gehören gleichsam zum »Berufsethos« des Kunstschaffenden (Volkhardt Müller/Claudia Storz/René Wohlhauser/Heiko Fischer). Wie sich in Kapitel 4 zeigen wird, sorgt die Kommunikationsstörung zwischen Kunstpublikum und zeitgenössischen Werken oft für Missinterpretationen, ethische Fehlurteile und Skandalisierungen.

1.2 Die Rede vom »Ende der Kunst«

Seit Marcel Duchamp ab 1913 industriell gefertigte Gegenstände wie Fahrrad-Rad, Flaschentrockner oder Pissoir als Kunstwerke ins Museum brachte und Andy Warhol 1961 Verpackungskartons für Topfkratzer der Marke »Brillo« nachbilden ließ und unter dem Titel Brillo Box zur Berühmtheit brachte, wurde das Ende der Kunst ausgerufen (vgl. Danto 1991: 10ff.). Die historischen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts forderten mit ihren Inszenierungen eine Entgrenzung der Kunst in alle Bereiche der Gesellschaft und des alltäglichen Lebens hinein, eine Verschmelzung von Kunst und Leben, Kunstwerk und Lebenspraxis. Man denke an die einprägsamen Formeln von Joseph Beuys »Jeder Mensch ist ein Künstler« und »Alles ist Plastik« oder Wolf Vostells Fluxus-Analogon »Kunst ist Leben – Leben ist Kunst« (vgl. Reisser/Wolf 2003: 22). Während man auf der einen Seite banalste Alltagsgegenstände und -geräusche in Museen und Konzertsäle holte, wollte man andererseits die Kunst aus diesen abgeschlossenen Räumen befreien und in den Alltag integrieren: Theater und Konzerte drängen auf öffentliche Plätze und in Fabrikhallen, »Performances« als künstlerische Inszenierungen beziehen die Umgebung und das Publikum mit ein. In der »Land Art« werden landschaftliche oder architektonische Räume in Kunstwerke verwandelt, zum Beispiel durch Verpackungen von Bäumen und Gebäuden wie bei Christo und Jeanne-Claude. »Entkunstung der Kunst« und »Verkunstung der Wirklichkeit« sind nur die zwei Seiten des einen Vorgangs einer Annäherung von Kunst und Lebenspraxis (Bubner 1989: 138). Wenn aber die Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit in der modernen Kunst immer mehr verschwinden, scheint die Rede von »Kunst« gänzlich sinnlos geworden zu sein. Das »Ende der Kunst« ist also gekoppelt an die Auflösung des Kunstbegriffs, und noch genauer an die Krise des Werkbegriffs, die als ein »wesentliches Signum der modernen Epoche« gilt (ebd.: 33). Versucht man nämlich den traditionellen Begriff des Kunstwerks auf die immer neuen Phänomene wie Zufallsmusik oder Happening auszudehnen, scheint er seine präzise Aussagekraft zu verlieren. Daher wird immer wieder postuliert, der Kunstbegriff sei infolge des historischen Faktums seiner Auflösung kaum mehr zu definieren und gänzlich obsolet geworden

Gegen die Behauptung vom »Ende der Kunst« lässt sich einwenden, dass sie keineswegs erst in Konfrontation mit moderner Kunst auftauchte. Vielmehr geht dieser Topos der neueren Kunsttheorien zurück auf den Philosophen Georg F. W. Hegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Bereits im 18. Jahrhundert hat allerdings der Archäologe und Kunsthistoriker Johann Winckelmann in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums geschildert, warum die vollkommene Kunst der griechischen Klassik für immer zu Ende sei. Weil die Kunst also gleichsam der Vergangenheit angehöre, sah er wie viele andere Klassizisten die einzige Chance zeitgenössischer Künstler darin, die Werke der alten Griechen so gut wie möglich nachzuahmen. Andere setzen den Zeitpunkt des »Endes der Kunst« im 15. Jahrhundert an wegen der grassierenden Profanisierung der Kunst, die sich von der ausschließlichen religiösen Aufgabe der Verehrung Gottes zu lösen begann (vgl. dazu Ullrich 2005: 240f.). Noch andere sehen den Grund für das »Ende der Kunst« in der zunehmenden Ökonomisierung der Kunst mit dem Aufkommen des Kapitalismus im 19. Jahrhundert, weil sie nun immer stärker dem Druck des Kunstmarktes erlag. Genauso wie später Warhols Brillo Boxes mussten zuvor schon Jan van Eycks Genter Altar (1430), eine religiöse Szene von Peter Cornelius (1830) und ein Landschaftsgemälde von Gustave Courbet (1870) als Belege für die These herhalten, die Kunst sei an ihr Ende gelangt (vgl. ebd.: 229). Dabei spielten immer auch normative Unterscheidungen eine Rolle, die eine Grenzziehung zwischen »guter« und »schlechter« Kunst oder »echter« und »unechter« Kunst voraussetzen.

Angesichts revolutionärer Entwicklungen in der modernen Kunst schienen dann die ästhetischen Kriterien abhanden zu kommen, um überhaupt zwischen Kunst und Nicht-Kunst unterscheiden zu können. Da die Kunstwerke ihrer Zeit vielen Rezipienten moderner Kunst nur noch als lächerliche bis skandalöse Schmierereien oder Kakophonien erschienen, gewannen sie den Eindruck eines »Endes der Kunst«. All diese Verunsicherungen waren aber immer nur vorübergehend und führten nie zu einem wirklichen, historischen »Ende« der Kunst. Statt dass die Kunst buchstäblich an ihr Ende kam, setzte sich immer wieder eine Erweiterung des bis dahin üblichen Kunstbegriffs durch. Damit veränderte sich die Extension des Kunstbegriffs, das heißt die Gesamtheit der Gegenstände, auf die er sich bezieht. Gattungen, Themen und Rezeptionsmuster der Kunst variieren historisch und kulturell, so dass jede Epoche gleichsam ihre eigene »ästhetische Erfahrungsgestalt« hat (Düwell 1999: 47). Ästhetische Werturteile basieren auf geteilten Lebenserfahrungen, einer spezifischen Geschmackskultur und einem gemeinsamen Kunstverständnis, die sich laufend verändern und weiterentwickeln. Wegen solcher historischer Verschiebungen oder gar revolutionärer Kunstentwicklungen mit einem ästhetischen Paradigmenwechsel wird der Begriff »Kunst« aber nicht zwangsläufig unbrauchbar oder undefinierbar. Die historische Kunstentwicklung ist kein schlagendes Argument gegen eine einheitliche Bestimmung des Kunstbegriffs oder gar gegen seine Definierbarkeit (vgl. Kleimann 2002: 161).

Dasselbe gilt für die angebliche Krise des Werkbegriffs, die Rüdiger Bubner anhand der Konstruktionen des Kubismus und Futurismus, der Ready-Mades und Materialbilder und schließlich der aktionistischen Praktiken wie den Happenings dokumentiert (vgl. 1989: 33). Nach weit verbreiteter Auffassung ist der Werkbegriff problematisch geworden, weil in der modernen Kunst die traditionelle Vorstellung von der Einheit des Kunstwerks verabschiedet wurde (vgl. Growe 1983: 156f.). Als wesentliche Merkmale des tradierten Werkbegriffs gelten der Anspruch auf Geschlossenheit und Vollkommenheit der künstlerischen Komposition. Obgleich sich der Charakter und der Anspruch der Kunstwerke verändert hat, gibt es jedoch die Werke noch immer. Wo die geistige Tätigkeit des Künstlers die Hauptsache ist wie bei der Konzeptkunst, könnte man von »immateriellen Kunstwerken« sprechen (Damnjanovic 1983: 62). Wenn hingegen die Handlungsweise der Künstler in den Vordergrund rückt und kein bleibendes Resultat vorliegt wie bei Happenings, handelte es sich um »Aktionskunst« mit Kunstwerken als prozesshaften Aktionen. Genauso wie der Kunstbegriff weitet sich auch der Werkbegriff auf immer neue Phänomenbereiche aus. Daraus folgt aber nicht, der Begriff des Kunstwerks ließe sich auf alle beliebigen Phänomene anwenden und wäre damit bedeutungslos. Vielmehr verändern sich Kunstbegriff und Werkbegriff parallel zu den historischen Kunstentwicklungen. Die Aufgeregtheit bezüglich des vermeintlichen »Endes der Kunst« ist folglich reichlich übertrieben. Auch die Rede von einem angeblich »historischen Faktum« der Auflösung des Kunstbegriffs ist unzutreffend, da in unserer Gesellschaft offenkundig ein hinreichendes Begriffsverständnis von Kunst vorhanden ist, um den Kunstbetrieb aufrecht zu erhalten.

Besondere Erwähnung verdient der im 18. Jahrhundert beginnende grundlegende Wandel im Kunstverständnis, weil er zu einer Verengung auf den heutigen Kunstbegriff führte: Die schönen oder freien Künste lösten sich aus dem Verband mit den mechanischen Künsten oder Handwerkskünsten heraus. Während man bis dahin auch etwa die Bergbaukunst oder die Schmiedekunst zu den Künsten rechnete, verengte sich der Kunstbegriff nun auf die klassischen Kunstformen der Literatur, Musik, darstellende und bildende Künste. Anders als die mechanischen Künste, bei denen das handwerkliche Können im Vordergrund stand und mit denen bestimmte praktische Zwecke erreicht werden sollen, sind die freien Künste der Idee der Schönheit verpflichtet und dienen keinem äußeren Zweck. Während die »mechanischen« Künste nützlich sind für das alltägliche Leben, bereiten die »freien« ästhetische Lust. Die Kunst im engeren Sinn begann sich allmählich aus ihrem kultischen, religiösen, moralischen und politischen Zusammenhang herauszulösen und die Künstler befreiten sich aus der Abhängigkeit von der Kirche und dem aristokratischen Mäzenatentum. Sie wurden materiell unabhängig und emanzipierten sich von den traditionellen thematischen und stilistischen Vorgaben durch Kirche, Hof oder Staat. Bis heute wird die Freisetzung der Künste von unmittelbaren externen Zwecken als eine der »verteidigungsbedürftigen Errungenschaften der Aufklärung« betrachtet (Oelmüller 1983: 192). Die so genannte Autonomie der Kunst gilt als ein wesentliches Merkmal des modernen Kunstverständnisses (vgl. Bubner 1989: 9). Bereits im 19. Jahrhundert zerbrach jedoch die ursprünglich enge Verklammerung von Kunst und Schönheit, und die Kategorie der Schönheit wurde zusehends marginalisiert. Ungeachtet der Dimension der Schönheit beziehe ich mich in dieser Studie auf das moderne Kunstverständnis einer autonomen Kunst ohne äußeren Zweck.

1.3 Was ist Kunst?

Eine Diskussion über Kunst, insbesondere aber ethische und rechtliche Reflexionen über Kunst, erfordern eine klare Begriffsbestimmung ihres Gegenstands. Unverzichtbar sind eine gehaltvolle Definition von Kunst und hinreichende Kriterien zur Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst. Eine Kunstdefinition in Ethik und Recht muss aber gleichzeitig so offen und allgemein sein, dass sie weder formal noch inhaltlich bestimmte missliebige oder ethisch problematische Kunstströmungen von vornherein ausgrenzt. Auch sollen keine Kunstgattungen ausgeschlossen werden wie etwa in der Kunstgeschichte, die sich traditionell auf die bildenden Künste beschränkt. Typologisch umfasst »Kunst« vielmehr sämtliche Kunstformen wie Literatur, Musik, darstellende Künste mit Theater, Tanz, Film, Video und bildende Künste, zu denen Malerei, Plastik, Grafik, Fotografie und Architektur zählen. Prinzipiell könnte man die Definitionsmacht den Produzenten oder den Rezipienten überlassen. Es stünde ihnen dann ganz frei, alles was sie hervorgebracht haben bzw. was sie betrachten, für Kunst zu erklären. Die Grenzziehung zwischen Kunst und Nichtkunst hinge somit von subjektiven Kriterien der Urheber oder von persönlichen Erfahrungen der Rezipienten ab. Im Recht hat sich der Versuch einer solchen weitestmöglichen Kunstdefinition nicht durchsetzen können, weil der Staat als Garant der Kunstfreiheit letztlich die Definitionsmacht behalten muss (vgl. Huster 2002: 438f.; Riedel 2011: 18f.). In der Philosophie verdrängt die rezeptionsästhetische Sichtweise immer mehr die »werkästhetische Sichtweise«: Was Kunst zur Kunst macht, hänge allein von subjektiven Erfahrungen ab, die wir im Umgang mit Kunst machen. Die Philosophie der Kunst weicht dann der Theorie ästhetischer Erfahrung (vgl. Früchtl 1996: 10; Schmücker 1998: 16). Für eine definitorische Abgrenzung von Kunst und Nichtkunst reicht die Analyse ästhetischer Erfahrungen aber nicht aus, weil auch Naturphänomene solche Erfahrungen auslösen können. Anhand eines in der Praxis äußerst beliebten rezeptionsästhetischen Definitionsversuchs sollen in diesem Kapitel zunächst die grundsätzlichen Defizite einer rezeptionsästhetischen Sichtweise verdeutlicht werden, bevor zu einer werkästhetischen Betrachtung übergegangen wird.

Rezeptionsästhetische Betrachtung: Institutionentheorie

Als angesichts der modernen Avantgarde-Kunst die inhaltlichen Unterscheidungskriterien zwischen Kunst und Nichtkunst immer mehr abhanden kamen, begann die Dominanz der institutionentheoretischen Definition: Der Institutionentheorie zufolge ist alles Kunst, was vom Kunstbetrieb oder den Institutionen im Kunstbereich als Kunst anerkannt wird (vgl. Lüdeking 1998: 173f.; Bertram 2007: 32f.). Unter Kunstbetrieb kann alles zusammengefasst werden, was sich bezüglich Organisation, Vermittlung und Handel in den sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenhängen zwischen den Polen der Kunstproduktion und der Kunstrezeption abspielt. Zu den wichtigsten Kunstinstitutionen gehören Museen, Theater, Konzerthäuser und Bibliotheken, die Kunst einer größeren Öffentlichkeit präsentieren. Für die Aufrechterhaltung des Kunsbetriebs spielen aber noch zahlreiche weitere Institutionen eine wichtige Rolle, etwa die Kunstkritik, Wettbewerbe und Preise, Kunstmessen, Galerien, Auktionshäuser, Musikfestivals, Kunstvereine, Plattenfirmen, Filmverleiher, Verlage und Buchhandlungen. Hinzu kommen noch Ausbildungsstätten wie Kunstakademien, Musikhochschulen oder kunstwissenschaftliche Studiengänge. Statt vom »Kunstbetrieb« sprechen die bedeutenden amerikanischen Protagonisten der Institutionentheorie George Dickie und Richard Sclafani von artworld (vgl. Danto 1991: 13). Der Ausdruck »Kunstwelt« bezeichnet den soeben beschriebenen Raum, in dem Kunstwerke in Erscheinung treten und Anerkennung erfahren.

Profitiert hat die Institutionentheorie der Kunst vom künstlerischen Prinzip der Ready-Mades, zu Deutsch »fertig gemacht« oder »gebrauchsfertig«: Es sind gebrauchsfertige Alltagsgegenstände, die ihrer gewohnten Umgebung entrissen und als Kunstwerke deklariert werden. Marcel Duchamp, der »Erfinder« dieses Prinzips, steuerte 1917 als Mitglied einer New Yorker Künstlervereinigung ein Kunstwerk zu einer gemeinsamen Ausstellung bei. Als die ahnungslosen Veranstalter das von Duchamp angelieferte industriell gefertigte Urinal auspackten, waren Verwirrung und Entsetzen groß (vgl. Schüler/Täuber 2008: 98). Ob dieses Pissoir ein Kunstwerk ist oder nicht, scheint sich nicht anhand des Artefaktes selbst beurteilen zu lassen. Denn seine sinnlich erfahrbaren Eigenschaften wie die Form oder die glänzende Oberfläche unterscheiden sich nicht von denjenigen aller anderen Urinoirs derselben Serie. Daher legt sich der Schluss nahe, die Sonderstellung eines Ready-Mades als »Kunstwerk« hänge allein von seinen institutionellen Rahmenbedingungen ab, die ihm eine gewisse Wertschätzung zuteil werden lassen. Für die Beantwortung der Frage »Was ist Kunst?« wären gemäß der Institutionentheorie weniger Kunsthistoriker oder Kunstkenner zuständig als vielmehr Soziologen. Schließlich vermögen diese am besten die institutionellen und sozialen Zusammenhänge zu analysieren, die Kunst zur Kunst machen (vgl. Kleimann 2002: 181). Letztlich führt die soziologische Betrachtungsweise zur weit verbreiteten These: »Kunst ist, wenn man es für Kunst hält«, oder der ökonomischen Variante: »Kunst ist, was sich als Kunst verkauft«. Doch wird der Kunstbegriff auf diese Weise nicht »leer und bedeutungslos« (Roche 2002: 43)?

Ohne Zweifel sind die genannten Kunstinstiutionen faktisch wesentlich dafür verantwortlich, ob eine Hervorbringung als Kunstwerk wahrgenommen wird oder nicht. Gemäß einem berechtigten Haupteinwand gegen Dickies Institutionentheorie sind aber Definitionen wie: »Kunst ist, was der Kunstbetrieb zur Kunst erklärt«, zirkulär. Denn hier wird eine Definition mit demjenigen Begriff vorgenommen, der eigentlich erst zu definieren wäre. Um dem Zirkularitätsvorwurf zu entgehen, müssten die Kunstinstitutionen gute Gründe dafür haben, gewisse Artefakte zum Kunstwerk zu erheben und andere nicht (vgl. Kleimann 2002: 182). Bei Ready-Mades wie Duchamps Urinoir könnte man sich bei einer solchen Begründung an zahlreichen intersubjektiv erkennbaren Eigenschaften orientieren, die das Objekt von anderen derselben Serie unterscheiden: Es ist aus seinem üblichen Funktionszusammenhang herausgelöst, weist einen Titel auf, nämlich »Fountain«: »Quelle, Springbrunnen«, wurde vom Künstler mit »R. Mutt« signiert und um 90 Prozent gedreht. Diese werkimmanenten Faktoren eröffnen ein weites Feld für zahlreiche Deutungen. Zu vielen Spekulationen regte bereits die Signatur »R. Mutt« an, die etwa an die damals populärste amerikanische Comic-Strip-Serie »Mutt and Jeff« erinnerte. Damit der Kunstbegriff nicht zirkulär oder inhaltsleer wird, wäre also das sich im Werk selbst äußernde und zu ästhetischen Erfahrungen animierende Konzept des Künstlers zu berücksichtigen. Die soziologische oder ökonomische Definition der Institutionentheorie macht zwar auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam, stellt aber keine hinreichende Begriffsbestimmung dar.

Werkästhetische Betrachtung: Realdefinition

Im Gegensatz zu einer »rezeptionsästhetischen Sichtweise« lässt es sich nach der werkästhetischen Sichtweise am Werk selbst erkennen, ob etwas Kunst ist oder nicht: Was Kunst zur Kunst macht, sei durch bestimmte objektive oder wesentliche Eigenschaften der Kunst festgelegt. Eine Definition, die das Wesentliche oder Typische einer Sache festlegt, nennt man Realdefinition. Obwohl die Rechtsprechung nicht um eine solche werkbezogene Definition herumkommt, findet man sie weder im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, noch hat man in der juristischen Diskussion eine allgemeingültige einheitliche Definition von Kunst entwickeln können (vgl. Karpf 2004: 236). Das deutsche Bundesverfassungsgericht legt sich nicht auf einen genauen Kunstbegriff fest, sondern kombiniert fallbezogen die tragfähigsten Kriterien aus verschiedenen Theorien (vgl. ebd.: 245). In Auseinandersetzung mit kunsttheoretischen Schriften sowie Äußerungen zeitgenössischer Künstler werden im Folgenden die wichtigsten charakteristischen Eigenschaften des in einem hochkomplexen Kunstbetrieb eingebetteten Phänomens »Kunst« herausgearbeitet. Dabei wird nach dem klassischen Definitionsmodell einer Realdefinition aus der philosophischen Logik verfahren: Man nehme einen übergeordneten Begriff oder Gattungsbegriff und füge eine oder mehrere charakteristische artspezifische Eigenschaften hinzu. Als Gattungsbegriff von Kunst kommen sowohl Artefakte als auch Tätigkeiten in Frage, so dass sich folgende Umschreibung anbietet: Kunst ist die Gesamtheit absichtsvoller menschlicher Hervorbringungen oder Gestaltungen sowie die entsprechenden Tätigkeiten des bewussten Hervorbringens oder Gestaltens. Doch welches sind die notwendigen artspezifischen Eigenschaften der Kunst, die sie von Nichtkunst unterscheiden?

Ein wichtiges artspezifisches Merkmal der Kunst ist ihre Selbstzweckhaftigkeit in dem Sinn, dass Kunstwerke materialistisch und pragmatisch gesehen »zwecklos« sind: Sie sind im alltäglichen Leben zu keinem bestimmten Zweck zu gebrauchen wie andere menschliche Artefakte, beispielsweise ein Stuhl oder ein Hammer. Damit unterscheiden sich Kunstwerke grundlegend von menschlichen Hervorbringungen des Handwerks oder der Technik, die für einen konkreten Gebrauch bestimmt sind. Auch wo Gebrauchsgegenstände zu Kunstobjekten mutieren wie bei den Ready-Mades von Duchamp, werden sie typischerweise aus dem alltäglichen Gebrauchszusammenhang herausgelöst. Das oben beschriebene Urinoir Fountain kann nur deswegen ein Kunstobjekt sein, weil es dem lebensweltlichen Kontext entrissen und seiner ursprünglichen Zweckbestimmung enthoben wurde. Die notwendige Entsprechung zur Selbstzweckhaftigkeit der Kunstwerke wäre auf Seiten der Rezipienten das kantische »interesselose Wohlgefallen«, bei dem man kein Interesse an der Existenz eines Kunstwerks zeigt, es zum Beispiel nicht besitzen oder zu etwas gebrauchen will (vgl. Kant 1992 [1790], § 2). Ein Kunstwerk wird in der Realität wohl nur dann für einen Gebrauchszweck instrumentalisiert, wenn es gar nicht als Kunstwerk erkannt wird. So erging es Joseph Beuys’ Werk unbetitelt (Badewanne) (1960), einer mit Schmieröl und Heftpflastern verzierten Kinderbadewanne: Als die Wanne in Leverkusen ausgestellt werden sollte und noch in einem Abstellraum des Museums lagerte, wurde sie von der dort tagenden SPD-Ortsgruppe nach einer gründlichen Reinigung dazu benutzt, Flaschenbier kalt zu stellen und Gläser zu spülen (vgl. Saehrendt/Kittl 2007: 18).

Kunstwerke sind immer spezifische Verbindungen von Stoff und Form, in denen ein nicht mehr sinnlich wahrnehmbarer Inhalt oder Gehalt des Kunstwerks zum Ausdruck kommt. Dieser Gehalt oder die Bedeutung als weiteres artspezifisches Merkmal von Kunst ist wesentlich geistiger Natur und kann nur durch eine Interpretation des Kunstwerks erschlossen werden. Seine Bedeutung ist untrennbar an eine materielle Stoff-Form-Verbindung gekoppelt und lässt sich nicht ohne Verlust in die Alltagssprache übersetzen. Denn während gewöhnliche Wörter und Sätze zwar durchaus etwas aussagen können, zeigt das Kunstwerk mit seinen Formen, Farben, Rhythmen oder Klängen seinen Gehalt (vgl. Kleimann 2002: 275). Um den im Werk angelegten Gehalt erfassen zu können, ist die direkte Erfahrung mit dem Kunstwerk daher unabdingbar. Der Inhalt von Picassos Bild Guernica beispielsweise lässt sich nur verstehen, wenn man ganz genau hinsieht, wie die Farben beschaffen sind, ob sie dick oder dünn aufgetragen sind und wie die mannigfaltigen Formen und Figuren miteinander korrespondieren (vgl. Bertram 2007: 129). Dabei hilft es zwar zu wissen, dass das fast 28 Quadratmeter große, in dunklen Grautönen gehaltene Ölbild die Reaktion des Künstlers auf die Zerstörung der Stadt Guernica im Spanischen Bürgerkrieg darstellt. Sein Gehalt lässt sich aber durch simple Worte wie »Aufschrei« oder »Anklage« nur annähernd wiedergeben, weil sich der Inhalt eines Kunstwerks diskursiv, also begrifflich-argumentativ nur unvollständig ausdrücken lässt. Daher ist die intellektualistische Redeweise von der »Aussage« oder sogar einer »geistigen Aussage« eines Kunstwerks etwas irreführend. Auch muss der Gehalt dem Künstler selbst keineswegs schon vor dem Schaffensprozess als eine klare fertige Idee bewusst sein. Der künstlerische Schaffensprozess ist vom Künstler nie völlig rational steuerbar, sondern stellt ein Zusammenspiel von künstlerischer Intention, der Eigengesetzlichkeit des Materials oder der künstlerischen Gestaltungsmittel und unbewussten Gedanken und Gefühlen des Künstlers dar (vgl. Weltzien 2003: 11/21).

Aufgrund ihres Gehalts können Kunstwerke als »Zeichen« oder »Symbole« aufgefasst werden. Die bedeutenden Strömungen der modernen Ästhetik stimmen darin überein, dass Kunstwerke Zeichen einer besonderen Art sind (vgl. Kleimann 2002: 175). Symbole sind spezielle Zeichen, die für einen anderen, meist nicht sinnlich wahrnehmbaren Gehalt stehen, mit dem sie keine Ähnlichkeit aufweisen. Ein viel diskutiertes Beispiel für die symbolische Bedeutung von Kunstwerken ist das von Martin Heidegger interpretierte Gemälde Vincent van Goghs mit einem Paar Bauernschuhe (vgl. Heidegger 1950: 22ff.): Ein adäquates Verständnis des Gehalts des Bildes setzt voraus, dass man die Schuhe aus dem alltäglichen Funktionszusammenhang herauslöst, in dem sie normalerweise eingebunden sind. Bei der Vertiefung in die Einzelheiten der groben, abgenutzten, dunklen Lederschuhe auf braunem Hintergrund werden sie zum Symbol für Schwere, Mühsal und Einsamkeit der bäuerlichen Lebensform (vgl. Misselhorn 2007: 190). Kunst ist aufgrund ihres Zeichencharakters wesentlich Kommunikation, also Verständigung mittels Zeichen. Es liegt in der ästhetischen Theorie ein weitgehender Konsens darüber vor, dass Kunst als »Form absichtsvoller menschlicher Artikulation oder Kommunikation« zu begreifen sei (Kleimann 2001: 73). Auch viele der von mir befragten Künstler verstehen Kunst grundlegend als »Dialog« (Lorenz Schmid); als ein Medium, das wesentlich »auf ein Du gerichtet« ist (Silv Trummer). Ein weiterer Hinweis auf diese kommunikative Funktion ist die gängige Redeweise, dass einem Rezipienten ein bestimmtes Kunstwerk »nichts sagt«. Natürlich ist mit »Kommunikation« bei diesem zeichen- bzw. kommunikationstheoretischen Ansatz nicht nur die sprachliche Kommunikation gemeint, sondern auch alle Formen nonverbaler Kommunikation wie etwa die visuelle.

Nun unterscheidet sich aber die Art der Mitteilung in der Kunst grundlegend von alltagssprachlichen Mitteilungen, deren Informationsgehalt meist eindeutig ist. Kunstwerke weisen nämlich eine mehr oder weniger große Bedeutungsoffenheit oder einen Bedeutungsüberschuss auf und sind damit vielfältig les- und deutbar. Im Unterschied zu nichtkünstlerischen Artefakten haftet Kunstwerken mit ihrem typischen »metaphorischen, enigmatischen Aspekt« (Claudia Storz) ein »Nymbus des Geheimnisvollen und Rätselhaften« an (Waibl 2009: 25). Anfang der 1960er-Jahre prägte Umberto Eco besonders mit Blick auf die hohe Komplexität moderner Kunst den Begriff des »offenen Kunstwerks«. Die an eine materielle Stoff-Form-Verbindung gekoppelte Bedeutung eines Kunstwerks ist in gewisser Weise offen und unerschöpflich und lässt sich in der Alltagssprache prinzipiell nie abschließend wiedergeben. Diese Bedeutungsoffenheit erfordert eine aktive Mitwirkung der Rezipienten und regt zu immer neuen Deutungen an, wobei jede Interpretation eines Werks letztlich nur eine Hypothese über seinen Gehalt darstellt. Sicherlich hat in der jüngeren Kunstentwicklung die Tendenz zur Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit von Kunst und zu einer aktiveren Rolle der Rezipienten zugenommen. Gleichwohl sollte man die Bedeutungsoffenheit nicht im Sinne einer subjektivistischen, konstruktivistischen Interpretationstheorie missverstehen. Phänomenologisch unplausibel ist die These, ein Rezipient müsse die Bedeutung eines Kunstwerks erst »schaffen« oder »erfinden« (vgl. dazu Tegtmeyer 2008: 149ff.). Seine Aufgabe ist es vielmehr, die Bedeutung eines Kunstwerks zu »entdecken« oder »herauszufinden«. Denn eine subjektive Interpretationshypothese kann einem Kunstwerk nach wie vor unangemessen sein, etwa wenn bestimmte relevante Kenntnisse, Lebenserfahrungen oder ein interpretatives Gespür für Zusammenhänge fehlen.

Auf der Suche nach einem materialen Kunstbegriff wird Kunst oft nicht primär als Mitteilung verstanden, sondern als unmittelbarer Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers (vgl. Mephisto-Entscheidung, BVerfGE 30, 173, 188f.). Es wäre aber sicherlich unangemessen, Kunst lediglich als Ausdruck subjektiver Gefühle und Gedanken des Künstlers zu verstehen. Besonders beliebt ist unter Künstlern und Kunsttheoretikern die These, Kunstwerke stellten die adäquate Verkörperung eines besonders intensiven und deutlichen Gefühls des Künstlers dar (vgl. Koppe 1983: 123f.; Raters 2001: 143). Allen voran die Musik gilt als expressivste Kunst und Ausdruckskunst, als ein Medium der Widerspiegelung und Vermittlung von Emotionen. Ein künstlerisches Gestalten ist jedoch immer mehr als ein direkter und spontaner Ausdruck subjektiver Gefühle einer Künstlerpersönlichkeit. Der Künstler beschäftigt sich so lange mit ihnen und bearbeitet sie mit künstlerischen Mitteln, bis auf symbolische Weise bestimmte allgemeinmenschliche Erlebnisqualitäten zur Darstellung gelangen. Ein Beispiel wäre Krzysztof Pendereckis Klangkomposition Threnos (1961), die den Opfern von Hiroshima gewidmet ist und in schrillen, geräuschhaft verfremdeten Klangflächen eine zeitlos-universelle tiefe Hoffnungslosigkeit und Weltuntergangsstimmung verkörpert. Auch seitens der Rezipienten sind durch Kunstwerke hervorgerufene Gefühle immer schon reflexiv »gebrochen« und entschärft: Sie sind von realen Bedrohungen oder Verlockungen gelöst und in eine Welt des Als-ob, des Scheinhaften und des Spiels abgehoben (vgl. Krämer 1994: 35f.). Die Betroffenheit der Rezipienten dürfte daher prinzipiell schwächer ausfallen als diejenige, die man in direkter Konfrontation mit schlimmen Schicksalsschlägen oder einer Katastrophe wie dem Bombenabwurf über Hiroshima erleben würde. Da man dem Horror der Ereignisse nicht ausgesetzt ist, kann man die das Grauen ausdrückenden künstlerischen Formen gleichzeitig sogar genießen.

Grundsätzlich ist die Basis künstlerischen Schaffens viel breiter und umfasst neben Gefühlen auch Wahrnehmungen, Erfahrungen und Reflexionen über Gesellschaftsformen, Lebens- und Verhaltensweisen oder auch kunstimmanente Probleme. Viele der von mir befragten Künstler erblicken das Wesen und die Bedeutung der Kunst darin, dass sie bestimmte Vorgänge oder Aspekte in der Welt, insbesondere des menschlichen Lebens und der Gesellschaft, sichtbar macht. Es tauchen klassische Metaphern von der Kunst als »Spiegel« oder »Seismograf« auf (Claudia Storz) oder als »Indikator für die vielfältigsten Prozesse und Zustände« in einer Gesellschaft (Volkhardt Müller). Sie sei ein »Menschheits-Thermometer«, das »spiegelt und erzählt, was in den Menschen vorgeht, was sie am meisten beschäftigt« (Betina Carvalho). Kunst sei »eine Antwort auf Zustände in der Gesellschaft« (Nicole Montag). Mit Blick auf ihren materialen Gehalt könnte man also Kunstwerke spezifischer definieren als Darstellungen menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse (vgl. Tegtmeyer 2008: 93). Kunst beschränkt sich allerdings nicht darauf, bestimmte Aspekte der Lebenswelt bloß hervorzuheben. Oft will sie das Welt- oder Selbstverständnis der Menschen verbessern, indem sie bestimmte Wahrnehmungsgewohnheiten oder Erlebnisweisen bestärkt oder in Frage stellt. Ein gelungenes Kunstwerk hat »die Fähigkeit, beim Betrachter eine Realitätsverschiebung zu bewirken und also sein Weltbild zu erweitern« (Lorenz Schmid). Es habe »die Kraft, Dinge zu verändern, wenn auch in oft weder vorhersehbarer noch messbarer Weise« (Volkhardt Müller). Während die narrativen Künste neue Handlungs- und Lebensmöglichkeiten aufzeigen können, zielen die nichtgegenständlichen bildenden Künste und die Musik eher auf eine neue Intensität der Erlebens- und Lebensqualität ab. Eine Horizonterweiterung kann insbesondere dank der kritischen und provozierenden Funktion der Kunst erfolgen. Kunst wird entsprechend von einem zeitgenössischen Komponisten beschrieben als »ein notwendiger Stachel im Fleisch des scheinbar Selbstverständlichen, der uns dazu zwingt, die Konditionen unseres Daseins zu hinterfragen« (René Wohlhauser).

Dank des kritischen Hinterfragens bestimmter Lebensstile, Wertvorstellungen oder Gesellschaftsideale kann Kunst durchaus auch Orientierung stiften. Sie tut dies aber nicht direkt mittels bestimmter Noten oder Pinselstriche, sondern vermittelt durch die von ihr im Rezipienten in Gang gebrachten Reflexionen: Kunst stellt einen »Reflexionsraum« dar (Lorenz Schmid) und Kunstwerke sind »Reflexionsmedien« (Kleimann 2002: 189). Man spricht angesichts der Fähigkeit, Perspektiven umzustellen und Orientierung zu stiften, auch von der Kunst als einem »Medium der Welterschließung« (ebd.). Erschlossen werden soll dabei nicht nur die Welt da draußen, sondern Kunst ist wesentlich eine »Form der Selbstverständigung« (Bertram 2007: 114): Ihre Bedeutung liegt oft in der Anregung zur Selbstreflexion und Selbsterkenntnis, in der Reflexion über Menschenbilder und das gute menschliche Leben. Auf den ersten Blick scheint zwar gegenstandslose abstrakte Kunst oder rein abstrakte Kunst als Medium der Welterschließung wenig geeignet. Aber selbst etwa bei abstrakten Skulpturen aus Materialien wie Stahl, Blei, Filz oder Fett bringt der Künstler einen persönlichen Lebens- und Weltbezug zum Ausdruck, ohne dabei irgendwelche Gegenstände oder Personen der Lebenswelt darzustellen (vgl. Koppe 2001: 117ff.). Während beispielsweise in Richard Serras Gebilden aus Blei oder Stahl nach eigenem Bekunden die Schwere und Unabwägbarkeit der Erfahrung versinnbildlicht wird, demonstriert Beuys mit seinen Kompositionen aus Filz, Fett oder Wachs wichtige Wärmekreisläufe und Energiekonstellationen im menschlichen Leben und verfolgt damit therapeutische Interessen (vgl. Beuys 1986: 22). Ensprechend dem klassischen Definitionsschema von nächsthöherer Gattung und artspezifischen Unterschieden ließe sich Kunst daher zusammenfassend so bestimmen: Kunst meint die Gesamtheit menschlicher Hervorbringungen und Gestaltungen sowie der entsprechenden Tätigkeiten, die selbstzweckhaft und in symbolischer Form menschliche Welt- und Selbstverhältnisse zur Darstellung bringen und diesbezüglich den Rezipienten eine bedeutungsoffene Mitteilung machen.

1.4 Was ist Ethik?

Ethik ist eine Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien zur Bestimmung des richtigen menschlichen Handelns zu entwickeln und zu begründen versucht. Die Grundfrage der Ethik lautet somit: »Wie soll ich handeln?« oder »Warum ist es gut oder richtig, dies oder jenes zu tun?«. Unter einer Handlung versteht man dabei eine beabsichtigte und zielgerichtete Tätigkeit. Zu einem Handeln im weiten Sinn wird auch das Verhalten gezählt, also unbeabsichtigte Körperbewegungen wie das Niesen oder Stolpern. Häufig werden ethische Reflexionen erst dadurch ausgelöst, dass andere Menschen von unserem Handeln negativ betroffen sind und sich beispielsweise in ihrer Freiheit eingeschränkt oder in ihrer Ehre oder in ihren religiösen Anschauungen verletzt fühlen. Sie stellen uns deshalb zur Rede, machen uns verantwortlich für das ihnen zugefügte Leid und verlangen eine Rechtfertigung oder Wiedergutmachung des Schadens. Wir stellen uns die ethische Grundfrage nach dem richtigen Handeln aber oft auch einfach dann, wenn wir uns zwischen mehreren Handlungsalternativen entscheiden müssen. Denn wir möchten unsere Entscheidungen vor uns selbst und anderen mit vernünftigen Gründen rechtfertigen können. Weil Menschen zur Reflexion befähigte Wesen sind und ständig mit einer Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten konfrontiert werden, sind ethische Fragen nach dem richtigen Handeln fast unvermeidbar. In bestimmten Fällen kann auch ein Unterlassen, das heißt das Nichtausführen einer Handlung, ethisch relevant sein (vgl. Kap. 4.1).

Die ethische Grundfrage »Wie soll ich handeln?« kann man sich entweder mit Blick auf das eigene persönliche Leben und die individuellen Bedürfnisse, Wünsche und Interessen stellen oder aber mit Blick auf die Mitmenschen oder die Gemeinschaft als Ganze. Man unterscheidet entsprechend innerhalb der Ethik zwischen zwei grundlegenden Perspektiven: Wenn es um das für das Individuum Gute, um sein persönliches Glück oder gute Leben geht, spricht man von Individual- oder Strebensethik oder auch von Ethik des guten Lebens. Betreffen die Reflexionen jedoch das für die Gemeinschaft Gute, das gerechte Zusammenleben oder die gebotene Rücksichtnahme auf fremde Interessen, bewegt man sich im Rahmen der Sozial- oder Sollensethik oder Moralphilosophie. Für diese beiden Perspektiven oder Grunddimensionen der Ethik haben sich die Attribute prudentiell und moralisch eingebürgert. Die ethische Grundfrage nach dem richtigen menschlichen Handeln lässt sich also differenzieren in die prudentielle Frage nach dem guten und glücklichen Leben der Einzelnen und die moralische Frage nach dem rücksichtsvollen, gerechten Handeln gegenüber anderen Lebewesen oder der Natur insgesamt (vgl. dazu Fenner 2008: Kap. 1.1).

Bei der Analyse der ethischen Relevanz und der ethischen Probleme der Kunstproduktion und -rezeption sind die beiden Betrachtungsweisen auseinander zu halten. So interessiert aus individualethischer oder prudentieller Perspektive, ob der Mensch im Umgang mit Kunst glücklicher wird oder wo die Gefahren für das persönliche gute Leben liegen. Aus der sozialethischen oder moralischen Perspektive hingegen wird gefragt, ob Kunst die Menschen besser im Sinne von wohlwollender und gerechter in der Interaktion mit anderen macht bzw. inwiefern sie das Wohl von Menschen oder auch Tieren gefährdet. Beide Perspektiven lassen sich sowohl auf das eigene künstlerische Tätigsein, also die Kunstproduktion, als auch auf das Anschauen oder Anhören von Kunst, also die Kunstrezeption anwenden. Denn nicht nur das Herstellen von Kunstwerken ist ein Handeln, sondern im Grunde auch deren Rezeption, die mehr ist als ein rein passives Genießen. Das Rezipieren von Kunst erfordert viele absichtliche Tätigkeiten wie zum Beispiel den Gang ins Museum oder ins Theater sowie das Einnehmen einer bestimmten Haltung, damit sich überhaupt ästhetische Erfahrungen einstellen können. Die rezeptiven und produktiven Tätigkeiten im Kunstbereich können beide unter dem Begriff ästhetische Praxis zusammengefasst werden (vgl. Kap. 2.1). Wie sich noch zeigen wird, ist die ästhetische Praxis in erster Linie eine selbstzweckhafte Tätigkeit, die ihr Ziel wesentlich in sich selbst trägt.

Weil die »Ethik« neben der »Individualethik« oder »Ethik des guten Lebens« wie gesagt eine »Sozialethik« oder »Moralphilosophie« enthält, ist noch der Unterschied zwischen »Ethik« und »Moral« herauszustellen: Moral meint die Gesamtheit der Normen, das heißt Handlungsregeln, die das Zusammenleben in einer Gemeinschaft reglementieren und intersubjektive Gültigkeit beanspruchen. Oft versteht man unter »Moral« alle faktisch in einer konkreten Gemeinschaft allgemein anerkannten Normen. Es können aber auch diejenigen Normen gemeint sein, die in einer Gemeinschaft anerkannt werden sollten im Gegensatz zu den tatsächlich geltenden (vgl. Steigleder 2006: 16). Moralische Regeln treten meist in Form von verbindlichen Geboten oder Verboten auf wie beispielsweise »Du sollst Notleidenden helfen« oder »Du sollst nicht lügen«. Ziel der Moral ist es, die Interessen aller potentiell vom Handeln Betroffenen zu schützen und ein friedliches und gerechtes Zusammenleben in der Gemeinschaft zu gewährleisten. Sie teilt also mit der Sozialethik das »moralische« Anliegen des gerechten und verantwortungsvollen Umgangs miteinander. Während die Moral aber direkte Handlungsanleitungen für konkrete Handlungssituationen liefert, entwickelt und begründet die Sozialethik auf einer abstrakten Ebene allgemeine Prinzipien für die Beurteilung menschlichen Handelns. Bekannte höchste Moralprinzipien sind das utilitaristische Prinzip des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl und Kants Kategorischer Imperativ: Handle so, dass Deine Lebensgrundsätze ein allgemeines Gesetz sein könnten. Da die Sozialethik auf einer allgemeineren Ebene die in der moralischen Alltagspraxis oft stillschweigend angenommenen Normen kritisch hinterfragt und systematisch begründet, stellt sie gewissermaßen die »Wissenschaft der Moral« dar.

Unstreitig wurden im Laufe der zweitausendjährigen Philosophiegeschichte ganz unterschiedliche, sich teilweise sogar widersprechende ethische Theorien und höchste Moralprinzipien entwickelt und begründet. Das Fehlen einer einheitlichen, allgemein akzeptierten Theorie verleitet oft zum Schluss, alle ethischen Theorien seien als solche unhaltbar und verlören ihren Wert. Dabei handelt es sich aber um einen Fehlschluss, weil sich verschiedene theoretische Modelle im Sinne von Argumentationstypen kombinieren lassen, um ein moralisches Problem in seiner Komplexität erfassen zu können. Auch gibt es durchaus Kriterien, anhand derer konkurrierende Ethiktheorien bewertet und miteinander verglichen werden können: etwa Einfachheit, Klarheit, Widerspruchsfreiheit, überzeugendes Begründungsverfahren (vgl. Fenner 2010: 29ff.). Da bei einem solchen Test die Diskursethik besonders gut abschneidet, soll diese hier kurz vorgestellt werden: Gemäß den Diskursethikern Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel beteiligen wir uns immer schon an einem praktischen Diskurs, wenn wir moralisch urteilen, bestimmte moralische Normen verfechten oder kritisieren. Unabdingbare Voraussetzung moralischen Urteilens sind daher bestimmte allgemeine Argumentationsregeln, ohne die ein ethischer Diskurs nicht möglich wäre. So muss zum Beispiel jedes sprach- und handlungsfähige Wesen am Diskurs teilnehmen und seine Bedürfnisse, Wünsche und Interessen äußern dürfen. Alle Gesprächsteilnehmer werden als gleichberechtigte, vernünftige Gesprächspartner anerkannt, und alle müssen ihre Ansprüche und Positionen mit Argumenten und Gründen rechtfertigen. Jeder muss seine eigene Perspektive kritisch in Frage stellen lassen und die Standpunkte der anderen einnehmen. Es dürfen keine Zwänge herrschen und am Ende zählt nur das bessere Argument (vgl. Habermas 1996: 96ff.). Wenn man diese Diskursregeln akzeptiert, hat man aber immer schon das diskursethische Moralprinzip anerkannt: Ethisch richtig können Normen nur sein, wenn sie von allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung finden (vgl. ebd.: 102). Kommt es zu einem rationalen Konsens über Normen, sind diese allgemein verbindlich. Es handelt sich beim diskursethischen Ansatz um ein rekonstruktives oder reflexives Begründungsmodell, weil sich die universelle Verbindlichkeit moralischer Prinzipien und Normen aus allgemeinen Bedingungen moralischen Urteilens ableitet.

Angewandte Ethik

Seit ihren Anfängen in der griechischen Antike geht es der Ethik nicht nur um die Begründung von allgemeinen Prinzipien zur Bestimmung des richtigen menschlichen Handelns, sondern darum, die Menschen zum richtigen Handeln anzuleiten. In der Ethik der Neuzeit wurde aber diese Anwendungsdimension vernachlässigt, weil man sich in der Nachfolge Kants ganz auf die rationale Begründung von Moralprinzipien konzentrierte. Je mehr man sich den Begründungsproblemen zuwandte, gerieten Fragen der konkreten situationsspezifischen Handlungsorientierung in den Hintergrund. Infolge der rasanten Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik wuchs jedoch der Orientierungsbedarf in unseren westlichen Industriegesellschaften stetig an. Es wurden immer neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet, die teilweise mit erheblichen moralischen Konflikten verbunden sind. Man denke etwa an die vielen medizintechnischen Errungenschaften zur Lebensverlängerung, Organtransplantation oder In-vitro-Fertilisation, aber auch an unvorhergesehene negative Technikfolgen wie Umweltschäden, Ozonloch und Klimawandel. Angesichts der gesteigerten Erwartungen und Hoffnungen seitens der Öffentlichkeit und der Politik wandten sich im 20. Jahrhundert immer mehr Philosophen den dringenden gesellschaftlichen Problemen zu. Sie verabschiedeten sich von einer vorwiegend »begründungsorientierten Ethik« und engagierten sich für eine »anwendungsorientierte«, »problembezogene« oder »angewandte Ethik«: Die Angewandte Ethik ist eine noch junge Teildisziplin der Ethik, welche die in der Ethik begründeten allgemeinen Prinzipien oder Beurteilungskriterien auf spezifische Handlungsbereiche der Menschen anzuwenden versucht (vgl. dazu Fenner 2010: Kap. 1.1).

In den 1960er- und 70er-Jahren begannen sich in verschiedenen besonders konfliktträchtigen menschlichen Handlungsbereichen eigenständige Bindestrich-Ethiken herauszubilden: allen voran die »Medizinethik«, die sich mit den Problemen im Umgang mit medizinischen Möglichkeiten im Gesundheitswesen befasst, die »Naturethik«, die den menschlichen Umgang mit der Natur überdenkt, die »Technikethik«, die sich der Herstellung, Nutzung und Entsorgung von technischen Geräten zuwendet, die »Wissenschaftsethik«, welche die wissenschaftliche Tätigkeit wegen der immer weiterreichenden Konsequenzen ihrer Forschungsergebnisse reglementiert, die »Wirtschaftsethik«, die nach moralischen Normen für das wirtschaftliche Handeln sucht. Da man sich in der Angewandten Ethik mit ganz konkreten Problemen der Lebenswelt konfrontiert sieht, benötigt man ein vertieftes Fach- und Sachwissen in den einzelnen Bereichen wie Medizin oder Wirtschaft. Im Unterschied zur begründungsorientierten Ethik ist die anwendungsorientierte Ethik dabei nicht mehr ausschließlich akademisch gebildeten Philosophen oder Theologen vorbehalten. Die Themen der Angewandten Ethik werden vielmehr in immer breiteren Kreisen in der Öffentlichkeit diskutiert und sprengen also den Rahmen der akademischen Wissenschaften. Angewandte Ethik will nicht reine Wissenschaft sein, sondern vielmehr eine Tätigkeit des demokratischen Sich-Beratens und des öffentlichen Diskurses. Sie versucht, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu vermitteln und auf aktuelle demokratische Entscheidungsprozesse bezüglich drängender Zeitfragen Einfluss zu nehmen. Ziel ist es, die moralische Urteilskraft aller Beteiligten zu schärfen und zur Klärung moralischer Konflikte beizutragen. Zunehmend wird Angewandte Ethik in Ethikkommissionen, in politischen oder halbpolitischen Beratungsgremien institutionalisiert.

1.5 Braucht die Kunst eine Ethik?

Die Frage, ob die Kunst eine Ethik braucht, lässt sich am einfachsten mit dem Hinweis auf unbestreitbar vorhandene Probleme und Konflikte im Kunstbereich beantworten. Erinnert sei exemplarisch an die jüngeren Skandale von Hermann Nitsch, Chris Ofilis oder Thomas Hirschhorn: Nitsch wurde wegen seiner bluttriefenden Performances mit Schauschlachtungen von Stieren kritisiert, Chris Ofilis wegen einer Madonna, die er mit Pornofotos und afrikanischem Elefantendung schmückte und damit die ethischen und religiösen Gefühle der Katholiken verletzte (vgl. Schwerfel 2000: 10). In einer Installation des Schweizer Künstlers Hirschhorn erbrach sich auf einer Pariser Ausstellung 2004 eine Schauspielerin in eine Abstimmungsurne und ein Darsteller urinierte symbolisch in der Pose eines Hundes gegen ein Plakat des damaligen SVP-Bundesrates Blocher (vgl. www.rhetorik.ch/Aktuell/Aktuell_Dec_06_2004.html). Vom Künstler selbst als Kritik an der direkten Demokratie der Schweiz konzipiert, löste die Show grundsätzliche Debatten über die Fragen aus: Dürfen Künstler alles sagen, darstellen und schreiben oder müssen sie sich auch an gewisse moralische Normen halten? Muss die Kunstfreiheit zum Schutz der berechtigten Interessen oder Rechte der Betroffenen begrenzt werden? Tragen die Künstler eine Verantwortung für die Wirkung ihrer Werke?

Das Herstellen von Kunstwerken oder das Durchführen prozesshafter künstlerischer Aktionen sind eindeutig Handlungen, die aus einer ethischen Sicht beurteilt werden können. In sozialethischer oder moralischer Hinsicht ist das künstlerische Tun immer dann ethisch problematisch, wenn dadurch das Wohlergehen von anderen Menschen oder auch Tieren beeinträchtigt wird. Mit den Fragen nach der Verantwortung der Kunstschaffenden für allfällige negative Folgen ihres Tuns in verschiedenen Konfliktfeldern wie Gewalt, Sexualität, Politik und Religion befasst sich Kapitel 4. Anlass für viele ethische Kontroversen ist darüber hinaus der Umstand, dass Künstler, Kunstprojekte und Kunstinstitutionen wie Kunstschulen, Museen oder Theater mit öffentlichen Geldern gefördert werden. Weil das Budget der zur Verügung stehenden Steuereinnahmen prinzipiell begrenzt ist, konkurriert der Kulturbereich mit anderen Bereichen wie Umweltschutz, Gesundheitswesen oder Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit. Die staatlichen Ausgaben im einen oder anderen Bereich stehen angesichts dessen unter einem starken Begründungszwang (vgl. Geißler 1995: 36). Die Kunsterziehung an Schulen und Hochschulen und die Finanzierung von Kunst und deren Präsentation in der Öffentlichkeit bedarf also einer Rechtfertigung. Die Frage Wozu Kunst? als die Frage nach der lebensweltlichen Bedeutung oder der gesellschaftlichen Funktion von Kunst ist so gesehen unvermeidbar (vgl. Kleimann/Schmücker 2001: 7).

Oft werden heftige Debatten über die Wozu-Frage dadurch ins Rollen gebracht, dass öffentlich geförderte Kunstprojekte Empörung in der Gesellschaft auslösen. Bezüglich der erwähnten Pariser Hirschhorn-Ausstellung waren die Proteste in der Bevölkerung und unter Politikern deswegen besonders groß, weil sie von der staatlich unterstützten Schweizer Kulturstiftung »Pro Helvetia« finanziert wurde. Der Bund hat dann die Stiftung prompt mit einer Budgetkürzung von einer Million Schweizer Franken bestraft. Genauso polarisierte eine angeblich blasphemische Arbeit des New Yorker Künstlers Andres Serrano, die von einer amerikanischen staatlichen Institution mit 15.000 Dollar gefördert wurde: Piss Christ ist das Foto eines in Künstler-Urin getränkten Kreuzes (vgl. Schwerfel 2000: 21f.). Auch wo die staatlich geförderte Kunst nicht auf derart heftige Ablehnung stößt, muss sie sich mit außerästhetischen Gründen, das heißt mit Blick auf ihre außerästhetische Wirkung rechtfertigen lassen. Rein ästhetische Kriterien der sinnlichen Reichhaltigkeit oder künstlerischen Gelungenheit eines Kunstwerkes reichen nicht aus, sondern es geht um den Nutzen oder die Bedeutung der Kunst für das alltägliche nichtästhetische Leben. Da der Anteil an Kunstrezipienten viel höher ist als derjenige der Kunstproduzenten, steht dabei wohl der Wert der Kunst für die Rezipienten im Vordergrund. Auf die Frage nach der möglichen Rechtfertigung staatlicher Kunstförderung wird in Kapitel 5.2 eingegangen.

Auch unabhängig von solchen konkreten Konflikten anlässlich von Kunstskandalen oder vom Rechtfertigungszwang bezüglich Steuerausgaben empfehlen sich grundsätzliche Überlegungen darüber, wieso Menschen überhaupt Kunst produzieren und rezipieren und weshalb sich die ästhetische Praxis lohnt. Wie oben erläutert, kommen wir Menschen eigentlich gar nicht um die ethische Grundfrage nach dem richtigen Handeln herum, allein weil wir unser eigenes Tun und Unterlassen reflektieren können und uns ständig zwischen verschiedenen Handlungsalternativen zu entscheiden