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Ob Atemnot, Schwindel oder Verdauungsprobleme, zahlreiche Patienten leiden unter anhaltenden Körperbeschwerden. Oft lassen sich dabei keine hinreichenden körperlichen Ursachen finden. Wann werden Körperbeschwerden, wie jeder sie kennt, zur übermäßigen Belastung? Dieses Lehrbuch vermittelt, wie diese Erkrankungen entstehen und wie der diagnostische Prozess vom ersten belastenden Symptom bis zur Diagnose einer somatoformen Störung oder somatischen Belastungsstörung bestmöglich abläuft. Viele Beispiele zeigen wichtige Aspekte professioneller und wertschätzender Gesprächsführung sowie Fallstricke und Hindernisse auf. Evidenzbasierte Therapiemaßnahmen nach den aktuellen Leitlinien werden übersichtlich dargestellt. Didaktisiert mit Marginalien, Kästen und Kapitelzusammenfassungen.
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Seitenzahl: 301
UTB 5349
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PsychoMed compact – Band 12
Die Reihe wurde begründet von Prof. Dr. Hans Peter Rosemeier (†) und Prof. Dr. Nicole von Steinbüchel; sie wird herausgegeben von Prof. Dr. Elmar Brähler und Prof. Dr. Nicole von Steinbüchel.
Dr. Dipl. Psych. Anne Toussaint und Dr. Dipl. Psych. Annabel Herzog, Psych. Psychotherapeutin, sind am Institut für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf in Diagnostik, Behandlung, Lehre und Forschung tätig.
Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
UTB-Band-Nr.: 5349
ISBN 978-3-8252-5349-3 (Buch)
ISBN 978-3-8385-5349-8 (PDF E-Book)
ISBN 978-3-8463-5349-3 (EPUB)
© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
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Printed in EU
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Covermotiv: © GVS – stock.adobe.com (Agenturfoto. Mit Model gestellt)
Satz: Katharina Ehle
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]
Inhalt
1 Einführung in die Thematik und Überblick
1.1 Charakterisierung des Störungsbildes
1.2 Zentrale Begriffe
1.3 Historische Konzepte
1.4 „Revolution“ der diagnostischen Konzepte: aktueller Stand
1.5 Zusammenfassung
1.6 Fragen zum 1. Kapitel
2 Epidemiologie
2.1 Prävalenz
2.2 Komorbidität
2.3 Verlauf und Prognose
2.4 Inanspruchnahme medizinischer Leistungen
2.5 Zusammenfassung
2.6 Fragen zum 2. Kapitel
3 Ätiologie und Pathogenese
3.1 Kognitiv-verhaltenstherapeutische Störungskonzepte
3.2 Psychoanalytische und tiefenpsychologische Konzepte
3.3 Modelle der Informationsverarbeitung
3.4 Zusammenfassung
3.5 Fragen zum 3. Kapitel
4 Grundlagen und Voraussetzungen für Diagnostik und Therapie
4.1 Grundlegende Haltung
4.2 Therapeutische Beziehung
4.3 Allgemeine Gesprächsführung
4.4 Besonderheiten in der Gesprächsführung
4.5 Zusammenfassung
4.6 Fragen zum 4. Kapitel
5 Diagnostik
5.1 Klassifikation
5.2 Diagnostischer Prozess
5.3 Herausforderungen in der Diagnostik
5.4 Differenzialdiagnostik
5.5 Diagnostische Tools
5.6 Kommunikation der Diagnose
5.7 Zusammenfassung
5.8 Fragen zum 5. Kapitel
6 Behandlung
6.1 Evidenzbasierte Leitlinien
6.2 Versorgungsmodell und Indikationen
6.3 Initiale Grundversorgung
6.4 Erweiterte Grundversorgung I: Simultandiagnostik
6.5 Erweiterte Grundversorgung II: Vom Erklärungsmodell zur Bewältigung
6.6 Multimodale Behandlung, Psychotherapie, Rehabilitation: Einbeziehung weiterer Behandlungsformen
6.7 Zusammenfassung
6.8 Fragen zum 6. Kapitel
Literatur
Register
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches
Zur schnelleren Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:
Begriffserklärung, Definition
(Fall-)Beispiel
Literaturempfehlung
Forschungen, Studien
Merksatz
Tipp
Fragen zur Wiederholung am Ende des Kapitels
1 Einführung in die Thematik und Überblick
Herausforderungen in der Versorgung
Nichtspezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden sind in allen medizinischen Fachrichtungen und über alle Versorgungsstufen des Gesundheitssystems hinweg ein häufiges Phänomen. Für Behandlerinnen und Behandler stellen diese „unklaren“ oder „medizinisch unerklärten“ körperlichen Beschwerden oft eine besondere Herausforderung dar. Neben Schmerzen in verschiedenen Körperteilen (z. B. Rücken, Bauch, Kopf oder Gelenke) handelt es sich beispielsweise um Schwindel, Verdauungsbeschwerden oder Herz- und Atembeschwerden. Die Beschwerden verlaufen häufig chronisch, beeinträchtigen die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten erheblich und verursachen hohe Kosten im Gesundheitssystem.
Da das Phänomen der somatoformen Störungen, der funktionellen Syndrome und der (medizinisch unerklärten) anhaltenden Körperbeschwerden so vielfältig ist wie die für diese Art von Beschwerden verwendeten Begrifflichkeiten selbst, soll dieses erste Kapitel zunächst zu einem besseren grundlegenden Verständnis der Thematik beitragen. Anhand eines Fallbeispiels wird ein erster Eindruck zur Symptomatik und klinischen Präsentation belastender Körperbeschwerden vermittelt, wobei auch für die begleitenden psychischen Belastungen und Bewältigungsprobleme betroffener Patientinnen und Patienten sensibilisiert werden soll.
Im Anschluss geben wir, basierend auf dem aktuellen Wissensstand, einen Überblick zur klinischen Relevanz und Charakterisierung des heterogenen Störungsbildes, stellen zentrale Begriffe vor und erläutern historische und aktuelle diagnostische Konzepte in ihrem jeweiligen Kontext.
1.1 Charakterisierung des Störungsbildes
1.1.1 „Die Schmerzen loswerden“: ein Fallbeispiel
Frau L. ist eine 36-jährige Lehrerin. Seit ungefähr einem Jahr leidet sie immer wieder unter Bauchschmerzen. Anfangs schenkte sie diesen nur wenig Beachtung. Da es aber im Laufe der Monate nicht besser, sondern eher immer schlimmer wurde, macht sich Frau L. jetzt Sorgen, ob nicht doch etwas Ernsteres hinter den Schmerzen stecken könnte. Mittlerweile treten die Schmerzen fast täglich auf, sie sind nur noch schwer zu ertragen und am liebsten würde Frau L. sich den ganzen Tag ins Bett zurückziehen, denn nur Ruhe kann die Schmerzen besänftigen. Auch nachts gibt es eine leichte Besserung. Anfangs dachte sie, es sei vielleicht eine Art Unverträglichkeit. Sie hat deshalb bereits versucht, ihre Ernährung zu ändern und auf Milchprodukte, Weizenprodukte und sogar auch auf Fleisch zu verzichten, aber nichts scheint zu helfen. Frau L. hat aufgehört, Alkohol und Koffein zu trinken, aber dennoch scheinen die Bauchschmerzen häufiger und stärker zu werden. Sie hat schon kaum noch Appetit. Zeitweise war es sogar so schlimm, dass Frau L. für einige Tage krankgeschrieben war. Auch einen geplanten Campingausflug mit ihrem Mann und seinen Freunden hat sie abgesagt. Sie hatte Angst, dort eine weitere „Bauchschmerzattacke“ erleiden zu müssen und sich dann nicht zurückziehen zu können. Außerdem ist sie in letzter Zeit auch leicht reizbar und reagiert oft etwas überempfindlich. Das will sie ihren Freunden dann auch nicht zumuten.
Seit drei Monaten ist Frau L. jetzt bei ihrer neuen Hausärztin Frau K. in Behandlung, die ihr von einer Freundin empfohlen wurde. Frau L. fühlt sich dort gut versorgt, denn die Ärztin nimmt sich bisher immer viel Zeit. Zusammen haben sie zunächst detailliert den Beginn und Verlauf ihrer Bauchschmerzen besprochen. Frau K. hat sie auch nach anderen Beschwerden und Vorerkrankungen gefragt. Frau L. erinnerte sich, zu Zeiten ihres Studiums häufig unter Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen gelitten zu haben. Diese sind dann aber irgendwann zum Glück von selbst wieder verschwunden. In ihrer Familie gibt es keine bekannten schwerwiegenden Erkrankungen. Darüber ist sie sehr froh, vor allem, da die Mutter ihres Mannes vor einigen Monaten an Darmkrebs verstorben ist. Das war für die ganze Familie eine sehr belastende Zeit, die viel Kraft gekostet hat.
Frau L. wurde von ihrer Hausärztin gründlich körperlich untersucht, um ihren allgemeinen Gesundheitszustand zu überprüfen und mögliche Ursachen für die Bauchschmerzen zu finden. Sie hat einige Labortests angeordnet (insbesondere auch Schilddrüsenwerte, Rheumafaktoren und Entzündungswerte) und Frau L. auch zu weiteren Fachärztinnen und Fachärzten überwiesen. Frau L. war in den letzten Wochen sowohl bei einem Gastroenterologen, als auch bei einem Orthopäden, einem Rheumatologen, einer Neurologin und einer Gynäkologin. Eine Ultraschalluntersuchung des Bauches blieb genau wie die Darmspiegelung und das MRT von Bauch, Halswirbelsäule und Kopf ohne auffällige Befunde. Frau K. hat ihr alle Untersuchungsergebnisse sorgfältig erklärt, sodass Frau L. sich beruhigt fühlt. Zum Glück ist es keine gefährliche oder lebensbedrohliche Krankheit.
Die Hausärztin hat Frau L. schließlich gebeten, ein Protokoll ihrer Bauschmerzen zu führen und auch alles zu notieren, was damit zusammenhängen könnte. Einen Zusammenhang mit dem Essen konnte Frau L. nicht feststellen und auch keine anderen Hinweise für mögliche Auslöser. Bei Fencheltee hat sie manchmal das Gefühl, dass er helfen kann. Frau L. hat beim Protokollschreiben gemerkt, dass sie insgesamt sehr mit ihren Symptomen beschäftigt ist. Sie hat eigentlich ständig Angst, dass es bald wieder damit losgehen könnte und sie ihre Pläne für den Tag dann wieder mal vergessen kann. Mittlerweile fühlt sie sich deutlich belastet. Sie hat das Gefühl, gar nicht mehr die Alte zu sein. Und auch ihr Mann kann bestätigen, dass sie sich sehr verändert hat. Er findet, sie sei nicht mehr so gut drauf wie früher. Auch zu ihrem gemeinsamen Hobby, dem Rennradfahren, lässt sie sich selbst bei gutem Wetter kaum noch überreden. Frau L. merkt, dass sich ihre Stimmung in den letzten Monaten deutlich verschlechtert hat; sie fühlt sich irgendwie oft traurig und manchmal fast schon verzweifelt.
Zu ihrer Hausärztin geht Frau L. weiterhin regelmäßig, um den Verlauf der Symptome weiter zu beobachten. Frau K. möchte aber auch mit ihr nach möglichen anderen Ursachen für ihre Schmerzen suchen. Sie hat sie zum Beispiel auch nach Belastungen in ihrem Alltag gefragt. Frau L. findet ihren Beruf als Lehrerin durchaus oft anstrengend, vor allem, seit sie diese neue schwierige Klasse übernehmen musste, in der sie sich irgendwie nicht richtig als Respektsperson akzeptiert fühlt. Außerdem macht sie natürlich viele Überstunden. Es finden ja ständig Elterngespräche statt, und sie möchte sich auch immer gut auf ihren Unterricht vorbereiten. Da bleibt nicht mehr so viel Zeit für das Privatleben. Dabei wollte sie ja eigentlich auch selbst mal gerne Kinder haben. Frau L. glaubt eigentlich nicht, dass ihre Bauchschmerzen von diesem ganzen Stress kommen, denn auch bei anderen Menschen ist ja viel los und die haben ja auch nicht immer Bauchschmerzen. Frau K. nimmt diese möglichen Hintergründe der Bauchschmerzen aber ernst und rät Frau L. dazu, sich Unterstützung in einer ambulanten Psychotherapie zu suchen, die bei der Bewältigung von unklaren Körperbeschwerden sehr hilfreich sein kann. Frau L. ist etwas skeptisch, aber sie möchte eigentlich nichts unversucht lassen. Bis sich grundlegend etwas an den Schmerzen geändert hat, möchte sie auf jeden Fall lernen, mit den Beschwerden im Alltag besser umzugehen. Sie möchte den Schmerzen nicht mehr so viel Raum geben. Frau K. sagt, man könne auch zusätzlich über ein Antidepressivum nachdenken, Frau L. möchte es aber erstmal ohne versuchen.
Drei Monate später hat Frau L. bereits mehrere Sitzungen Psychotherapie absolviert. Frau L. hat festgestellt, dass ihre Stimmung sich bereits deutlich gebessert hat und sogar auch die Häufigkeit und Schwere ihrer Bauchschmerzen etwas zurückgegangen sind. Obwohl die Schmerzen nicht weg sind, scheinen sie besser zu bewältigen zu sein. Frau L. unternimmt auch schon wieder mehr mit Freunden und ihrem Mann. Ihre Hausärztin sieht sie regelmäßig, alle vier Wochen, um Fortschritte zu besprechen und zu überprüfen, ob neue Beschwerden oder Veränderungen im Charakter ihrer Bauchschmerzen auftreten. Frau L. hat allmählich das Gefühl, wieder in ihr altes Leben zurückzukehren.
1.1.2 Klinische Relevanz
Anhaltende Körperbeschwerden sind häufig. Der Begriff bezeichnet subjektiv belastende körperliche Symptome, die unabhängig von ihrer Verursachung mindestens über einen Zeitraum von mehreren Monaten bestehen und dabei an den meisten Tagen vorhanden sind (WHO 2018).
Anhaltende Körperbeschwerden
■Oberbegriff für subjektiv belastende somatische Symptome
■unabhängig von Ätiologie (≠ Psychogenese)
■über längeren Zeitraum anhaltend (mehrere Monate)
Patientinnen und Patienten mit dieser Art von Beschwerden sind in allen medizinischen Fachrichtungen und Stufen der medizinischen Versorgung bekannt. In der medizinischen Grundversorgung (hausärztliche Versorgung / Allgemeinmedizin) werden die meisten Patientinnen und Patienten mit subjektiv belastenden Körpersymptomen versorgt (Creed at al. 2011; Kroenke / Mangelsdorff 1989). Aber auch bei spezialisierten Fachärztinnen und Fachärzten oder in psychiatrischen und psychosomatischen Settings berichten Patientinnen und Patienten anhaltende und belastende Schmerzen und / oder gastroenterologische, kardiovaskuläre, urogenitale oder neurologische Symptome (Nimnuan et al. 2001).
Abb. 1.1: Häufige Beschwerden in der Hausarztpraxis
Lebensqualität, Funktionalität deutlich beeinträchtigt
Unabhängig von ihrer Verursachung beeinträchtigt diese Art von Symptomen die Lebensqualität und Funktionalität vieler Patientinnen und Patienten erheblich (Klaus et al. 2013; Joustra et al. 2015). In der Hausarztpraxis häufig berichtete Beschwerden finden sich in Abb. 1.1.
Beispiele für typische Beschwerden in spezialisierten Facharztpraxen
Gastroenterologie:
Schluckbeschwerden, Erbrechen, Sodbrennen, Husten, Schmerzen hinter dem Brustbein, Druckgefühl im Oberbauch, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Druckschmerz im Magenbereich, Stuhlunregelmäßigkeiten wie Durchfall oder Verstopfung, Schmerzen bzw. Krämpfe im Bauchbereich, Blähungen
Kardiologie:
Schlafstörungen, Ohrensausen, Ohrgeräusche (Tinnitus), Kopfschmerzen, Schwindel, Hitzewallungen, Atemnot, Brustschmerzen, Engegefühl in der Brust
Urologie:
Schmerzen bei der Blasenentleerung, Harnzwang, Harndrang, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr
Neurologie:
Schwindel, Zittern, Taubheitsgefühle, Lähmungen, Sehstörungen, einschlafende Gliedmaßen, Erschöpfung
häufige körperliche Beschwerden
Umfragen in der deutschen Allgemeinbevölkerung bestätigen, dass bis zu 80 % der Menschen im vergangenen Monat zumindest leicht durch Körperbeschwerden beeinträchtigt waren (Hinz et al. 2017; Abb. 1.2). Die Beschwerden stehen dabei manchmal im Zusammenhang mit einem psychischen Faktor (wie z. B. Kopfschmerzen bei Ärger) oder einem körperlichen Faktor (wie z. B. Rückenschmerzen nach langem Stehen), häufig bleibt der Zusammenhang auch vollkommen unklar (Känel et al. 2016).
Während viele dieser Symptome vorübergehend sind und von selbst wieder verschwinden, entwickelt etwa ein Viertel der Betroffenen chronische Beschwerden, die auch ein Jahr nach dem ersten Auftreten weiterhin vorhanden sind und den Alltag deutlich einschränken.
Abb. 1.2: Umfrage (n=9250) in der deutschen Allgemeinbevölkerung zu vorhandenen Körperbeschwerden in den letzten 4 Wochen (Angaben in Prozent; nach Hinz et al. 2017)
Chronifizierung
In der hausärztlichen Versorgung berichten Patientinnen und Patienten über einen Beobachtungszeitraum von drei Jahren in 40 % der Fälle über anhaltende und in je 30 % der Fälle über gebesserte bzw. vollständig abgeklungene Beschwerden (Kroenke 2014).
Risikofaktoren und Entwicklung
Mit steigender Anzahl vorliegender Symptome erhöht sich dabei das Chronifizierungsrisiko. Auch ein weibliches Geschlecht gilt als Risikofaktor, denn Frauen tragen ein nahezu doppelt so hohes Risiko, chronische Beschwerden zu entwickeln wie Männer. Da auch eine psychische Komorbidität als Risikofaktor für den chronischen Verlauf von belastenden Körperbeschwerden gilt, sollten Ärztinnen und Ärzte in der Anamnese belastender Körperbeschwerden immer auch eine möglicherweise vorliegende depressive oder Angstsymptomatik erfragen. Häufig entwickeln sich anhaltende Körperbeschwerden in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter und dauern dann über die gesamte Lebensspanne an (Leiknes et al. 2007).
Verlauf belastender körperlicher Beschwerden
■Insgesamt häufig chronisch, wobei einzelne Symptome oft wenig stabil sind und wechseln
■Ca. 1 / 3 der Symptome remittieren innerhalb von 6 Monaten (Arnold et al. 2006)
■Ca. 1 / 3 der Patientinnen und Patienten hat nach 10 Jahren noch Beschwerden (Leiknes et al. 2007)
Risikofaktoren für chronischen Verlauf
■Multiple Symptome
■Weibliches Geschlecht
■Depressivität bzw. psychische Komorbidität
Bei vielen anhaltenden Körperbeschwerden finden sich keine identifizierbaren organischen Ursachen im Sinne physiologischer Krankheitsprozesse wie Gewebe- oder Nervenschädigungen oder peripherer entzündlicher Prozesse.
medizinisch unerklärte Körperbeschwerden
In der ambulanten und stationären Versorgung präsentieren mindestens 20–40 % der Patientinnen und Patienten körperliche Beschwerden, für die sich keine organische Ursache finden lässt. Fachärztinnen und -ärzte (z. B. Rheuma-, Schmerz- oder gynäkologische Ambulanz) berichten über vergleichbare Prävalenzen (Creed et al. 2011; Abb. 1.3).
Abb. 1.3: Anteil unerklärter Körperbeschwerden (medically unexplained symptoms, MUS) in unterschiedlichen medizinischen Fachbereichen (nach Kroenke 2003, bzw. Reid et al. 2001)
Aber auch bei Patientinnen und Patienten mit diagnostizierten chronischen Grunderkrankungen sind die subjektiv als belastend erlebten Symptome (wie Atemnot bei Asthma oder Durchfall bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen) häufig der Hauptfaktor für eine beeinträchtigte Lebensqualität.
Körperbeschwerden bei chronischen Erkrankungen
Auch wenn eine Grunderkrankung sich beispielsweise aus medizinischer Sicht gut durch Medikamente behandeln lässt, bestehen die belastenden Körperbeschwerden oftmals unabhängig davon weiter. Sie gelten dann sogar als Risikofaktoren für einen schlechteren Krankheitsverlauf, schwerwiegendere Komplikationen, eine erhöhten Mortalität, komorbide Depressionen oder Angsterkrankungen sowie für suizidale Gedanken und Absichten (Almutary et al. 2013; Griffiths / Jones 2014; Lehmann et al. 2018; Löwe et al. 2008; Wiborg et al. 2013).
subjektive Belastung unabhängig von Verursachung
Nicht alle Personen mit körperlichen Beschwerden stellen sich in der ärztlichen Praxis vor, sondern vor allem diejenigen, die sich durch ihre Körpersymptome belastet und im Alltag eingeschränkt erleben (Creed et al. 2011). Die subjektive Belastung durch körperliche Symptome ist dabei unabhängig von deren (somatischer oder psychischer) Verursachung.
Psychische Begleiterscheinungen wie mit den Symptomen verbundene Ängste und Sorgen sind oftmals der Hauptgrund für Patientinnen und Patienten, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen (Joustra et al. 2015).
gesundheitsbezogene Lebensqualität vermindert
Als häufigste Symptome werden in der hausärztlichen Versorgung Schmerzen, Müdigkeit und Schwindel berichtet (Kroenke / Mangelsdorff 1989). Mit zunehmender Dauer und Anzahl von körperlichen Symptomen steigt die Häufigkeit von Arztbesuchen, von komorbiden Angst- und depressiven Störungen sowie von Fehlzeiten am Arbeitsplatz. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität nimmt entsprechend in allen Dimensionen (physische Gesundheit, soziale Kontakte, emotionales Wohlbefinden) ab. Werden die Körperbeschwerden von Krankheitsängsten und -überzeugungen begleitet, steigen das medizinische Inanspruchnahme-Verhalten und die Einschränkungen im Alltag, und auch die Unzufriedenheit mit der ärztlichen Versorgung nimmt zu (Creed et al. 2011).
Da viele Symptome weder direkte Auswirkungen einer organischen Erkrankung (z. B. Krebs, Gefäß- oder Entzündungserkrankungen) noch direkte Folgen einer psychischen Erkrankung (z. B. Depressionen oder Angststörungen) sind, ist die nach wie vor verbreitete dualistische Sichtweise, nach der Symptome entweder als organisch oder psychisch bzw. funktionell klassifiziert werden, nicht haltbar (Kisely / Simon 2006; Kroenke et al. 2010).
kein Dualismus organisch vs. psychisch
Studien konnten wiederholt zeigen, dass Einschätzungen von Behandlerinnen und Behandlern, ob körperliche Symptome sich durch organische Befunde erklären lassen oder nicht, sehr unzuverlässig sind (Creed et al. 2011; Hilderink et al. 2013). Je mehr somatische Symptome eine Person berichtet, desto unwahrscheinlicher ist es, dass diese Symptome auf das Vorhandensein einer zugrunde liegenden Grunderkrankung hindeuten und desto wahrscheinlicher ist es, dass zusätzlich eine komorbide Depression oder Angststörung vorliegt.
hohe Symptomlast als Risikofaktor
Der Leidensdruck der Patientinnen und Patienten, die Funktionseinschränkungen in wichtigen Bereichen des Alltags und das Chronifizierungsrisiko steigen zudem unabhängig von der Ursache der Symptome mit zunehmender Anzahl somatischer Symptome linear an (Jackson et al. 2006).
In der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Körperbeschwerden gibt es zahlreiche Herausforderungen.
fragmentierte Behandlung
Die medizinische Versorgungsrealität ist gekennzeichnet durch eine fragmentierte Behandlung in spezialisierten Settings (z. B. gastrointestinale Symptome in der Gastroenterologie, Brustschmerzen in der Kardiologie). Auch wenn Patientinnen und Patienten sich tatsächlich oft mit multiplen Symptomen vorstellen, werden diese selten gemeinsam betrachtet oder behandelt (Aaron / Buchwald 2001). Wenn anhaltende Körperbeschwerden eine somatische Grunderkrankung begleiten, wird die subjektive Belastung durch die Symptomatik im Rahmen der Standardbehandlung oft vernachlässigt. In einer Vielzahl der Fälle orientiert sich die Behandlung lediglich an den objektiven Krankheitsparametern. Die belastenden Körperbeschwerden werden häufig weder mit den Patientinnen und Patienten diskutiert noch durch klinische Interventionen adressiert (Henningsen et al. 2018).
eingeschränkte Wirksamkeit von Behandlungsmethoden
Es fehlt an allgemein akzeptierten, evidenzbasierten diagnostischen Konzepten und Behandlungsansätzen für betroffene Patientinnen und Patienten. Obwohl sich bei vielen Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Körperbeschwerden sowohl mit psychotherapeutischen als auch mit pharmakologischen Interventionen eine Verbesserung ihrer Beschwerden und Beeinträchtigung erzielen lässt, ist die Wirksamkeit aktueller Behandlungsmethoden mit Effektstärken im mittleren Bereich weiterhin verbesserungswürdig.
lange Dauer unbehandelter Erkrankungen
Darüber hinaus bleibt die Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Körperbeschwerden lange unbehandelt oder wird zumindest nicht leitliniengemäß behandelt (Henningsen et al. 2018; Kleinstäuber et al. 2016; Wortman et al. 2018; Herzog et al. 2018).
Viele Patientinnen und Patienten fühlen sich mit ihren Beschwerden von ihren Behandlerinnen und Behandlern nicht ausreichend ernst genommen. Vor allem, wenn sich Symptome nicht hinreichend durch zugrunde liegende physiologische Prozesse oder Erkrankungen erklären lassen, fühlen sich Patientinnen und Patienten manchmal als Simulantinnen und Simulanten missverstanden.
Simulation, d. h. das bewusste Vortäuschen von Symptomen oder Beschwerden, ist in der täglichen Praxis tatsächlich ein eher seltenes Phänomen (Mayou / Farmer 2002).
Simulation
Kosten durch anhaltende Körperbeschwerden
Erfolgreiche Ansätze für die Prävention und Früherkennung sowie ein Zugang zu spezialisierter Versorgung für anhaltende Körperbeschwerden werden in der Praxis häufig nicht umgesetzt (Murray et al. 2016). Medizinische Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse oder auch Untersuchungen, die über eine notwendige und angemessene organmedizinische Abklärung hinausgehen, sowie häufige ambulante und stationäre Behandlungsversuche, ohne substanzielle Besserung der Beschwerden, führen dann zu hohen Kosten für das Gesundheitssystem. Indirekte Kosten entstehen zudem durch Krankschreibungen und Produktivitätsverluste (Konnopka et al. 2013). Die klinische Relevanz von belastenden Körpersymptomen für die Lebensqualität und psychische Gesundheit sowie für die Arbeitsfähigkeit, die Anzahl an Arztbesuchen und verursachten Gesundheitskosten ist entsprechend hoch und vergleichbar mit den Kosten für das Gesundheitssystem, die durch Angst- und depressive Störungen verursacht werden (Barsky et al. 2005).
1.2 Zentrale Begriffe
Die unübersichtliche Terminologie erschwert die Versorgung und Forschung im Bereich anhaltender Körperbeschwerden. Im Rahmen der diagnostischen Konzeption werden derzeit zahlreiche Begrifflichkeiten für anhaltende Körperbeschwerden verwendet.
uneinheitliche Terminologie
Vor allem in der hausärztlichen Praxis wird für Beschwerden, für welche keine hinreichend erklärende, klar benennbare körperliche Erkrankung mit entsprechender Behandlungskonsequenz zu finden ist, oft der Begriff nichtspezifische (oder veraltet „medizinisch unerklärte“) Symptome verwendet. Eine weitere Parallelklassifikation findet sich zwischen den verschiedenen somatischen Fachrichtungen, die von funktionellen somatischen Syndromen sprechen, und den psychosozialen Fächern, die somatoforme Störungen wie die Somatisierungsstörung diagnostizieren.
Viele dieser Begriffe sind ungenau, kulturell unsensibel und manchmal irreführend oder stigmatisierend, vor allem der früher verwendete Begriff „medizinisch unerklärter“ Symptome (Kirmayer / Sartorius 2007; Mayou / Farmer 2002). Letzterer wurde häufig verwendet, wenn Symptome in Abwesenheit einer identifizierbaren Grunderkrankung auftraten.
In den einzelnen medizinischen Fachdisziplinen werden anhaltende Körperbeschwerden ohne hinreichendes organisches Korrelat oft im Sinne funktioneller Störungen diagnostiziert. Syndrome wie Fibromyalgie, chronisches Erschöpfungssyndrom (auch Chronic Fatigue Syndrome oder myalgische Enzephalomyelitis), chronische Schmerzen oder das Reizdarmsyndrom kennzeichnen sich durch bestimmte Muster somatischer Symptome, die sich dabei oft auf bestimmte Organsysteme beziehen.
Fischer / Nater 2012 geben einen detaillierteren Überblick über funktionelle Syndrome.
Es erfolgt dann je nach Lokalisation der körperlichen Beschwerden eine Diagnosestellung, die in die entsprechende medizinische Fachdisziplin fällt. Funktionelle somatische Symptome können auch bei Menschen mit einer schweren körperlichen Erkrankung auftreten.
Zum Beispiel können nach einem Herzinfarkt oder einer Herzoperation muskuläre Brustschmerzen von Patienten als Hinweis auf eine Angina pectoris fehlinterpretiert werden, was dann zu unnötiger Sorge und Belastung führt (Mayou / Farmer 2002).
Obwohl die einzelnen Kategorien funktioneller Syndrome für die tägliche medizinische Praxis nützlich sein können, zeigen aktuelle Studien, dass erhebliche Überschneidungen und Gemeinsamkeiten zwischen diesen einzelnen Syndromen bestehen (Chalder / Willis 2017).
Bei der Diagnostik psychischer Erkrankungen (z. B. Angststörungen, affektive und somatoforme Störungen) liegt der Fokus hauptsächlich auf psychischen Prozessen. Wenn gleichzeitig somatische Symptome vorhanden sind, geht es bei der Diagnostik um die Art und Anzahl dieser Symptome, und zwar unabhängig davon, auf welches Organsystem sie sich beziehen. Beispielsweise gehen psychische Beschwerden im Zusammenhang mit einer Depression oder Angststörung begleitend häufig mit somatischen Symptomen einher, die sich dann durch eine wirksame Behandlung der psychischen Störung oft ebenfalls bessern. In Fällen, in denen die belastenden Körperbeschwerden vordergründig sind, ist die geeignetste Diagnose dann die einer somatoformen Störung (bzw. aktueller Begriff laut ICD-11 und DSM-5: „somatische Belastungsstörung“; Levenson et al. 2018).
Unterschiedliche Begriffe werden in unterschiedlichen Settings und Klassifikationssystemen benutzt
(z. B. Hausarzt, Facharzt, psychotherapeutische Versorgung etc.):
■Nichtspezifische oder medizinisch unerklärte Symptome
■Funktionelle Syndrome (z. B. Reizdarm, Fibromyalgie, Chronic Fatigue)
■Somatoforme Störungen (ICD-10, DSM-IV)
■Somatische Belastungsstörung (ICD-11, DSM-5)
Der Vorteil des übergeordneten Begriffes „anhaltende Körperbeschwerden“ ist, dass er keine Psychogenese, sondern nur die Störung bestimmter Körperfunktionen voraussetzt. Obwohl es also unterschiedliche medizinische und psychiatrische Klassifikationen für diese Art von Symptomen gibt, handelt es sich dabei eigentlich um alternative Methoden, um die gleichen oder zumindest ähnliche Phänomene zu beschreiben (Henningsen et al. 2018; Kroenke 2003). Unser Lehrbuch nimmt vor allem die Gemeinsamkeiten dieser Störungsbilder in den Blick. Unser Anliegen ist es fächerübergreifend und praxisnah ein umfassendes (biopsychosoziales) Verständnis anhaltender Körperbeschwerden zu fördern.
Die Existenz paralleler Klassifikationsmöglichkeiten ist oftmals verwirrend. Für viele anhaltende Körperbeschwerden kann eine einfache Beschreibung mit einer zusätzlichen Spezifikation des Symptoms wie „isoliert“ oder „multiple“ und „akut“ oder „chronisch“ ausreichend sein. Häufig vermittelt auch eine Kombination aus medizinischen und psychiatrischen Diagnosen die beste Information wie z. B. Reizdarmsyndrom mit komorbider Angststörung (Mayou / Farmer 2002).
Nicht alle belastenden Körperbeschwerden haben einen Krankheitswert. Erst wenn sie über einen Zeitraum von mehreren Monaten bestehen und bedeutsames Leiden und Beeinträchtigungen bei den Patienten verursachen, sollte eine Diagnose wie beispielsweise die somatoforme Störung (nach ICD-10 und DSM-IV) vergeben werden (Rief / Martin 2014).
1.3 Historische Konzepte
Anhaltende Körperbeschwerden sind kein neues Phänomen. Medizinisch unerklärte Körperbeschwerden sind vermutlich seit Anbeginn der medizinischen Lehre bekannt.
Eine ausführliche Darstellung der Historie somatoformer Störungen findet sich bei Morschitzky (2007).
Im Folgenden werden die zentralen Entwicklungen in der Konzeptualisierung der somatoformen Störungen bis hin zur heute aktuellen Diagnose der somatischen Belastungsstörung (nach ICD-11 und DSM-5) in Kürze dargestellt.
Vor allem der Somatisierungsbegriff findet sich bereits früh bei Stekel (1908, 1935; vgl. Kleinstäuber 2018). Lange Zeit galt die Somatisierung nicht als eigenständige Störungseinheit, sondern als Symptom und Folge einer anderen zugrunde liegenden psychopathologischen Störung, vor allem der Hysterie (Hoffmann 1996) oder der (larvierten) Depression. Bridges und Goldberg (1985) benannten ein hohes ärztliches Inanspruchnahmeverhalten, einen somatischen Attributionsstil der Beschwerden, das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung sowie ein Ansprechen der somatischen Beschwerden auf die Behandlung der psychischen Primärerkrankung als notwendige Kriterien, um die Diagnose einer Somatisierung zu erfüllen.
Konzept der Somatisierung
In der klassischen, psychoanalytisch geprägten Psychosomatik wurde Somatisierung nicht als Kategorie für eine Störungseinheit genutzt, sondern vielmehr als Bezeichnung für einen Prozess bzw. pathologischen Mechanismus, der sich auf den Vorgang der Konversion psychischer Konflikte in somatische Symptombildung bezog (Hoffmann 1996; Küchenhoff 2001). Dahinter steht die Idee, dass der Verlust bestimmter körperlicher Funktionen (z. B. Sehen, Hören oder willkürliche motorische Handlungen) in Zusammenhang zu starken emotionalen Zuständen (z. B. als Folge von Traumatisierungen) steht.
Konversion und Dissoziation
In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff der Dissoziation beschrieben, der eine Desintegration von mentalen Prozessen und Inhalten wie des Erlebens, Handelns oder des Gedächtnisses meint (Kapfhammer 2001).
biopsychosoziale Konzepte
Das bekannteste Vorläuferkonzept der heutigen somatoformen Störungen (bzw. der Somatisierung) ist das bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführte „Briquet-Syndrom“ (Briquet 1895). Briquet konzeptualisierte die Somatisierungsstörung dabei multifaktoriell (biopsychosozial) und benannte entsprechend emotionale Einflüsse, familiäre Erfahrungen und psychosoziale Stressoren als relevante Einflussfaktoren für die Symptomentstehung. Auch in der Definition von Lipowski (1988, S. 1359) wird die Somatisierung als multidimensionales Phänomen beschrieben. Es handelt sich demnach um
„eine Tendenz, körperlichen Stress zu erleben und zu kommunizieren, der nicht hinreichend durch pathologische Befunde zu erklären ist, diesen auf körperliche Erkrankungen zurückzuführen und dazu medizinische Hilfe aufzusuchen“.
Diese frühe Definition bildet die charakteristischen Merkmale der Somatisierung gut ab und bezieht perzeptuelle, kognitive und auch verhaltensbezogene Merkmale mit ein. Sie hat die Begriffsbestimmungen der somatoformen Störungen in den Klassifikationssystemen der Weltgesundheitsorganisation (WHO: International Classification of Disorders [ICD]) und der American Psychiatric Association (APA: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders [DSM]) stark geprägt.
In den Klassifikationssystemen der WHO (1991) und der APA (2000) wurden die somatoformen Störungen lange Zeit als eigenständige, primäre Störungskategorie aufgeführt (Abb. 1.4). Die Diagnosen enthielten dabei nicht nur störungswertige Merkmale der Person selbst (Tendenz, körperlichen Stress zu erleben und zu kommunizieren), sondern beinhalteten auch ein dysfunktionales Interaktionsmuster zwischen den Patientinnen und Patienten mit ihren Erklärungsmustern und Verhaltensweisen einerseits und den Ärztinnen und Ärzten bzw. dem medizinischem System andererseits.
Abb. 1.4: Klassifikation der somatoformen Störungen nach ICD-10 (WHO 1992)
Als Alternative zur Diagnose der somatoformen Störung wurde lange Zeit vor allem in den Leitlinien der ICD für die ärztliche Primärversorgung der Begriff der „medizinisch unerklärten Symptome“ verwendet (Deary 1999). Der Begriff ist neutraler im Vergleich zum Somatisierungsbegriff, der durch seine historische Verknüpfung mit dem Konzept der Hysterie vorbelastet ist und dadurch auf Patientinnen und Patienten stigmatisierend wirken kann. Trotzdem ist der Begriff nicht unumstritten.
medizinische Erklärbarkeit von Körperbeschwerden
In der Wissenschaft findet sich der Standpunkt, dass alle körperlichen Beschwerden erklärbar sind, wenn die medizinische Abklärung nur ausführlich genug durchgeführt wird, und es lediglich eine Frage des medizintechnischen Fortschrittes ist, bis alle Beschwerden erklärt werden können. In der Praxis tun sich Behandlerinnen und Behandler häufig schwer, einzelne Beschwerden als hinreichend medizinisch erklärbar oder nicht einzuordnen (Fischer / Nater 2012).
1.4 „Revolution“ der diagnostischen Konzepte: aktueller Stand
Diese historischen diagnostischen Konzepte wurden aktuell durch Expertengremien der Weltgesundheitsorganisation und der American Psychiatric Association sowohl im DSM-5 (APA 2013) als auch in der ICD-11 (WHO 2018) durch neue Diagnosen abgelöst. Die neue Terminologie reflektiert das heutige Verständnis zur Pathogenese, Aufrechterhaltung und Prognose von subjektiv belastenden Körpersymptomen und soll damit auch den therapeutischen Zugang erleichtern, um unbefriedigende Behandlungsverläufe und eine Chronifizierung von körperlichen Beschwerden frühzeitig abwenden zu können (Känel et al. 2016).
Neuerungen in der Klassifikation
In der 2013 erschienenen 5. Auflage des „Diagnostischen und Statistischen Manuals für psychische Störungen“ (DSM-5) der American Psychiatric Association wurden die Somatisierungsstörung, die undifferenzierte somatoforme Störung, die Hypochondrie und die Schmerzstörung als Diagnosen abgeschafft. Die meisten der Patientinnen und Patienten, die zuvor eine dieser Diagnosen erhielten, erfüllen mit ihren Symptomen nun die Kriterien der so genannten somatischen Belastungsstörung (englische Übersetzung: Somatic Symptom Disorder).
In der 2018 von der WHO in Genf vorgestellten Internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation – 11. Revision (ICD-11) wurde die diagnostische Kategorie der somatoformen Störungen ebenfalls ersetzt, und zwar durch die so genannte Bodily Distress Disorder; in der deutschen Übersetzung soll die neue Diagnose ebenfalls somatische Belastungsstörung heißen. Die Kriterien sind den im DSM-5 beschriebenen inhaltlich sehr ähnlich und gehen entsprechend mit denselben Veränderungen und Implikationen einher.
neue Diagnose der somatischen Belastungsstörung
Die ICD-11 wurde 2019 durch die Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly, WHA) verabschiedet. Über den Zeitpunkt einer möglichen Einführung der ICD-11 in Deutschland sind allerdings derzeit noch keine Aussagen möglich. Solange behält die ICD-10 der WHO im deutschen Gesundheitssystem für die Kodierung von (psychischen) Erkrankungen und die Abrechnung stationärer und ambulanter Leistungen ihre Gültigkeit. Entsprechend behalten auch die „somatoformen Störungen“ ihre Berechtigung in der Klassifikation anhaltender und belastender Körperbeschwerden.
Hypochondrie als Diagnose abgeschafft
Die somatische Belastungsstörung mit körperlichen Beschwerden sowie symptombezogenen Ängsten und Befürchtungen ist gemäß DSM-5 von der Krankheitsangststörung abzugrenzen, bei der die Überzeugung vorherrscht, an einer ernsthaften Krankheit zu leiden, ohne dass gleichzeitig körperliche Symptome präsent sind (APA 2013). Im DSM-IV erfüllten Patientinnen und Patienten, die ein oder mehrere körperliche Symptome fälschlicherweise im Sinne einer schwerwiegenden Krankheit interpretierten oder glaubten, dass sie trotz anders lautender medizinischer Bewertung und Beruhigung mit Ängsten vor einer schlimmen Erkrankung beschäftigt waren, die Diagnose einer Hypochondrie. Von denjenigen Patientinnen und Patienten, bei denen zuvor eine Hypochondrie diagnostiziert wurde, werden nun ca. 80 % unter die DSM-5-Diagnose einer somatischen Belastungsstörung (wenn körperliche Beschwerden vorhanden sind) und ca. 20 % unter die DSM-5-Diagnose einer Krankheitsangststörung (wenn körperliche Beschwerden minimal oder gar nicht vorhanden sind) subsumiert (Bailer et al. 2016; Abb. 1.5).
Die neuen diagnostischen Konzepte tragen der Tatsache Rechnung, dass ca. 30 % der Patientinnen und Patienten in der allgemeinmedizinischen Versorgung körperliche Symptome haben, durch die sie sich erheblich gestresst und im Alltag (Familie, Beruf, Freizeit) eingeschränkt fühlen. Ärztinnen und Ärzte verschiedenster Fachrichtungen beschäftigten sich in ihrem Praxisalltag also mit körperlichen Symptomen, die häufig erst dadurch Krankheitswert erhalten, dass Patientinnen und Patienten aufgrund von mit den Symptomen assoziierten dysfunktionalen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen einen Leidensdruck verspüren und deshalb überhaupt erst medizinische Versorgung in Anspruch nehmen. Körpersymptome werden nun als eigenständige klinische Entität ernst genommen, weil sie entsprechend zu weitreichenden Einschränkungen bei den Betroffenen, bis hin zur Invalidisierung in allen wichtigen Alltagsbereichen führen können (Känel et al. 2016).
Abb. 1.5: Reduktion der diagnostischen Kategorien von DSM-IV zu DSM-5 (nach Dimsdale et al. 2013)
Kennzeichen einer somatischen Belastungsstörung
Für die neue Diagnose genügt bereits ein einziges chronisches körperliches Symptom (z. B. Schmerz, Schwächegefühl oder Kurzatmigkeit), das zu einer erheblichen Funktionseinschränkung in wichtigen Lebensbereichen führt. Die somatische Belastungsstörung ist darüber hinaus dadurch gekennzeichnet, dass die somatischen Symptome von einer unverhältnismäßig ausgeprägten gedanklichen, emotionalen oder verhaltensmäßigen Beschäftigung mit diesen Symptomen begleitet werden. Außerdem verursachen die Symptome eine erhebliche Belastung und / oder Funktionseinschränkung im Alltag (Dimsdale / Levenson 2013).
Die somatischen Symptome können dabei durch eine zugrunde liegende somatische Grunderkrankung erklärbar sein oder auch nicht. Die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung wird unabhängig von der Ursache der körperlichen Beschwerden gestellt. Damit entfällt die stigmatisierende und häufig nicht mit Sicherheit zu treffende Unterscheidung zwischen somatoformen (medizinisch unerklärten, „psychogenen“) und somatischen (organmedizinisch begründeten) Symptomen (Creed et al. 2011; Hilderink et al. 2013; Känel et al. 2016). Entsprechend der neuen Kriterien können auch bei Vorliegen einer somatischen Grunderkrankung (z. B. Asthma) anhaltende Sorgen und Ängste (hier bezogen z. B. auf eine mögliche Luftnot mit Erstickungsgefahr), die Diagnose rechtfertigen.
Abb. 1.6: Klassifikationskriterien der somatischen Belastungsstörung (300.82) nach DSM-5 (APA 2013)
keine reine Ausschlussdiagnostik
Die Diagnose kann nicht vergeben werden, nur weil eine medizinische Ursache für ein körperliches Symptom nicht identifiziert werden kann (im Sinne einer Ausschlussdiagnostik). Der Fokus liegt jetzt auf dem Ausmaß, in dem die mit den Körperbeschwerden verbundenen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen übertrieben oder unverhältnismäßig erscheinen (Dimsdale / Levenson 2013).
Für die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 müssen die Kriterien A, B (mindestens eine der drei aufgeführten psychologischen Dimensionen) und C aus Abb. 1.6 erfüllt sein.
In der ICD-11 werden die diagnostischen Kriterien zum aktuellen Zeitpunkt wie folgt beschrieben:
ICD-11: 6C40 Bodily Distress Disorder (somatische Belastungsstörung, übersetzt nachWHO 2018)
Die Somatische Belastungsstörung ist gekennzeichnet durch das Vorhandensein belastender körperlicher Symptome, auf die eine übermäßige Aufmerksamkeit gerichtet ist, was sich in wiederholtem Kontakt mit medizinischen Leistungserbringern manifestiert. Wenn eine andere Erkrankung die Symptome verursacht oder dazu beiträgt, ist der Grad der Aufmerksamkeit in Bezug auf die Natur und den Verlauf der Symptome eindeutig übertrieben.
Die übermäßige Aufmerksamkeit wird auch nicht durch geeignete klinische Untersuchungen und angemessene Beruhigung abgemildert. Die körperlichen Symptome sind andauernd, d. h. an den meisten Tagen mindestens über mehrere Monate vorhanden. Typischerweise treten mehrere körperliche Symptome auf, die über die Zeit variieren können. Möglicherweise liegt auch nur ein einzelnes Symptom – oftmals Schmerzen oder Müdigkeit, die mit den anderen Merkmalen der Störung assoziiert sind – vor.
Erste empirische Überprüfungen der neuen DSM-5-Diagnose ergaben, dass sowohl die Reliabilität, die Validität als auch die klinische Nützlichkeit bei der somatischen Belastungsstörung den Gütekriterien der somatoformen Störungen nach DSM-IV überlegen sind (Dimsdale et al. 2013).
Reliabilität
Die Beurteiler-Übereinstimmung (Interrater-Reliabilität), in dem Sinne, dass sich verschiedene Beurteilerinnen und Beurteiler zuverlässig über das Vorhandensein einer Erkrankung einigen können, kann bei einer Zugrundelegung der neuen Kriterien der somatischen Belastungsstörung als gut bis sehr gut bezeichnet werden (Freedman et al. 2013).
Valide bedeutet im Zusammenhang mit klinischen Diagnosen vor allem, dass ein klinisches Syndrom klar genug beschrieben ist (deskriptive Validität), der Symptomverlauf der Patientinnen und Patienten im Laufe der Zeit vorhergesagt werden kann (prognostische Validität) und ähnliche Erkrankungen zuverlässig ausgeschlossen werden können (differenzielle Validität). Darüber hinaus sollten valide Diagnosen das Ansprechen der Patientinnen und Patienten auf die Behandlung vorhersagen (Robins / Guze 1970; Voigt et al. 2010).
Obwohl die Diagnosekriterien der somatischen Belastungsstörung bereits als „überinkludierend“, mit dem Potenzial für zu viele falsch-positive Diagnosen kritisiert wurde (Frances 2013), deuten erste Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass die neue Diagnose im Gegenteil restriktiver als die somatoforme Diagnose nach DSM-IV sein könnte.
Eine Studie mit Patientinnen und Patienten mit Symptomen, die als „medizinisch unerklärt“ eingestuft wurden (n=325), ergab, dass doppelt so viele Patientinnen und Patienten die diagnostischen Kriterien für eine somatoforme Störung (DSM-IV) erfüllten als die einer somatischen Belastungsstörung (DSM-5; 93 versus 46 %; Dessel et al. 2016).
Darüber hinaus erfordert die Diagnose der somatischen Belastungsstörung, wie in den B-Kriterien beschrieben, dass die Patienten „übertriebene“ oder „unangemessene“ Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen im Zusammenhang mit den somatischen Symptomen aufweisen. Dadurch lässt sich eine Gruppe von Patienten identifizieren, die sich durch eine größere psychische Beeinträchtigung im Vergleich zu Patienten mit einer somatoformen Störungen kennzeichnet (Voigt et al. 2012).
Aktuelle Studien aus anderen Settings berichten teilweise aber auch gegenteilige Befunde. Zum Beispiel konnten Limburg et al. bei Patientinnen und Patienten mit Schwindelsymptomen in einer neurologischen Ambulanz feststellen, dass die Kriterien der somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 fast doppelt so häufig erfüllt wurden wie die DSM-IV Kriterien der somatoformen Störungen (Limburg et al. 2016). Dass es sich um eine in bestimmten Settings häufig erfüllte Diagnose handelt, zeigte sich auch in einer Studie aus einer psychosomatischen Ambulanz: hier erfüllte mehr als die Hälfte der untersuchten Patientinnen und Patienten (54,6 %) die Diagnosekriterien der somatischen Belastungsstörung (Hüsing et al. 2018).
Insgesamt gibt es leider erst wenige Resultate aus Studien, die sich empirisch mit den neuen Diagnosekriterien beschäftigen. Hier besteht dringend weiterer Forschungsbedarf.
1.5 Zusammenfassung
Anhaltende Körperbeschwerden sind ein häufiges, sowohl für die Betroffenen als auch für das Gesundheitssystem bedeutsames Phänomen. Mit einer zunehmenden Anzahl an belastenden Körpersymptomen steigt das Risiko für individuelles Leiden, Funktionseinschränkungen im Alltag, psychische Belastung, wiederholte Arztbesuche, gesundheitsbezogene Kosten und Arbeitsunfähigkeit. Im Rahmen der medizinischen Diagnostik sollten daher immer sowohl das Ausmaß körperlicher Symptome, als auch die damit verbundene Belastung erhoben werden. Um die Auswirkungen der Beschwerden, das Ausmaß der Beeinträchtigung und das Chronifizierungsrisiko sinnvoll einschätzen zu können, sollten neben einer angemessenen organmedizinischen Abklärung der Körperbeschwerden, im Sinne eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses, immer auch psychische, soziale und verhaltensrelevante Ursachen für symptombedingtes