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Atlee Pine will endlich ihre Schwester finden—und trifft dabei auf John Puller, Spezialermittler der Militärpolizei.
Seit Jahren wird FBI-Agentin Atlee Pine von ihrer Vergangenheit heimgesucht: Ihre Zwillingsschwester Mercy wurde als Kind entführt und Atlee damals schwer verletzt. Seitdem versucht sie, das Rätsel um Mercy zu lösen – denn auch ihr Job steht auf dem Spiel. Gemeinsam mit der unbeirrbaren Carol Blum folgt Atlee einer heißen Spur nach New Jersey. Dort sprengt sie versehentlich die Ermittlungen ihres alten Bekannten John Puller, der als Spezialermittler der Militärpolizei eine andere Sorte Verbrecher verfolgt. Doch dann ergeben sich Verbindungen zwischen ihren Fällen. Kann Puller helfen, Mercy zu finden? Die Wahrheit, die endlich ans Licht kommt, ist schockierender als alles, was Atlee sich ausgemalt hat.
»Ein fesselndes Rätselspiel« The Sunday Times
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Seitenzahl: 560
BUCH
Atlee Pine hofft, endlich ihre verschwundene Schwester finden zu können. Nachdem sie in Andersonville, Georgia, langgehütete Geheimnisse ihrer Eltern gelüftet hat, ist sie überzeugt: Die Vincenzos, eine Familie mit Verbindungen zur Mafia, waren an Mercys Entführung beteiligt. Ein Racheakt? Vom FBI bekommt Atlee eine letzte Chance, sich auf die Suche nach Mercy zu machen. Gemeinsam mit ihrer treuen Assistentin Carol Blum reist sie nach Trenton, New Jersey, und stößt bei einem Einsatz im Haus der Vincenzos überraschend auf einen alten Bekannten: John Puller. Der Spezialermittler der Militärpolizei ist dabei, ein kriminelles Netzwerk auszuhebeln. Mercys Entführung ist nicht das einzige Geheimnis der Familie Vincenzo, und bald ergeben sich Verbindungen zu Pullers Fall. Mithilfe von Johns Bruder Robert kommen die beiden den gemeinsamen Gegnern immer näher. Was sie enthüllen, ist nicht nur ein politischer Skandal, sondern auch eine persönliche Tragödie …
AUTOR
David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New York Times-Bestsellerliste. Mit über 150 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den beliebtesten Autoren weltweit. In seiner neuen Bestsellerserie um die Ermittlerin Atlee Pine sind bereits erschienen: »Abgetaucht«, »Ausgezählt«, »Eingeholt« und »Abgerechnet«.
DAVID BALDACCI
EINGEHOLT
THRILLER
Aus dem Amerikanischen
von Norbert Jakober
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Daylight bei Grand Central Publishing/Hachette Book Group Inc., New York
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Copyright © 2020 by Columbus Rose, Ltd.
Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Wolfgang Neuhaus
Covergestaltung © Nele Schütz Design
unter Verwendung von Shutterstock Richard Cavalleri /
Pavel L Photo and Video / Patryk Kosmider / Skumer
Herstellung: Mariam En Nazer
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-27363-7V002
www.heyne.de
Für Ron Kunihiro,
der das Herz eines Löwen hat und geliebt und geachtet ist bei allen, die ihn kennen.
1
Es ist so weit, ging es Pine durch den Kopf. Der Augenblick der Wahrheit.
FBI Special Agent Atlee Pine saß in ihrem Mietwagen nahe Andersonville, Georgia. Carol Blum, Pines Assistentin, saß an ihrer Seite.
Pine tippte den Namen auf der Kontaktliste ihres Smartphones an und lauschte dem Klingelton.
»Pine! Wie überaus freundlich, dass Sie mir die Ehre erweisen, mal wieder anzurufen«, meldete sich eine Stimme mit unüberhörbarem Sarkasmus.
Sie gehörte Clint Dobbs, FBI-Leitwolf im US-Bundesstaat Arizona. Er hatte Pine einen unbefristeten Urlaub genehmigt, damit sie Nachforschungen darüber anstellen konnte, was dreißig Jahre zuvor in einer dramatischen Nacht mit ihr und ihrer Zwillingsschwester Mercy geschehen war. Damals war Mercy aus dem Haus der Pines in Andersonville entführt worden und spurlos verschwunden. Die sechsjährige Atlee war nur knapp dem Tod entronnen, nachdem Mercys Entführer sie schwer verletzt hatte.
»Tut mir leid, Sir, ich hatte viel um die Ohren.«
»Jaja, das habe ich mitbekommen. Sie haben eine Mordserie aufgeklärt, weitere Morde verhindert und wären beinahe bei einem Bombenanschlag draufgegangen. Stramme Leistung. Und so ganz nebenbei haben Sie einige bemerkenswerte Informationen über Ihre Vergangenheit gesammelt. Also wirklich, das FBI müsste Ihnen eine Prämie zahlen.«
»Offenbar wurden Sie über andere Kanäle auf dem Laufenden gehalten«, bemerkte Pine trocken.
»Könnte man so sagen. Zum Glück, möchte ich hinzufügen. Sie haben ja nichts von sich hören lassen.«
»War Ihre Informationsquelle zufällig Mr. Eddie Laredo?«
Laredo war der FBI Special Agent, den das Bureau nach Georgia geschickt hatte, um Pine bei einer Ermittlung zu helfen, bei der es um die rätselhaften Andersonville-Morde ging. Pine und Laredo kannten sich von früher. Ihre gemeinsame Zeit im FBI-Büro Washington war zwar nicht ganz konfliktfrei verlaufen, doch ihr Wiedersehen hatte beiden Gelegenheit verschafft, die alten Unstimmigkeiten auszuräumen.
»Ich habe mehr als eine Informationsquelle, Agentin Pine. Was haben Sie über das Verschwinden Ihrer Schwester in Erfahrung gebracht?«
»Das ist eine lange Geschichte, Sir. Meine Mutter war noch ein Teenager, als sie in den Achtzigerjahren an einem Undercover-Einsatz teilgenommen hat. Sie hatte sich als Maulwurf in die Mafia einschleusen lassen. Dank ihrer Mithilfe konnte ein gewisser Bruno Vincenzo aus dem Verkehr gezogen werden, der aber schon nach kurzer Zeit im Gefängnis ermordet wurde. Und hier wird es interessant. Bruno hatte einen Bruder in New Jersey, Ito. Anscheinend fand Ito heraus, was sich zugetragen hatte, und gab meiner Mutter die Schuld am Tod seines Bruders. Irgendjemand muss ihm verraten haben, wo wir damals wohnten. Ito kam nach Georgia, drang in unser Haus ein, schlug mich halb tot und entführte meine Zwillingsschwester.«
»Wissen Sie, wo dieser Ito sich aufhält? Lebt er überhaupt noch?«
»In den Datenbanken lässt sich nichts darüber finden, aber er muss ja nicht in New Jersey gestorben sein. Immerhin habe ich herausgefunden, dass er mal in Trenton gelebt hat. Ich habe die Adresse. Das Haus gehört heute Teddy Vincenzo, seinem Sohn.«
»Offenbar hat dieser Teddy das Haus geerbt. Was wiederum darauf hindeutet, dass Ito tatsächlich nicht mehr lebt. Vielleicht hat er seine letzten Tage im sonnigen Florida verbracht. Dann werden Sie nicht mehr viel aus ihm herausbekommen, Pine.«
»Mag sein, aber ich kann immer noch mit seinen Angehörigen sprechen. Vielleicht wissen die etwas, das mir weiterhilft.«
»Falls sie mit Ihnen reden. Wohnt dieser Teddy in dem Haus in Trenton?«
»Nicht mehr. Soviel ich herausfinden konnte, wohnt dort Anthony, Teddys Sohn.«
»Meine Güte, schon die dritte Generation der Vincenzos? Der Enkel von diesem Ito?«
»Ja.«
»Und wo steckt Teddy?«
»Im Gefängnis.« Pine stieß einen tiefen Seufzer aus. »In Fort Dix.«
»Offenbar hat er die Familientradition weitergeführt. Wenigstens ist er in New Jersey. War das der Grund für Ihren Anruf? Wollen Sie nach Trenton?«
»Ja. Und zwar sofort.« Dobbs’ scharfer Tonfall gefiel Pine gar nicht. »Ich sehe keine andere Möglichkeit.«
»Ach, Sie sehen keine andere Möglichkeit? Könnte sein, dass wir da unterschiedliche Vorstellungen haben, Pine.«
»Ich brauche nur ein bisschen mehr Zeit. Die Andersonville-Morde haben mich aus der Spur gebracht, sonst wäre ich schon ein gutes Stück weiter mit den Nachforschungen über Mercys Schicksal.«
»Soll das heißen, Sie haben sich an Ermittlungen der Andersonville-Morde beteiligt und damit Ihren Job als FBI-Agentin ausgeübt, obwohl Sie im Urlaub waren?«
»Genau das.«
»Dann haben Sie es richtig gemacht«, sagte Dobbs zu Pines Erstaunen. »Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Wenn es nach mir ginge, könnten Sie sich jetzt so viel Zeit nehmen, wie Sie brauchen. Leider geht es nicht nach mir. Ich bin zwar der ranghöchste Agent in Arizona, aber es gibt da noch ein paar Leute über mir, wie Sie wissen. Und man hört schon leises Murren im Bureau.«
»Ich wusste gar nicht, dass ich so wichtig bin«, erwiderte Pine spöttisch. »Wer beklagt sich denn?«
»Okay, ich glaube, ich sollte Ihnen ganz offen erklären, wie hier die Lage ist. Zwei Agenten kümmern sich abwechselnd um Ihre angestammte Dienststelle in Shattered Rock, solange Sie fort sind – zusätzlich zu ihren eigenen Aufgaben. Besonders glücklich sind sie nicht darüber, weil sie im Unterschied zu Ihnen niemanden haben, der ihnen den Rücken freihält. Außerdem musste ich Carol Blum ersetzen, Ihre Assistentin, weil die Sie ja begleitet. Und noch etwas. Wir leben zwar im Zeitalter der Gleichberechtigung, aber die Tatsache, dass Ihnen als weiblichem FBI-Agent gewisse Privilegien eingeräumt werden …«
»Spielen Sie darauf an, dass ich eine Frau bin? Dass diese beiden Typen der Meinung sind, ich mache meine Arbeit nicht so, wie ich sie machen sollte?«
»Ein paar Leute sind der Meinung, dass Sie gewisse Vorrechte bekommen – was ja auch stimmt. Es gab sogar schon Klagen.«
»Klagen?«, fragte Pine verdutzt.
»Einige Leute beschweren sich, sie hätten ebenfalls Probleme, müssen aber trotzdem jeden Morgen aufstehen und ihren Job erledigen. Ganz unrecht haben sie damit nicht.«
»Aber Sie haben mir doch geraten, Mercys Verschwinden endlich aufzuklären, damit ich den Kopf wieder für die Arbeit freikriege«, protestierte Pine. »Und das kann ich nur, wenn ich verdammt noch mal endlich meine Zwillingsschwester finde!«
Carol Blum legte ihr besänftigend die Hand auf den Arm.
»Ich kann mir denken, was in Ihnen vorgeht«, sagte Dobbs, »aber Sie sollten trotzdem nicht vergessen, mit wem Sie reden, Pine.«
Pine nahm einen tiefen Atemzug. »Ich brauche nur ein bisschen mehr Zeit, Sir. Bloß ein paar Tage.«
Dobbs schwieg so lange, dass Pine sich schon fragte, ob er aufgelegt hatte.
»Trenton, New Jersey, sagen Sie?«, fragte er schließlich.
»Ja«, antwortete Pine.
»Schon komisch. In Trenton habe ich angefangen. Ich weiß gar nicht, wie viele Jahre das schon her ist. War nicht leicht damals … aber das ist es heute auch nicht.« Dobbs stockte einen Moment lang. »Also gut, ich gebe Ihnen noch ein paar Tage. Falls Sie Unterstützung brauchen, rufen Sie unsere Jungs vor Ort an und sagen Sie denen, Clint Dobbs ist einverstanden. Die werden das zwar für einen Scherz halten, aber wenn sie es von mir persönlich hören, werden sie’s schon glauben.«
Pine schaute mit großen Augen zu Carol Blum. »Ähm … das hätte ich jetzt gar nicht erwartet, Sir.«
»Ich auch nicht, Pine. Ist eine ganz spontane Entscheidung. Aber die Sache darf sich nicht endlos hinziehen, klar? Das FBI bezahlt Ihr Gehalt, damit Sie für uns arbeiten. Ich weiß, ich selbst habe Ihnen vorgeschlagen, die schrecklichen Dinge in Ihrer Vergangenheit aufzuklären, aber letztlich ist es Ihr Problem, nicht meins. Ich muss auch an meine anderen Agenten denken, nicht bloß an Sie. Und die haben ihre eigenen Probleme. Haben wir uns verstanden?«
»Ja, Sir. Alles klar. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für …«
Dobbs hatte bereits aufgelegt.
Pine steckte das Handy in die Halterung. »New Jersey, wir kommen.«
2
Zwei Tage später fuhr Pine in ihrem Mietwagen durch ein Arbeiterviertel in den Außenbezirken von Trenton. Sie dachte darüber nach, was sie zu Anthony »Tony« Vincenzo sagen würde, der gelegentlich in dem Haus wohnte, das sein Vater Teddy allem Anschein nach von seinem Vater Ito geerbt hatte – jenem Monster, das Pine für die Entführung ihrer Schwester verantwortlich machte. Wenn möglich, wollte sie sich die bürokratischen Prozeduren ersparen, die nötig wären, um Teddy Vincenzo im Gefängnis zu besuchen. Teddys Sohn Tony war die naheliegende Option – nur dass Pines momentaner Gemütszustand die Gefahr heraufbeschwor, dass sie den Kerl über den Haufen schoss, falls er sich als widerspenstig erwies.
Als Enkel von Ito Vincenzo konnte Tony möglicherweise wichtige Infos über seinen Großvater beisteuern – vielleicht sogar, wo er sich aufhielt, falls er noch lebte. Diese Informationen wiederum konnten Pine möglicherweise zu Mercy führen, und nur deshalb war sie hier. Der Weg zu Mercy war lang und verschlungen; an manchen Tagen erschien Pine das Ziel so unerreichbar wie der Mond. Doch nach dem jüngsten Durchbruch würde sie nicht einfach aufgeben. Und wenn dafür mehr als nur ein paar Tage nötig sein sollten, dann war es eben so.
Du darfst nur nicht wieder die Beherrschung verlieren, beschwor sie sich.
Bevor sie die Ermittlungen in den Andersonville-Morden aufgenommen hatte, war Pine mit einem pädophilen Mörder aneinandergeraten, der in Colorado ein kleines Mädchen entführt hatte. Leider war die Sache eskaliert. Ihr Zorn, von der Erinnerung an die Entführung ihrer eigenen Schwester angefacht, hatte sie völlig die Beherrschung verlieren lassen. Sie hatte den ausfälligen Mistkerl beinahe zu Tode geprügelt und damit gegen alle Regeln des FBI verstoßen. Daraufhin hatte Clint Dobbs sie vor die Wahl gestellt, ihre persönlichen Angelegenheiten ein für alle Mal zu klären oder sich ein anderes Betätigungsfeld zu suchen. Doch Pine brauchte keine zusätzliche Motivation, weder von Dobbs noch von sonst jemandem. Sie war bereit, nötigenfalls ihre FBI-Laufbahn hinzuschmeißen, um Mercy zu finden.
Es geht hier nicht bloß darum, den Kopf für meinen Job freizukriegen, überlegte sie. Solange ich nicht weiß, was genau mit Mercy passiert ist, werde ich mein ganzes Leben nicht auf die Reihe bekommen.
Es war ein beängstigendes Eingeständnis, hatte aber auch etwas Befreiendes.
Mit ihrer Glock und einer kompakten Beretta Nano als Zweitwaffe im Fußholster – für den Fall, dass die Situation eskalierte, was in ihrem Job nicht selten vorkam –, hielt Pine drei Häuser vor Vincenzos bescheidener, mit Bitumenziegeln gedeckter Behausung.
Die schmucklosen, anderthalbstöckigen Häuser an der Straße ähnelten einander sehr. Es war eine Wohnsiedlung, wie sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Randbezirken fast aller größeren Städte in den USA entstanden waren, nachdem die »Boys« aus dem Krieg gegen Hitler, Mussolini und Kaiser Hirohito heimgekehrt waren. Neun Monate später wurden in Siedlungen wie diesen die ersten von Millionen Babyboomern geboren, aus denen inzwischen die Großeltern der Millennials und der Generation Z geworden waren. Übrig geblieben waren diese schmucklosen, teils heruntergekommenen Häuser, in denen insbesondere die ältere Generation, aber auch viele junge Leute wohnten, die auf dem Sprung ins Leben standen.
Obwohl die Häuser eine monotone Uniformität aufwiesen, gab es doch deutliche Unterschiede. Manche Gärten waren gepflegt, die Hauswände frisch gestrichen, und in den Auffahrten standen chromblitzende Limousinen. Andere Häuser hingegen wirkten trist und verwahrlost. Die Gärten waren verwildert, und manche der am Straßenrand geparkten Autos waren rostige Wracks, mit Ziegelsteinen aufgebockt. Von den Fassaden blätterte der Putz, und an manchen Eingangstüren fehlte die Glasscheibe. Hier und da gab es nicht mal einen Briefkasten, und die Auffahrten waren von Unkraut überwuchert.
Pine sah drei heruntergekommene Häuser mit Einschusslöchern in der Fassade. Vor einem flatterte sogar noch ein Absperrband im Wind, das die Bruchbude als Tatort kennzeichnete.
Auch Anthony Vincenzos Zuhause gehörte zur Kategorie der Bruchbuden. Doch für Pine spielte es keine Rolle, wie Tonys Behausung aussah. Das Einzige, was sie interessierte, waren Tonys Erinnerungen an seinen Großvater Ito und andere, die an dem Albtraum beteiligt gewesen waren, den die Pine-Schwestern als kleine Mädchen durchgemacht hatten.
Pine stieg aus dem Wagen und betrachtete das Haus einen Moment lang. Hier also hatte Ito Vincenzo, dieses Ungeheuer, mit seiner Familie gewohnt. Pine hatte keine Ahnung, wie Ito als Vater und Ehemann gewesen war. Aber wenn er es fertiggebracht hatte, ein kleines Mädchen halb totzuschlagen und ein anderes zu verschleppen und Gott weiß was mit ihm anzustellen, konnte Pine sich diese Bestie nur schwer als liebevollen Vater vorstellen.
Itos Enkel Tony arbeitete in Fort Dix, dem Militärstützpunkt etwa zehn Kilometer südlich von Trenton. Das Gefängnis, in dem Tonys Vater Teddy einsaß, gehörte zu diesem Komplex. Vielleicht wollte der Sohn seinem Erzeuger nahe sein. In diesem Fall war es denkbar, dass Tony ihn regelmäßig besuchte; möglicherweise hatte er von Teddy dabei einiges über seinen Großvater Ito erfahren.
Pine trat auf den Bürgersteig, der an vielen Stellen vom Frost aufgeworfen und rissig war, ohne dass jemand sich die Mühe gemacht hätte, die Schäden zu beseitigen. Für einen Moment sah Pine vor dem geistigen Auge, wie Ito, jenes Monster, das Mercy entführt und sie selbst beinahe umgebracht hätte, lässig über den Bürgersteig schlenderte, eine Zigarette im Mundwinkel. Das Bild verschlug ihr schier den Atem; sie verscheuchte es hastig, wartete einen Moment, bis sie sich wieder gefangen hatte, und ging weiter.
Sie gelangte zur Haustür, spähte durch eines der Seitenfenster. Drinnen rührte sich nichts. Falls Tony in die Fußstapfen seines Vaters getreten war, schien er seine kriminellen Geschäfte nicht im Erdgeschoss zu betreiben, sondern in der Abgeschiedenheit des Kellers. Andererseits ging er in Fort Dix einer geregelten Arbeit nach; es konnte also durchaus sein, dass er ein gesetzestreuer Bürger war.
Pine klopfte an. Keine Reaktion. Sie klopfte erneut. Wieder nichts. Sie ließ den Blick schweifen, schaute zum Haus nebenan, vor dem eine alte Frau in einem Schaukelstuhl auf der Veranda saß. Ihr dünnes graues Haar, mit einer frischen Dauerwelle in Form gebracht, ließ an manchen Stellen die Kopfhaut durchschimmern; es sah aus, als würde die Sonne zwischen den Wolken hervorblinzeln. Die Frau ignorierte Pine und richtete ihre bebrillten Augen auf irgendeine Strickerei, mit der sie sich beschäftigte. Der Garten ihres Hauses wirkte sauber und gepflegt. Auf der Veranda standen Töpfe, in denen bunte Chrysanthemen wuchsen, die ein wenig Farbe in die eintönige Umgebung brachten.
»Tony ist zu Hause«, sagte die Frau unvermittelt.
Pine ging zum Ende der Veranda, die vor Vincenzos Haus verlief, legte die Hand auf das Holzgeländer und schaute zu der alten Dame hinüber. »Sie kennen ihn?«
Die Frau nickte, ohne von ihrer Strickarbeit aufzusehen. »Aber Sie nicht.«
»Ich heiße Atlee.«
»Seltsamer Name für ein Mädchen.«
»Das habe ich schon öfter gehört. Tony ist hier, sagen Sie?«
»Ich hab ihn vor einer Stunde reingehen sehen, und er ist noch nicht wieder rausgekommen.«
»Ist er allein zu Hause?«
»Weiß ich nicht. Ich habe aber sonst keinen gesehen.« Die Frau sprach leise und hielt keine Sekunde in ihrer Beschäftigung inne. Hätte man sie von weiter weg beobachtet, hätte man nicht gewusst, dass sie mit Pine sprach.
»Okay, danke.«
»Sind Sie hier, um ihn festzunehmen? Sind Sie Polizistin?«
»Ja. Aber ich bin nicht hier, um Mr. Vincenzo zu verhaften.«
»Warum wollen Sie dann zu ihm?«, fragte die Frau.
»Ich will ihm ein paar Fragen stellen.«
»Er arbeitet in Fort Dix.«
»Ja, das habe ich gehört.«
»Ich weiß zwar nicht, was Sie Tony fragen wollen, aber Ihre Fragen werden ihm bestimmt nicht passen.«
»Mag sein. Wohnt er ständig hier?«
»Nein, nur hin und wieder. Gott sei Dank. Er ist nicht besonders freundlich zu mir. Er beschimpft mich und pinkelt auf meine Blumen. Und seine Freunde sehen mir auch nicht koscher aus. Das hier war mal eine richtig nette Gegend, aber diese Zeiten sind vorbei. Heute möchte ich am liebsten weg.«
»Tja … besten Dank für Ihre Auskünfte.«
»Bedanken Sie sich nicht. Seien Sie lieber vorsichtig. Tony ist ein schlimmer Finger.«
»Danke für die Warnung.« Pine ging zurück zur Haustür und klopfte erneut.
»Anthony Vincenzo?«, rief sie.
Nichts.
Zwei, drei Sekunden verstrichen. Pine hob die Hand, um noch einmal anzuklopfen, als sich etwas tat. Jede Menge sogar.
Auf der Rückseite des Hauses erklang ein lautes Krachen. Holz splitterte, Glas klirrte. Eine Tür knallte, gefolgt von schnellen Schritten.
Es waren Geräusche, die Pine oft genug gehört hatte. Wieder einmal lief jemand vor ihr davon. Und wieder gab es vermutlich gute Gründe für den Fluchtversuch.
Und aus ebenso guten Gründen würde Pine die Flucht nicht zulassen.
Als sie über das Geländer der Veranda flankte, schaute die ältere Frau zum ersten Mal von ihren Stricknadeln auf.
»Schnappen Sie sich den kleinen Mistkerl«, rief sie, ein Lächeln auf dem faltigen Gesicht.
Pines Stiefel hämmerten über den Gehsteig. Nach fünf Schritten war sie in vollem Lauf. Wieder einmal machte es sich bezahlt, dass Pine Wert auf körperliche Fitness legte. Schließlich war sie einst Leistungssportlerin gewesen – Gewichtheberin mit Olympia-Ambitionen.
Dann sah sie ihn, ein gutes Stück entfernt. Er trug ein blaues Hemd, hellblaue Jeans und weiße Turnschuhe.
Pine beschleunigte noch einmal, konnte aber kaum Boden gutmachen. Tony Vincenzo war über zehn Jahre jünger als sie und zweifellos schneller, auch wenn Pine mit ihren langen Beinen eine gute Läuferin war. Aber dem Kerl saß die Angst im Nacken, die auch den Langsamsten schnell und den Schwächsten stark machen konnte. Vor allem konnte sie einen Feigling in einen gefährlichen, zu allem entschlossenen Gegner verwandeln, wenn er keinen Ausweg mehr sah.
Tony Vincenzo schien immer schneller zu werden. Der Mistkerl sprintete wie ein Weltmeister. Pine hätte ein Auto gebraucht, um ihn einzuholen.
Scheiße.
Sie schaute sich nach einer Abkürzung um, um Tony doch noch zu erwischen. Kurz dachte sie daran, die Waffe zu ziehen und einen Warnschuss abzugeben, um dem Kerl Angst einzujagen und ihn vielleicht ins Stolpern zu bringen. Mehr würde sie nicht brauchen.
Pine sah es erst, als es schon zu spät war – eine schattenhafte Bewegung von rechts. Dann wurde sie auch schon von den Beinen gerissen. Sie ignorierte den Schmerz, rollte sich ab, zog in einer fließenden Bewegung ihre Glock und richtete sie auf den Mann, der sie umgerannt hatte.
»FBI!«, fuhr sie ihn an. »Die Waffe runter!«
»Army CID!«, rief der Mann zurück. »Weg mit der Pistole!«
Einen langen Augenblick starrten sie einander an. Verdutzt, verwirrt, für ein paar Sekunden sprachlos.
Der Mann war gut eins neunzig groß, mit hartem Gesicht, schlank und athletisch.
In diesem Moment erkannte Pine, wen sie vor sich hatte.
Aber das war ein Ding der Unmöglichkeit!
Langsam ließ sie die Waffe sinken. »Puller?«, fragte sie fassungslos. »John Puller?«
Der Spezialagent der Militärstrafverfolgungsbehörde schob seine M11-Dienstwaffe ins Holster. Puller war genauso verblüfft wie Pine. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Pine«, sagte er. »Ich glaub’s nicht.«
»Was zum Teufel machst du hier?«, fragte sie.
Er schaute an ihr vorbei in die Richtung, in die Vincenzo verschwunden war. »Ich wollte jemanden festnehmen. Aber …« Er zuckte die Achseln. »Das hat sich jetzt erledigt.«
Tony Vincenzo war über alle Berge.
Pine wurde blass und schaute über ihre Schulter, als ihr die Wahrheit dämmerte. »Sag jetzt nicht, du bist hinter Anthony Vincenzo her.«
Puller nickte. »Doch. Ich habe lange darauf hingearbeitet, Atlee. Leider hast du mir soeben dazwischengefunkt.«
3
Das Café war 1954 eröffnet worden, wie ein Schild neben der Tür verriet. Die Einrichtung bestand aus verschlissenen roten Vinylsitzen, einem verblassten Linoleumboden und schäbigen Sitznischen. Die Durchreiche gewährte den Blick in eine Küche, in der die Töpfe und Pfannen ungefähr so alt aussahen wie das Café selbst. Dem Lokal fehlte es an Flair und Sauberkeit, und es gab nichts, um diese Mängel wettzumachen – aber vielleicht war es genau das, was für die Einheimischen eine lauschige Kneipe ausmachte. Ein paar ältere Gäste saßen beim Essen und schauten hin und wieder auf ihre Smartphones.
Pine und Puller hatten in einer Nische Platz genommen, beide mit einer Tasse Kaffee vor sich.
Neben Puller saß ein Mann in den Dreißigern, der sich Pine als CID Special Agent Ed McElroy vorgestellt hatte. Er gehörte Pullers Team im Fall Anthony Vincenzo an und war hier, um bei der Festnahme des Mannes mitzuhelfen.
»Offenbar kennt ihr zwei euch schon länger«, sagte McElroy. »Habe ich recht?«
Puller nickte und schaute zu Pine. »Willst du es ihm erzählen?«
Pine nahm einen Schluck Kaffee. »Klar. Ich war zu der Zeit erst vier Jahre beim FBI und noch an der Ostküste, und Puller stand noch am Anfang seiner Karriere. Heute leite ich eine Dienststelle in der Nähe des Grand Canyon. Wie dem auch sei, damals wurde ich einer gemeinsamen Task Force des FBI und der Army zugeteilt. Es ging um einen Geschäftsmann, gegen den das Bureau wegen des Verdachts der Bestechung hochrangiger Militärs ermittelte. Puller hatte sich mehr für die zwei Generäle interessiert, die ungeniert die Hand aufgehalten hatten. Stimmt’s, John?«
Puller nickte. »Die beiden Gentlemen kamen vors Kriegsgericht und hatten danach viel Zeit, über ihre Sünden nachzudenken – passenderweise in einem Militärgefängnis.« Er warf Pine einen Blick zu. »Nur ging die Sache leider nicht ganz so glatt über die Bühne. Ein-, zweimal wurde es ziemlich haarig.«
»Inwiefern?«, fragte McElroy
Diesmal übernahm Pine die Antwort. »Dieser Geschäftsmann hatte Verbindungen zu einer Gruppe ausländischer Söldner. Brutale Schlächter, die kein Problem damit hatten, jeden zu töten, wenn die Bezahlung stimmte. Wie oft haben die Typen versucht, uns kaltzumachen, Puller? Zweimal?«
»Dreimal. Eigentlich viermal, wenn man die Autobombe mitzählt, die wir gefunden haben, bevor sie hochging.«
»Ach herrje«, sagte McElroy. »Und was wurde aus diesem sogenannten Geschäftsmann?«
»Der macht einen längeren Urlaub in einem Bundesgefängnis«, erklärte Puller. »Vermutlich für den Rest seines Lebens.«
Pine schaute ihn an. »Tut mir leid, dass ich dir Vincenzos Festnahme vermasselt habe, John.«
Puller lachte auf. »Das war wirklich gutes Timing. Ich wollte gerade mit meinem Team das Haus umstellen, als du aufgekreuzt bist. Ed wollte die Rückseite des Hauses absichern, war aber noch nicht in Position. Deshalb konnte Tony uns durch die Hintertür entwischen.«
Pine starrte schweigend auf die Tischplatte.
»Du konntest ja nicht wissen, dass ich hinter der Schweinebacke her war«, fügte Puller beschwichtigend hinzu. »War einfach nur Pech.«
Pine blickte erst zu McElroy, dann zu Puller. »Ihr seid also hinter Vincenzo wegen der Straftaten her, die er in Fort Dix begangen hat?«
»Unter anderem.« Puller stellte die Kaffeetasse ab. »Ed und ich sind seit fast einem Monat an dem Fall dran.«
Pine schaute zu McElroy. »Wie lange sind Sie schon in der Army?«
»Fast fünfzehn Jahre, davon die letzten fünf bei der CID. Mit Chief Puller arbeite ich seit ungefähr neun Monaten zusammen.«
»Haben Sie Familie?«
»Ja, zu Hause in Detroit.«
»Kinder?«
McElroy nickte. »Leider ist meine Frau oft mit den Kids allein.« Er verzog das Gesicht. »Sie wird sich nie daran gewöhnen, dass ich manchmal länger weg bin. Tja, bei diesem Job hier bin ich zum Glück ein bisschen flexibler.«
Pine wandte sich an Puller. »Und nun war also der Zeitpunkt gekommen, um Tony hoppzunehmen. Warum gerade jetzt?«
»Weil wir endlich die Beweise haben, dass er zu einem Drogenring gehört, der von Fort Dix aus operiert. Tony arbeitet im Fuhrpark. Wie man so hört, ist er ein guter Mechaniker, aber sein Gehalt reicht offenbar nicht, um seinen Lebensstil zu finanzieren. Also hat er sich mit ein paar schweren Jungs zusammengetan.«
»Er selbst ist aber nicht bei der Army?«
»Nein. Er ist ziviler Angestellter. Aber da er seine krummen Dinger in einer militärischen Einrichtung abgezogen hat, wurde der Fall mir übertragen, obwohl Fort Dix eigentlich dem Lufttransportkommando der Air Force untersteht. Für die Operationen und die Verwaltung ist das 87. Stützpunktgeschwader verantwortlich.«
»Aber wenn die Air Force dafür zuständig ist, warum haben sie dann dich hergeschickt? Du gehörst doch zur Army«, wollte Pine wissen.
»Fort Dix ist mittlerweile eine Joint Base. Das heißt, es gibt dort auch Einrichtungen der Army und der Navy. Alle Teilstreitkräfte haben ihr eigenes Kommando. Vincenzo hat für die Army gearbeitet, darum bin ich für die Sache zuständig. Außerdem hat er ein paar Trottel von der Army für seine Machenschaften eingespannt, und auch die fallen in meine Zuständigkeit. Die Air Force hat mit der Sache nur am Rande zu tun. Es ist vor allem ein Problem der Army.«
»Junge, Junge. Und ich dachte immer, das FBI wäre der schlimmste aller bürokratischen Apparate.«
»Nirgends ist es so kompliziert wie bei der Army«, stellte Puller fest. »Und sie ist auch noch stolz drauf.«
»Hat Vincenzo auf dem Stützpunkt Drogen vertickt, die er von außen übernommen hat?«, fragte Pine.
Puller nickte. »Vieles deutet darauf hin. Und für die Schlagkraft unseres Militärs ist es natürlich gar nicht gut, wenn Soldaten drogenabhängig sind oder von Feinden der USA erpresst werden können, Dinge zu tun, die unserem Land schaden.«
»Klar.«
»Was wolltest du eigentlich von Vincenzo, Atlee? Ermittelst du auch in einer Sache, in die er verwickelt ist? Vielleicht können wir einander helfen.«
»Nein.« Sie schaute kurz zu McElroy, dann wieder auf Puller. »Es ist mehr eine persönliche Angelegenheit. Es hat mit meiner Schwester Mercy zu tun.«
»Hat Tony Vincenzo ihr etwas angetan?«, fragte Puller.
»Nein. Es geht um eine Sache, die sein Großvater auf dem Gewissen hat.«
Puller musterte sie verwirrt. »Sein Großvater?«
Es war eine lange Geschichte, doch Pine gab sie so kurz und knapp wieder, wie sie konnte – bis hin zu jener schicksalhaften Nacht, in der ihre Schwester von Ito Vincenzo entführt worden war, wie sie erst kürzlich in Georgia herausgefunden hatte. Sie wollte Puller nicht mit ihren eigenen Problemen belasten, doch sie schätzte ihn als Menschen und als Ermittler. Außerdem tat es gut, sich ein wenig von dem Schmerz und der Wut von der Seele zu reden.
»Verdammt«, kommentierte Puller, als Pine geendet hatte. »Was für eine Story.«
»Tut mir leid, was Ihre Familie durchgemacht hat, Ma’am«, sagte McElroy. »Das muss schrecklich gewesen sein.«
»Kann man wohl sagen.«
Puller wechselte das Thema. »Tatsache ist jedenfalls, dass auch Teddy Vincenzo, Tonys Vater, einiges auf dem Kerbholz hat. Teddy sitzt im Gefängnis von Fort Dix.«
»Ich weiß. Aber um den ging es mir gar nicht. Ich wollte Tony ausquetschen, um zu erfahren, wo sein Großvater Ito zu finden ist, falls er noch lebt.«
»New Jersey hat eine Online-Datenbank mit einem umfangreichen Sterberegister«, sagte Puller.
»Hab ich schon gecheckt – kein Treffer. Aber Ito könnte in einem anderen Bundesstaat gestorben sein, und nicht alle haben Online-Datenbanken.«
Puller nickte. »Aber einer der beiden, Tony oder Teddy, müsste doch eigentlich wissen, ob Ito noch unter uns weilt.«
»Das hoffe ich sehr.«
»Es muss ziemlich aufregend für deine Mutter gewesen sein, undercover gegen die Mafia zu arbeiten.«
»Aufregend?« Pine lachte bitter auf. »Das ist die Untertreibung des Jahres.«
»Und du hast keine Ahnung, wo sie sich heute aufhält?«
Pine schüttelte den Kopf. »Wenn sie noch am Leben ist, muss sie sich gut versteckt haben. Sie ist nicht mal mit den Ressourcen des FBI aufzuspüren. Ich habe wirklich alles versucht.« Sie schaute Puller an und seufzte. »Tja, John, ich habe dir Tonys Festnahme vermasselt. Kann ich irgendetwas tun, um es gutzumachen?«
»Ich glaube nicht. Wir wollten Tony dazu bringen, gegen die Drahtzieher auszusagen. Er ist nur ein kleiner Fisch. Die CID will die Bosse – und da können uns die Soldaten, die wir befragt haben, auch nicht weiterhelfen.«
»Würde es euch helfen, wenn ich das Bureau einschalte?«
Puller schüttelte den Kopf. »Danke für das Angebot, aber wir sind gut besetzt. Und Tony kommt nicht weit, verlass dich drauf. Es gibt nicht viele Möglichkeiten für ihn, sich zu verstecken.«
»Lässt du’s mich wissen, wenn ihr ihn habt?«
»Klar.« Puller blickte in die Runde. »Tja, dann machen wir jetzt weiter, würde ich sagen. Ich fürchte, auf uns wartet ein Berg Papierkram.«
Puller erhob sich, McElroy ebenso.
»Den Papierkram verdankst du mir«, sagte Pine zerknirscht.
»Hör endlich auf, Atlee. Ein Dollar für jeden Patzer, der mir unterlaufen ist, und ich wäre ein reicher Mann. Also vergiss es. Shit happens.«
Als die beiden CID-Agenten gegangen waren, schaute Pine auf ihren halb leeren Teller.
»Verdammter Mist.«
4
»Woher sollten Sie auch wissen, dass Puller ebenfalls hinter dem Kerl her war?«, meinte Carol Blum.
Pine war auf ihr Zimmer in dem Hotel zurückgekehrt, in dem sie sich zusammen mit ihrer Assistentin einquartiert hatte. Die sechzigjährige Carol Blum war seit Jahrzehnten beim FBI und hatte dabei in unterschiedlichen Funktionen und an verschiedenen Dienststellen gearbeitet. Als Mutter von sechs erwachsenen Kindern gab es kaum noch etwas, das sie überraschen oder erschüttern konnte. Sie begleitete Pine, um sie bei deren Ermittlungen zu unterstützen. Normalerweise arbeiteten die beiden Frauen in einem kleinen Büro in Shattered Rock, Arizona, einer sogenannten Resident Agency, kurz RA – eine jener vielen kleinen FBI-Zweigstellen, die nicht mit den großen Field Offices vergleichbar waren.
»Ich weiß, Carol«, antwortete Pine. »Trotzdem ist es mir peinlich. Puller ist ein netter Typ und ein guter Ermittler. Wie ich ihn kenne, hatte er die Sache bis ins Detail geplant. Nur konnte er leider nicht wissen, dass ich im entscheidenden Moment reinplatze und Tony Vincenzo die Flucht ermögliche.« Sie seufzte. »John glaubt, dass er den Kerl schnell wieder aufspüren kann, aber ich bin mir da nicht so sicher.«
»Gibt es denn keinen anderen Weg als den über Tony, um herauszufinden, wo Ito Vincenzo sich aufhalten könnte?«
»Tony war meine erste Wahl. Plan B wäre, mit Itos Sohn Teddy zu sprechen. Er sitzt im Gefängnis von Fort Dix, hier in Trenton.«
»Ein Militärgefängnis?«
»Nein. Es liegt zwar auf dem Gelände des Militärstützpunkts, wird aber von der Bundesgefängnisbehörde des Justizministeriums betrieben. Mittlere Sicherheitsstufe, obwohl dort ein paar schwere Kaliber einsitzen. Außerdem Politiker und Geschäftsleute, die krumme Dinger gedreht haben.«
»Verstehe. Übrigens, was ich schon die ganze Zeit fragen wollte: Haben Sie mal wieder von Jack Lineberry gehört?«
»Er sollte gestern aus dem Krankenhaus entlassen werden«, antwortete Pine. »Wenigstens kann er sich die beste Betreuung leisten, die man für Geld bekommt.«
»Keine Frage. Ich wollte aber eigentlich darauf hinaus …«
»Ich weiß, Carol«, fiel Pine ihr ein wenig schroff ins Wort. Ruhiger fügte sie hinzu: »Ich habe es noch immer nicht so ganz verarbeitet, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich dachte, Lineberry könnte mir helfen, meine Mutter zu finden, aber jetzt muss er erst mal wieder gesund werden.«
»Ja, natürlich.«
»Aber ich werde ihn anrufen und auf dem Laufenden halten. Vielleicht kann er ja etwas beisteuern, das mir weiterhilft.«
»Gute Idee«, meinte Blum.
Pine zog ihr Mobiltelefon hervor. »Eigentlich wollte ich einen Termin im Militärgefängnis vereinbaren, um Teddy Vincenzo zu besuchen, aber mir ist da etwas eingefallen.«
»Und was?«
»Ich überlasse es Puller, dort anzurufen. Ich nehme an, er will ebenfalls mit Teddy sprechen – über Tony. Vielleicht hat Teddy einen Verdacht, wo sein Sohn sich verstecken könnte. Außerdem liegt das Gefängnis auf dem Militärstützpunkt, also wird Puller besser mit der Bürokratie fertig als ich. Auf diese Weise kommen er und ich schneller rein.«
Blum lächelte. »Ganz schön clever.«
Pine wählte Pullers Nummer. Er meldete sich nach dem zweiten Klingeln. Nachdem sie ihm ihren Plan dargelegt hatte, erklärte er sich einverstanden – unter einer Bedingung: »Ich will dabei sein, wenn du mit Teddy redest.«
»Davon war ich ausgegangen«, sagte Pine.
»Ich werde versuchen, gleich für morgen früh um null-neunhundert ein Gespräch zu vereinbaren, okay?«
»Okay. Dann treffen wir uns dort.« Pine beendete das Gespräch und schaute zu Blum.
»Das könnte der Silberstreif am Horizont sein«, meinte Blum. »Und Teddy weiß vielleicht mehr über seinen Vater als Tony über seinen Großvater.«
»Genau das hatte ich mir auch überlegt. Fragt sich nur, wie gesprächig Teddy ist.«
»Bei Häftlingen geht es immer nach dem Motto, eine Hand wäscht die andere.«
»Ich weiß, Carol. Wir werden schon etwas finden, das wir Teddy als Karotte vor die Nase halten können.«
»Und was tun wir jetzt? Warten, bis Sie sich morgen mit ihm treffen?«
»Nein, ich habe eine bessere Idee.«
»Und welche?«
»Nach Tonys Flucht haben die Cops gecheckt, ob sich noch jemand in dem Haus aufgehalten hatte, haben die Bude aber nicht gründlich durchsucht. Das werde ich nachholen.«
»Haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?«
»Nein, aber Puller. Das sollte genügen.«
»Sind Sie sicher, dass Puller dabei mitspielt?«, fragte Blum ein wenig skeptisch.
»Warum nicht? Wir stehen auf derselben Seite.«
»Nun ja, Puller will über Tony Vincenzo an die Drahtzieher eines Drogenrings heran. Sie wollen Ito Vincenzo aufspüren und herausfinden, was mit Ihrer Schwester geschehen ist.«
»Sie meinen, das schließt sich gegenseitig aus?«
»Das nicht gerade, aber hundert Prozent kompatibel scheint es mir auch nicht zu sein.«
»Ein Versuch kann trotzdem nicht schaden.«
»Ich dachte mir schon, dass Sie das sagen.«
»Sehen Sie es denn anders?«
»Nein. Aber behalten Sie im Hinterkopf, was ich gesagt habe.«
»Das tue ich doch immer, Carol.«
5
»Sie haben ihn nicht erwischt, oder?«
Pine schaute zur Veranda des Nachbarhauses, wo die alte Frau wieder im Schaukelstuhl saß, diesmal jedoch ohne Strickzeug. Es war kühler geworden, und sie trug eine dicke Jacke. Pine sah das orange Leuchten eines rostigen Heizstrahlers, den die Frau neben den Stuhl gestellt hatte.
»Leider nicht.«
»Der Kerl ist verdammt fix. Trotzdem dachte ich, Sie könnten ihn einholen. Sie haben lange Beine.«
»Offenbar nicht lang genug. Na ja, vielleicht bekomme ich eine zweite Chance. Sind Sie eigentlich den ganzen Tag draußen? Es ist ziemlich kühl geworden.«
»Im Haus gibt es nichts zu tun. Und ich weiß halt gern, was um mich herum vor sich geht. Wenn auf der Straße Leute vorbeispazieren oder irgendwelche Penner vor der Polizei davonrennen, so was alles. Apropos, drüben sind Cops im Haus.«
»Militärpolizei, ich weiß. Ich habe ihre Autos gesehen. Haben Sie eine Ahnung, wo Tony sich verstecken könnte?«
»Das haben die mich auch schon gefragt, und ich kann Ihnen nur dasselbe sagen wie denen: Ich habe keinen blassen Schimmer. Ich rede nicht mit diesem Kerl, wenn es sich vermeiden lässt. Ich weiß, was für einer er ist, und er weiß, dass ich es weiß. Jemand, der auf Blumen pinkelt, also wirklich …«
»Hm, ja. Wissen Sie sonst noch etwas, das mir weiterhelfen könnte?«
»Ich kann Ihnen nichts sagen. Ich wohne hier, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Natürlich, Mrs. …«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Meinen Namen behalte ich für mich. Klar, Sie könnten ihn herausfinden, wenn Sie wollen, aber …«
»Ich lege Ihnen meine Karte in den Briefkasten. Falls Ihnen noch etwas einfällt und Sie es mir streng vertraulich sagen möchten …«
Die Frau blickte zur Seite, bekreuzigte sich, murmelte etwas, das wie ein Gebet klang, zog ein kleines Buch aus ihrer Jacke und begann im schwindenden Licht zu lesen. Pine sah, dass es sich um eine Bibelausgabe handelte.
Pine schaute der Frau noch einen Moment zu; dann ging sie zur Eingangstür des Vincenzo-Hauses und klopfte an.
Nachdem sie ihre Dienstmarke vorgezeigt und Pullers Namen genannt hatte, wurde sie eingelassen. Im Flur redete sie mit einem CID-Agenten namens Bill Crocker, einem jungen Mann mit ernstem Gesicht, militärisch kurzem Bürstenhaarschnitt und der schlanken Statur eines Langstreckenläufers. Pine erklärte ihm ihr Anliegen.
Crocker nickte. »Chief Puller hat uns aufgetragen, vorerst hierzubleiben, und er hatte uns darüber informiert, dass Sie kommen. Also gut, schauen Sie sich um. Allerdings haben wir schon alles durchsucht, was uns interessant erschien, und einiges mitgenommen. Aber falls Sie etwas finden, das uns entgangen ist …«
»Sind Sie der Erste, der es erfährt, ich versprech’s.«
»Okay, Ma’am.«
Pine stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf und begann mit ihrer Suche. Das Haus war der reinste Saustall. In einem der Zimmer konnte man durch ein Loch in der Wand nach draußen sehen. Die Wasserhähne waren rostig, die Waschbecken verdreckt, die Teppiche so zerschlissen, dass an manchen Stellen der Holzboden durchschimmerte. Tonys Bett war ein auf dem Boden ausgebreiteter Schlafsack. Seine Kleidung hing nicht im Schrank, sondern türmte sich auf den nackten Holzdielen zu einem wirren Haufen. Überall lagen leere Fast-Food-Kartons. An einer Wand hing ein Flachbildfernseher; darunter lag ein Xbox-Controller.
Immerhin hat der Mann klare Prioritäten.
In der Küche gab es mehr Ameisen und Kakerlaken als Töpfe und Teller. Die wenigen, die im Spülbecken lagen, waren mit eingetrockneten Essensresten bedeckt, sodass Pine sich fragte, in welchem Jahr das Geschirr zum letzten Mal benutzt worden war. Alles war dermaßen verdreckt, dass man die Bakterien förmlich auf der Haut spürte.
Zuletzt stieg sie in den Keller hinunter. Die Staubspuren verrieten ihr, dass die CID-Mitarbeiter einiges von hier unten mitgenommen hatten. Die Wände waren mit Sperrholz billigster Sorte verkleidet, das jemand in dem hässlichsten Braun gestrichen hatte, das Pine je gesehen hatte. Die Luft war so muffig, dass sie kaum zu atmen wagte.
Pine lehnte sich an die Wand und schaute sich um. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass es sich bei dem weißen Pulver auf dem Teppich um Kokain handelte, oder um Staub, den eine Tablettenpresse hinterlassen hatte. Die Staubspuren markierten wahrscheinlich die Stelle, an der das Gerät gestanden hatte. Offenbar war Tony Vincenzo hier unten, wo niemand es mitbekam, seiner illegalen Drogenproduktion nachgegangen. Normalerweise hätte Pine sich auch dafür interessiert, doch ihre derzeitige Situation war von der Normalität weit entfernt.
Umso interessanter fand sie die gerahmten Fotos an der Wand, die vermutlich Familienangehörige zeigten. Viele Bilder hingen schief – Tony hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie geradezurücken. Wahrscheinlich gönnte er ihnen ohnehin keinen Blick, wenn er hier unten Drogen fabrizierte.
Pine ging näher zur Wand und schaltete das Licht ein. Leuchtstoffröhren erwachten flackernd zum Leben und tauchten den Raum in milchiges Licht. Sie begann links oben und nahm sich ein Foto nach dem anderen vor.
Etwa in der Mitte hielt sie inne und betrachtete eine alte Aufnahme von Ito Vincenzo. Nach der Entführung von Mercy hatte er obendrein noch versucht, die Tat ihrem Vater in die Schuhe zu schieben. Seltsamerweise machte sein Gesicht einen freundlichen Eindruck auf Pine, doch sie wusste es besser. Diese Bestie war alles andere als freundlich gewesen, jedenfalls nicht zu ihr und Mercy.
Ihr Blick schweifte zu den nächsten Fotos und verharrte einen Moment lang auf dem Gesicht von Bruno Vincenzo, Itos älterem Bruder, den sie von einem anderen Foto wiedererkannte, das sie in einer alten Zeitung gesehen hatte. Auf dem Bild war zu sehen gewesen, wie der berüchtigte Mafioso ein Gerichtsgebäude verließ, wobei er sein Gesicht mit einem Taschenbuch zu verdecken versuchte.
Pine hatte herausgefunden, dass Bruno damals der Grund für Itos Erscheinen im Haus ihrer Familie gewesen war. Ito hatte sich an ihrer Mutter rächen wollen, die mitgeholfen hatte, Bruno hinter Gitter zu bringen, wo er später erstochen wurde, weil er gegen seine alten Kumpel in der Mafia ausgesagt hatte.
Das nächste Bild zeigte eine Frau. Kleidung, Frisur und das vergilbte Papier verrieten, dass es sich um eine alte Aufnahme handelte. Es sah nach einem Schnappschuss mit einer Sofortbildkamera aus. Die Frau schien im gleichen Alter wie Ito zu sein. War das seine Frau, Tony Vincenzos Großmutter? Sie wäre eine weitere mögliche Informationsquelle, falls Pine sie ausfindig machen konnte.
In diesem Moment kam ihr ein Gedanke.
Es gibt noch jemanden ganz in der Nähe, den ich befragen kann. Verdammt, warum bin ich nicht schon früher darauf gekommen?
Sie eilte die Treppe hinauf, durch die Haustür und zur Veranda des Nebengebäudes, wo die alte Frau immer noch auf dem Schaukelstuhl saß und in ihrer Bibel las.
»Wohnen Sie eigentlich schon länger hier?«, fragte Pine.
Die Frau sah auf. »Mein Mann und ich haben das Haus ein Jahr vor unserer Hochzeit gekauft. Es war günstig zu haben. Wir haben unsere Kinder hier aufgezogen.«
»Also leben Sie schon lange hier?«
»Über fünfzig Jahre.«
»Dann haben Sie doch sicher Ito Vincenzo gekannt, oder? Er hat mit seiner Familie hier gewohnt.«
»Ja, den kannte ich.«
»Was können Sie mir über ihn sagen?«
»Was wollen Sie wissen?«
»Alles, was Ihnen einfällt.«
»Warum?«
Sag es ihr. Pine gab sich einen Ruck, trat einen Schritt näher heran, lehnte sich ans Geländer der Veranda und schaute der alten Dame in die Augen.
»Ich glaube, dass Ito vor dreißig Jahren meine Zwillingsschwester entführt und mich beinahe umgebracht hat.«
Zum ersten Mal hatte Pine das Gefühl, die Aufmerksamkeit der Frau geweckt zu haben.
»Am nächsten Morgen kam Ito zurück und beschuldigte meinen Vater, der Täter zu sein, obwohl er selbst es war.«
Die Frau musterte sie einen Moment lang. »Vor dreißig Jahren? Mein Gott, da müssen Sie ja noch ein Kind gewesen sein.«
»Ich war sechs.«
»Aber warum hätte Ito so etwas tun sollen? Es sieht ihm gar nicht ähnlich. Er war ein guter, gottesfürchtiger Mann.«
»Vielleicht gab es etwas, das er noch mehr gefürchtet hat als Gottes Zorn. Er hatte einen Bruder, Bruno Vincenzo.«
Die Frau erschauderte, als sie den Namen hörte.
»Haben Sie Bruno gekannt?«, erkundigte sich Pine.
»Bruno und Ito waren wie Tag und Nacht. Ito hatte mit seinem Bruder nichts gemein, rein gar nichts. Wir alle wussten, was Bruno für einer war.«
»Ein Mafioso, wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit so einiges sagen, nur nichts Gutes. Es wurde so schlimm, dass Evie ihn nicht mehr ins Haus lassen wollte.«
»Evie? Itos Frau?«
»Ja.«
»Und Ito war damit einverstanden?«
»Er konnte seinen Bruder nicht ausstehen.«
»Das ist allerdings sehr interessant«, murmelte Pine.
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Ito so etwas getan hat. Er war ein netter Kerl und hat seine Kinder gut erzogen. Er war immer für uns da, wenn wir irgendwas gebraucht haben. Hat unseren Ofen repariert und uns geholfen, das Dach neu zu decken … so was alles. Das haben die Leute damals noch aus Nachbarschaftshilfe getan. Und heute? Heute kennt keiner mehr den anderen.«
»War Ito wirklich ein so vorbildlicher Vater?«, hakte Pine nach. »Teddy sitzt im Gefängnis, und von Tony wissen wir ja, was für einer er ist. Da fragt man sich doch, ob Ito als Vater wirklich so toll gewesen sein kann.« Pine schaute die Frau fragend an.
»Ito hatte ein Geschäft«, entgegnete sie. »Er hat oft bis in den späten Abend gearbeitet. Und Teddy … nun ja, er schlug eher nach Bruno. Da kann man nichts machen, wenn einer von Natur aus so ist. Der Junge hat von Anfang an Probleme gemacht. Je älter er wurde, desto mehr war er auf schnelles Geld aus.«
»Was wurde aus Teddys Frau? Er war doch verheiratet, oder?«
»Ja. Jane hat ihn verlassen. Das muss jetzt zehn Jahre her sein. Sie hatte schlicht und einfach die Nase voll. Ich hätte es nicht so lange ausgehalten. Die beiden haben übrigens auch hier gewohnt. Es gab ständig Streit zwischen ihnen. Die Typen, die Teddy besuchten, haben uns sogar bedroht. Manchmal hatten wir eine Heidenangst vor denen, aber Teddy ließ nicht zu, dass sie uns was tun, das muss man ihm lassen. Vielleicht, weil wir mit seinen Eltern befreundet waren. Das ist das einzig Gute, was ich über ihn sagen kann. Tja, in so einer Umgebung ist Tony aufgewachsen. Da ist es im Grunde kein Wunder, was aus ihm geworden ist.«
»Wissen Sie, wo Teddys Ex-Frau jetzt lebt?«, fragte Pine.
»Jane? Nein. Ich habe seit damals nichts mehr von ihr gehört. Ich hoffe nur, es geht ihr gut. Jane hätte es wirklich verdient.«
»Und Itos Frau, diese Evie?«, setzte Pine nach. »Die haben Sie doch sicher auch gekannt?«
»Ja. Evie war sehr nett. Wir waren gut befreundet. Und mein Mann war gern mit Ito zusammen. Dieser Kerl war als Koch ein Genie. Wir waren öfter bei ihnen zum Essen. Ich dachte immer, Italiener essen nur Pasta, aber Ito hat oft Fisch und Meeresfrüchte zubereitet, und es war jedes Mal eine Offenbarung.«
»Wissen Sie, was aus Evie geworden ist? Lebt sie noch?«
Die Frau nickte langsam. »In einem Pflegeheim namens Kensington Manor, ungefähr fünf Meilen von hier. Der Name klingt schöner, als die Einrichtung ist, aber das ist wohl überall so.«
»Wurde Evie denn nicht von ihrer Familie unterstützt?«
»Teddy und Tony sind die Einzigen, die noch hier in der Gegend leben, und von denen kann man nichts erwarten. Evie kam vor ungefähr fünf Jahren ins Heim, als sie sich nicht mehr um sich selbst kümmern konnte. Ich besuche sie hin und wieder. Schön ist es da nicht gerade, aber wahrscheinlich werde ich auch mal dort enden. Meine Kinder sind gut zu mir, aber die haben nun mal ihre eigenen Sorgen. Und die besseren Heime kosten viel zu viel – das könnten sie sich nicht leisten.«
»Sie könnten das Haus verkaufen.«
»Es gehört mir nicht mehr. Ich habe eine Umkehrhypothek abgeschlossen. Ich brauchte das Geld, um meine Rechnungen zu bezahlen. Wenn ich nicht mehr da bin, geht das Haus an die Bank.«
Pine schaute zu den anderen Häusern. »Ich kann mir vorstellen, dass es hier vielen so geht.«
»Stimmt. Weil die Regierung will, dass wir unser Geld ausgeben, um die Wirtschaft in Schwung zu halten und neue Jobs zu schaffen. Und wenn du dann alles ausgegeben hast, heißt es: Du hättest sparen sollen, damit du was fürs Alter hast. Was soll man da machen?«
»Ich fürchte, da weiß ich auch keine Lösung. Tut mir leid, dass Sie in eine solche Situation gekommen sind.«
»Immerhin weiß ich, dass ich am Schluss ein Dach überm Kopf und drei Mahlzeiten täglich haben werde. Dann sitze ich den ganzen Tag herum und sabbere vor mich hin«, fügte sie nicht ohne Bitterkeit hinzu. »So viel zum goldenen Lebensabend.«
»Vielleicht ist es dort gar nicht so schlimm.«
»Die meisten, die ich kenne, leben in solchen staatlichen Heimen. Für ihre Pflege sind sie auf die Gesundheitsfürsorge angewiesen und legen selbst noch die letzten paar Dollars drauf, die sie gespart haben. Ich besuche diese Leute manchmal. Es ist so schlimm.«
»Nun ja, wenn Sie es sagen. Was ich Sie noch fragen wollte – wissen Sie, ob Ito noch lebt?«
»Nein, keine Ahnung. Er ist eines Tages auf und davon. Ist schon lange her.«
»Wann war das? In den späten Achtzigern?«, fragte Pine, hellhörig geworden. »Damals wurde meine Schwester entführt.«
»Nein, so lange ist es noch nicht her«, lautete die überraschende Antwort der alten Dame. Sie überlegte einen Augenblick, fügte dann hinzu: »Ich glaube, es war um die Zeit von 9/11, vielleicht ein Jahr später. Genau weiß ich’s nicht mehr.«
»Und Evie? Weiß sie, was aus Ito geworden ist?«
»Keine Ahnung. Ich hab sie mal drauf angesprochen, aber sie hat sofort das Thema gewechselt.«
»Sie weiß also nicht, ob Ito überhaupt noch lebt?«
»Mir hat sie es jedenfalls nicht gesagt. Aber dass er einfach so verschwunden ist, hat ihr ein Loch ins Herz gerissen, so groß wie der Lincoln Tunnel. Ich habe es nie verstanden. Manchmal denke ich, Bruno ist aus dem Grab zurückgekommen und hat Ito umgebracht. Zuzutrauen wär’s ihm.«
Pine bedankte sich und ging zurück zu ihrem Wagen. Übers Handy rief sie Blum an und bat sie, mit dem Taxi zu dem Pflegeheim zu kommen, um sich dort mit ihr zu treffen.
»Ihre alte Nachbarin sagt, Evie kann seit fünf Jahren nicht mehr für sich selbst sorgen«, fügte Pine hinzu. »Hoffen wir, dass sie nicht ihr Gedächtnis verloren hat.«
»Einen Versuch ist es allemal wert«, meinte Blum.
Das sage ich mir auch immer, dachte Pine und stieg in ihren Wagen.
6
»Es gibt da eine Sache, die mich schon die ganze Zeit beschäftigt«, sagte Pine, als sie sich mit Blum beim Pflegeheim traf.
»Welche?«, fragte Blum.
»Wie hat Ito erfahren, dass meine Mutter als Maulwurf für eine Regierungsbehörde gearbeitet hat? Sie hat nie vor Gericht ausgesagt. Und ihre Identität wurde geheim gehalten.«
Blum nickte. »Und vergessen Sie nicht, dass irgendjemand es schon auf Sie und Ihre Familie abgesehen hatte, bevor ihr damals nach Andersonville gekommen seid – und das, obwohl Sie im Zeugenschutz waren. Wie sind diese Leute an die Informationen herangekommen?«
»Glauben Sie, diese Unbekannten könnten ihr Wissen an Ito oder Bruno weitergegeben haben? Bruno hat zu der Zeit ja noch gelebt, auch wenn er schon im Gefängnis saß.«
»Ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, dass die beiden Ereignisse miteinander zu tun haben.«
Das Heim war ein Betonblock in der nüchternen Bauweise der 1960er-Jahre. Schon beim Eintreten schlug ihnen ein muffiger Geruch entgegen. Die Wände und Möbel waren alt und abgenutzt. Pine sah ältere Leute, die sich im Rollstuhl oder mit dem Rollator über die Flure bewegten. Trotz seines fortgeschrittenen Alters machte das Gebäude einen sauberen, aufgeräumten Eindruck. Hell und einladend war es hier allerdings nicht.
Pine zeigte der Frau am Empfang ihren Dienstausweis, worauf sie an das Büro der Heimleiterin verwiesen wurden.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Frau, die Mitte dreißig sein mochte und einen weißen Arbeitskittel trug. Sie hatte noch die Reste ihres Lunchs auf dem Schreibtisch stehen. Ihr Büro war klein und ziemlich unaufgeräumt.
»Wir möchten Mrs. Vincenzo ein paar Fragen stellen, die mit einer Ermittlung zu tun haben«, begann Pine.
»Brauchen Sie dafür nicht einen Durchsuchungsbeschluss oder irgendwas?«, erwiderte die Frau, die sich nicht vorgestellt hatte und auf deren Namensschild »SALLY« stand.
»Nicht, wenn es nur um eine freiwillige Auskunft geht, Sally«, erklärte Pine. »Außerdem durchsuchen wir hier nichts. Wir wollen nur ein paar Fragen stellen. Es geht um Mrs. Vincenzos Ehemann.«
»Ich wusste gar nicht, dass sie verheiratet ist. Niemand besucht sie hier außer einer alten Nachbarin.«
»Von der wissen wir, dass Mrs. Vincenzo hier wohnt, weil sie nicht mehr für sich selbst sorgen kann.«
Sally schüttelte den Kopf. »Wenn sie allein leben, vergessen die armen Leute oft, ihre Medikamente zu nehmen, oder sie stürzen und brechen sich die Hüfte. Manche wollen noch Auto fahren oder lassen die ganze Nacht den Herd eingeschaltet. Es ist immer das Gleiche.«
»Können wir mit ihr sprechen?«
»Ich weiß nicht, ob es Ihnen viel bringen würde. Sie ist in der Memory Care untergebracht.«
»Was bedeutet das?«
»Sie hat Demenz.«
»Oh, tut mir leid. Aber wenn wir schon mal hier sind, können wir es wenigstens versuchen, finden Sie nicht auch? Es ist sehr wichtig.«
Sally überlegte kurz. »Na ja, schaden kann’s wohl nicht. Vielleicht tut es ihr sogar gut, wieder mal Besuch zu kriegen. Kommen Sie mit.«
Sie führte Pine und Blum über den Flur zu einer Doppeltür mit der Aufschrift Memory Care Unit. Dort angekommen, zog sie eine Karte durch das Lesegerät. Die Tür öffnete sich mit leisem Klicken.
Sally führte Pine und Blum zu einem Zimmer und klopfte an die Tür. »Mrs. Vincenzo?«, sagte sie laut und mit übertriebener Betonung. »Evie? Sie haben Besuch.«
Sally öffnete die Tür und trat ein.
Evie Vincenzo saß auf dem Bett und schaute den drei Frauen ausdruckslos entgegen. Sie trug einen rosa Pyjama und ein dazu passendes Kopftuch, unter dem die Spitzen roter, lockiger Haare hervorlugten. Pink war die alles beherrschende Farbe in ihrem Zimmer.
»Sie mag Rosa«, stellte Sally fest. »Es beruhigt sie.«
»Ich mag die Farbe auch«, warf Blum ein.
»Okay, dann lasse ich euch drei mal allein und schau später wieder vorbei«, sagte Sally. »Falls irgendwas ist, drücken Sie einfach auf den roten Knopf über dem Bett.«
Sie ging hinaus. Pine und Blum traten näher an die alte Dame heran. Pine setzte sich auf einen Stuhl, Blum blieb neben dem Bett stehen.
Evie Vincenzo schaute zu Pine auf. »Kennen wir uns, junge Dame?«, fragte sie freundlich.
»Nein, aber ich kenne Ihre Nachbarin. Die Frau, die gern draußen auf der Veranda sitzt und strickt.«
Evie schwieg und schloss die Augen.
»Sie wohnt in dem Haus neben Ihrem«, fügte Pine hinzu.
Stille. Langsam schlug Evie die Augen wieder auf, schwieg aber nach wie vor.
»Haben Sie gern Besuch?«, versuchte Blum es auf andere Weise. »Sie freuen sich doch sicher darüber, nicht wahr? Es ist immer nett, mit Leuten zu reden, stimmt’s?«
»Ich … wir kennen uns nicht, oder?«
Pine schaute zu Blum. »Nein, wir wollten Sie einfach mal besuchen.«
»Ich … ich habe nicht oft Besuch.«
»Ihre Nachbarin hat uns gesagt, dass Sie hier sind.«
Evie schüttelte bedauernd den Kopf. »Die arme alte Frau.«
Pine beugte sich zu ihr. »Hören Sie, Evie … ich wollte mit Ihnen über Ihren Mann sprechen.«
»Meinen Mann?«
»Ja. Ito. Erinnern Sie sich an ihn? Ihre Nachbarin sagt, er hat sehr gut gekocht.«
Evie schaute auf ihren Schoß. »Ich hab auch gut gekocht.« Sie blickte zur Wand. »Aber die haben mir den Herd weggenommen.«
Blum legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Tut mir leid. Ich kann mir vorstellen, wie das ist. Ich habe auch gern gekocht.«
Pine kam zur Sache. »Können Sie mir vielleicht ein paar Dinge über Ihren Mann erzählen, Evie?«
»Meinen Mann?« Die alte Frau runzelte die Stirn. »Ich … habe keinen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wo ich doch so gern koche …«
»Aber Sie haben einen Sohn, der Teddy heißt, nicht wahr? Und einen Enkel namens Anthony.«
Evie nahm ihr Kopftuch ab. Sie hatte einen großen Teil ihrer Haare verloren. Die hässlichen, strähnigen Büschel, die übrig waren, hatte sie rot gefärbt. Sie zerknüllte das Tuch in ihren Händen. »Ich möchte so gern Brot backen … den Teig kneten.« Sie schaute die Besucherinnen an. »Hier … sehen Sie, wie’s geht?«
Pine schaute resignierend zu Blum, beugte sich zu ihr und flüsterte: »Reden Sie mit ihr, ja?«
»Was haben Sie vor?«
»Ich schaue mich im Zimmer um.«
»Ich weiß nicht«, meinte Blum skeptisch. »Die arme Frau.«
»Mir tut sie ja auch leid, Carol, aber wenn sie hier irgendetwas aufbewahrt, das mir hilft, meine Schwester zu finden, ist es die Sache wert. Eine zweite Chance bekomme ich wahrscheinlich nicht. Ich beeile mich, versprochen. Sie wird es nicht mitkriegen.«
Blum wandte sich wieder an Evie und fragte sie, welches Brot sie denn gern backen würde. Pine durchsuchte rasch eine Schublade nach der anderen und bückte sich, um unter dem Bett nachzusehen. Falls Evie es mitbekam, ließ sie sich nichts anmerken. Sie knetete immer noch ihr Kopftuch.
Pine nahm sich den Kleiderschrank vor und sah einen Pappkarton hinter einem Kleiderhaufen, einem Stapel Zeitschriften, hauptsächlich People, und einem zusammengeklappten Rollator. In dem Karton befanden sich verschnürte Papiere.
Pine nahm den Karton aus dem Schrank. »Mrs. Vincenzo, dürfte ich da mal reinschauen?«
Die Frau war immer noch mit ihrem Kopftuch beschäftigt und erwiderte nichts. Blum schaute achselzuckend zu Pine.
»Ich glaube nicht, dass Evie Ihnen eine rechtsgültige Erlaubnis erteilen kann«, meinte sie.
»Falls ich etwas finde, würde ich es ja nicht dazu verwenden, sie ins Gefängnis zu bringen oder so etwas.«
»Aber möglicherweise ihren Sohn.«
»Bitte, Carol, lassen wir für einen Moment die juristischen Bedenken beiseite. Das hier könnte meine einzige Chance sein.«
Pine setzte sich und durchsuchte den Karton, während Evie ihr Tuch weglegte und lächelnd den pinkfarbenen Lampenschirm betrachtete. Es war, als hätte sie die beiden Besucherinnen vergessen.
Der Karton war so prall gefüllt, dass Pine einen Stapel herausnahm und ihn Blum zur Durchsicht gab. »Alte Fotos von ihren Kindern. Da ist auch eins von ihr und Ito. Scheint ein Hochzeitsfoto zu sein.«
»Manche Bilder tragen Namen auf der Rückseite«, sagte Blum. »Teddy als Teenager … und Tony als Baby. Meine Güte, er sieht so unschuldig aus. Aber das ist in dem Alter ja bei allen so.«
»Nur dass manche zu Verbrechern werden, wenn sie groß sind.«
»Tja, arbeitslos werden wir nicht so schnell«, meinte Blum.
»Schauen Sie«, stieß Pine aufgeregt hervor. »Hier ist ein Artikel über Bruno Vincenzos Verurteilung. Das ist er, da auf dem Foto.« Sie zeigte ihrer Assistentin den Zeitungsausschnitt mit Brunos Bild.
Blum zuckte unwillkürlich zusammen. »Der sieht aus, als könnte er jemanden wegen eines Kaugummis umbringen.«
Pine überflog den Artikel. »Da steht, dass er wegen Mordes an zwei Leuten verurteilt wurde. Einer hatte als Zeuge ausgesagt. Der Prozess fand in New Jersey statt, wo es damals noch die Todesstrafe gab. Bruno wurde tatsächlich zum Tode verurteilt, war aber bereit, gegen die Mafia auszusagen, deshalb wurde die Strafe auf lebenslänglich herabgesetzt.«
»Und dann wurde er im Gefängnis umgebracht?«, fragte Blum.
»Ja. Er saß in Einzelhaft, aber wahrscheinlich hat jemand einen Wärter bestochen – so ist der Killer an Bruno herangekommen.« Pine nahm eine zusammengefaltete, vergilbte Zeitung aus dem Karton. Als sie sie auseinanderfaltete, fiel ein beschriebenes Blatt heraus. Pine hob es auf und überflog es. Ihre Augen wurden immer größer.
»Was ist?«, fragte Blum neugierig und schaute ihr über die Schulter.
»Ein Brief von Bruno an Ito. Dem Datum nach muss er ihn aus dem Gefängnis geschrieben haben.«
»Was steht drin?«
»Bruno schreibt, er habe einen Spitzel enttarnt, ihn aber nicht an seine Mafiabosse ausgeliefert.«
»Warum nicht?«
»Das schreibt er nicht. Nur dass dieser Spitzel ihn verschaukelt und hinter Gitter gebracht habe. Bruno wollte, dass Ito ihn im Gefängnis besucht.«
»Vielleicht wollte er in dem Brief nicht mehr verraten, sondern es seinem Bruder persönlich sagen.«
»Ich kann mir vorstellen, was er Ito sagen wollte. Dass meine Mom der Spitzel war, der ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Leider sagt der Brief nichts darüber, wie Bruno unsere Adresse herausgefunden hat. Aber er muss sie Ito anvertraut haben.«
»Das ist dann wohl die endgültige Bestätigung, dass Ito Mercys Entführer war.«
»Ich kann mir jedenfalls keine andere Erklärung vorstellen. Aber was hat er mit Mercy gemacht?« Pine schaute zu Evie Vincenzo, die immer noch fasziniert den Lampenschirm betrachtete. »Die arme Frau wird es uns nicht sagen können.«
»Aber vielleicht ihr Sohn.«
Sie durchsuchten den Rest des Kartons, fanden aber nichts mehr, das auch nur annähernd so interessant gewesen wäre wie der Brief. Pine steckte ihn ein, dazu ein paar Fotos, die Familienangehörige zeigten. Dann stand sie auf und wandte sich der alten Frau im Bett zu. »Danke, Mrs. Vincenzo, dass Sie sich mit uns unterhalten haben.«
»Ich hätte so gern meinen Herd zurück.«
Wieder begann Evie ihr Kopftuch zu kneten.
Blum betrachtete die alte Dame einen Moment mit glänzenden Augen, ehe sie Pine nach draußen folgte.
7
Es gab kaum einen Unterschied zwischen Fort Dix und den vielen anderen Gefängnissen, die Pine gesehen hatte: Eine laute, übel riechende, chaotische und brutale Welt und zugleich ein Ort gnadenloser Strenge und Eintönigkeit – nichts als kahle Zellen und nackte Wände. Die Existenz in dieser Hölle glich einem ausgeklügelten Schachspiel zwischen Häftlingen und Wärtern. Letztere »übersahen« gelegentlich ihre Pflichten und ließen sich dafür bezahlen, Drogen, Mädchen und andere Annehmlichkeiten in den Knast zu schmuggeln, die das Leben in diesem Abgrund etwas erträglicher machten.
Das Gefängnis von Fort Dix erfüllte bestenfalls mittlere Sicherheitsstandards, doch die zivilen Bundesgefängnisse waren dermaßen überfüllt, dass hier auch Straftäter einsaßen, die eigentlich in einen Hochsicherheitstrakt gehört hätten. Vielleicht erhofften sich die Verantwortlichen, dass die Insassen schon deshalb sicherer untergebracht waren, weil sich das Gefängnis auf einem Militärstützpunkt befand. Pine hielt das für Wunschdenken.
Sie und Puller passierten gemeinsam die Sicherheitskontrolle, gaben widerwillig ihre Waffen ab und wurden zum Besucherraum geführt.
»Teddy wird nicht ohne Weiteres bereit sein, uns zu sagen, was wir wissen wollen«, meinte Pine, als sie ihre Plätze einnahmen.
»Das fürchte ich auch. Angeblich ist er ein gerissener Hurensohn. Er wird nur kooperieren, wenn er eine Gegenleistung bekommt.«
»Was kannst du mir sonst noch über ihn sagen?«
»Dass er ein Mistkerl übelster Sorte ist. Schon als junger Bursche lag er ständig mit dem Gesetz im Clinch. Anfangs waren es kleinere Delikte, aber bald auch schwerere Vergehen. Er hatte sich auf Einbruchdiebstahl spezialisiert und nahm mit seinen Komplizen hauptsächlich ältere Leute aufs Korn. Einen Mann hätten sie beinahe zu Tode geprügelt, als er unerwartet nach Hause kam. Teddy hatte einen guten Anwalt. Trotzdem wird er noch mindestens acht Jahre hier einsitzen.«