Einmal raus aus der Komfortzone und wieder zurück - Ernst Macher - E-Book

Einmal raus aus der Komfortzone und wieder zurück E-Book

Ernst Macher

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Beschreibung

Willkommen an Bord der DigITellers! Satirisch überhöht porträtieren die vorliegenden dreizehn Kurzgeschichten den Alltag eines typischen Großunternehmens der 2020er-Jahre. Verbissen kämpfen die Protagonisten der fiktiven IT-Firma "DigITellers" um jeden Zentimeter der Karriereleiter, ordnen ihren Ehrgeiz offiziell aber hehren gesellschaftlichen Werten unter. Wild entschlossen, ihre "Komfortzone zu verlassen" gehen sie tapfer die "Extrameile" und umwerben ihre Kunden mit beeindruckender "Passion". Bei soviel "Teamgeist" und "Leadership" bleibt kein Auge trocken! "Was liegt da vor uns, Steuermann?" "Ein Eisberg, Kapitän!" "Nun denn - volle Kraft voraus!"

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Zum Autor:

Ernst Macher studierte Wirtschaftswissenschaften in Wien und war mehr als zweieinhalb Jahrzehnte in internationalen Großunternehmen in den Bereichen Vertrieb & Marketing tätig. Seine beruflichen Erfahrungen und Beobachtungen sowie seine Vorliebe für die Satire sind die Grundlage für den vorliegenden Kurzgeschichtenband.

Inhalt

Eine Art Vorwort

Aumann übt sich in

A

uthentizität

Binders Leidensweg als

B

erater

Cerniks Passion für

C

ustomer

C

entricity

Danners Dilemma mit der

D

iversity

Eibls Kampf für

E

quality

Friedl macht den

F

aktencheck

Gabler wird zum

G

amechanger

Hauser einigt sich per

H

andschlag

Immels Beitrag zum

I

T-Kongress

Jäger optimiert seine

J

ahresbilanz

Klauser klebt gegen den

K

limawandel

Leitl besticht durch

L

eadership

Meisner setzt auf Multilevel

M

arketing

Ein kurzes (ernsteres) Nachwort

Die Welt der DigITellers

Eine Art Vorwort

Kurzgeschichten benötigen in der Regel kein Vorwort. Ihr Inhalt spricht für sich selbst, und der vorliegende Sammelband bildet hierzu keine Ausnahme. Satirisch überhöht porträtiert Einmal raus aus der Komfortzone und wieder zurück den Alltag in einem typischen Hightech-Unternehmen der 2020er-Jahre. Verbissen kämpfen die Protagonisten der fiktiven IT-Firma „DigITellers“ um jeden Zentimeter der Karriereleiter, ordnen ihren Ehrgeiz offiziell aber hehren gesellschaftlichen Werten unter. Willkommen im 21. Jahrhundert – einer Zeit, in welcher der Schein zunehmend das Sein zersetzt.

Die folgenden dreizehn Kurzgeschichten widmen sich der Hektik des modernen Konzernalltags und karikieren dabei typische Karrierespielchen, kurzlebige Unternehmenswerte und hohle Buzzwords. Es sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die eigentlichen (gesellschaftlichen) Werte aber niemals der Lächerlichkeit preisgegeben werden sollen. Das Gegenteil ist der Fall. Zudem wären etwaige Ähnlichkeiten der Protagonisten mit lebenden Personen rein zufällig und in keinster Weise beabsichtigt.

Bei der Lektüre müssen Sie gewiss keine „Extrameile gehen“. Sie müssen nicht Ihr „Mindset challengen“ und auch nicht „out of the box“ denken. Hören Sie einfach auf Ihren Hausverstand. Der sagt Ihnen in den meisten Fällen recht zuverlässig, was Sinn macht und was nicht.

Ihr Ernst Macher

Aumann übt sich in Authentizität

„Pinkfarbene Socken trägt er - pinkfarbene Socken, auf denen neongelbe Smileys um die Wette grinsen!“

Aumann konnte es noch immer nicht glauben. Geschäftsführer Gruber hatte diesem schleimigen Berger tatsächlich den Vorzug gegeben und ihn dazu auserkoren, die DigITellers bei der Podiumsdiskussion im Studio 99 zu vertreten. Unendlich schwer war ihm diese Entscheidung gefallen, hatte er beim letzten Strategiemeeting nochmals betont. Letztendlich hatte Bergers Mut zu mehr Authentizität aber den Ausschlag gegeben. Nun saß dieser Typ auf der Studio 99-Couch und beantwortete vor mehr als dreihundert Gästen Fragen zur Zukunft des digitalen Marketings, des Omnichannel-Commerce und der KI-Revolution.

„Widerlich ist dieser Typ“, dachte sich Aumann, als er Berger auf der Bühne sah. „Null Content, hohle Phrasen, nur diese schwachsinnigen Smileys, die jeden anspringen, ob er sie sehen will oder nicht.“

Doch nicht nur Bergers offensichtliche Inkompetenz brachte den Head of Sales auf die Palme. Noch schlimmer fand er dessen penetrante Forever Young-Attitüde, die mittlerweile die ganze Firma erfasst hatte.

Auch daran war Berger schuld. Bei der letzten Reorganisation im Februar hatte dieser zunächst darauf bestanden, seine Abteilung in ein Digital Content Hub umzubenennen. Dann hatte er sich in den Kopf gesetzt, die gesamte Belegschaft modisch zwangszubeglücken. Von einem Tag auf den anderen mussten seine Mitarbeiter in T-Shirts mit der Aufschrift „DigITellers – We Don´t Preach IT, We Live IT“ aufmarschieren, und bald war Berger nur mehr in dieser Pseudouniform anzutreffen.

„Don´t preach IT – Live IT “

Was für ein erbärmlich schlechtes Wortspiel!

Dabei lag es auf der Hand, woher Bergers modische Geschmacksverirrungen kamen. Jana - Bergers Ferialpraktikantin – war nur einen Monat zuvor zu den DigITellers gestoßen, und sehr rasch war offensichtlich, dass Berger und sie nicht nur ihre Leidenschaft zum Marketing verband. Nie zuvor hatte der Head of Marketing so viel Zeit im Büro verbracht. Aumann fiel beim heimlichen Studieren der Mitarbeiteranwesenheitszeiten rasch auf, dass Berger ungewöhnlich viele Überstunden machte und Jana zeitgleich denselben Arbeitseifer an den Tag legte. Bald lachte die ganze Firma über Bergers dämlich verklärten Blick, mit dem er der Dreiundzwanzigjährigen nachschaute. Als er diese schließlich sogar zum Head of Marketing Research ernannte, waren auch die letzten Zweifler überzeugt: Berger hatte auch nach dem Scheitern seiner dritten Ehe nichts dazugelernt. Die FH-Absolventin für Social Media Marketing hatte ihn an der Angel. Immer wieder versicherte sie ihm glaubhaft, dass er seine Jugendlichkeit nicht verstecken müsse und sie nichts so erotisch fände wie unverfälschte Authentizität. Selbstverständlich befeuerte Janas Anwesenheit Bergers modische Eskapaden zusätzlich.

„Ich mag Ihr Mindset, Berger“, hatte Gruber dennoch eines Tages vor der ganzen Führungsriege verkündet und alle aufgefordert, sich an Berger ein Beispiel zu nehmen. Die modischen Konsequenzen dieses Lobs waren dramatisch. Hatte zunächst nur eine frische modische Brise durch das Office der DigITellers geweht, gewann Aumann nun den Eindruck, dass sich das Büro zunehmend in einen Catwalk verwandelt hatte. Zwar trugen nur die wenigsten Bergers dämliches Don´t Preach IT - T-Shirt, fast alle fühlten sich nun aber bemüßigt, ihren Stil radikal zu verändern. Zwei Tage nach dem Meeting trat zunächst flächendeckend der Krawattentod ein – eine Änderung, mit der sich Aumann noch anfreunden konnte. Dann produzierte sich Berger aber immer aufdringlicher als Trendsetter. Bald hatte er alle seine grauen und blauen Anzüge ausgemistet und tauchte in immer knalligeren Sakkos, ultrakurzen Chinos und Sneakers mit Goldstreifen in den internen – und bald auch externen - Meetings auf. Die anderen Hampelmänner zogen natürlich mit. Was für ein Armutszeugnis!

Im Mai nahm Bergers modischer Amoklauf weiter Fahrt auf. Sein Faible für topmodische aber deplatziert wirkende Klamotten hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Doch beließ er es nicht dabei: Er begann nun auch, sich die Haare zu blondieren, und eines Tages tauchte er beim montägigen Strategiemeeting tatsächlich mit blauen Schlumpfsocken auf.

Don´t Smurf IT – Do IT! stand auf diesen geschrieben, und erneut lobte Gruber Bergers Commitment zum Personal Branding.

Lächerlich war das Ganze – völlig lächerlich! Trotzdem pries der Geschäftsführer der DigITellers immer wieder die Bereitschaft des Head of Marketing, mit der Zeit zu gehen, die Komfortzone zu verlassen und auch modisch out of the box zu denken. Dass Berger mit Jana etwas am Laufen hatte und sich deswegen wie ein Pubertierender aufführte, war Gruber offensichtlich völlig entgangen. Bergers Sockensammlung stieß jedenfalls auf uneingeschränkte Zustimmung in der Firma, und im Juni musste Aumann geschockt zur Kenntnis nehmen, dass dieser verliebte Dummkopf – und nicht er – die DigITellers bei der Podiumsdiskussion im Studio 99 vertreten würde. Sein modischer Amoklauf - gepaart mit seiner Infantilität - hatte sich karrieretechnisch tatsächlich bezahlt gemacht.

Als Berger die DigITellers auf der hell erleuchteten Bühne des Studio 99 vertrat, hoffte Aumann selbstverständlich lange auf den einen oder anderen Fauxpas des Head of Marketing. Bedauerlicherweise gab sich dieser aber keine Blöße. Auf die Frage, welche Skills bei der kommenden KI-Revolution besonders wichtig seien, hatte dieser souverän – ja, fast schon abgeklärt - geantwortet.

„Eindeutig das richtige Mindset, Fokus, die Bereitschaft, die Extrameile zu gehen und der Wille, sich ständig weiterzubilden.“

Das hatte gesessen. Die ganze Halle applaudierte Berger. Auch die zweite Frage „Welchen Rat würden Sie den Millennials geben, um im Social Media-Bereich groß rauszukommen?“, hatte er erstaunlich schlagfertig beantwortet.

„Neugierig und authentisch bleiben – Lasst euch von niemanden verbiegen. Folgt eurer inneren Stimme!“ Wieder hatte die die ganze Halle applaudiert.

„Du widerlicher Schleimer“, dachte sich Aumann und lächelte Berger freundlich aus der ersten Reihe zu.

Erst am Freitag zuvor hatte der Head of Marketing seinen dreißigjährigen Social Media Manager Pedro in einem Kreativitätsworkshop zur Sau gemacht. Pedro hatte bei seinen Instagram-Posts angeblich zu wenig out of the box-Mindset an den Tag gelegt. Berger hatte zudem beklagt, dass dieser sich wie ein Ewiggestriger kleide und den Spirit der DigITellers „Don´t Preach IT, Live IT“ viel zu defensiv vertrete.

Natürlich war der Wutausbruch aber einem weit profaneren Grund geschuldet gewesen. Die ganze Abteilung wusste, dass auch Pedro mittlerweile ein Auge auf Jana geworfen hatte und sich gefährlich oft in deren Nähe aufhielt. Das schmeckte Berger gar nicht. Noch weniger war dieser darüber erfreut, dass Jana von seinem Wutausbruch ganz und gar nicht beeindruckt gewesen war. Schlimmer noch: Während des restlichen Kreativitätsworkshops hatte sie Berger keines Blickes gewürdigt. Aumann hatte sich an jenem Freitag entschieden, Pedro zu mögen. Der junge Mann hatte das Herz am rechten Fleck, und Jana hätte als Account Managerin ebenfalls großes Potenzial, hatte er plötzlich befunden.

Da er sich aus Prinzip aber nicht in fremde Angelegenheiten einmischte, hatte er Bergers Wutanfall letztendlich mit einem Achselzucken quittiert. Man konnte sich schließlich nicht um alles kümmern.

Lautes Klatschen beendete Aumanns Tagträume im Studio 99. Die Podiumsdiskussion, bei der sich Berger bedauerlicherweise gut geschlagen hatte, war zu Ende, und als dieser zwei Minuten später vor ihm stand und fragte, wie er denn performt hätte, antwortete Aumann: „Es wird schon. Bei der KI-Frage hättest du vielleicht noch ‚Be bold & brave‘ unterbringen können. Ist aber nur mein subjektives Feedback.“

Berger mochte Aumanns Antwort nicht. Als dieser ihm zum Trost auf die Schulter klopfte, hörte er sogar kurz zu lächeln auf und war versucht zu sagen: „Du mich auch.“ Tat er aber nicht. Er beherrschte sich und meinte nur: „Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung.“

Nach der Podiumsdiskussion ging man getrennte Wege. Aumann schaute ein letztes Mal auf Bergers viel zu kurze Chinos und dessen dauergrinsende Socken-Smileys.

„Du mich auch“, dachte er sich und stürzte sich dann auf das opulente Mittagsbuffet. Dort begann er beim ersten freien Stehpult ein Fachgespräch mit einem Unbekannten. Es ging um den Dauerbrenner „Künstliche Intelligenz“.

„Lieber ein Unbekannter als Berger“, dachte sich Aumann.

„Ja, ja, die KI – sie birgt enorme Risiken, aber auch Chancen in sich. Wohin wird das alles nur führen?“, sagte der Unbekannte. „Wenn Sie mich nun aber entschuldigen, ich habe noch einen wichtigen Call“.

Erneut dachte sich Aumann „Sie mich auch“, nickte aber nur und verdrückte das letzte Lachsbrötchen, das er auf dem Buffettisch fand. Gesehen hatte er an diesem Nachmittag im Studio 99 ohnehin genug. Berger war bei der Podiumsdiskussion aber bedauerlicherweise nicht gestrauchelt, und so traf er an jenem Tag seufzend eine Grundsatzentscheidung: Bereits nächste Woche würde auch er sich modisch neuerfinden und fortan viel authentischer sein. Seine Tochter Lena hatte ihm schon das Wochenende zuvor hoch und heilig versprochen, mit ihm shoppen zu gehen. Diesen Samstag würde er sie beim Wort nehmen. Kleider machen bekanntlich Leute.

Gesagt, getan. Mindestens fünf Stunden verbrachten Aumann und seine fünfzehnjährige Tochter Lena am darauffolgenden Samstag in der SCS, dem größten Shoppingcenter Österreichs, südlich von Wien. Aumann übersprang beim Powershopping gleich fünf Modetrends auf einmal und notierte sorgfältig alle Modebegriffe, die er nicht kannte, auf seinem Smartphone. In allem, was er anpackte, war er ein Profi – auch in Sachen Mode.

Wirklich wohl fühlte er sich dennoch nicht, als er sich Montagmorgen ein letztes Mal im Vorzimmerspiegel betrachtete.

„Papa, du siehst aus wie ein Clown - bleib doch bei deinem alten Outfit!“, hatte Lena schon zwei Tage zuvor in der SCS gemeint. Wild entschlossen, auch stilistisch Tabula rasa zu machen, hatte Aumann aber an seiner Entscheidung für ein schwarz-weiß kariertes Sakko, rote Chinos und moosgrüne Sneakers festgehalten. Niemand sollte ihm vorwerfen, nicht auch modisch die Extrameile zu gehen. Zu Hause hatte ihm seine Frau Eva wortlos die roten Chinos gekürzt. Beim Sakko und den Sneakers hatte aber auch sie schwere Bedenken geäußert und die Augen verdreht. Trotzdem wollte Aumann an diesem Montagmorgen keine Unsicherheit ausstrahlen.

„Manchmal muss man sich dem modischen Fortschritt einfach öffnen“, sagte er zu seiner Frau und seiner Tochter. Was Berger konnte, konnte er schon lange.

Als der Head of Sales eine Stunde später das Konferenzzimmer der DigITellers betrat und den Head of Marketing erblickte, war er bereit, in den psychologischen In-Fight zu gehen.

„Nicht mit mir, mein Freund“, schwor er sich, bevor er den Anwesenden ein freundliches „Na, alles klar? Ein schönes Wochenende gehabt?“ zuwarf.

Das Strategiemeeting war wie jeden Montag um neun Uhr angesetzt. Gruber hatte einige Begrüßungsworte zum Thema Leadership vorbereitet. Im Anschluss berichtete Berger minutiös über seinen fulminanten Auftritt im Studio 99 und darüber, wie wichtig dieser für die Marktdurchdringung der DigITellers gewesen war. Die letzte Viertelstunde war schließlich dem einzig wichtigen Thema vorbehalten: Gruber hatte vom COO des größten österreichischen Mineralölkonzerns - Helmut Hartmann - eine Meetingeinladung erhalten. Dieser wollte schon am Dienstag ernsthaft über eine mögliche Zusammenarbeit sprechen. Es ging also ans Eingemachte. Hartmann eilte jedoch ein tougher Ruf voraus. Noch immer brachte er mit seinen fünfundfünfzig Lenzen seine jüngeren Kollegen bei Firmenläufen zur Verzweiflung, und Aumann blickte diesem so wichtigen Meeting mit Vorfreude und Spannung entgegen.

Das Strategiemeeting fiel an diesem Montagmorgen kurz aus. Bei Grubers Leadership-Vortrag blieben keine Fragen offen, und auch Bergers Selbstbeweihräucherung fand glücklicherweise ein rasches Ende. Aumanns neues Modebewusstsein blieb der Führungsriege der DigITellers aber nicht verborgen. An den Blicken der anderen spürte der Head of Sales, dass sein neuer Look voll eingeschlagen hatte. Unendlich authentisch fühlte er sich an diesem Montagmorgen, und auch die dreiundzwanzigjährige Jana, die ausnahmsweise ebenfalls am Meeting teilnahm, warf ihm ein anerkennendes Lächeln zu. Nur Berger ignorierte Aumanns modische Verwandlung.

„Auch Neid muss man sich erst verdienen“, dachte sich der Head of Sales.

Kurz vor zehn Uhr beendete Gruber das Meeting.

„Aumann, sind sie ready?“, fragte Gruber ein letztes Mal, als sie den Konferenzsaal verließen.

„Natürlich bin ich ready“, antwortete dieser, und in Grubers Blick vermeinte er nun ebenfalls eine Form von modischer Anerkennung zu erkennen. Das ließ er Berger auch spüren. Bewusst langsam schritt er an diesem vorbei, um ihm seine neuen, patriotisch rot-weiß-rot gestreiften Socken zu präsentieren.

Dann ging er schnellen Schrittes in sein Büro. Für das morgige Meeting gab es noch viel vorzubereiten.

Am nächsten Morgen fanden sich Gruber und Aumann überpünktlich bei der Rezeption des Mineralölkonzerns ein. Hartmanns Assistentin begrüßte beide mit einem strahlenden Lächeln und führte sie dann in ein kleines Konferenzzimmer, wo sie auf den vielbeschäftigten COO warteten. Dieser gesellte sich pünktlich auf die Minute zum Geschäftsführer und Vertriebsleiter der DigI-Tellers.

„Also was steht heute an? Predictive Maintenance mit KI im Bereich Field Management, korrekt?“

„Korrekt!“, antwortete Gruber strahlend und hielt dann eine kurze Begrüßungsrede. Eindringlich betonte er den Stellenwert der Künstlichen Intelligenz in der Mineralölindustrie und die Expertise der DigITellers in diesem so dynamischen Feld. Es folgten drei Sätze über die Wichtigkeit durchdachter End-to-End-Prozesse und über den Stellenwert einer einheitlichen IT-Plattform.

Dann übergab Gruber an seinen Head of Sales, der sich für dasselbe Outfit wie am Vortag entschieden hatte.

Wacker kämpfte Aumann in den folgenden sechzig Minuten um Hartmanns Aufmerksamkeit. Er schmeichelte ihm, wenn es ihm angemessen schien und bemühte sich redlich, ihn bei der Stange zu halten. Sämtliche Begriffe, die er kannte - Predictive Analysis, Seamless Integration, Unified Platform, Plug&Play-Technology, Machine Learning und natürlich auch Künstliche Intelligenz – brachte er in seinem Vortrag unter, und bei jeder Frage, die er nicht beantworten konnte, versicherte er Hartmann, dass er ihm alle Infos im Nachgang schicken würde. Inhaltlich lief alles wie am Schnürchen.

Irgendetwas fühlte sich dennoch nicht gut an. Hartmanns Blick klebte förmlich an Aumanns Sakko, dessen moosgrünen Sneakers, roten Chinos und rot-weiß-roten Socken.

Um Punkt zehn Uhr war dann Schluss. Aumann bedankte sich ein letztes Mal für die Aufmerksamkeit des COO, was dieser mit einem Kopfnicken quittierte. Dann bat dieser Gruber um eine kurze Unterredung unter vier Augen.

„Meine Güte, Gruber“, begann er, als sie allein im Besprechungszimmer waren. „Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Zehn oder zwölf Jahre? Ich denke, Sie wissen, dass ich Ihnen den Auftrag geben möchte. Aber was ist denn in diesen Aumann gefahren? Dass sich ihr Berger bei jeder Gelegenheit zum Affen macht, ist ja stadtbekannt. Dass ihr Vertriebsleiter nun aber auch bei diesem Papageienlook mitzieht, hätte ich nicht für möglich gehalten. Peinlich, zutiefst peinlich! Als Mann klarer Worte muss ich ihnen Folgendes mitteilen: Entweder Sie setzen diesem Affentheater ein Ende, oder wir müssen den Auftrag an jemand anderen vergeben. Ich mache mich ja lächerlich, wenn der Laden hier von Clowns und menschlichen Papageien unterlaufen wird. Das würde bei uns nie durchgehen! Manchmal habe ich den Eindruck, dass bei euch IT-Typen irgendwann um die vierzig die Sicherungen durchbrennen. Unbegreiflich! Darf ich raten: Midlife-Krise, junge hübsche Kollegin, ewiges Gelaber über verpasste Chancen und eine wilde Entschlossenheit, das Rad der Zeit zurückzudrehen, richtig?“

Gruber schwieg.

„Ach ja – Wahrscheinlich gibt es bei den DigITellers auch einen Tischkicker, einen Flipper und ein Dartboard – um die Innovationsfreudigkeit eines Start-Ups zu suggerieren, korrekt?“

Wieder schwieg Gruber.

Dann sagte er: „Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie sich für die DigITellers entscheiden. Danke für ihr offenes Feedback. Wir sind an einer langfristigen Zusammen...“

„Ist schon gut“, unterbrach ihn Hartmann. „Sonst kann sich das Portfolio von euch ja sehen lassen. Sie hören von uns!“

Unmittelbar nach der Unterredung mit dem COO bestellte Gruber Marketingleiter Berger und Vertriebsleiter Aumann in sein Büro.

„Um es kurz zu machen“, begann dieser. „Den Auftrag hätten wir bereits in der Tasche, wenn Sie – ja, ich meine Sie beide – nicht wie Papageien durch die Gegend laufen würden. Eine Schande ist das! Hartmann hat mir zu verstehen gegeben, dass er sich mit uns blamieren würde. Deshalb fordere ich Sie beide auf, endlich mit ihrem penetranten Hipster-Getue aufzuhören. Werden Sie endlich erwachsen! Nehmen Sie sich ein Beispiel an diesem Pedro. Kompetent und authentisch kommt der junge Mann rüber! Eben professionell! Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt? Und noch etwas: Bringen Sie endlich diesen bescheuerten Tischkicker, den Flipper und das Dartboard aus dem Pausenraum. Irgendwann ist mit dem Blödsinn Schluss. Wir sind ja kein Kindergarten!“

Berger und Aumann nickten. Die Unterredung war beendet. Gruber hatte sich klar genug ausgedrückt.

Großes hätte dieser nach diesem einschneidenden Erlebnis nun mit Pedro – dem Head of Social Media - vorgehabt. Gruber betrachtete die schlichte Eleganz des Dreißigjährigen, der sich als Einziger keine modischen Eskapaden geleistet hatte, nun mit besonderem Wohlwollen. Auf einem Organigramm, das er bereits fertiggestellt hatte und das er schon beim nächsten Strategiemeeting präsentieren wollte, hatte er diesen sogar schon zum neuen Head of Sales ernannt. Aumann hätte er diese organisatorische Änderung irgendwie schon verklickert und ihn zum neuen Head of Digitalization ernannt.

Doch kam es zu diesem Postenschacher nicht mehr. Pedro hatte in der Zwischenzeit einen besser dotierten Job bei einem Konkurrenten der DigITellers gefunden, und so blieb Aumann stolzer Head of Sales.

Auch Berger kam mit einem blauen Auge davon. Seine Stelle als Marketingmanager behielt er. Doch musste er sich auf Geheiß Grubers völlig neu einkleiden.

Aumann kehrte - insgeheim erleichtert - zu seinem altbewährten Modestil zurück. Das schwarz-weiß-karierte Sakko, die roten Chinos und die moosgrünen Sneakers vernichtete er nach dem Meeting mit Gruber augenblicklich. Seinem jugendlichen Spirit, seinem Charisma und seiner Zukunftsorientierung könne er zukünftig auch mit edlen Anzügen und noblem Understatement Ausdruck verleihen, argumentierte er. Auch hätte er es nicht nötig, Modetrends sklavisch zu folgen - er beeindrucke auch so durch Originalität und unvergleichliche Authentizität.

Anspieltipp:

Sensational (2016)

Robbie Williams

Binders Leidensweg als Berater

„Aumann, sofort in mein Büro – und bringen Sie diesen verdammten Binder gleich mit! Die Sache mit der Epikurbank wird Konsequenzen haben. Darauf können Sie sich verlassen!“

Gruber brüllte so laut in den Hörer, dass Aumann sein Telefon auf den Tisch legte und auf Lautsprecher schaltete. Den Lautstärkepegel reduzierte er auf zehn Prozent, noch immer hörte er Gruber aber aufgebracht durch das Büro schreien. Glücklicherweise hörte das aber niemand. Es war Freitag, und fast jeder DigITeller machte Homeoffice.

Leider war aber auch Binder nicht da. Die letzten drei Tage und Nächte hatte dieser fast rund um die Uhr im Büro verbracht und fieberhaft an der Epikur-Abschlusspräsentation gearbeitet. Am Dienstag war er sogar mit Schlafzeug und Toilettentasche im Büro aufgetaucht und hatte seine spärliche Schlafzeit im firmeneigenen Relax-Raum auf der Couch verbracht. Ein Topmann war Binder – professionell, erschreckend klug und sogar ehrlich. Irgendwann musste aber auch der beste Mann ruhen, und so hatte ihm Aumann gestern - nach der Abschlusspräsentation bei der Epikurbank - aufgetragen, endlich auch mal Quality-Time mit seiner Verlobten zu verbringen.

„Selbst der beste Mitarbeiter wird irgendwann mürbe. Ich habe noch viel mit Ihnen vor“, hatte er gemeint, ihm auf die Schulter geklopft und ihn dann nach Hause geschickt.

Diesmal befolgte Binder seinen Rat. Den Wecker hatte er an diesem Freitag auf halb neun gestellt. Er schlief sich aus. Um neun Uhr duschte er gemütlich, und als er das erste Mal auf sein Handydisplay schaute, war es bereits viertel nach neun.

Fünf Anrufe in Abwesenheit, zwei Sprachnachrichten und drei WhatsApp-Messages! Immer war es Aumann. Weitere zwei Nachrichten entdeckte er im Postfach seines E-Mail-Programms. In der Betreffzeile stand fett gedruckt: „Bitte um sofortigen Rückruf! Sofort ins Office kommen!“

„Das war´s wohl mit der heutigen Quality-Time“, seufzte Binder und gab seiner noch schlafenden Verlobten einen Kuss auf die Stirn.

„Schatz, ich muss heute doch ins Office“, schrieb er auf einen Zettel und legte diesen neben ihr Kopfkissen. Zehn Minuten später saß er bereits in seinem alten VW und überlegte angestrengt, warum ihn Aumann so aufgebracht kontaktiert hatte.

Mit einem schroffen „Sofort mitkommen, wir werden schon erwartet!“ begrüßte ihn sein Vorgesetzter, und als Binder fragte, worum es denn gehe, antwortete dieser „Das würde ich auch gerne wissen. Der Gruber ist jedenfalls auf Hundert!“

Drei Minuten später fanden sich Vertriebsleiter Aumann und Senior Software Consultant Binder bei Geschäftsführer Gruber im Büro ein. Aumann hatte unrecht gehabt: Gruber war nicht auf Hundert - er war auf Hundertzehn.

„Binder, wie alt sind Sie eigentlich?“, begann der Geschäftsführer der DigITellers.

„Zweiunddreißig war ich dieses Jahr“, antwortete dieser höflich, wobei mein Geburtstag auf den 29. Februar fällt. Das bedeutet, dass alle vier Jahre…“

„Hören Sie auf damit!“, unterbrach ihn Gruber. „Was ich sie viel eher fragen sollte: Sind diese ganzen Diplome, mit denen sie bei uns angetanzt sind, vielleicht die Zeugnisse eines weltfremden Vollidioten? Wissen Sie, wer mich heute Morgen angerufen hat?“

Aumann und Binder schüttelten den Kopf.

„Zoller hat mich angerufen. Ja, DER Zoller von der Epikurbank. Es ging um Ihre Präsentation gestern. Eine Katastrophe! Eine einzige Katastrophe! Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?!!“

„Herr Gruber, ich verstehe nicht. War eine Kennzahl nicht korrekt? Ich versichere Ihnen, dass ich alles sorgfältig nachgerechnet habe. Sämtliche Softwareprozesse habe ich analysiert, jede einzelne Schnittstelle, die Skalierbarkeit der Systeme, die Kosten für Support & Maintenance, die Ausfallssicherheit, die Performance, die…“

„Hören Sie auf, ich verstehe eh kein Wort davon. Es geht doch nicht darum!“

„Aber um was geht es dann?“, fragte Binder erstaunt.

Gruber schüttelte den Kopf, ging zu seinem Bürofenster und fuhr dann fort.

„Sie haben doch eine Verlobte, oder?“

Binder nickte.

„Gut. Dann nehmen wir mal an, dass ich Sie heute rausschmeiße und Ihre Teure ab sofort alle Rechnungen zahlen muss. Während Sie faul auf der Couch liegen und Playstation spielen, schuftet sie sich krumm und dämlich und verdrückt in ihrer Verzweiflung Unmengen an Fast Food. Eines Abends kommt sie mit einem schicken Kleid nach Hause und fragt ‚Schatz, wie sehe ich aus?‘

„Das Dumme daran: Ihre Teure hat in den letzten Wochen zehn Kilo zugenommen, weil sie vor lauter Arbeit nicht mehr ins Gym geht. Ihr Hinterteil ist jetzt so rund wie eine Wassermelone, und ihre Hüften erinnern an einen Marshmallow. Was antworten Sie, Binder? Los, was antworten Sie ihr?“

Binder überlegte.

„Also ich würde sagen, dass ihr das Kleid prinzipiell steht, aber aufträgt. Dann würde ich überlegen, welche Diät geeignet wäre entgegenzusteuern …“, begann Binder.

„Aumann, ich hab es Ihnen gesagt! Der Mann ist ein Trottel!“, unterbrach ihn Gruber. „Ich hab Sie gewarnt, aber Sie wollten ja nicht auf mich hören! Wir brauchen Praktiker! Wir brauchen Customer Centricity und keine schwachsinnigen Consultants, die glauben, dass sie einem die Welt erklären können! Wir brauchen…“

Gruber gestikulierte wild und konnte sich kaum beruhigen.

„Hören Sie, Binder! So wie jeder vernunftbegabte Mann seiner Frau verklickert, dass sie die Schönste und die Beste ist, so bestätigt jeder Consultant seinen Kunden das, was sie hören wollen - nicht das, was Sache ist! Glauben Sie tatsächlich, dass der Zoller uns einstellt, weil er unseren Rat hören möchte? Leben Sie denn auf dem Mars?“

„Aber Herr Gruber, ich dachte, es ging um eine Softwareanalyse der Bold-Software und der Veritas-Software. Ich dachte, dass die Entscheidungsgrundlage eine saubere Analyse der Alternativen ist und dann CIO Zoller die Möglichkeit hat…“

„Binder, halten Sie den Mund“, unterbrach ihn Gruber erneut.

„Zoller ist stinksauer. Wie kann man nur so blöd sein, eine Softwareempfehlung für Veritas abzugeben, wenn die Bold-Software sein Baby ist und er als alleiniger Entscheider auftritt!“

So ging es eine Viertelstunde. Als Gruber sich einigermaßen beruhigt hatte, nahm er auf seinem Stuhl Platz und erklärte Vertriebsleiter Aumann und Top Senior Software Architect & Consultant Binder:

„Sie haben das ganze Wochenende Zeit, um diese Fehlanalyse zu berichtigen. Zoller erwartet mich am Montag um elf Uhr in seinem Büro. Aumann, Sie werden mich begleiten.

Binder, ich rate Ihnen, die Zeit gut zu nützen! Ich will am Montag um acht Uhr eine vernünftige Präsentation haben, aus der hervorgeht, dass alles ein bedauernswertes Missverständnis war. Und hören Sie auf mit diesen Folienschlachten! Diesen technischen Krimskrams versteht ohnehin niemand, und den ganzen Kennzahlenkram liest kein Mensch. Geben Sie dem Zoller einfach, was er hören will.

‚Veritas – mies, Bold – top‘ soll am Schluss der Analyse stehen. Keine Romane! Dass Zoller Sie nie wieder sehen möchte, muss ich sicherlich nicht betonen. Aumann und ich werden versuchen, aus diesem Schlamassel rauszukommen. Wenn uns die Epikurbank wegbricht, ist das ganze Geschäftsjahr im Eimer!“

„Ach Binder“, sagte Aumann, nachdem sie Grubers Büro verlassen hatten. „Sie sind doch so klug, warum nur?“

Binder schwieg. Dann fing er wieder an:

„Ich verstehe nicht, wo der Fehler war. Es geht doch um die beste Lösung! War es eine falsche Kennzahl? Habe ich einen Prozess falsch analysiert? Ich gestehe, dass ich bei der ARAP3-Eigenentwicklung nicht ganz präzise war. Die Epikur-Kollegen wollten die letztjährigen Support & Maintenance-Zahlen partout nicht rausrücken. Ich habe daher auf das Datenmaterial der letzten fünf Jahre zurückgegriffen und einen Durchschnittwert kalkuliert. Ich weiß, dass dieser Ansatz etwas handgestrickt ist. Die Durchschnittswertmethode ist aber dann legitim, wenn…“

„Binder, halten Sie den Mund“, unterbrach ihn nun auch Aumann. „Sie fahren jetzt wieder nach Hause und machen sich, mir, Gruber und allen DigITellers einen Riesengefallen: Sie suchen nach den Punkten, bei denen die Bold besser ist als die Veritas. Und wenn Sie die gefunden haben, blasen Sie alles bis Ende nie auf. Haben Sie verstanden?“

„Aber Herr Aumann, ich kann Ihnen versichern, dass die Veritas-Anwendung in ALLEN Punkten überlegen ist und dass…“

Aumanns Abschied von Binder gestaltete sich an diesem Freitag kühl. Stinksauer setzte sich der Head of Sales in seinen weißen Tesla und brauste aus der DigITellers-Parkgarage.

„Warum liegen Genie und Wahnsinn oft so nahe beieinander?“, sinnierte er und schüttelte den Kopf.

Die Überarbeitung der Präsentation war nun Binders Verantwortung. Das Wochenende würde er sich wegen Binders Consulting-Amoklauf jedenfalls nicht ruinieren lassen. Was schiefgelaufen war, glaubte er aber bereits während der Heimfahrt zu wissen.