Einmal Twitter und zurück - Hopper - E-Book

Einmal Twitter und zurück E-Book

Hopper

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Beschreibung

Lustig, tieftraurig, bewegend und menschlich. Hopper schreibt kurze, liebevolle Geschichten über seine Erlebnisse, seine Ansichten, die Arbeit als Förderschullehrer und seine Beweggründe. Es ist ein besonderer Blick auf seine Welt, seine Familie, seine Schüler:innen und auf die Gesellschaft. Wie steht es um uns? Gibt es Hoffnung oder sind wir tatsächlich gespalten und verloren? Hopper geht dahin, wo es weh tut und gibt Antworten auf die kleinen und großen Fragen. Und sie werden nicht jedem gefallen.

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Hopper

Einmal Twitter und zurück

Ein Lehrerleben in Kurzgeschichten

© 2023 Hopper

Verlagslabel: @arnebanani

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort

Teil 1: Hopper und wie er die Welt sieht. Von der Kindheit bis zum Studium

Teil 2: Endlich Lehrkraft. Unendlich lernen. Eine Bestandsaufnahme.

Teil 3: Hopper privat. Gedanken, Geschichten und die grausame Wirklichkeit.

Teil 4: Hopper wird wissenschaftlich. Über Frauen, Männer, und Erkenntnisse aus aller Welt.

Teil 5: Dies, das, Ananas. Wie Deutschland funktioniert.

Bonus: Hoppers Sprüche

Abschied

Bonusgeschichte

Einmal Twitter und zurück

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„Wer eine Zukunft aufbauen will, muss die Vergangenheit kennen.“

Otto Frank (1889 - 1980)

 

Vorwort

Dieses Buch enthält hauptsächlich meine Threads und Tweets, die ich in ca. drei Jahren bei Twitter veröffentlicht habe. Abgesehen von dem Versprechen an meine Frau, dort auszusteigen, hat sich Twitter seit der Übernahme durch Elon Musk deutlich verändert. Insofern kann ich guten Gewissens gehen und mich mit den folgenden 200 Seiten von Euch, liebe Follower: innen verabschieden. Ich bin damit raus. Die Geschichten bleiben.

Da mir von Anfang an klar war, auch aufgrund zahlreicher negativer Erfahrungen anderer Mitstreiter: innen, dass Anonymität im Netz für normale Personen wie mich notwendig war und ist, traf ich mit wachsender Fangemeinde die Entscheidung, mich Hopper zu nennen. Dies hatte zur Folge, so jedenfalls die Rückmeldungen, dass viele Follower: innen immer die fiktive Figur Jim Hopper vor Augen hatten, wenn sie mich lasen. Was im Übrigen von mir nicht beabsichtigt war. Denn der Account heißt ‚What would Hopper do?‘. Und wer die Serie ‚Stranger Things‘ mit ihrem etwas grummeligen aber stets gutmütigen und ehrlichen Sheriff Hopper kennt, konnte möglicherweise beim Lesen meiner Schulgeschichten den Zusammenhang erkennen. Am Ende trifft Hopper seine Entscheidungen. Vielleicht nicht auf die Art und Weise, wie man sie im Lehrbuch findet und auch nicht immer ganz regelkonform. Aber immer im Sinne der Betroffenen und ohne etwas zu bereuen. Und genau damit kann ich mich prima identifizieren.

Meine Empfehlung lautet: Fangt auf der ersten Seite an und hört mit der letzten auf! So ergibt das Ganze am meisten Sinn.

Wir schreiben das Jahr 1992. Wir befanden uns auf dem Campingplatz ‚Le Truc Vert‘ auf der französischen Halbinsel Cap Ferret. Sehr beliebt damals bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Ein grandioser Strand, abends Lagerfeuer und Wein bei fabelhafter Stimmung. Wir steckten beide in den ersten Semestern und hatten uns drei Wochen mit dem Zelt gegönnt, mein Freund und ich. Wir kamen schnell mit anderen ins Gespräch. Wie immer eigentlich. Es gab drei Jungs aus Bonn mit Heavy-Metal-Mähne, die ziemlich auf unserer Wellenlänge waren und mit denen man die ganze Nacht quatschen und trinken konnte. Einer fragte uns, was wir so machen. Mein Kumpel studierte Wirtschaftswissenschaften. Ich sagte, ich studiere Förderschullehramt. Der Bonner antwortete: „Ist das nicht so eine Art Nahkampf-Ausbildung?“

Damals wusste ich tatsächlich nur zum Teil, was mich erwartet. Ich hatte allerdings zu Grundschulzeiten schon recht früh einen kleinen Einblick in die Praxis, da meine Mutter selbst auf einer Förderschule Hauswirtschaft und Textiles Gestalten unterrichtete und ich nachmittags manchmal beim Kochen dabei war. Dass meine Grundschule und die Förderschule bei uns im Dorf nahe Braunschweig in einem Gebäudekomplex waren, spielte eine nicht unerhebliche Rolle. Ich hatte gleich mein Mittagessen, meiner Mutter Zeit erspart und über Dinge, wie einen geldwerten Vorteil machte sich damals keiner irgendwelche Gedanken. Zudem machte es mir Spaß zu kochen. Selbst viel später, als ich nicht mehr Grundschüler war, sondern in der Stadt zur Schule ging, fragten insbesondere die Schülerinnen meine Mutter häufig, wann denn ihr Sohn mal wieder vorbeikäme. Offensichtlich machte ihnen das Kochen mit mir aus irgendwelchen Gründen auch Spaß und ich ließ mich immer mal wieder blicken.

Im Laufe der Zeit wurden die Besuche weniger, und meine Interessen änderten sich immer wieder. So war ich hin- und her gerissen zwischen all den Möglichkeiten. Meine damalige beste Freundin riet mir: „Du solltest was mit Menschen machen. Immer, wenn hier einer im Jahrgang Probleme hat, fällt dein Name. Alle fragen dich, wenn es um Beziehungen, Eltern, Freunde geht. Aus diesem Talent solltest du etwas machen!“

Irgendwie konnte ich nichts entgegnen. Nach einigen Tagen des Abwägens und Nachdenkens gab es nur eine Antwort: Lehrer werden! Gute Bezahlung, lange Ferien. Ja. Das war ein Job mit Zukunft! Ich sollte damit Recht behalten. Mehr als mir heute im Angesicht des Lehrkräftemangels lieb ist. Ich verweigerte die Bundeswehr, machte Zivildienst bei der Lebenshilfe – eine der besten Zeiten meines Lebens – und bewarb mich in drei Städten für das Studium der Sonderpädagogik. Hannover, Kiel und Oldenburg. Fachrichtungen: Verhaltensstörungen und geistige Behinderung. Heute heißen die Schwerpunkte natürlich anders: Emotionale und soziale Entwicklung und geistige Entwicklung. Klingt gleich viel positiver. Als Braunschweiger willst du nicht unbedingt nach Hannover. Welche Zusage kam zuerst? Hannover. Als ich mich eingeschrieben hatte, kam die Zusage aus Oldenburg. Also sagte ich wieder ab, fuhr mit dem Zug nach Oldenburg und traf in der Jugendherberge, in der ich ein paar Tage übernachtete, zwei Gleichgesinnte. Schon war die erste WG geboren. Als ich nach ein paar Wochen Oldenburg liebgewonnen hatte, kam die Zusage aus meiner favorisierten Stadt Kiel, Geburtsort meines Vaters und Wohnort eines Teils unserer Familie. Kiel kann mich mal, dachte ich. Es war in allen Belangen die richtige Entscheidung. Das Studium war super, Oldenburg eine fantastische Stadt und ich lernte währenddessen meine heutige Frau kennen. Wir wohnen bis heute hier, und ich habe eine neue Heimat gefunden.

Das alles wusste ich natürlich noch nicht, als wir auf dem Campingplatz in Frankreich waren. Wir genossen unsere Zeit. Eine Zeit voller Partys, Lebensfreude und Unbeschwertheit. Im ersten Teil des Buches gibt es Geschichten aus dieser Zeit, aber auch Begebenheiten aus meiner Kindheit und dem Umfeld, dass mich geprägt hat. Wir hatten noch keine Wirtschaftskrise, keine Flüchtlingskrise, keine Bankenkrise, keine Pandemie und keinen Krieg, verursacht durch einen größenwahnsinnigen Ex-KGB Agenten oder Terroristen in Nah-Ost. Das Thema Klimawandel war natürlich schon damals präsent. Umso erstaunlicher, dass in zwei Jahrzehnten, meist unter Mutti Merkel und ihrer Riege der wirtschaftsfixierten Kolleg: innen, relativ wenig unternommen wurde. Wozu eigentlich die ständigen Klimagipfel in Paris? Na ja. Wahrscheinlich gab und gibt es einfach zu viele andere Krisen, die wie Bäume im Weg stehen und die man erst beseitigen muss, um den ganzen Wald zu sehen. Überhaupt ging es uns meist sehr gut. Wozu also in so belanglose Dinge wie Bildung, Familie, den Schienenverkehr oder regenerative Energien investieren? Wer konnte denn ahnen, was passieren würde?

Die Krisen im Teil ‚Endlich Lehrkraft‘, die ich in den letzten 23 Jahren beruflich bewältigen durfte, sind ein großer Teil dieses Buches. Die Art und Weise, wie ich arbeite und Probleme angehe, wird aber erst richtig nachvollziehbar, wenn man mich ein wenig kennt. Wer mir auf Twitter, neuerdings X, länger folgte, kann vieles besser verstehen. Daher geht es im ersten Teil auch um meine Person VOR der Zeit als Lehrer. Dies alles nicht in endlos langen, biografischen Abhandlungen, sondern in einzelnen Stationen und Kurzgeschichten. Denn, wenn wir ehrlich sind, ist das Leben auch immer eine Folge von Erlebnissen und Begegnungen. Den Sinn und die Zusammenhänge darin zu finden, überlasse ich den geneigten Leser: innen. Auch ich vermag es nicht, in meinen Wegmarken und allen Dingen, die mich bewegen, das große Ganze zu sehen.

Ein dritter Teil mit Geschichten abseits der Schule bietet ganz private Beobachtungen und Gedanken mit einem breiten Spektrum amüsanter bis dramatischer oder nachdenklicher Art. Teil 4 nimmt sich der ganz großen Fragen an. Wie zum Beispiel: Sind Frauen und Männer wirklich so unterschiedlich? Warum sind wir eigentlich so dick? Oder: Wird die Kernfusion uns vor der Klimakrise retten?

Schließlich bekommen in Teil 5 populistische Politiker: innen das, was sie verdienen. Eine Bestandsaufnahme ihrer Unfähigkeit. Nicht immer klug oder tiefsinnig, dafür geradeaus und ehrlich. Als kleinen Bonus habe ich noch einen Teil angehängt. Es sind die Sprüche und kurzen Kommentare zum aktuellen und zwangsläufig auch nicht mehr immer ganz aktuellen Geschehen, die den größten Leser: innen-Zuspruch hatten. Oder die auf die größte Ablehnung trafen. Je nach politischer und persönlicher Ausrichtung.

Teil 1

Hopper und wie er die Welt sieht. Von der Kindheit bis zum Studium

Eine kleine Fotostory zum Einstieg. Meine Mama hat mich lieb. Bis heute. Auch, wenn es nicht immer einfach ist und war. Ihr kennt das. Mütter eben. Ich hatte nie das Gefühl, dass es mir an etwas mangelte oder dass ich zu wenig Raum zur freien Entfaltung gehabt hätte. Ganz im Gegenteil. Meine Eltern haben eigentlich immer alles getan, um mir und meinem Bruder vielfältige Erfahrungen zu ermöglichen. Dafür haben sie auf große Karrieren verzichtet und sich auf das konzentriert, was bei uns in der Familie immer wichtiger war: Sich gegenseitig zu unterstützen und füreinander da zu sein.

Mein großer Bruder war nach meiner Geburt oft Zweiter auf dem Schoß. Der Blick sagt alles. Wie so oft bei Geschwistern sind wir sehr unterschiedlich, und doch teilen wir Einiges. Die Interessen könnten unterschiedlicher nicht sein, der moralische Kompass dagegen nicht. Mathematische und abstrakte Themen sind halt nicht mein Thema. Dafür konnte ich als Kind mit Breakdance- und Schauspieleinlagen glänzen. Merke: Eine furzende Achselhöhle findet schneller begeisterte Zuschauer als ein Vortrag über die Milchstraße und die Relativitätstheorie. Trotzdem hatten wir früh eine tiefe Verbindung zueinander.

Mein Papa hatte Glück als Nerd, so einen heißen Feger wie meine Mutter abzubekommen. Aber er hatte einfach nicht lockergelassen. Meine Mutter hat immer erzählt: „Ich war als junge Dame wie ein Schmetterling. Und viele Männer waren interessiert. Aber einmal hat mich einer im Stich gelassen, da war euer Vater zur Stelle. Und diese Verlässlichkeit fand ich viel wichtiger als das Gehabe der anderen Angeber!“

Mein Vater hatte in seinem Leben nur einen Arbeitgeber: Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, kurz DLR. Früher auch Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt. Jeden Morgen stand er früh auf, radelte 17 km mit dem Fahrrad zur Arbeit und kam spät nachmittags oder abends zurück. Manchmal war er auch länger auf Dienstreise. Zum Beispiel in den USA und half mit, bei Raumfahrtprojekten Teile zu entwickeln. Sein Spezialgebiet war die Thermomechanik. Er gab mir auch mal kurzfristig Nachhilfe in Mathematik. Ich verstand leider noch weniger als in der Schule. Dann

übernahm mein Bruder, der mit fünf Jahren schon Quadratwurzeln ziehen konnte und eine Engelsgeduld mit mir hatte. Mit drei Jahren guckte er sich einmal den ganzen Küchenkalender durch und machte meine Eltern darauf aufmerksam, dass der Kalender fehlerhaft sei. Nur: Es gab keinen Fehler. Er wurde immer wütender und bestand darauf, dass beim Februar ein Tag zu viel eingetragen sei. Meine Eltern erklärten ihm daraufhin, was ein Schaltjahr ist. Damit war er zufrieden. So einer ist mein Bruder. Heute ist er Doktor der Biotechnologie und hat vor vielen Jahren bei einem großen Konzern gekündigt, um Lehrer zu werden.

Ich hatte nie solche Interessen. Lieber spielte ich draußen, war ständig in Bewegung oder schlief im Körbchen Seite an Seite bei der Boxer-Hündin Bessie meiner Oma. Wir waren unzertrennlich, hatte sie mich doch seit meiner Geburt irgendwie adoptiert.

Auch die Pferde meiner Tante waren nicht vor mir sicher. Tiere mögen mich. Und ich sie.

Ich sollte übrigens ein Mädchen namens Svantje werden. Aber auch als Junge war ich natürlich willkommen. Im Kindergarten war ich in der roten Gruppe und meinen ersten Kuss bekam ich von Doreen. Einmal setzte sich Doreen auf meinen Schoß, und ich hatte mir erst kurz vorher in die Hose gepinkelt. Sie schreckte auf und schrie: „Ihhhhh! Der hat sich in die Hose gemacht!“ Gott, war das peinlich. Danach mochte ich Doreen nicht mehr so gerne.

Als mein Bruder ca. 12 Jahre alt war, sagte er mir, an meinem 25. Geburtstag würde es eine totale Sonnenfinsternis geben. Er sollte wie immer Recht behalten. Ich habe bis heute keinen Plan, woher er das wusste. Als das Event 1999 stattfand, rief ich ihn an und sagte ihm: „Hey du hattest also Recht mit der Sonnenfinsternis.“ Er wusste gar nicht, was ich meinte und hatte die Konversation, als wir Kinder waren, längst vergessen, freute sich aber, dass ich daran gedacht hatte.

Eines Tages kamen wir auf die Idee, im Garten Matsch-Kugeln aus Erde und Wasser zu produzieren und jedem Nachbarn aller drei Reihen mit Reihenhäusern unser Produkt mittels Ablage auf der Fußmatte vor der jeweiligen Haustür zu präsentieren. Mit einem gewissen Stolz, aber natürlich, ohne zu klingeln. Irgendwer musste meinen Eltern jedoch einen entsprechenden Hinweis gegeben haben. Resultat war, dass wir nach Reinigung der Fußmatten zu Hause bleiben mussten, während unsere Eltern einen ‚ganz tollen Ausflug‘ machten. Jahre später erzählten sie dann, dass sie nur einen langen Spaziergang gemacht hatten, um uns mal auf den Pott zu setzen, aber ohne ihre Aufsichtspflichten grob zu vernachlässigen.

Hier bin ich bei meiner Lieblingslektüre. Bis heute bin ich Comic-Fan geblieben. Ob die Lustigen Taschenbücher, MAD, Clever und Smart, Asterix oder Tim und Struppi, so bin ich zum Lesen gekommen.

Ich entwickelte mich zu einem 1,90 m großen Sportfreak, der Schlagzeug und Gitarre spielte, in einer Band sang und mit den allermeisten Leuten gut klarkam. Am Ende der Schulzeit wurde ich im Abi-Jahrbuch zum Ersten in den Kategorien lockerster und nettester Schüler gewählt. Wahrscheinlich spielte hier eine nicht unwesentliche Rolle, dass ich es fast immer schaffte, auch die größten Streber davon zu überzeugen, dass die ganze Klasse statt Mathe und Religion am Samstag in der Schule mehr davon hätte, in die Stadt zu gehen und das Leben zu genießen. Wenn alle fehlten, rief der Lehrer auch keine Eltern an und es gab keine Fehltage. Das hielt er auch sehr zielstrebig durch. Ab und an trafen wir ihn in der City. Offensichtlich war er vom Konzept Samstagsunterricht auch nicht hundertprozentig überzeugt.

Wie war ich der geworden, der ich bin? Wer oder was hatte mich beeinflusst? Spulen wir ein wenig zurück zu den Erlebnissen, die ich heute noch erinnere und die mich daher wahrscheinlich am nachhaltigsten beeindruckten. Natürlich alles ohne Garantie auf Vollständigkeit…

Der Hund im Pool

1979, Urlaub in Spanien. Ich war fünf, mein Bruder acht und meine Eltern sind mit uns an einem Tag und einer Nacht ohne große Pausen bis tief in den Süden gefahren. In unserer Ente (ein Citroën 2CV, für alle Jüngeren Leser: innen), vollgepackt bis unters Dach. Wir wohnten auf einem Hügel in der Nähe des Strandes und mussten in Serpentinen runter und hoch laufen, was sehr anstrengend war. Aber das Meer und das Wetter… das war schon klasse. Neben uns in einer riesigen Villa wohnte eine einsame Gräfin, die ein halbes Dutzend Sprachen beherrschte. Eine echte Gräfin, wie meine Mutter betonte. Mondän gekleidet mit Hut und Schmuck und ein wenig unfreundlich zu uns ‚Deutschen‘. Das sollte sich schon bald ändern. Eines Morgens schrie die Gräfin um Hilfe. Ganz laut. Mein Vater guckte sich vorsichtig um, und er betrat mit uns im Schlepptau das Grundstück. Um den Pool der Gräfin hatten sich bereits einige Spanier versammelt und wirkten etwas ratlos, während die Gräfin wild gestikulierte und fluchte, so schien es. Als wir näherkamen, sahen wir das Problem. Ein großer Schäferhund-Mix, offensichtlich ein Straßenhund, war im Pool und kämpfte um sein Leben. Er musste auf seinen Streifzügen hineingefallen sein und versuchte nun verzweifelt, mit den Pfoten am Rand des Pools Halt zu finden, wo er jedoch immer wieder an den glatten Fliesen abrutschte. Dann strampelte er in eine andere Richtung und versuchte sein Glück an anderer Stelle. Sinnlos. Überall glatte, nasse Kanten und kein Einstieg. Nur eine senkrechte Metalltreppe irgendwo am Ende des riesigen Pools. Die umstehenden Spanier beobachteten das Szenario abwartend, was für uns sehr befremdlich wirkte. Meine Eltern erklärten uns später, dass alle Angst hatten vor dem großen Straßenhund und diese oft nicht sehr beliebt waren bei den meisten Spaniern. Und während alle rumstanden und diskutierten, sprang mein Vater in Klamotten kurzerhand in den Pool. Mein Vater, der gerade erst mit uns einen Toast gegessen hatte. Mein Vater, der Ingenieur von der DLR, der Wissenschaftler, der gerne Ringelnatz und Goethe zitiert, der nicht gerade sportlich ist, der bis heute keinen Fußball schießen kann und so gar nicht in das Schema des taffen Helden passt. Unter dem Jubel der kleinen Menge schwamm er langsam zu dem erschöpften aber immer noch bellenden Tier, beruhigte es durch Zureden, griff unter den Körper und hievte den Hund mit all seiner Kraft aus dem Becken. Als mein Vater sich selbst aus dem Pool stemmte, pinkelte der zitternde Vierbeiner ihn an, rannte dann weg, guckte noch kurz um die Häuserecke zurück zu uns und bellte dreimal laut. So die Legende.

Meine Eltern meinten, der Hund hätte sich bei meinem Vater bedankt, was sich für uns natürlich völlig logisch anhörte. Der Rest des Urlaubs war dann nicht so spannend, aber mein Vater, der ‚Deutsche‘ mit der Brille war der Held der Nachbarschaft, und die Gräfin war auffallend zuvorkommend und ließ keine Gelegenheit für ein kleines Palaver aus oder um uns was Süßes zuzustecken. Mein Bruder und ich betrachteten fortan meinen Vater mit anderen Augen. In jedem von uns kann ein Held stecken. Dafür braucht es nicht viel. Man muss nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und ohne zu zögern das Richtige tun. Ein Lied vorsingen, eine Schleife binden, eine Windel wechseln oder einem Hund aus einem Pool helfen.

Vorurteile

Meine Mama ist 1938 geboren. Ihr Vater, den ich nie kennenlernte, war Major der Luftwaffe. Nachdem er nicht zurückkehrte von einem Einsatz mit seiner Stuka - die Umgangsbezeichnung für den von der Junkers AG ab 1937 produzierten Sturzkampfflieger Ju 87, mit dem man sehr präzise Bomben abwerfen konnte - war meine Oma allein mit drei Kindern. Meine Mutter war die Älteste und bekam für alle anderen Prügel. Oft mit einer Peitsche. Ich konnte mir das später nie vorstellen, weil meine Oma so eine nette Frau für uns war. Meine Mutter sang für ihr Leben gerne. Ein Musiklehrer sah in ihr ein großes Talent und wollte, dass sie Gesangsunterricht nahm. Meine Oma sagte: „Nein! Die bleibt im Haus!“ Eines Tages klingelte der Lehrer sogar an der Tür und bat darum ganz höflich. Meine Oma hatte gerade ein paar Freundinnen zum Bridge-Spiel eingeladen. Meine Mutter bettelte, der Lehrer schwärmte von ihrer Stimme. Die Freundinnen sagten: „Dann lass sie doch!“ Meine Oma blieb stur. Es blieb beim ‚Nein‘, und sie ließ den Lehrer vor der Tür stehen. Meine Mutter erzählt noch heute diese Geschichte in allen Einzelheiten. Geprägt durch diese Art der Erziehung wuchs sie mit entsprechenden Ansichten auf und fügte sich immer wieder. Der Respekt vor der eigenen Mutter war groß bis diese an Krebs starb. Auch die Einstellung gegenüber Fremden war der der Mutter ähnlich. Oft sagte meine Mutter vor dem Hintergrund zunehmender Einwanderung: „Was wollen die alle hier?“ Gleichzeitig jedoch setzte sie sich als Lehrerin für ihre türkisch-stämmigen Schülerinnen ein, die damals mit 13, 14 Jahren auf einmal nicht mehr zur Schule kamen und zur Heirat in die Türkei sollten. Als im Zuge der Flüchtlingswelle 2015/16 zahlreiche Syrier: innen kamen, sagte meine Mutter: „Wir können doch nicht allen helfen. Die sollen bloß da bleiben, wo sie sind.“

Bei uns im Dorf wurde eine Flüchtlingsunterkunft errichtet. Auf einem Spaziergang sah meine Mutter, dass Ehrenamtliche gesucht wurden, um irgendwas mit den Flüchtlingen zu machen. Meine Mutter war in Rente. Als gelernte Hauswirtschafterin und Lehrerin konnte und kann sie wahnsinnig gut kochen, nähen und sticken. So bot sie verschiedene Kurse für Flüchtlingsfrauen an. Es dauerte nicht lange, da wurde die Nachfrage immer größer. Es sprach sich schnell herum, dass da eine alte herzliche Frau ist, die viel Wissen zu vermitteln hatte. Irgendwann fanden die Kurse dann bei uns zu Hause statt mit anschließendem Kuchen und Tee. Natürlich kamen auch die Kinder mit und dann auch vereinzelt die Männer. Bis meine Eltern mit über 80 auszogen, weil sie eine sehr schöne Wohnung in einem Seniorenzentrum mieten konnten, entstanden zahlreiche neue Bekanntschaften und meine Mutter blühte komplett auf. Beim Umzug halfen uns einige Syrier: innen und andere Flüchtlinge. Dank ihnen hatten mein Bruder und ich nicht mehr allzu viel zu schleppen. Es war eine absolute Freude, diesen Tag mit so vielen netten und bescheidenen Leuten zu verbringen. Als der Sprinter voll geräumt war, gab es für alle heiße Würstchen und Kartoffelsalat. Natürlich von meiner Mama selbst gemacht. Immer wieder zeigte sie mir ihre kleinen Fotoalben mit den Frauen der Flüchtlingsfamilien und erzählte von jedem einzelnen Schicksal mit allen Details. Meine Mutter hat sich mit über 70 nochmal verändert. Es gibt viele Menschen wie sie, die es nicht anders gelernt haben und manchmal nur den richtigen Anstoß brauchen. Menschen mit Ängsten und Sorgen. Mit Vorurteilen und eigenen Eltern, die vielleicht nicht immer ein gutes Vorbild waren. Diese Menschen kann man noch erreichen. Andere möglicherweise nicht mehr.

Meine Mutter hat mir gezeigt, dass es nie zu spät ist, Ansichten zu überdenken und neue Einsichten zu gewinnen. Das hat nichts mit dem Alter oder der Herkunft zu tun. Sondern nur mit etwas Mut. Mut, sich auf Neues oder Fremdes einzulassen und keine Angst haben zu wollen. Oder sich machen zu lassen.

Auf der Grundschule

Wie sich Lehrkräfte der Lächerlichkeit preisgeben können, verinnerlichte ich seit der zweiten Klasse und bin daher sehr vorsichtig geworden, Schüler: innen zu widersprechen, wenn ich mir nicht 100%ig sicher bin, es besser zu wissen.

Die Geschichte geht so: Ich ging auf dem Dorf zur Grundschule. Jeder kannte jeden und andersrum. Was die Klassenlehrerin Frau Kraft sagte, sie war die Frau vom Probst und Domprediger Kraft in Braunschweig (Seine Einlassungen hießen in der Braunschweiger Zeitung ‚Kraft-Worte‘, kein Scherz), war Gesetz. Wir hätten ihr alles geglaubt. Und die Existenz Gottes stand außer Frage. Eines Tages bekamen wir Nils aus Süddeutschland neu in die Klasse. Nils Mutter hatte sich von ihrem Mann getrennt und wollte wahrscheinlich weit weg von ihrem Ex-Mann neu anfangen. Auf Drängen meiner Mutter lud ich Nils schon ein paar Tage später auf meinen Geburtstag ein, was diesen sehr freute. Er war zwar etwas anders als wir - es gab bei ihm kein TV und daher war selbst eine Folge ‚Neues aus Uhlenbusch‘ zu aufregend für ihn -, aber ebenso wie ich liebte er Yps-Hefte und bastelte gerne mit allerlei Dingen herum. Dieser Nils träumte also während des Unterrichts so vor sich hin, als Frau Kraft nebenbei bemerkte, dass Dinge, die schwer seien, natürlich auch schneller zu Boden fielen, als Dinge, die leicht seien und redete weiter drauf los. Nils brauchte einen kurzen Moment und wirkte ganz aufgeregt. Dann meldete er sich: „Frau Kraft! Das stimmt nicht. Die Gravitation wirkt sich auf alle Gegenstände gleich aus. Das hat mit dem Gewicht nichts zu tun!“ Frau Kraft lächelte eine Spur zu arrogant. Die ganze Klasse war still und schaute wie gebannt auf den Neuen, der es wagte, der Königin zu widersprechen. Diese bemerkte: „Nein. Das ist doch Quatsch, Nils. Wenn ich eine Feder fallen lasse, kommt diese natürlich viel später am Boden an als ein Gewicht aus Metall!“ Diese Erklärung leuchtete jedem ein. Nils redete offensichtlich Blödsinn. Ein paar ganz besondere Schlaumeier kicherten bereits. Aber Nils wurde noch aufgeregter und sprach noch lauter: „Das liegt aber nur am Luftwiderstand! In einem Vakuum oder bei zwei Gegenständen, die einen gleichen Luftwiderstand haben, gibt es keinen Unterschied!“ Frau Kraft entgegnete: „Lieber Nils. Das versteht doch kein Mensch. Tu nicht so klug! Jetzt sei bitte still. Wir machen weiter…“ Alle drehten sich zu Frau Kraft um in der Annahme, alles gehe seinen gewohnten Gang. Ein Irrtum. Jetzt stand Nils auf und rief: „Hier! schauen sie!“ Er hatte einen kleinen Tennisball aus seinem riesenhaften Scout-Ranzen gekramt und hielt mit all seiner Kraft den Ranzen mit der einen und den Ball mit der anderen Hand hoch über seinem Kopf in die Höhe. In etwa gleicher Höhe. Er hatte jetzt volle Aufmerksamkeit. Frau Kraft, der dieses Verhalten gar nicht ins Konzept ‚Unterricht in einer zweiten Klasse der Dorfschule‘ passte, wollte gerade etwas sagen, da ließ Nils beide Gegenstände fallen. Der Tennisball sprang wie erwartet auf den Boden. Der Ranzen leider auch. Sämtlicher Inhalt, Hefte, Bücher, Pausenbrote kippte über den Boden. Zudem hatte Nils leider auch einen großen Kakao im Ranzen, der sich über alles ergoss. Es war ein Chaos. Alle lachten laut und sprangen durch die Gegend. Frau Kraft schimpfte und fluchte (was sie sonst nie tat), was für ein ungezogener Junge dieser Nils doch sei. Dieser jedoch setzte sich einfach wieder hin und lächelte zufrieden. Denn jeder in der Klasse hatte eindeutig gesehen, dass Ranzen und Tennisball perfekt zeitgleich auf dem Boden landeten. Diese Gravitation und dieser Luftwiderstand, von denen Nils sprach, ja, da war was dran. In den nächsten Jahren hatte Nils keinen leichten Stand, bekam aber recht gute Zensuren und noch wichtiger: Frau Kraft legte sich nie wieder mit ihm an, wenn er etwas anderes behauptete.

Später trafen wir uns auf dem Gymnasium wieder. Nils belegte irgendwann den Leistungskurs Physik und machte ein fulminantes Abitur. Eine Zeit lang wurden wir gute Freunde, bis sich unsere Wege trennten. Auf seinen Gebieten jedoch konnte ich ihm nicht ansatzweise das Wasser reichen. Später, so habe ich gehört, war er ein ziemlich guter Informatiker. Einer, der dir alles zusammenbaut, was du willst. Also, wenn ihr mal wieder auf eine/n Grundschüler: in trefft, die/der euch zum Beispiel erklärt, dass es Kuhmagneten gibt, die Kühen in den Magen gesetzt werden um gefressene Metallteile wie Stacheldraht an sich zu binden, damit die Kuh keinen Schaden nimmt, … dann sagt doch einfach: „O.K.!“ Es könnte nämlich einfach stimmen.

Vorbilder

Ich habe als Kind viel geklaut. Unter anderem bei einer sehr alten Nachbarin, die einen Gemüsegarten hatte. Mit einem Kumpel habe ich Rhabarber rausgerupft. Der war so schön sauer. Immer wieder. Eines Tages stand sie auf einmal hinter uns. Das gibt Ärger, dachten wir. Zu unserer Verwunderung zog sie mehrere Rhabarber-Stangen raus, drückte sie uns in die Hand und sagte: „Bitte klaut nicht. Ihr braucht nur zu fragen.“ Wir schämten uns sehr, auch weil sie so nett war. Zwei Dinge änderten sich danach. Ich klaute nicht mehr und ich grüßte die Nachbarin jeden Tag bis sie starb. Ab und zu unterhielten wir uns. Diebstahl ist scheiße. Aber eine Gesellschaft, in der sich alle gegenseitig bescheißen, braucht Vorbilder, die es anders machen. Und da fehlt es seit einiger Zeit. Besonders da, wo Gesetze gemacht werden, die so was eigentlich verhindern sollen.

Löwin

Wir hatten früher in der fünften Klasse einen Mathe-Lehrer, der bezeichnenderweise Herr Pein hieß. Wenn wir eine Arbeit schrieben, machte er jede Minute einen Strich an die Tafel. Die letzte Minute zählte er laut runter. Dann musste der Stift weggelegt werden. Er war der Meinung, wir müssten lernen, mit diesem Druck umzugehen und dadurch unsere Leistung steigern. Mich machte das so nervös, dass ich in der wichtigsten Arbeit aus Versehen in mein Hausaufgabenheft schrieb. Da ich bislang keine guten Noten in Mathe hatte, hatte ich mich diesmal sehr gut vorbereitet und daher eigentlich eine 2+ geschrieben. Herr Pein gab mir jedoch eine 6. Ich hätte ja betrügen können, wenn ich im Heft geblättert hätte. Ich saß die ganze Zeit genau vor seinem Tisch während der Arbeit und hätte mich das natürlich auch nicht getraut.

Am nächsten Nachmittag stand meine Mutter bei ihm auf der Matte. Ich folgte kleinlaut. Ich kann mich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, aber Herrn Pein habe ich nie kleiner und stiller erlebt.