Einsiedeln - Silvia Götschi - E-Book

Einsiedeln E-Book

Silvia Götschi

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Beschreibung

Valérie Lehmann ermittelt in der katholischen Hochburg. Als man sterbliche Überreste einer Frau im Sihlsee findet, steht die Zeit in Einsiedeln still. Wer war die Frau, und wie ist sie gestorben? Eine Identifizierung ist nicht möglich, doch die Ermittler finden Hinweise, die ins Kloster Einsiedeln führen. Dann geschieht ein zweiter Mord. Für Oberleutnant Valérie Lehmann beginnt eine rastlose Suche nach dem Täter, denn auch ein Mitglied des Benediktinerordens schwebt in Gefahr.

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Silvia Götschi, geboren 1958 in Stans, lebte und arbeitete während vieler Jahre im Kanton Schwyz. Seit der Jugend widmet sie sich dem literarischen Schaffen und der Psychologie. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin und Mitarbeiterin in einer Werbeagentur. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern. Mit Valérie Lehmann schuf sie eine weltoffene Ermittlerin, die durch Hartnäckigkeit ihr Ziel erreicht.

www.silvia-goetschi.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Am Ende befindet sich ein Glossar.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: fotolia.com/Evelyne

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-363-9

Originalausgabe

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Das Gewissen ist die Wunde,die nie heilt und an der keiner stirbt.

Friedrich Hebbel (1813–1863)

Sie sah nicht mehr gut. Ihr Gedächtnis hatte Lücken. Am Kühlschrank klebten Zettel, die ihr bei der Orientierung halfen. Sie war jetzt zweiundachtzig, ging ein wenig gebückt. Seit Jahren litt sie an Arthrose, die sich vor allem in ihren Knien bemerkbar machte.

Sie trat vor die Tür ihres Hauses, das in der Eisenbahnstrasse lag. Es war Mitte April. Allmählich schälte sich der Frühling aus dem kalten Gewand des Winters. Im Garten blühten Forsythien und gelbe Narzissen. Über die Landschaft hallten die Glocken der Klosterkirche. Gertrud schloss die Tür hinter sich. Sie hatte trotz des schönen Wetters ihren Wollmantel angezogen. Sie fror nicht gern, und in der Kirche war es um diese Jahreszeit bitterkalt.

«Ja nu?» Sie liess den Schlüssel in ihrer Handtasche verschwinden, blieb unschlüssig stehen und blickte in Richtung ihres Briefkastens, der an der Strasse lag. Das Tor dort stand offen. Sie hatte wohl wieder vergessen, es zu schliessen.

Hinter einem blühenden Forsythienstrauch, in der Nähe des Gartentors, trat ein Mann mit Sonnenbrille hervor. Er winkte ihr zu, derweil sie vor Schreck fast die Tasche fallen liess. Was will denn der hier? Gertrud erinnerte sich nicht, ihn jemals gesehen zu haben. Sicher ein Anhänger dieser Freikirchen, die um Neumitglieder warben. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie wusste von ihren Freundinnen, wie dreist diese vorgingen.

Er schritt auf sie zu. «Grosi, schön, dich nach all den Jahren wiederzusehen.» Er hatte eine tiefe Stimme und mit einem Timbre, das sie an den jungen Verkäufer im «Goldapfel» erinnerte, wo sie jeweils einkaufte. Er war gross gewachsen, hatte dunkles Haar und eine Hautfarbe wie Milchkaffee. Ein hübscher Kerl und im Minimum einen Kopf grösser als sie. «Ich bin es, erinnerst du dich?»

«Pascal?» Sie bestaunte seine Schmachtlocke, die sie an Elvis Presley erinnerte. «Oh, du bist gewachsen. Fast hätte ich dich nicht wiedererkannt.» Gertrud versuchte, vor ihrem geistigen Auge Bilder von früher abzurufen. Ihre Tochter hatte einen Sohn. Doch sie hatte Maria eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, geschweige denn deren Kind.

«Hey, Grosi … wie geht es dir?»

Gertrud warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Bald elf. Wenn sie sich beeilte, würde sie in der Kirche pünktlich ankommen und es bis zum Beginn der Messe schaffen. Trotzdem überlegte sie sich, ob sie sich auf ein Gespräch mit dem jungen Mann einlassen sollte. Er versperrte ihr den Weg zur Strasse. Wohl war ihr nicht. Immerhin gehörte er nicht zu diesen Andersgläubigen, für die sie ausser Abscheu nichts übrig hatte.

«Wohin denn so eilig?» Er nahm sie sachte beim Arm. «Ich weiss, ich habe dich schon eine Ewigkeit nicht mehr besucht. Es müssen Jahre her sein. Aber ich war lange Zeit im Ausland. Hat Mama dir nichts erzählt? Wollen wir ins Haus?»

«Ich gehe in die Kirche.» Gertrud blieb stehen. Warum hatte Maria sie nicht angerufen und ihr von Pascals Besuch berichtet? Das sah ihr ähnlich.

«Können wir uns in deine Stube setzen, wenn ich schon mal hier bin?»

Wünsche hatte er. Und eine komische Aussprache. Aber das hatten die jungen Leute heutzutage alle. Das Schweizerdeutsch wurde längst von fremden Sprachen beeinflusst, fand sie. Gertrud sah sich in ihrem sonntäglichen Rhythmus gestört. Aber wenn sie hier stehen blieb, würde sie den letzten Glockenschlag verpassen und … zu spät kam sie nicht gern. Schweren Herzens ging sie zurück zur Tür und schloss diese wieder auf. «Na, dann komm rein … Pascal.»

Drinnen tischte sie kalten Tee und Süssgebäck auf. Erst noch hatte sie eine Tüte «Schafböcke» gekauft, zu viele für sich selbst. Besucher kamen bei ihr selten vorbei. Sie war es sich gewohnt, allein zu sein. Einmal im Monat machte sie bei einer Jassrunde mit, und jede zweite Woche traf sie sich mit ein paar Freundinnen zum Kaffeetrinken. Seit ihr Mann gestorben war, hatte sie sich zurückgezogen. Manchmal unternahm sie eine Werbebusfahrt und erwarb das, was ihr auf der Tour aufgeschwatzt wurde. Sie besass genug orientalische Teppiche, indische Salben und Heizkissen. All das stapelte sich im Keller, noch eingepackt, und wenn sie die Kartons und Plastiksäcke ansah, wusste sie nicht mehr, was sie damit wollte.

Pascal liess sich auf das Sofa nieder. «Häkelst du noch immer, Grosi?» Er zeigte auf die Häkeldecke auf dem Tisch.

Gertrud lächelte in sich hinein. Kaum jemand hatte sie je auf ihre Handarbeit angesprochen. «Ja, wie du siehst, vertreibe ich mir damit die Zeit.» Sie griff zögernd nach einem Fotorahmen auf dem Buffet, wusste nicht, was sagen. «Sieh, das bist du, als du etwa sechs warst. Wie die Zeit vergeht.» Sie reichte den Rahmen über den Tisch.

Pascal griff danach. «Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern. In welchem Jahr war das?»

Gertrud drehte den Rahmen um und las. «1998. Am Geburtstag deiner Mutter.» Sie kniff die Augen zusammen. Auch mit Brille sah sie nicht besonders gut. Das lag am grauen Star, den sie auf Anraten ihres Augenarztes hätte operieren können. Doch sie fürchtete sich vor einer solchen Operation. «Gehst du noch zur Schule?»

«Nein, nein, die habe ich längst abgeschlossen.» Pascal überlegte. «Ich bin doch schon fünfundzwanzig.»

«Ach ja, natürlich. Wie konnte ich das vergessen?» Gertrud musterte ihr Gegenüber skeptisch. Sie hatte keine Ahnung, worüber man mit jungen Leuten sprach. «Was tust du denn so?»

Pascal griff nach einem Schafbock. «Ich gründe jetzt eine Firma und werde in Zukunft einen Internethandel betreiben.»

«Internet …» Für Gertrud ein Teufelswort. Ihre Generation tangiere das nicht mehr, war sie der Ansicht. Maria hatte ihr vor Jahren einen Computer gekauft. Der stand jetzt im Keller und verstaubte neben den orientalischen Teppichen und war einer der Gründe, weshalb sich die Wege zwischen Mutter und Tochter nur noch selten kreuzten. «Mama, du lebst doch nicht hinter dem Mond», hatte Maria gesagt, was Gertrud in den falschen Hals geraten war und es mit einer Schimpftirade quittierte. Sie wolle keine technischen Errungenschaften und schon gar nicht einen Computer mit gefährlicher Strahlung.

«Und weisst du, Grosi …», fuhr Pascal fort, «… um mein Geschäft zu gründen, brauche ich Eigenkapital … das ich im Moment nicht habe. Aber wenn der Handel gut läuft, könnte ich natürlich …» Er räusperte sich verlegen. «Ich würde einen Vorschuss so schnell wie möglich zurückbezahlen … mit Zins und Zinseszins. Das Problem ist, dass mir die Banken keinen Kredit gewähren. Ich sei zu jung, heisst es.»

Gertrud setzte sich. Diese jungen Leute! Manchmal bewunderte sie sie für ihre Unverfrorenheit. Und für ihren Mut. Auch für ihre Ungeduld. Sollte sie ihn darauf ansprechen, womit er handelte? Schliesslich hatte sie ziemlich viel Geld auf der Seite. Jetzt begriff sie auch, weshalb Pascal hier war. Nicht wegen der Häkeldecken. Sein Charme galt seinem Eigennutz.

Pascal nahm endlich die Brille ab. «Grosi», sagte er und bezirzte sie mit seinen dunklen Augen, «ich dachte, dass du mir helfen könntest …»

Gertrud sah den jungen Mann an. Er hatte sich verändert, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Einen Moment lang musste sie in sich gehen. Vielleicht böte sich jetzt die Gelegenheit, all das, was sie im Leben Schlechtes getan hatte, wiedergutzumachen. Sie hatte beim Herrgott noch eine Rechnung offen. Gut möglich, dass er ihr Pascal vorbeigeschickt hatte. Er wollte sie auf den Prüfstand stellen. An diesem Sonntag, an dem sie zum ersten Mal der Messe fernblieb.

«Ich könnte dir schon etwas geben …»

Pascal streckte seinen Rücken durch, setzte die Brille wieder auf. Über sein Gesicht huschte ein Lächeln. «Ich kann auf deine Hilfe zählen, Grosi?» Er schien es plötzlich eilig zu haben. «Würdest du für mich Geld abheben?»

Gertrud seufzte: «So Gott mir helfe. Wie viel brauchst du?»

«Zwanzigtausend Franken.»

EINS

Ein Maler hätte das Bild, das sich Jeremias Kälin bot, nicht perfekter einfangen können. Wie ein Spiegel lag der Sihlsee eingebettet in die weich gezeichneten Hügel, die sich hinter dem Ufer mit dem Himmel zu vereinen schienen. Lilafarbene Pinselstriche übertünchten das rosa schimmernde Firmament, über das sich ein silberner Punkt bewegte – ein Flugzeug im Anflug nach Zürich-Kloten.

Kälin dümpelte mit seinem Aussenborder über die glatte Fläche. Er hatte die Angel ausgeworfen und liess seinen Blick über das Wasser bis zum Horizont schweifen. Er mochte den frühen Tag, von dem sich die Nacht erst verabschiedet hatte. Über allem lag etwas Erhabenes. Kälin seufzte ergriffen. Er hatte zeit seines Lebens in Einsiedeln verbracht. In diesem Dorf am Fusse des Etzels und am Ende der Ausläufer der beiden Mythen. In den siebzig Jahren war er kaum über die Kantonsgrenze hinaus gekommen. Reisen mochte er nicht besonders, dafür kannte er Einsiedeln und die Umgebung wie kein anderer. Als junger Bursche hatte er bei den Benediktinermönchen als Ministrant gedient und in der Freizeit deren Pferde gepflegt. Später war er Kirchensigrist gewesen, bis ein Hüftleiden ihn zum Halbinvaliden machte. Wenn er wie heute auf dem See seinem Hobby frönte, fühlte er sich zufrieden. Und ging ihm ein besonders schönes Exemplar von einem Fisch an die Angel, dachte er, dass er es wohl verdient hatte. Erst gestern hatte er einen Hecht gefangen, der knappe hundert Zentimeter mass. Die Bewunderung am abendlichen Stammtisch war ihm gewiss gewesen. Sein Freund, der Kobiboden-Röbi, hatte sogar eine Runde ausgegeben und der Walhalla-Wirt den Hecht grilliert, bevor die Männerrunde ihn genüsslich verspeiste. Ob Kälin heute wieder so viel Erfolg haben würde, war nicht so wichtig. Er würde noch lange am gestrigen Fang zehren können. Fischen war für ihn wie Meditation.

Er tuckerte langsam in Richtung Ufer vor der Birchlimatt. Dort wohnte er in einem einfachen Häuschen. Seine Frau war bestimmt schon auf und richtete das Frühstück her. Er hatte ihr versprochen, mit ihr zu essen, bevor sie zu ihrer betagten Mutter fuhr, die sie zweimal pro Woche pflegte. Er wollte es am späten Vormittag noch einmal versuchen. Er griff nach der Fischerrute, die er in die Halterung am Bootsrand gesteckt hatte, und rollte die Schnur langsam auf.

Etwas verhinderte plötzlich den freien Lauf, klemmte sogar so fest, dass Kälin befürchtete, es würde die Schnur zerreissen. Er lockerte die Rolle, liess die Schnur zurückgleiten. Einen Meter, zwei. Dann zog er wieder an. Der farbige Schwimmer war schon längst unter dem Wasserspiegel verschwunden. «Was zum Kuckuck!» Kälin äugte über den See. Die Schnur musste sich irgendwo verfangen haben. Der Köder war gewiss schon im Rachen eines Riesenfisches gelandet. Oder was war es? Kälin versuchte erneut, das Fischgarn bis zum Anschlag einzuziehen. Etwas blitzte vor ihm auf, ganz nah unter der Oberfläche. Er liess die Rute fahren, zog wieder an und erschrak. Er fiel rückwärts ins Boot. Der Griff rutschte ihm aus der Hand. Der Haken fuhr in hohem Bogen gegen seine Brust.

«Jesses Maria und Josef!» Kälin rappelte sich auf, während er sich bekreuzigte.

***

Valérie Lehmann freute sich auf die kommenden Tage. Der Wetterbericht hatte ein Hoch gemeldet. Nach dem eher durchzogenen Winter würde sie sich endlich aufs Bike schwingen und eine Tour rund um den Zugersee unternehmen. Dass sie sich so fit fühlte, verdankte sie Emilio Zanetti. Seit Valérie mit ihm liiert war, ging es auch mit ihrer Moral bergauf. Ihr Ex-Mann Willy Lehmann war nur noch sporadisch ein Thema. Colin, ihr gemeinsamer Sohn, absolvierte eine Lehre in der IT-Branche und wohnte in einer Wohngemeinschaft in Zug. Gegen Valéries einstige Bedenken funktionierte das ganz gut. Einzig mit der Tatsache, dass Colin einen Beistand hatte, war sie nicht einverstanden; dies degradierte sie zu einer unfähigen Erzieherin. Und die Gewissensbisse blieben, dass sie ihrem Sohn nie die Mutter hatte sein können, wie er es verdient hätte, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Ihr Beruf hatte ihr alles abverlangt. Sie war heute Oberleutnant bei der Schwyzer Polizei, als Mutter hatte sie ihrer Meinung nach versagt.

Zanetti wollte heute Mittag hier sein. Dann würden sie die Tage von Donnerstag bis Sonntag miteinander verbringen. Valérie hatte für ein Candle-Light-Dinner eingekauft. Bresaola mit Parmesan und Toast, dazu würde es einen Löwengang geben und zum Hauptgericht ein Saltimbocca mit Polenta. Zanetti mochte die italienische Küche. Als gebürtiger Tessiner hatte er einst in Lugano gelebt und gearbeitet und so seine kulinarischen Vorlieben, die sie ihm gerne erfüllte.

Die beiden Mythen schimmerten noch in der aufgehenden Sonne. Ihre Flanken umwaberte feiner Nebel. Ein selten schöner Anblick. Valérie hatte sich an Schwyz gewöhnt, an die Mentalität der Bevölkerung und die Begebenheit, dass sich die Berge hier quasi vor ihrer Haustür befanden. Trotzdem träumte sie manchmal von einer Villa mit Umschwung. Das waren die Momente, wo sie an ihre Vergangenheit dachte, an den Luxus und die damit verbundenen Annehmlichkeiten. Doch auch an die Schläge und falschen Anschuldigungen. Beides würde immer ein Teil von ihr bleiben.

Auf dem Weg zur Dusche hielt sie abrupt inne. Im Flur klingelte das Telefon. Es kam selten vor, dass jemand sie über das Festnetz anrief. Sie erinnerte sich, dass sie am vergangenen Abend das iPhone im Auto liegen gelassen hatte. Valérie nahm den Hörer von der Station und meldete sich.

«Dominik am Apparat.»

Valérie seufzte. Fischbacher, der Chef der Kriminalpolizei. Wenn er sie suchte, hatte das kaum mit etwas Positivem zu tun. Seit sie und Zanetti zusammen waren, hatte er sich von ihr zurückgezogen. Früher hatten sie sich ab und zu auf einen Drink getroffen und auch über private Dinge gesprochen.

«Ich weiss, du hast eigentlich keinen Dienst», sagte Fischbacher. «Tut mir leid. Aber wir haben eine schrecklich zugerichtete Leiche im Sihlsee. Das heisst, wir suchen noch nach ihr …»

«Habt ihr sie oder sucht ihr noch nach ihr? Du gibst mir ein Rätsel auf.»

«Es ist nicht so einfach.»

«Mensch, Dominik. Ich habe mich mit Emilio verabredet. Wir wollten morgen mit dem Bike eine grössere Fahrt machen.»

«Ich weiss. Das hat er mir erzählt. Er ist bereits vor Ort.»

Letzte Nacht hatte Zanetti in seiner Wohnung verbracht. Valérie war noch nicht dazu bereit, mit ihrem neuen Lebenspartner, dem Staatsanwalt, zusammenzuziehen. Sie müsse diese Freiheit haben, hatte sie ihren Standpunkt verteidigt, was Zanetti nicht nachzuvollziehen vermochte. Sie fand die Dreizimmerwohnung zu klein, um, wenn Colin bei ihr war, drei Personen Platz zu bieten. Nach der ersten Euphorie war das Erwachen gekommen, die Endorphine der ersten Verliebtheit hatten sich neutralisiert. Ihre Gefühle glichen einem Wellengang. Manchmal waren sie dem Himmel nah, dann wieder im tiefsten Tal.

Im Grunde genommen mochte sie diese Art von Beziehung, was eine gewisse Spannung aufrechterhielt. Und es gab Tage, da fühlte sie sich allein sehr wohl. Vielleicht hatte sie verlernt, mit einem Mann auf engstem Raum zu leben. Irgendeinmal, suggerierte sie sich ein, würde sie so weit sein, um mit Zanetti eine Lebensgemeinschaft einzugehen, von der er träumte. Er hatte sogar schon von Heirat gesprochen. Valérie hatte es sich nicht anmerken lassen, wie genau das sie erschreckte.

Fischbacher riss sie aus ihren Gedanken. «Ich befinde mich in der Birchlimatt ausserhalb Einsiedeln. Kennst du dich dort aus?»

«Nicht besonders. Aber ich habe zum Glück ein Navi.»

Er teilte ihr die Adresse mit. «Wenn du dich beeilst, kannst du in einer halben Stunde vor Ort sein. Dann können wir gleich das weitere Vorgehen besprechen.»

«Und was ist mit der Leiche?» Valérie stiess heftig Atem aus.

«Sieh dir die aktuelle Situation zuerst an.»

Valérie mochte diese Art von Geheimniskrämerei nicht. Oder wollte Fischbacher sie aus der Ferne nicht damit konfrontieren?

Er erteilte ihr unter Ausschluss ihrer Kollegen die klaren Direktiven, die Ermittlungen zu leiten. Die Überstunden konnte sie sich gleich an den Hut stecken.

«Hast du den Technischen Dienst schon aufgeboten?»

«Ja, habe ich. Louis und Fabia müssten auch unterwegs sein. Der Gerichtsmediziner hat bereits seinen Assistenten geschickt.»

Valérie spürte Wut im Bauch. Eine Leiche, und man suchte noch nach ihr. «Kannst du mich wenigstens darüber informieren, was mich konkret erwartet?»

Zu spät. Fischbacher hatte aufgelegt.

Verdammt! Valérie hatte einige Fähigkeiten, doch Hellsehen gehörte nicht dazu. Anstatt einer ausgiebigen Dusche mit der Musik von Richard Wagner entschied sie sich für einen Schnelldurchlauf. Sogar der erste Kaffee des Tages lag zeitlich nicht drin. Sie steckte die Notiz mit der Adresse ein.

Ihr Audi TT Cabrio stand auf dem Besucherparkplatz, was die Nachbarin Frau Annen dazu veranlasst hatte, ihr einen Zettel unter den Scheibenwischer zu klemmen mit der Aufforderung, bitte schön den Wagen in Zukunft in der Tiefgarage zu parken. Frau Annen mit der Igelfrisur, die an einen missratenen Irokesenschnitt erinnerte, war das Sperberauge des Quartiers. Nach Valéries Gutdünken die Biederkeit in Person. Den lieben langen Tag hatte sie offenbar nichts anderes zu tun, als Polizistin zu spielen. Valérie zerriss den Zettel und liess die Fetzen über den Parkplatz regnen. Bei Frau Annen vergass sie sogar ihre guten Manieren.

Als Valérie die Rubiswilstrasse verliess, war es halb zehn. Die Mythen hatten ihr Gesicht verändert. Schneereste kontrastierten mit den Felsenkonturen. In Schwyz allerdings war der Frühling eingekehrt. Gelbe und rote Blütenblätter verliehen den Gärten bunte Farbtupfer. An den Hängen der Schlagstrasse mähten Bauern das erste Gras. Valérie hatte das Dach heruntergelassen. Der Fahrwind blies kalt in ihr Gesicht und liess die halblangen Haare um ihre Schultern tanzen. Aus dem Autoradio erklang ein Stück aus «La Traviata» von Giuseppe Verdi. «Dammi Tu Forza, O Cielo!» Gib mir Kraft, oh Himmel. Wie sie nebst Wagner diese Musik liebte. Sie widerspiegelte die Leidenschaft, nach der sich Valérie gesehnt hatte und die mit Emilio wieder Realität geworden war. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie sich an den Erinnerungen an die gemeinsamen Nächte festkrallte, als würden diese nie mehr zurückkommen. Emilio! Dieser Mann verkörperte all das, was sie sich von einem Mann je gewünscht hatte. Er war der zärtliche Liebhaber, intelligente Gesprächspartner und gesellige Unterhalter. An seine Schulter durfte sie sich anlehnen, das wusste sie. Manchmal bedingte es ihrerseits, es annehmen zu können. Schwach sein. Frau sein. Es waren die Momente, in denen sich alles in ihr dagegen sträubte. Sie hatte gelernt, ihr eigener Herr und Meister zu sein. Die starke Frau in Gegenwart einer männerdominanten Arbeitsgruppe; die Polizistin, die analytisch und trotzdem instinktiv ermittelte, wenn es einen Fall zu lösen galt.

Nachdem sie nach Schwyzerbrugg getankt hatte, zweigte sie in Biberbrugg rechts ab und nahm die Ausfahrt nach Einsiedeln. Hinter ihr tauchte ein Wagen auf, den sie allzu gut kannte: ein dunkler Kombi, der aus dem Parkplatz bei der Kantonspolizei fuhr. Valérie entdeckte im Rückspiegel zwei Köpfe, der von Louis, der andere von Fabia. Hatte Fischbacher nicht gesagt, dass sie bereits unterwegs seien? Was hatten sie so lange auf dem Stützpunkt getan? Louis gab ihr eine Lichthupe. Fabia winkte ihr zu. Bis in die Birchlimatt fuhren sie hintereinanderher.

Im leichten Wind flatterten die Absperrbänder. Schaulustige hatten sich eingefunden, als hätte sie das Unheil unwillkürlich angezogen. Valérie parkte neben Zanettis Audi. Sie stieg aus und schlug die Richtung zum See ein. Auf einer Bank sass ein Mann, eingewickelt in eine Wolldecke. Der Polizeipsychologe Henry Vischer kauerte neben ihm. Franz Schuler, der Leiter des Kriminaltechnischen Dienstes, und seine Leute suchten das Gelände nach Spuren ab. Dies registrierte Valérie mit einem Blick, während sie auf Zanetti zuschritt. Er wandte sich sofort zu ihr um. Über sein Gesicht huschte ein Lächeln, das eindeutig ihr galt. Er schien die gestrige Enttäuschung, ohne sie ihr nachzutragen, eingesteckt zu haben. Valérie wusste, dass sie nicht darum herumkamen, über ihre Wohnsituation zu diskutieren. Schnell hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange, obwohl sie sich vorgenommen hatte, dies niemals öffentlich zu tun. Er drückte sie kurz, aber heftig an sich, was ihren Puls beschleunigte. Wie sie diesen Mann begehrte.

«Was haben wir?», fragte sie und suchte vergebens nach einem Leichentuch, geschweige denn nach einer Leiche. Am Ufer bewegten sich Schulers Leute. Auf dem See waren welche mit Booten unterwegs.

«Franz hat zwei Taucher aufgeboten», sagte Zanetti. «Die sollten bald eintreffen.» Er zeigte auf den Mann in der Wolldecke. «Der Fischer dort hat heute Morgen einen makabren Fang gemacht, der jetzt in der Eisbox liegt.»

Valérie entdeckte einen länglichen Behälter neben dem Camion des KTD. Wortlos machte sie sich auf den Weg dorthin. Sie wandte sich an den jungen Mann, der die Box zu bewachen schien. Stieffels Assistent, nahm sie an. «Darf ich?»

Er musterte sie misstrauisch.

Valérie holte ihren Ausweis hervor, bewegte ihren Kopf Richtung Box. «Ist der Fund dort drin?»

«Ich muss Sie nicht fragen, ob es Ihnen an starken Nerven mangelt, nach allem, was Sie schon erlebt und durchgemacht haben.»

«Kennen wir uns?» Solche Kommentare verachtete sie. «Ich bin nicht abgebrüht, wenn Sie das meinen.»

«Sorry, das wollte ich so nicht sagen. Mir kam nur gerade eben der Fall von letztem Sommer in den Sinn – in Muotathal.»

«Wenn Sie mich sehen?» Sie verkniff sich eine Grimasse. «Stieffel hat Sie geschickt, nicht wahr?»

Er nickte, und Valérie zeigte auf den Behälter. «Was ist drin? Muss ich mir Handschuhe und Mundschutz anziehen?»

«Ist schon luftdicht verpackt.» Der Assistent hob den Deckel an. Ein Schwall aus Kälte und Nebel hüllte sein Gesicht ein. Es verschwand im weissen Dunst, als hätte etwas Unheilvolles es soeben verschluckt.

Valérie unterdrückte einen Laut, während der Nebel sich verflüchtigte und die Sicht auf den Inhalt freigab. In einem durchsichtigen Plastikbeutel lag ein abgetrennter Arm auf Eis. Ein Stich durchfuhr ihre Brust. Ohne es wirklich zu wollen, rasten Valéries Gedanken zu einem Körper, dem die Extremität fehlte. Zum Körper eines Erwachsenen; alles andere hätte sie nicht ertragen. Sie schätzte seine Länge. Sechzig bis fünfundsechzig Zentimeter. Durch den Kunststoff wirkte der Arm wie mumifiziert.

Manchmal waren die Umstände nur auszuhalten, wenn man sie ihrer Bedeutung entfremdete.

«Nach ersten Ermittlungen handelt es sich um einen linken Frauenarm», sagte der Assistent.

«Frauenarm? Und woraus lesen Sie das?»

«Beinahe haarlos, gepflegte Nägel, ein Ring …»

«Der Ring ist noch dran?» Durch das Plastik schimmerte es goldfarben, der Stein blau. «Könnte auch ein Männerring sein.»

«Ich konnte ihn nicht abnehmen. Die Finger sind aufgeschwollen.»

Valérie trat näher, beugte sich vornüber und begutachtete den obersten Teil. Sie hatte wenig Erfahrung mit solchen Verstümmelungen. Noch nie hatte sie etwas Ähnliches real gesehen. Sie erinnerte sich an Bilder von zerteilten Leichen, die sie während der Polizeischule angesehen hatte. In Wirklichkeit fühlte es sich anders an. Und krank. «Der Arm sollte so schnell wie möglich in die Rechtsmedizin. Kommt Dr. Stieffel auch noch hierher?»

«Nein. Ihre Leute suchen nach weiteren Körperteilen. Sollten die in der nächsten halben Stunde nicht gefunden werden, werde ich mit dem hier», er zeigte auf den Behälter, «nach Zürich fahren.»

Valérie bedankte sich. Der Blick über den Sihlsee liess sie schaudern. Irgendwo dort draussen lag vielleicht ein toter Körper, von dem man einen Arm abgetrennt hatte. Es war sogar möglich, dass sie bald schon mit weiteren grausigen Funden konfrontiert wurde. Wieder einmal drohte die Idylle ihres Wahlkantons zu zerfallen. Doch es war nicht der Ort, der seine Unschuld verlor, sondern der Mensch, der in ihm lebte. Ein einziger Psychopath war in der Lage, ein Dorf oder eine Stadt zu verseuchen. Um die Auswüchse seiner kranken Seele zu stoppen, dafür sah sich Valérie verpflichtet. Was war der Grund gewesen, dass ein Mensch auf so bestialische Weise verstümmelt wurde? Dass die Frau, der der Arm fehlte, noch lebte, war fast nicht vorstellbar, und es bestand eine schwindend kleine Hoffnung.

In Gedanken versunken näherte sich Valérie Henry Vischer. Er überreichte dem Mann in der Wolldecke eine Wasserflasche.

«Guten Morgen, Valérie.» Vischer drückte ihre Hand und wies mit dem Kopf auf den Mann an seiner Seite. «Das ist Jeremias Kälin. Er hatte den Arm an der Angel.»

Valérie begrüsste ihn und stellte sich vor. Kälin übte einen gefassten Eindruck auf sie aus.

«Können Sie mir erzählen, was heute Morgen geschehen ist?» Sie entnahm ihrer Jackentasche Notizblock und Schreibstift, während sie Kälin nicht aus den Augen liess. Seinen grauen Haaren und der von Sonne und Wetter gegerbten Haut nach zu urteilen, zählte er nicht mehr zu den Jüngsten. Seine Augen waren gerötet, als hätte er eben noch geweint. Ein buschiges schwarzes Brauenpaar dominierte das Gesicht und hinterliess den Verdacht, er hätte sie gefärbt. Die Spannkraft, war denn je einmal welche vorhanden gewesen, war aus seinem Körper gewichen. «Sind Sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?»

Kälin nickte. Seine Augen waren auf den See gerichtet, als fände er dort, auf der sich kräuselnden Fläche, die Antworten. «Das ist mir meiner Lebtage noch nie passiert», begann er leise und sichtlich nervös. «Wer denkt denn an so etwas. Die Fischerrute klemmte. Ich zog sie fast mit Gewalt ein. Da schleuderte es den Arm gegen meine Brust. Ich dachte, jetzt geht die Welt unter, und der Herrgott schüttet Furchtbares über mich aus.» Kälin schluckte ein paarmal leer. «Gott gütiger, das war ein richtiger Schock.»

«Sie waren mit Ihrem Boot auf dem See?»

«Ich fahre jeden Morgen hinaus, sofern es nicht Katzen hagelt.»

«Um welche Zeit verliessen Sie heute Morgen das Ufer?»

«Um ungefähr halb sechs.»

«Ist Ihnen etwas aufgefallen?»

Kälin schüttelte den Kopf.

«Haben Sie jemanden beobachtet?»

«Nein.»

«Ist Ihnen in letzter Zeit etwas verdächtig vorgekommen?»

«Viele Fragen auf einmal», sagte Kälin. «Aber ich kann sie alle mit Nein beantworten. Glauben Sie mir, ich kenne die Gegend hier wie kaum jemand. Ich bin hier aufgewachsen. Fremde würden mir sofort auffallen oder solche, die nicht hierhergehören.»

«Haben Sie ausser dem Arm sonst noch etwas aus dem See gefischt?»

«Mir reichte ein Arm …» Kälin liess den Kopf auf seine Brust fallen.

«Was haben Sie dann gemacht?»

«Ich fuhr zurück. Meine Frau wartete auf mich. Ich weiss zwar nicht mehr, wie ich ins Haus kam. Aber mein erster Gedanke galt der Polizei.»

«Und das Boot mit dem Fund haben Sie am Ufer gelassen?»

«Ich habe es vertäut, wie immer. Den Arm liess ich liegen, nachdem ich ihn draussen von meiner Brust ge… gestossen hatte … Es schaudert mich noch immer, wenn ich daran denke. Stellen Sie sich das einmal vor … ein abgetrennter Arm … Erst gestern hatte ich einen Hecht gefangen … und heute das …»

«Können Sie mir sagen, wo genau Sie den Arm aus dem Wasser gezogen haben?»

Kälin schaute auf. In seine Augen trat ein Flackern. «Klar doch, ich habe am Bootsrand ein Zeichen eingraviert.»

Valérie warf Vischer einen Brauen hebenden Blick zu.

Dieser erwiderte ihn auf die gleiche Weise. «Die Frage habe ich ihm auch schon gestellt. Er hat den ungefähren Fundort angegeben. Fünfzig Meter vom Ufer entfernt.» Trotz Kälins Witz gab es nichts zu lachen.

«Und die Taucher werden bald eintreffen.» Valérie seufzte. Sie sah Fabia auf sich zukommen. Auf gleicher Höhe drehte sie sich ganz nach ihrer Kollegin um. Sie reichte ihr den Notizblock samt Schreibstift. «Nimmst du bitte die Personalien auf?», und an Kälin gewandt: «Frau Ulrich wird morgen auf dem Posten der Kriminalpolizei mit Ihnen ein ausführliches Protokoll erstellen. Bitte seien Sie so gut, und kommen Sie um zehn Uhr nach Biberbrugg. Ich gehe davon aus, Sie sind mobil.» Sie sah Fabia an. «Wir sehen uns heute Nachmittag zur ersten Teamsitzung. Ich denke, um zwei Uhr. Und bitte informiere Louis darüber – wo ist er überhaupt?» Nachdem er aus dem Wagen gestiegen war und sie knapp begrüsst hatte, war er verschwunden.

«Er befragt gerade die Frau des Fischers.»

«Okay, dann nehmt euch die Leute vor, die hier herumstehen. Vielleicht hat einer etwas gesehen oder gehört.» Valérie zögerte. «Ich wurde damit beauftragt, die Ermittlungen zu leiten.»

«Hast du ein Problem damit?», fragte Fabia kokett. «Aha, ich verstehe. Du wolltest an diesem Wochenende um den Zugersee fahren. Dann fein ausgehen und ein Nachtessen im ‹Adelboden›. Ich würde dir den Job gern abnehmen. Dazu fehlen mir jedoch die Ambitionen.» Sie verzog ihre Mundwinkel zu einem schnellen Lachen.

«Wohl auch die Ausbildung», konterte Valérie, die Fabias Bemerkung nicht stehen lassen wollte. Es ging sie nichts an, wie sie ihre Freizeit gestaltete. Sie mochte Fabia. Aber manchmal kam sie ihr zu burschikos vor. Und innerlich schien sie mit jedem Tag mehr an Härte zuzulegen. In letzter Zeit wirkte sie zudem fahrig. Das lag aber nicht an ihrem Beruf. Zu Hause musste etwas vorgefallen sein.

Das Wasser des Sihlsees glitzerte im Sonnenlicht. Entlang des Ufers fuhren Motorboote, eines davon lag vor Anker. Mittlerweile waren die Taucher eingetroffen. Sie durchforsteten den Grund und suchten nach weiteren Leichenteilen.

Valérie hatte ein paar Aufgabenblöcke bereits verteilt, als sie sich vornahm, in ihr Büro nach Biberbrugg zu fahren. Sie hielt Ausschau nach Zanetti, der sich, ohne ihr ein Wort zu sagen, verdünnisiert hatte. Wieder einmal würden sie eng miteinander zusammenarbeiten müssen. Nicht das, worauf Valérie erpicht war. Sie würden nie eine normale Beziehung haben können, wenn solche Verbrechen ihr Leben bestimmten.

Ein Frauenarm. Alter nicht bekannt. Und wie lange er im Wasser gelegen hatte, auch nicht. Sie müsste sich die Vermisstenmeldungen der letzten Tage vornehmen. Worauf sollte sie sich stützen? Bevor der erste Bericht aus der Rechtsmedizin nicht da war, würde Valérie den Radius der Ermittlungen nicht einschränken können. Zudem konnte ein abgetrennter Arm vieles bedeuten.

Der Weg zurück nach Biberbrugg führte sie über den Dorfplatz von Einsiedeln. Sie hätte auch die direkte Route einschlagen können, doch sie hatte die Ausfahrt verpasst. Die Klosterkirche zu ihrer Linken überragte das Dorf. Ein barocker Bau aus dem frühen 18. Jahrhundert, was Valérie von einer Broschüre wusste. Sie beobachtete eine Gruppe von Leuten, die sich um den Marienbrunnen versammelt hatte und nun aus den Hahnen das Wasser trank. Gesegnetes Wasser aus der Bakterienschleuder, durchfuhr es sie.

Einsiedeln hatte für sie an Bedeutung gewonnen, als sie vor zwei Jahren nach Schwyz gezogen war. Dass der Ort nicht nur mit der Hochburg der katholischen Schweiz triumphieren konnte, sondern auch mit einer der bedeutendsten Büchersammlungen weltweit, hatte Valérie erst im letzten Monat erfahren, als sie mit Zanetti die Bibliothek der Stiftung des Kunst- und Architekturhistorikers Professor Dr. Werner Oechslin besucht hatte. Das futuristisch anmutende Gebäude nach Plänen des Stararchitekten Mario Botta beherbergt Werke von Aristoteles bis Platon. Zanetti hatte sich allerdings interessierter gezeigt als Valérie, der die Kopie der antiken Laokoon-Gruppe ins Auge gestochen war. Sie stellte den Todeskampf von Laokoon und seinen Söhnen dar, die sich allesamt des Würgegriffs einer Riesenschlange erwehrten. Nach dem Besuch dort hatten sie sich in der nahen Bäckerei Tulipan mit «Schafböcken» eingedeckt und sie während einer Woche jeden Morgen zum Kaffee gegessen. Nicht gerade das, was Valérie sich unter einem erbaulichen Frühstück vorstellte. Das gerühmte Gebäck war für ihre Begriffe zu trocken. Und den Hype, der seinetwegen gemacht wurde, verstand sie auch nicht. Aber, das hatte man ihr gesagt, man müsse es probieren, sollte man Einsiedeln besuchen. Mit der jährlichen Produktion könne man Zighunderte Fussballfelder decken. Im Gegensatz zur Bäckerei hatte sie die Klosterkirche nicht von innen gesehen.

Jetzt war sie hier, fern von Schriften über Architekturtheorien und lebkuchenähnlichen Backwaren. Der Abstecher zu den Pferdekoppeln auf dem Klosterareal war verblasst und hatte einem abgetrennten Arm Platz gemacht. Einer menschlichen Extremität, die nicht in das friedliche, gottesfürchtige Dorf passte und noch weniger in einen See, der den einheimischen Hobbyfischern zum Angeln diente.

Sie passierte die Hauptstrasse, auf die Leben eingekehrt war. Kaum hatte sie in der Nähe des Bahnhofs den Kreisel auf die Zürichstrasse verlassen, meldete sich Louis über die Freisprechanlage.

«Schade, dass wir uns verpasst haben», sagte er. «Ich wollte mir zuerst ein Bild von der Umgebung machen. Zufällig bin ich auf die Frau des Fischers gestossen.» Er räusperte sich. «Zudem wirst du die Ermittlungen leiten.»

War das wieder eine von Louis’ Anspielungen auf ihren Dienstgrad? «Ich habe es mir nicht ausgesucht.» Sie ertappte sich dabei, wie sie einmal mehr gereizt auf Louis reagierte. Er hatte eine Art an sich, die ihr nicht immer behagte. Nachdem ihm seine letzte Freundin nach nur drei Wochen Beziehung den Laufpass gegeben hatte, war er fast nicht mehr auszuhalten.

«Das ist dein freies Wochenende, oder täusche ich mich?»

«Nein, tust du nicht.» Valérie fuhr jetzt Richtung Biberbrugg, vorbei an ehemaligen Festungswerken, die aussahen, als wären sie in der Form einer Toblerone aufs Feld geworfen worden.

«Ich würde auch gern einmal einen Fall anführen.»

Das also war es, was ihn beschäftigte. «Hattest du den nicht bereits?»

«Eine Messerstecherei in einem Asylzentrum. Ich rede von einem richtig schlimmen Fall –»

«Immerhin hast du keine zwei Tage benötigt, um den Täter zu fassen.» Sie fuhr einem silbergrauen BMW auf, der mit sechzig in der achtziger Zone unterwegs war. «Was möchtest du mir wirklich mitteilen, Louis?» Sie setzte zum Überholen an.

«Die Taucher haben weitere Leichenteile aus dem See gefischt.»

Valérie schaltete einen Gang herunter, gab Vollgas und preschte links des BMWs vorbei.

«Kaum warst du weg», sagte Louis. «Das linke Bein, den rechten Arm und den Torso. Fabia hat sich bei dessen Anblick sonderbar aufgeführt. Sie rannte davon. Später sagte sie, dass sie sich sträube, an diesem Fall zu arbeiten.»

Valérie überlegte sich, dass Fabia ansonsten starke Nerven besass, was das Betrachten von Leichen anging. Das passte nicht zu ihrer momentanen Art. Aussen und innen widersprachen sich offensichtlich. Andererseits schockierte eine zerstückelte Leiche auch den hartgesottenen Polizisten. Nur schon die Vorstellung davon liess Valéries Haare zu Berge stehen.

«Es braucht viel Kraft, jemanden zu köpfen», sagte Louis.

«Und einen grossen Hass.» Valérie hatte sich einen solch bestialischen Mord nie vorstellen können. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken.

«Die sterblichen Überreste sind jetzt unterwegs in die Rechtsmedizin», sagte Louis. «Hörst du mir zu?» Seine Stimme war lauter geworden.

«Natürlich höre ich dir zu.» Valérie sah in den Rückspiegel. Im BMW entdeckte sie einen älteren Herrn mit Tabakpfeife, der mit seiner Frau wohl eine gemütliche Fahrt unternahm. Ein Sonntagsfahrer an einem ganz normalen Werktag. Ihre Kollegen von der Verkehrspolizei müssten auch mal die notorischen Langsamfahrer von der Strasse holen, überlegte sie. Sie bemühte sich, ihre Nerven zu beruhigen.

Ihre Gedanken schweiften ab zu der Toten im Sihlsee. Vielleicht war sie das Opfer eines aggressiven Verhaltens eines Täters geworden. Ausgelöst durch eine perfide Bemerkung zum Beispiel. Valérie wusste, wie wenig es brauchte. Erst kürzlich war sie zu einer Familie gerufen worden, in der ein Ehepaar aufeinander losging. Vor den Augen seiner minderjährigen Kinder hatte der Mann seine Frau krankenhausreif geschlagen. Als Valérie den Täter nach dem Grund gefragt hatte, sagte er, dass er die stete Nörgelei seiner Frau sattgehabt habe.

«Res Stieffel habe ich auch schon kontaktiert», sagte Louis. «Im Verlaufe des Tages sollten die ersten Resultate bei uns eintreffen. Ich sagte ihm, dass dieser Fall Priorität hat.»

«Das weiss er», konterte Valérie eine Spur zu laut und merkte zu spät, dass sie Louis damit nur wieder Nährboden für weitere Sticheleien gab. Einstweilen musste sie höllisch aufpassen, welchen Ton sie wählte. Ihr Kollege fühlte sich oft betroffen. «Wir sehen uns bei der Teamsitzung.»

«Alles klar bei dir?», fragte Louis. «Du hörst dich gereizt an. Ich wette, du fährst hinter einem Bummler her.»

Valérie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Auch das war Louis, mit seinem trockenen Humor nicht immer fassbar. «Er fährt jetzt hinter mir.»

***

Über die Biber breitete sich Dunst aus, durch den die Sonnenstrahlen schmale Striche zogen. Die Gestade schimmerten in einem silbermonochromen Licht. Valérie schloss die Fenster, nachdem sie dem Vogelkonzert in den Baumkronen eine Weile gelauscht hatte. Das friedliche Bild wollte so gar nicht zu diesem Tag passen.

Nachdem sie einen starken Kaffee getrunken hatte, machte sie sich auf den Weg von ihrem Büro ins Sitzungszimmer. Noch wusste sie nicht, was sie erwarten würde. Sie hatte sich den neuen Fall zigmal durch den Kopf gehen lassen. Sie fand keinen Zugang, er blieb ihr fremd.

Ausser Dominik Fischbacher waren alle anwesend, die Valérie zum ersten Briefing eingeladen hatte.

Sie stellte sich am Ende der Tische an die Pinnwand und heftete erste Bilder an von zwei Beinen, zwei Armen und dem Rumpf. Sie wartete, bis sie der Aufmerksamkeit aller gewiss war. «Ihr habt gute Arbeit geleistet», lobte sie und wandte sich danach an Schuler. «Bis vor einer Stunde hat man auch das zweite Bein aus dem Wasser gezogen.»

«Und was ist mit dem Kopf?», wollte Fabia wissen, der man ansah, dass sie noch immer schwer an dem grausamen Fund zu nagen hatte. Ihr ansonsten rosiges Gesicht wirkte blass.

Valérie hätte sie gern gefragt, was ihr fehlte. «Der Kopf wurde nicht gefunden.»

«Meinst du, der wird noch zum Vorschein kommen?» Louis drehte sich zu seinen Kollegen um.

«Man müsste sich fragen, was das zu bedeuten hat.» Fabia tippte sich an die Stirn. «Jemand, der so etwas tut, ist eine Bestie.»

«Die widerspiegelt unsere heutige Gesellschaft», sagte Louis. «Die Gewaltspirale dreht sich immer schneller. Erinnern wir uns an das Scheusal aus Muotathal. Nichts Schreckliches ist mehr fremd. Und warum? Wir haben verlernt, Respekt gegenüber den andern zu zollen. Wer nicht ins Schema passt, wird eliminiert –»

«Louis!» Valérie hob die Hand. Was war denn in den gefahren? «Ich glaube nicht, dass eine solche Diskussion hierhin passt. Jeder gewaltsam verursachte Tod ist schrecklich.» Sie hielt kurz inne. «Wir sollten möglichst emotionslos ermitteln, nur so können wir strategisch vorgehen.»

«Und wo, bitte, siehst du hier eine Strategie?», fragte Fabia offensichtlich genervt und zwinkerte Louis zu, als müsste sie von ihm eine Bestätigung erhalten.

Valérie schluckte leer. Sie wollte dies nicht kommentieren. Die Stimmung unter den Ermittlern war schlecht, auch deshalb, weil das Wochenende bevorstand und einige viel Überzeit hatten. Sie wandte sich an Schuler. Er und seine Leute hatten bis vor Kurzem am Sihlsee Spuren gesichert, sodass er nicht einmal dazu gekommen war, sich in einen seiner legendären Anzüge zu werfen. Ihn heute in Jeans und Shirt zu sehen war ungewohnt. Valérie wusste nicht viel von ihm. Sein Privatleben war ein absolutes Tabuthema. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Seine Frau hatte sie noch nicht kennengelernt. Beim jährlichen Team-Essen erschien er immer alleine.

Valérie fragte: «Kannst du uns zur Spurensicherung etwas Konkretes sagen?»

«Möglicherweise wurden die Leichenteile in der Nähe der Birchlimatt zwischen der Viaduktstrasse und dem Erlenmoosweg ins Wasser geworfen. Der See ist in dieser Gegend relativ ruhig. Zudem gibt es dort fast keine Strömung. Wir müssen aber davon ausgehen, dass die Leiche in einem Boot hinaustransportiert wurde. – Gemäss unseren Kollegen von der Taucherequipe fanden sie die Teile in einer Reichweite von ungefähr hundert Metern. Jedes Teil war an einem Stein befestigt worden. Der Täter wollte wahrscheinlich nicht, dass man sie findet.» Schuler legte Fotos auf den Tisch. «Die Steine befinden sich im forensischen Labor. Wir dürfen davon ausgehen, dass sie anhand der Beschaffenheit einer Gesteinsformation zugeteilt werden können. Wenn wir in Erfahrung bringen, woher sie stammen, können wir vielleicht den Tatort bestimmen.»

Wenigstens bestand Hoffnung, doch Valérie ahnte, wie schwindend klein sie war.

«Der Kopf müsste doch auch irgendwo im See sein», meldete sich Louis.

«Die Taucher sind noch dort und suchen weiter», sagte Schuler. «Aber ich denke, dass wir unser Augenmerk in erster Linie auf die Boote richten sollten …»

«Das wäre dann die nächste Aufgabe, die Besitzer ausfindig zu machen, die auf dem Sihlsee ein Boot haben», sagte Valérie und brachte auf dem Flipchart die erste Notiz an.

«Im Erlenmoos gibt es einen kleinen Hafen, wo ein paar Boote vor Anker liegen», sagte Schuler.

«Was nicht heisst, dass die Leiche in einem dieser Boote transportiert wurde», sagte Fabia, die sich trotz Valéries Befürchtung, sie sei in Gedanken anderswo, auf Schulers Ausführungen konzentriert hatte. «Es existieren sicher auch ein paar Bootshäuser entlang des Ufers. Wir sollten die Suche ausdehnen.»

Valérie notierte. Sie wandte sich erneut an Schuler. «Gibt es Blutspuren?»

«Keine bis anhin.»

«Kein Blut? Aber da müsste doch welches sein», sagte Louis. «Oder glaubst du, das Opfer wurde im zerstückelten Zustand auf den See hinausgefahren?»

«Das nehme ich an.» Auf Schulers Gesicht zeigte sich keine Regung, während er Valérie einen Blick zuwarf.

Valérie bedankte sich für die Ausführungen. «Alles Weitere werden wir von Dr. Stieffel erfahren. Bis es so weit ist, würde ich gern unser Vorgehen besprechen. Und bitte, auch wenn das Wochenende bevorsteht, verlange ich von allen, ausnahmslos», sie musterte Louis, der amüsiert die Augen verdrehte, «den vollen Einsatz. Für die Ermittler gilt in erster Linie eine lückenlose Befragung von den Bewohnern im Gebiet Birchli. Protokolliert vor Ort und rapportiert mir alles bis spätestens morgen Nachmittag zur gleichen Zeit. Wir wissen lediglich, dass es sich bei der Toten um eine Frau handelt. Was hat es mit dem Ring auf sich, der an einem ihrer Finger klemmte? Woher stammt er? Fabia, schliesse dich mit dem Fahndungsdienst kurz. Sie sollen dir die Neuzugänge der Vermisstenmeldungen aushändigen.»

«Aber diese sind doch im System», motzte Fabia leicht beleidigt.

«Es könnte ja sein, dass es neue Meldungen gibt, die man noch nicht erfasst hat», sagte Louis.

Valérie entliess ihr Team. Bis auf Henry Vischer leerte sich der Sitzungsraum, worauf sich Valérie an den Polizeipsychologen wandte. «Was hältst du davon?»

«Wovon?»

«Von diesem Fund.»

«Warum hast du die Frage nicht vorhin gestellt?»

«Weil ich keine unnötigen Diskussionen und vor allem keine Spekulationen darüber wollte.» Valérie sammelte die übrig gebliebenen Fotos ein und steckte sie in ihre Mappe. «Ich habe ein ungutes Gefühl. Dass so etwas hier passiert, in diesem Klosterdorf. Was ist dein Fazit?»

«Wir sollten nach ähnlichen Fällen in der Vergangenheit suchen», sagte Vischer. «Auch über die Grenzen hinaus. Sonderbar ist, dass der Kopf nicht zum Vorschein gekommen ist. Womöglich befindet er sich ganz woanders, oder der mutmassliche Täter hat ihn als Trophäe mitgenommen.»

«Meinst du, er könnte das hier wiederholen?» Valérie zeigte auf das Bild mit dem Torso. Dieser musste total ausgeblutet sein, was seine bläulich weisse Farbe verriet. Die Bein- und Armstümpfe waren schwindend klein. Der Täter musste eine Axt, wenn nicht eine Fräse dazu verwendet haben, um die Extremitäten vom Rest des Körpers zu trennen.

«Ich glaube, es ist zu früh für solche Schlüsse.»

«Was sagt dein Verstand? Was treibt einen Psychopathen um, der das hier mit einer solchen Akribie ausführt? Ich meine, das macht er nicht einfach so …»

«Von einem Affekt können wir mit Sicherheit nicht ausgehen, da gebe ich dir recht.» Vischer schnalzte mit der Zunge. «Ich werde mich ein wenig in diese gestörte Psyche vertiefen. Zuerst aber gehe ich zum Italiener. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Kommst du mit?»

Valérie winkte ab. «Ich habe vorsorglich ein Sandwich eingepackt. Das lachte mich heute Morgen auf der Fahrt hierher bei der Tankstelle an. Schinken mit Ei und ganz viel Mayonnaise.»

«Seit wann isst du so ungesund?»

«Zwischendurch brauche ich das.» Valérie verliess den Raum.

Auf dem Weg zu ihrem Büro rief Res Stieffel sie an. Die Wogen zwischen Valérie und dem Gerichtsmediziner hatten sich ein wenig geglättet. Er duzte sie wieder. Das war ein Fortschritt, fand sie. Nachdem sie ihn bei einem Essen in einem sündhaft teuren Restaurant hatte abblitzen lassen, hatte er lange Zeit geschmollt und sie wieder gesiezt. Und als er erfahren hatte, dass seine platonisch Angebetete mit dem Staatsanwalt eine Beziehung pflegte, hatte er eine Weile unanständige Bemerkungen fallen lassen, wenn er sie sah. Valérie war nicht darauf eingegangen, was ihn schliesslich fast handzahm machte. Oder, das war eher möglich, er hatte sich eine andere Frau angelacht.

Valérie nahm das Gespräch entgegen.

«Ist der Kopf noch immer nicht zum Vorschein gekommen?», fragte Stieffel anstelle einer Begrüssung.

Valérie erreichte die Tür zum Büro. «Ich hätte mich sonst gemeldet.»

«Ich stehe gerade im Sektionssaal. Die Legalinspektion ist durch. Ich werde mich jetzt den Innereien widmen. Nachher möchte ich dir zeigen, was mir aufgefallen ist.»

«Kannst du mir das nicht am Telefon erklären?» Valérie sah ihre Zeit, die sie dem Internet widmen wollte, bachab gehen. «Oder kannst du es fotografieren und schicken?»

«Du hast den Torso noch nicht gesehen, oder?»

«Nein. Worum geht es überhaupt?» Valerie wurde ungeduldig. «Was ist mit dem Rumpf?»

Stieffel zögerte. «Ich kann mir absolut keinen Reim darauf machen.»

Das tat er extra. Wollte sich wichtigmachen. Sie kannte es von früheren Obduktionen.

«Das heisst, dass ich heute noch nach Zürich fahre …», hörte sich Valérie laut ihre Gedanken äussern.

«Exakt. Ich wäre froh, wenn wir das so bald als möglich hinter uns bringen.»

Davor graute ihr. Wenn sie es umgehen konnte, so mied sie den Besuch in der Pathologie. Nicht, dass ihr der Anblick von Leichen viel ausgemacht hätte; sie hatte sich während Jahren einen Panzer zugelegt. Es war der Geruch, der ihr jedes Mal fast die Kehle zuschnürte. «Also», sagte sie, «wenn ich mich auf den Weg mache, könnte ich in einer knappen Stunde bei dir sein.»

ZWEI

Bereits im Vorraum überkam Valérie leichter Schwindel. Nur widerwillig zog sie sich den bereitgelegten sterilen Anzug an. Die Haare band sie zusammen und steckte sie unter eine Haube.

Das kalte Neon hüllte alles in ein gespenstisch blasses Licht. Ein anonymer Ort, der nichts Freundliches ausstrahlte. Hier zu arbeiten erforderte eine gewisse Abgebrühtheit. Andererseits waren die Toten, wenn sie hierhergebracht wurden, seelenlose Materie, von der keine Energie mehr ausging. Trotzdem fröstelte es Valérie jedes Mal aufs Neue. Der Raum glich einer Katakombe mit weissen Kachelwänden und einem ebensolchen Boden, auf dem Rinnen eingefügt waren, die unter jeder Arbeitsfläche in einen Abflussschacht führten. In akkuratem Abstand waren fahrbare Alutische aufgestellt, auf denen zugedeckte Körper lagen. Valérie warf schnell einen Blick darauf, bevor sie ihre Aufmerksamkeit dem Gerichtsmediziner widmete.

«Zwei Opfer einer Messerstecherei in Zürich», sagte Stieffel, «ein Toter mit Verdacht auf Vergiftung und eure zerstückelte Wasserleiche. Gestern muss der Wurm drin gewesen sein. Die Leute spielten verrückt.»

Valérie hatte Stieffels trockenen Humor noch nie verstanden.

Er ging zum Alutisch mit den grünen Tüchern, unter denen Valérie anhand der Formen die Leichenteile aus dem Sihlsee vermutete. Sie hatte absolut kein Verlangen, diese zu begutachten. Sie würde jedoch nicht darum herumkommen. Daran, dass Stieffel sie aus andern Gründen als die der Leichenschau hatte kommen lassen, wollte sie nicht glauben. Obwohl alles dafür sprach. Er schien sie mit seinem Blick geradezu ausziehen zu wollen, aber das regte sie nicht mehr auf. Vielmehr musste sie sich wieder gegen diesen Geruch wehren. Formaldehyd – trotzdem besser zu ertragen als der Gestank nach Verwesung.

«Danke, dass du gekommen bist.» Stieffels ernste Mimik veränderte sich nicht. Zwischen Nase und Mundwinkel hatten sich tiefe Falten eingekerbt. Die waren neu. Valérie erinnerte sich nicht daran, die schon einmal gesehen zu haben. «Wie erwähnt, habe ich die Legalinspektion vorgenommen. Der Bericht ist bereits unterwegs zu Fischbacher. Aber es gibt etwas, das konnte ich so nicht beschreiben.»

«Ich bin gespannt.» Valérie blieb zwei Schritte vom Tisch entfernt stehen. In Wahrheit war sie nervös. Stieffels Bemerkung hatte sie auf dem Weg hierher nicht mehr losgelassen. Was konnte so furchtbar sein, dass selbst er die Worte dafür nicht fand?

«Es handelt sich um die sterblichen Überreste einer Frau von ungefähr achtzig Jahren», sagte Stieffel und brachte die Zwischenbemerkung an, wie schwierig die Analyse der Wasserleiche gewesen sei. «Aufgrund der tiefen Wassertemperatur und des damit verbundenen verminderten Bakterienbestands konnte ich zumindest die Fingerabdrücke ohne Probleme entnehmen. Mein Kollege hatte die Leichenteile vor Ort fixiert und sie mittels Injektion konserviert, was meine Arbeit hier etwas vereinfachte. Aber das Alter des Opfers machte die ganze Sache auch nicht besser. – Sie war nicht übergewichtig, ihr Körper weist den normalen Zerfall auf. Sie litt unter Arthrose und Gicht, was primär die deformierten Fingerkuppen beweisen.»

«Eine achtzigjährige Frau? Warum wurde sie Opfer einer solch brutalen Tat?»

«Um das herauszufinden, bin ich nicht da. Ich kann dir aber sagen, was sie vor ihrem Ableben zu sich genommen hat.»

«Ich gehe davon aus, das steht auch im Bericht.» Valérie hatte kein Verlangen, den detailgetreuen Mageninhalt zu erfahren.

Stieffel ignorierte es. «Sie muss ziemlich viel Wein getrunken haben –»

«Aber», unterbrach Valérie, «wie konntest du das herausfinden, wenn das Blut fast komplett fehlt?»

«Richtig. Sie war ausgeblutet. Das heisst auch, dass ihr Arme und Beine abgetrennt wurden, während sie bei Bewusstsein war – möglicherweise war sie ohnmächtig. Ich hätte es ihr gewünscht.»

«Grosser Gott!» Valérie suchte Halt an einem Aluschrank. «Eine Hinrichtung …» Anders konnte sie diesen bestialischen Mord nicht benennen. Da hatte jemand mit einer grossen Aggression gehandelt. Vorsätzlich. Dem Täter war es wichtig gewesen, das Opfer leiden zu sehen, Macht über es auszuüben bis zum schrecklichen Ende.

«Kennst du den ungefähren Todeszeitpunkt?»

«In der Nacht von Montag auf Dienstag. Zwischen Mitternacht und vier Uhr. Steht auch im Bericht.» Stieffel schniefte laut. «Der Alkohol befand sich noch im Magen. Sie muss ihn unmittelbar vor ihrem Tod zu sich genommen haben. Die Verdauung hatte noch nicht vollständig eingesetzt. Die Magensäure war hochkonzentriert.»

Valérie überlegte. «Eine Frau im Alter von achtzig Jahren, die so spät am Abend Alkohol konsumiert. – Ich war immer der Meinung, dass alte Menschen früh zu Bett gehen. Und jetzt sagst du mir, dass sie sich womöglich betrunken hat.»

«Ausnahmen bestätigen die Regel.» Er räusperte sich. «Vielleicht hat man ihr den Alkohol gewaltsam zugeführt. Hätte ich den Kopf, wäre es einfacher, dies herauszufinden.»

«Deinen Job möchte ich nicht haben.»

«Glaube mir, bei diesem Fall brauche auch ich Überwindung.»

Das allerdings nahm sie ihm schwerlich ab. Valérie kannte ihn nicht von dieser Seite. Sie dachte immer, nichts könne diesen Mann umwerfen. Alles, was er tat, sei Routine. Hatte sie sich getäuscht? Stieffel schien zu leiden. Oder er machte ihr etwas vor. Nur wusste sie nichts über den Grund.

Er fuhr fort. «Ich habe ihr einen Ring abgenommen. Er wurde ihr mit Kraftanstrengung über den rechten Daumen gesteckt. Die Hautaufschürfungen waren frischeren Datums.» Er überreichte ihr eine Schale, worin der Ring lag. «Erinnert mich an einen Papstring.»

«Papstring?» Valérie zögerte. «Ein solcher würde anders aussehen.» Sie wollte nicht belehrend wirken und dennoch Stieffels Vermutung korrigieren. «Ist nebst dem Papstnamen auf der Ringplatte nicht der Apostel Petrus dargestellt?»

«War nur so ein Gedanke. Vergoldet mit einem blauen Stein, Saphir, nehme ich an. Muss auf jeden Fall ein Vermögen gekostet haben.»

Valérie sah sich den Ring näher an. «Könnte auch ein Lapislazuli sein.» Sie erinnerte sich an ihren Grossvater mütterlicherseits, der einen solchen getragen hatte. «Warum steckt man ihr einen Herrenring an den Finger?» Sie stellte die Schale auf einen separaten Tisch zurück, auf dem Operationsbesteck lag. Auf der Innenfläche des Ringes entdeckte sie einen Namen: «Ferdi». Valérie zog die Brauen zusammen. «Die Abkürzung von Ferdinand. Ein eher alter Name. Könnte vielleicht doch ein Frauenring sein. Eine gröbere Ausführung als üblich. Könnte Ferdi auch die Abkürzung für einen weiblichen Namen sein?»

«Ferdinanda», sagte Stieffel. «Ich kenne ein Restaurant in Prag mit diesem Namen. Die schenken hervorragendes Bier aus. Meine Kollegen nennen das Lokal ‹Ferdi›.»

Valérie hob ihre Schultern und packte den Ring in einen Asservatenbeutel, während sie Stieffel nicht aus den Augen liess. «War es das, was du mir zeigen wolltest? Den Ring?»

«Nicht nur …» Er schluckte leer. «Es gibt etwas auf ihrem Oberkörper, das mich rätseln lässt. Bist du bereit?»

Für das hier war Valérie noch nie bereit gewesen. Es brauchte Überwindung, zumal sie auf etwas komplett Neues stossen würde. Auf einen Torso mit abgetrennten Armen und Beinen. Allein der Gedanke an den fehlenden Kopf erforderte starke Nerven. Stieffel war jedoch so rücksichtsvoll, dass er nur den Körperteil frei machte, auf dem er das Seltsame entdeckt hatte und das der Grund für Valéries Anwesenheit war, was er noch einmal betonte.

Widerwillig beugte sich Valérie über die farblose Stelle, die sie an zerknautschten Gummi erinnerte. Eine kleine, schrumpelige Frauenbrust.

«Siehst du das?» Stieffel kreiste mit einem Stift die Stelle ein, ohne sie zu berühren.

«Ein Tattoo?» Valérie fixierte den sichtbaren Hautausschnitt. Das Zeichen, auf den ersten Blick als Tätowierung zu erkennen, hatte die Grösse eines Einfränklers.

«Ein Brandmal», sagte Stieffel. «Sie wurde buchstäblich gebrandmarkt. Ante oder post mortem.»

«Vor oder nach ihrem Tod?»

«Richtig. Kurz davor oder danach.»

«Ein Kreis», sinnierte sie laut, «in der Mitte ein Kreuz … in den vier Kreuzwinkeln die Buchstaben C, S … die nächsten beiden Buchstaben könnten …», Valérie verengte ihre Augen, «… die wirken verschwommen.»

«Da steht noch mehr drauf. Aber selbst mit der Lupe war ich nicht fähig, es zu entziffern –»

«Lupe?» Valérie glaubte, nicht richtig gehört zu haben. «Das klingt nach Sherlock Holmes.»

Stieffel runzelte die Stirn. «Das Rasterelektronenmikroskop, mit dem wir üblicherweise arbeiten, ist im Moment in der Revision. Ein anderes steht mir heute nicht zur Verfügung. Du müsstest dich bis morgen gedulden.»

«Hast du die Lupe griffbereit?» Valérie unterdrückte den Reflex, sich über das Fehlende lustig zu machen.

Stieffel langte auf den Alutisch. «Hier, vielleicht hast du den besseren Blick.»

«Die gute alte Lupe.» Valérie hielt sie unmittelbar über das seltsame Zeichen. «Hm. Oben steht an erster Stelle ein P. Der zweite Buchstabe könnte ein A sein, der dritte ein X … PAX …»

«Friede», sagte Stieffel selbstverloren.

Valérie konzentrierte sich auf die Buchstaben auf dem Längsbalken des Kreuzes, fünf mussten es sein. Sie konnte lediglich die ersten beiden Buchstaben entziffern. C und S. Schon wieder C und S. Sie kam auf keinen Nenner. Die restlichen drei Lettern verschwanden in den unzähligen Hautfältchen. Auch auf dem Querbalken schien eine Entzifferung unwahrscheinlich. «Hast du schon Fotos davon gemacht?»

Stieffel bejahte. «Die gebe ich dir am besten gleich mit. Sie befinden sich nicht beim Bericht an Fischbacher. Ich dachte …»

«Ja?» Valérie legte die Lupe beiseite. «Was dachtest du?»

«Könnte heikel sein. Ich wollte, dass du es zuerst erfährst. Ich meine», er zögerte, «der sonderbare Ring, das Brandmal … das alles sieht ziemlich nach einer mysteriösen Sache aus.»

«Seit wann machst du dir Gedanken darüber?» Valérie schüttelte den Kopf. «Oder möchtest du mit mir tauschen?»

Stieffel wandte sich verlegen ab, was sie so nicht an ihm kannte. «Es ist meine erste Leiche dieser Art.»

Wollte er sie veralbern?

«Vielleicht tröstet es dich, meine auch.» Valéries Erwiderung widerstrebte ihrem Gefühl. So kaltschnäuzig, wie sie sich gab, war sie nicht. Doch sie sah nicht ein, weshalb sie jetzt und hier ihre innere Zerrissenheit hätte präsentieren sollen. Fakt war, dass sie über ihren neuen Fall, der noch keine zwölf Stunden alt war, noch sehr wenig wusste. Und hätte es bei der Fahndung eine Vermisstenmeldung gegeben, die der Toten entsprach, hätte Fabia es sie schon längst wissen lassen. Andererseits würde sie die aktuellen Vermisstenmeldungen einschränken können, wenn Fabia das Alter der Toten erfuhr. Sie dachte darüber nach, dass in der heutigen anonymisierten Zeit ein verschwundener, gar toter Mensch tagelang unentdeckt bleiben konnte. Trotzdem: Jemand musste die Frau doch vermissen.

«Hältst du mich auf dem Laufenden?», fragte Stieffel und deckte den Rumpf wieder zu.

Valérie wunderte sich. Noch nie hatte er sich für die Ermittlungen interessiert. Er machte seinen Job, begutachtete und sezierte Leichen, bildete angehende Medizinstudenten aus und erteilte Fortbildungskurse für Notärzte. Die Autopsie, hatte er einmal gesagt, sei nur ein Teil seiner Arbeit, die in seinen Augen spannend und vielseitig sei. Er untersuchte auch lebende Verletzte: misshandelte Kinder und Frauen auf Zeichen von äusserer Gewalt. Zudem Täter auf Wunden für den Fall, dass sich das Opfer gewehrt hatte.

Valérie antwortete nicht. Sie bedankte und verabschiedete sich und ging Richtung Tür, als Stieffel sie einholte. «Du solltest eines wissen, Valérie.» Er berührte ihren Arm. «Ich bewundere dich, mit welcher Souveränität du die Fälle jeweils angehst. Und sollte ich dir in letzter Zeit auf die Füsse getreten sein, so tut es mir aufrichtig leid. Ich mag auf dich wie ein Casanova wirken, aber das bin ich nicht.»

Na ja, da hatte sie schon anderes gehört und es selbst erfahren. Irritiert ob dieses Geständnisses drückte sie die Türfalle und schob sich in den Vorraum, wo sie den sterilen Anzug und die Haube ablegte. Stieffel stand unter dem Rahmen, während sie sich ihre Jacke anzog. «Hättest du Zeit für einen Drink?», fragte er.

Sie lächelte still vor sich hin. «Gern ein andermal», sagte sie, obwohl sie ahnte, dass sie Stieffel damit für weitere Flirtattacken geradezu einlud. Dass er sich gebessert haben sollte, nahm sie ihm nicht ab. Wahrscheinlich hatte er sich gerade eine neue Masche ausgedacht, wie er sie bestenfalls doch noch rumkriegen konnte. Auf die nette, geduldige Tour.

«Auf mich wartet ein Berg Arbeit.» Valérie vergewisserte sich, dass sie den Ring und die Fotos vom Brandmal eingepackt hatte, und verliess die Rechtsmedizin.

Die Fahrt durch die Stadt erforderte Geduld. Bis Valérie die Quaibrücke erreichte, verging eine halbe Stunde. Die ersten milden Tage hatten die Leute auf die Strassen gelockt. Zürich, ihr einstiger Wohnort. Valérie konnte die Wehmut, die sie aufgrund der Vielfalt der Menschen empfand, nicht ganz von sich fernhalten. Wie gerne wäre sie wieder einmal durch die Bahnhofstrasse flaniert, hätte sich die teuren Auslagen angesehen und sich das eine oder andere geleistet. Sie hatte sich selbst ein Sparprogramm aufgezwungen, weil sie nicht wusste, wie ihre Zukunft einmal aussehen würde. Wenn sie eines aus der gescheiterten Ehe mit Willy gelernt hatte, dann dies: sich niemals mehr von einem Mann in irgendeiner Form abhängig zu machen. Dies erforderte jedoch auch Verzicht und dass sie ihre Wünsche manchmal hinten anstellen musste. Sie hatte sich mit dem Kauf des Audi TT schon zu viel erlaubt.

Über die Limmat hatte sich die blaue Stunde gelegt. Überall gingen die Lichter an und verzauberten den Blick Richtung Fraumünster. Auf der Höhe der Talstrasse überlegte Valérie sich, abzuzweigen, einen Parkplatz zu suchen und sich ins Nachtleben zu stürzen. Einmal wieder etwas komplett Verrücktes tun, die Erinnerungen an ihre jungen Jahre aufleben lassen, an den Anfang zurückkehren, als sie in einer Anwaltskanzlei ihre ersten Sporen abverdient hatte, bevor sie zur Polizei ging. Sie entsann sich der nie enden wollenden Nächte, in denen sie von Bar zu Bar lustwandelt war, um das Leben zu spüren. Immer jedoch mit einer Portion Vorsicht, denn in ihrem Beruf hatte sie sich keine Auswüchse leisten dürfen. Zudem hatte ihr Willy immer hinterherspioniert.

Jetzt war sie fünfundvierzig und in den letzten Jahren ernst und – wenn sie ehrlich mit sich selber war – verbissen geworden. Die Flugzeuge waren zwar in ihren Bauch zurückgekehrt, aber sie musste sich nichts vormachen: Sie wusste, wo das enden würde. Emilios Vorschlag, eine gemeinsame grössere Wohnung zu suchen, stand sie mit Skepsis gegenüber. Sie liebte und begehrte diesen Mann, aber sie wollte auch mehr Zeit für sich. Gegenüber einer neuen Bindung hatte sie grossen Respekt. Sie musste sich nur in ihrem Bekanntenkreis umsehen. Die Angst davor, in eine Beziehung zu rutschen, in der man nebeneinander lebte, beherrschte ihr Denken. Sie brauchte das Feuer. Doch sie fürchtete sich davor, dass es auch zwischen Emilio und ihr erlöschen könnte.

Sie fuhr weiter, ohne abgezweigt zu sein.

Ging ihr Leben im gleichen Tramp weiter? Würden weiterhin Gewalt, Mord, Totschlag und schrecklich zugerichtete Leichen ihren Weg pflastern? Auf einmal überkam sie Panik. Wie gern hätte sie ihre Freundin Katja angerufen. Sie jedoch war seit über einem Jahr auf Weltreise. Die letzte Nachricht war vom Mekong gekommen. Ein kurzer Gruss per SMS. Valérie wusste nicht einmal, ob es ihr gut ging.

Vielleicht sollte ich auch aussteigen, ging ihr durch den Kopf. Ein Jahr untertauchen. Langsam wurde ihr Sohn erwachsen, würde bald schon auf eigenen Beinen stehen, für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen können.

Und Emilio? Er würde es nicht begreifen. Aber hatte er ihr nicht auch etwas vorgemacht? Als sie davon ausgegangen war, dass er der ewige Junggeselle war? Dann war da plötzlich eine kranke Ex-Frau aufgetaucht, die er bis zu ihrem Tod fast fürsorglich betreute. Existierten noch andere Geheimnisse, die er vor ihr verschwieg?

Sie musste ihn sprechen.

Valérie nutzte den Stau für einen Anruf über die Freisprechanlage. Die Wasserleiche wäre ein guter Vorwand, um sich langsam auf ein tiefer greifendes privates Gespräch heranzutasten. Sie wusste, dass das nicht die feine Art war, und bei anderer Gelegenheit hätte sie sich deswegen selbst als Feigling bezeichnet.

Zanetti meldete sich nicht. Valérie ging davon aus, dass er sich noch immer in der Sitzung befand, die er zwischen Tür und Angel kurz erwähnt hatte. Enttäuscht brach sie die Verbindung ab, als sich seine Combox meldete. Sie hatte kein Bedürfnis, darauf zu reden. Das musste ein Zeichen sein. Sie würde nicht darum herumkommen, ihn unter vier Augen zu sprechen.