Klausjäger - Silvia Götschi - E-Book

Klausjäger E-Book

Silvia Götschi

4,9

Beschreibung

Eine jahrhundertealte Tradition endet tödlich: Beim Klausumzug in Küssnacht treibt ein Mörder sein Unwesen. Ausgerechnet der heilige Sankt Nikolaus liegt erschossen in der Bahnhofstraße des ansonsten so beschaulichen Rigidorfs. Ist der Täter im beruflichen Umfeld des Opfers zu suchen? Der Mann war immerhin der örtliche Bezirksrichter. Valérie Lehmann und ihr Team stehen vor einem Rätsel. Je tiefer sie graben, desto Unglaublicheres kommt ans Tageslicht.

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Silvia Götschi, geboren 1958 in Stans, lebte und arbeitete von 1998 bis 2014 im Kanton Schwyz. Von Jugend an widmet sie sich dem literarischen Schaffen und der Psychologie. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin und Mitarbeiterin in einer Werbeagentur. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern.www.silvia-goetschi.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Am Ende findet sich ein Glossar.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/Prisma BildagenturAG/Alamy Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH) eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-098-0 Originalausgabe

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Rache ist ein Geständnis des Schmerzes.

Lucius Annaeus Seneca

Den Gipfel umschlossen wie eine Qualle Wolken, und aus dem Himmel schossen Lichtblitze, als kehre die Dreifaltigkeit auf die Erde zurück. Ein biblisches Bild war es, und er starrte einen Moment fasziniert darauf. Vergessen war sein Auftrag und weshalb er auf dem Seeplatz stand. Seit einer Viertelstunde bereits. Den Pilatus sah er nicht wirklich, nur ein Schemen hinter dem Vorhang der Nebelwand. Er nahm das Naturtheater wahr, wie er Bilder in Illustrierten wahrnahm. Gefühle waren ihm fremd, genauso wie Regungen, die Herzklopfen verursachten. Er zählte die Striche am Horizont, die auf dem Wasser reflektierten. Insgesamt zwölf waren es. Zwölf wie die Apostel oder die Tierkreiszeichen. Die zwölf Brüder in Grimms Märchen.

Später raffte er sich auf und ging in die Bahnhofstrasse. Deswegen war er hierhergekommen. Nach Küssnacht. Ins Dorf am Fusse der Rigi, deren Spitze mit dem Sendeturm er von hier aus sehen konnte. In diese Richtung zeigte sich der Himmel klarer.

Er beobachtete das Gebäude auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Ein Modegeschäft, die Schaufenster schon festlich dekoriert. Er sah Leute eintreten. Leute, die herauskamen, beladen mit Tragtaschen voll neuer Errungenschaften, neuer Kleider, neuem Glück. Bald war Weihnachten. Und der Kaufrausch fand keine Grenzen. Wie schnell könne man davon süchtig werden, sagte man. Weshalb das so war, hatte er noch nie begriffen. Es interessierte ihn auch nicht.

Er umschloss mit beiden Händen fest seinen Rucksack. Er hatte ihn vom Rücken genommen. Er war ein ganz normaler Mensch, der jetzt die Strasse überquerte. Die grossen Fenster waren mit unechten Tannenbäumen geschmückt. Überall Glimmer und Schnee und funkelnde Sterne. Und Puppen mit seidigen Haaren. Engel da und dort. Eine Melodie lockte ihn ins Innere. Die Wärme und der Zimtduft, der vom ätherischen Öl ausging. Auf dem Tresen eine Schale mit Orangen. Eine Verkäuferin wickelte ein Paket mit Goldpapier ein. Sie blickte auf. Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. Ihr Mund wie zwei Zahlen. Die Zeiger einer Uhr. Zehn und zwei, dachte er.

Er ging zur Treppe und stieg nach oben. Fünfzehn Stufen. Die Herrenabteilung war kaum besucht. Er fand schnell die Stelle, die er schon Tage zuvor inspiziert hatte. Ein Blick auf die Uhr. Das Geschäft würde heute um vier Uhr schon schliessen. Der Sonntag stand bevor. Und der Montag, an dem das Geschäft geschlossen blieb. Er sah sich um. Niemand mehr da. Eine Kundin hatte sich nach unten begeben. Das Licht war bereits gedimmt. Er würde sich unter dem Kleiderständer an der hinteren Wand verstecken. Einfach zusammenrollen. Der Boden, auf dem sich der Ständer befand, war etwas erhöht. Dort lag ein wenig Staub. Er deponierte seinen Rucksack. Ein schneller Blick ins Büro. Ein Mann sass am Pult, den Rücken hatte er ihm zugewandt.

Bald würde dieser den Raum hier verlassen. Dann war er allein.

Allein mit seinem Plan. Mit seinem Auftrag.

EINS

«Das musst du dir ansehen! Diesmal kommst du nicht darum herum.» Henry Vischer hatte sie fast angefleht. «Seit acht Monaten lebst und arbeitest du im Kanton Schwyz. Der Klausumzug in Küssnacht gehört zu unserer Kultur. Wenn du willst, kannst du nachher bei mir schlafen. Ich habe genügend Platz.»

Valérie Lehmann hatte dies mit einem Schmunzeln quittiert. Sie hatte nie viel von Paraden gehalten, schon gar nicht in einer Jahreszeit wie dieser. Es war Montag, der 5.Dezember, und eine Schweinekälte.

Seit einer halben Stunde stand sie in der Nähe des Kreisels, schräg gegenüber dem Pizza-Kurier, und fror. Ihre Füsse fühlten sich wie Eisklötze an, obwohl sie ihre mit Schaffell gefütterten Stiefel trug und unter dem Daunenmantel mindestens vier Lagen Stoff und Wolle, vom Unterhemd bis zum Kaschmirpullover.

Der Polizeipsychologe Henry Vischer hatte sie mit seinem Charme letztlich doch überzeugen können. Jetzt hielt er ihr einen Pappbecher dampfenden Tee hin. Sie griff dankbar danach und fragte sich, wie er es ohne wärmende Mütze und Haare aushielt. Er schien gegen die Minustemperaturen immun zu sein. Sie lächelte vor sich hin. Mit dem Vorschlag, bei Henry zu übernachten, konnte sie sich ein wenig anfreunden. Sie hatte seine Wohnung erst einmal gesehen und war angenehm überrascht gewesen. Sicher würde er ihr einen Futon zur Verfügung stellen, er, der bekennende Japanfan. Und er würde sie in Ruhe lassen. Mittlerweile kannte sie ihn recht gut und wusste, dass er nie auf die Idee kommen würde, sie zu belästigen. Er war mit einer Frau liiert, die in Japan studierte. Sie führten eine gut funktionierende Fernbeziehung. Sex werde überbewertet, war Henrys Auffassung. Wenn man sich liebe, werde alles andere nebensächlich– auch die Distanz. Im Sommer war er sechs Wochen in Bunkyō gewesen, hatte davon geschwärmt, was sie dort unternommen hatten– Helena und er. Sie seien durch den Botanischen Garten gewandert, hätten das Judoinstitut, den Nezu-Schrein sowie den Yushima-Seidō-Tempel besucht.

Das fahle Licht der Strassenlampen kämpfte sich durch den Nebel, der seit dem Nachmittag noch zugenommen hatte. Seit einer Stunde drängten sich die Leute auf ihre Stehplätze, die sie gepachtet zu haben schienen. Und es wurden immer mehr.

«Ich hatte eine gute Nase, uns früh an den Strassenrand zu stellen», sagte Henry voller Stolz. «Um acht gibt’s hier kein Durchkommen mehr.»

«Und was ist jetzt an dieser Veranstaltung so besonders?» Valérie schlürfte vom Tee. Ihre klammen Hände hatte sie um den Becher gelegt. Neben sich spürte sie Henrys Körper und wunderte sich, wie warm seine Schulter abstrahlte.

«Ich hielt es zuerst auch für Humbug», sagte er. «Aber seit meinem ersten Mal vor sechs Jahren gehe ich jedes Jahr hierhin. Ich mag die Atmosphäre. Zudem gehört der Klausumzug zu den bekanntesten Nikolaustraditionen Europas. Tausend Klausjäger und zweihundert Iffele laufen mit. Über zwanzigtausend Zuschauer kommen hierher.»

«Du bist gut informiert.» Valérie beobachtete eine Familie mit drei Kindern, die sich durch das Gedränge drückte und die Kinder zum Ärgernis eines älteren Ehepaares vor dessen Nasen auf das Trottoir pflanzte.

Das ganze Dorf war auf den Beinen. Auch von den umliegenden Orten sowie aus der ganzen Schweiz, sogar aus Deutschland waren die Leute angereist, um dem alljährlichen Treiben in Küssnacht beizuwohnen. Die Fenster an den umliegenden Häusern waren weihnachtlich dekoriert. Lämpchen und Tannenzweige schmückten sie und mit farbigem Seidenpapier und schwarzem Karton angefertigte Sujets. Landschaften wurden ersichtlich. Märchenfiguren und Tiere. Der Dorfplatz als ein Adventskalender, damit jedermann die Tage bis zu Weihnachten zählen konnte.

Ein Donnerschlag erschütterte die Gegend, ein Böllerschuss. Der Boden zitterte. Viertel nach acht war’s. Die Lichter gingen aus, als wäre im Elektrizitätswerk der Hauptschalter gekippt worden. Es herrschte eine gespenstische Szenerie. Henry drückte Valérie an sich. Hätte sie nicht so verdammt gefroren, hätte sie es nicht zugelassen. Sie hasste Nähe. Von Männern sowieso. Über die Trennung von ihrem Mann Willy war sie zwar hinweg; die Wunden allerdings heilten nur langsam. Narben blieben zurück wie jene auf ihrem Gesicht, die sich vom linken Lidrand über die Wange bis zum Mundwinkel zog.

Bereits vernahm man die ersten Geisselklöpfer. Sie zogen über die Strasse des Oberdorfs auf den Kreisel zu. Stämmige Burschen in weissen Hirtenhemden, die man ob der Finsternis kaum erkannte. Einhändig schwangen sie die Stricke und ernteten dafür Beifall.

«Die nennt man Fuhrmanngeissel», erklärte Henry. «Mit der wird der Chrüzlistreich demonstriert.» Er zeigte auf eine Gruppe von Männern. «Und diese dort schwingen die sogenannte Schafgeissel. Es erfordert ein besonderes Geschick, da sie sehr schwer und lang ist und mit beiden Händen geschwungen wird.»

Ein Raunen ging durch die Menge, als wenig später die ersten kunstvoll verzierten und beleuchteten Iffelen verschiedener Grössen auftauchten. Einige erreichten eine Höhe von fast zwei Metern.

«Die meisten von ihnen», sagte Henry, «haben ein biblisches Motiv.»

Tatsächlich kamen sie Valérie wie Kirchenfenster vor. Mosaike, Girlanden und Bänder, auf denen das Kreuz eine tragende Rolle spielte. Der Sankt Nikolaus oder die Heilige Familie sowie der Schriftzug «JHS» schienen die traditionellen Motive zu sein. Bunt waren sie. Auf der Rückseite der Iffelen hatten sie die Form einer Rosette.

«Da steckt viel Arbeit dahinter», sagte Henry. «Bis zu fünfhundert Stunden. Ich habe es auch einmal versucht. Habe die Übung dann abgebrochen. Ich bin kein Feinmechaniker.» Er lachte. «Da müssen Kleinstteilchen von Seidenpapier auf die von Hand ausgestanzten Kartons geklebt werden. Zudem fehlt mir die Geduld für so etwas.»

Die Männer in ihren hellen Gewändern tänzelten in der Parade, drehten sich, schritten im Takt zum Dreiklang von Hörnern, Trompeten und Sousafon– do, do, dooo, do, mi, so, mi, dooo… Klarinetten und Saxofone– alles, was möglichst viel Lärm erzeugte. Valérie spürte, wie ihre Nackenhaare zu Berge standen. Henry hatte nicht übertrieben, dass der Klausumzug niemanden unbehelligt lasse. Das sei die typische Klausenmelodie, hatte er erklärt. Diese verdanke man dem Bezirksammann Klemenz Ulrich mit dem Übernamen «Bodefridimänz», der während seiner Amtszeit von 1920 bis 1924 gegen die Auswüchse der Klausjäger rebelliert habe.

Inmitten des Auf- und Abhüpfens der Gestalten und im Schein der Kunstwerke tauchte der Sankt Nikolaus im Bischofsornat und mit dem goldenen Stab auf. Sein weisser Bart wallte über die rote Stola mit dem hellen Pelzbesatz. Flankiert wurde er von drei Schmutzlis mit groben Jutesäcken und Ruten und neun Fackelträgern. Und wieder Iffelen auf den Köpfen von Männern. Valérie hatte bis anhin noch keine Frau entdeckt. Sie überlegte und kam zum Schluss, dass Frauen kaum etwas so Bescheuertes mitmachen würden. Den Höhepunkt bildeten die Treichler. Als hätten sie es monatelang einstudiert, schwenkten sie Glocken auf Lendenhöhe. Valérie lächelte. Das Ganze hatte etwas Phallisches an sich. Im Gleichschritt zogen sie dahin. Die Treicheln erfüllten die Nacht, nahmen sie ein mit ihrem ohrenbetäubenden Klang. Der Boden unter den Füssen vibrierte, das Dröhnen liess Valérie noch mehr frösteln. Ein schauerlicher Zug, der sich durch Küssnachts Strassen bewegte.

Ergreifend und urig. Einen Moment lang glaubte Valérie weinen zu müssen. Ein würgender Kloss hatte sich im Hals verfangen. Nein, so etwas Archaisches hatte sie noch nie zuvor erlebt.

Tief durchatmen.

Henrys lachendes Gesicht tauchte aus dem Schatten auf, als er sich kurz an sie wandte. Er redete, aber sie verstand kein Wort. Sie spürte ein Taubheitsgefühl in ihren Ohren.

Den Schluss des Umzugs bildeten die Hornbläser. Keine richtige Melodie, der Dreiklang, ein Ohrwurm. Die Töne würden sie in den nächsten Tagen noch lange begleiten, war sich Valérie sicher.

«Und wegen dieses Spektakels steht Küssnacht kopf, sind die Strassen verstopft, gibt es keine freien Parkplätze mehr…»

Henry schenkte ihr ein erneutes Lachen. Er schien sich wie ein Kind zu freuen. «Die Nacht gehört ganz den Klausjägern. Eine schöne Tradition, nicht wahr? Ursprünglich ein heidnischer Brauch des Dämonenvertreibens. Vor der Wintersonnenwende sollten die Unholde vertrieben werden. Mit dem Bischof Nikolaus von Myra konnte man dem Brauch einen christlichen Sinn unterlegen. Und seit 1928 sorgt die Sankt Niklausengesellschaft für einen würdigen Ablauf…»

Der Zug stoppte.

Die Spitzen der Iffelen hüpften an gleicher Stelle. Die Jungs mit den Hörnern erstarrten. Einige Treichler fielen aus dem Takt. Valérie kannte solche Phänomene von der Strasse. Aus dem Nichts heraus bildeten sich Staus, die sich später wie von Geisterhand wieder auflösten. Der Stau beim Klausumzug schien jedoch länger anzuhalten. Vor ihr stand ein junger Mann und blies inbrünstig in sein Horn und ihr direkt ins Gesicht, als stünde er unter Drogen. Sie hätte ihm das Instrument am liebsten aus der Hand gezerrt.

Valérie ging ein paar Schritte vom Trottoir zurück. Sie hatte genug gesehen. Henry folgte ihr wenig später. Beim Haushaltswarengeschäft, in dessen Fenstern sich die Nachtlichter reflektierten, blieb Valérie stehen. Sie lehnte sich an die Scheibe und versuchte, im Dickicht des Menschengewühls etwas auszumachen. Noch harrten die Zuschauer aus. Nur die hinteren Reihen lockerten sich ein wenig. Während die Hörner weiterklangen, schienen die Treichler endgültig aus dem Takt zu geraten. Unklar, was der Auslöser dazu war.

«Irgendetwas scheint hier gerade schiefzulaufen», sagte Henry. «Eine solch lange Pause habe ich bis anhin noch nie erlebt.»

«Wollen wir nachsehen?», fragte Valérie wenig euphorisch und mit einem sarkastischen Unterton. Es war an der Zeit, dem Spektakel den Rücken zu drehen. Raus aus der Masse. Nach Schwyz, wo sie wohnte, oder zu Henry nach Immensee ins japanische Zuhause, auf das sie sich den ganzen Tag schon gefreut hatte, auf die in Honig eingelegten Reisknödel mit Sojasauce und die exotischen Leckereien, deren Zubereitung Henry seit seinem ersten Japanbesuch beherrschte.

«Aha, der Ermittlerinstinkt meldet sich», frotzelte Henry. «Aber ich weiss etwas Besseres.»

«Sushi und Sashimi?»

«Du hast es erraten. Dazu einen warmen Sake.»

Reiswein! Den hatte sie bereits kennengelernt. Kleiner Schluck mit grosser Wirkung.

«Gibt’s was zu feiern?» Valérie drängte durch die Meute Richtung Bodenstrasse, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte.

Henry schritt zügig an ihrer Seite mit. Er hatte ihre rechte Hand mit seiner linken in seiner Jackentasche verschwinden lassen. «Die fühlen sich schlimmer an als Eiszapfen.» Er knetete ihre Finger warm. «Was wir feiern?» Er lachte. «Den Klausabend. Und natürlich dich. Immerhin bist du schon eine Weile in unserem Team.»

«Du Witzbold!»

Er zögerte. «Wie geht es dir sonst so?»

«Kein passendes Thema.» Valerie zog ihre Hand zurück und steckte sie in ihre eigene Manteltasche. Sie spürte Abwehr. Mit dieser Frage hatte Henry den Reiz des Abends abrupt vernichtet. «Falls du meine Scheidung meinst… Sie zieht sich in die Länge.» Mehr war sie nicht gewillt zu sagen. Sie hatte erst einmal mit ihm über ihre Vergangenheit gesprochen. Das war ganz am Anfang ihrer neuen Tätigkeit bei der Schwyzer Polizei gewesen. Valérie hatte es sich bis heute nicht verziehen, dass sie sich gegenüber ihrem Arbeitskollegen so geöffnet hatte. Sicher hatte es an seiner gewinnenden Art und seiner Geduld mit ihr gelegen. Oder dem Zerfliessen der Grenzen zwischen Arbeit und Privatem. Für intime Gespräche gab es Katja, ihre Freundin aus Zürich.

Valérie galt als integer, aber undurchschaubar. Für ihr Team war sie die Frau mit der dunklen Vergangenheit, über die man bloss rätselte. Ihre Geschichte ging niemanden etwas an. Zuallerletzt ihre Kollegen. Da halfen auch die Abende in der Mystery-Bar in Schwyz nichts. Es gab Dinge, die musste sie selbst aus dem Weg räumen. Sie hatte gelernt, nichts von einem auf den andern Tag aus der Welt schaffen zu können, das sich über Jahre in der Seele festgekrallt hatte.

Noch vernahm sie die Hörner, deren Klänge jedoch bald erstarben. Auch die Glocken schwiegen. An ihrer Stelle durchdrang ein Martinshorn die nächtlichen Geräusche, das Geplapper der Leute in ihrer Nähe. Valérie gelangte zu ihrem AudiTT. Sie schloss den Wagen auf. «Ich fahre dich jetzt nach Hause», sagte sie zu Henry, der sich auf den Beifahrersitz schwang. Das Martinshorn ignorierte sie.

«Hat wohl einer kollabiert, wegen zu viel Alkohols», mutmasste Henry.

«Ich mag solche Anlässe schon deswegen nicht.» Valérie startete den Motor. Der Klausumzug gehörte der Vergangenheit an. Ausser einem zeitlich begrenzten Schaudern war nichts von diesen ehrfürchtigen Tänzen übrig geblieben. «Frauen haben am Klausjagen nichts zu suchen», hatte Henry gesagt. Sie waren also nur als Zuschauerinnen geduldet. Allenfalls kreierten sie in den heimischen Stuben die Iffelen oder nähten die weissen Hemden und pflegten ihre Männer, wenn sie nach ihren durchzechten Nächten und Sauforgien zurückkehrten. Valérie wusste, dass ihre Ansichten, was das Brauchtum in Küssnacht betraf, nicht massgeblich waren. Allem, was mit Männern zu tun hatte, konnte sie nichts Positives abgewinnen. Sie gab sich auch nicht besonders Mühe, dies zu ändern. In ihrem Leben würde es wahrscheinlich immer nur eine männliche Bezugsperson geben. Und das war ihr fünfzehnjähriger Sohn Colin. Er lebte jetzt bei Willy, nachdem sich herausgestellt hatte, dass dessen Eltern den Erziehungsaufgaben nicht mehr gewachsen waren.

Valérie fuhr Richtung Immensee. Die Artherstrasse lag dunkel vor ihnen. Die Scheinwerfer bohrten sich wie glühende Nadeln in den Asphalt. Links lagen ein paar Firmengebäude, rechts der Wald, die Hohle Gasse, weiter oben das Gymnasium, das seinen Ursprung in der Apostolischen Schule Bethlehem hatte. Fabia hatte ihr erzählt, dass sich die private Maturitätsschule an einem aufgeklärten, christlichen Menschenbild orientiere.

Die Gegend hier war ihr nicht sehr vertraut. Tief in ihre Gedanken versunken, erinnerte sie sich plötzlich, dass sie schon früher hätte abbiegen müssen. Auch Henry hatte es nicht bemerkt. Er war schon eingenickt, überwältigt von seiner Müdigkeit, die bei ihm chronisch war. Die Wärme im Wagen hatte wohl ihr Übriges dazu beigetragen.

Das iPhone summte über die Freisprechanlage. Auf dem Display des Cockpits erschien der Name Fischbacher, die Nummer des Kripochefs.

«Das ist Dominik», stellte Valérie lapidar fest und war sich nicht sicher, ob sie den Anruf entgegennehmen sollte. Sie hatte heute ihren freien Tag und wollte sich diesen nicht nehmen lassen.

«Wenn er dich sucht», sagte Henry aus dem Dösen auftauchend, «muss es etwas Wichtiges sein. Er tut nie etwas grundlos.»

«Du kennst ihn besser als ich.» Valérie bremste ab und meldete sich. «Hallo, Dominik.»

Fischbachers Stimme erfüllte den Wagen, sonor und warm. «Sorry, dass ich dich störe. Wie ich von Henry Vischer weiss, seid ihr heute am Klausumzug in Küssnacht.»

«Ach, das hat er dir also brühwarm berichtet?» Valérie warf Henry einen belustigten Blick zu. Dieser hob nur die Schultern.

«Manchmal ist das von Vorteil», fand Fischbacher. «Seid ihr noch vor Ort?» Er hielt inne. «…Was brummt da im Hintergrund?»

«Wir befinden uns auf dem Weg nach Immensee.» Valérie lächelte. «Das, was du hörst, ist das Schnurren meines Kätzchens.»

«Gut. Versetz deinem Kätzchen mal einen Tritt. Ich muss dich bitten umzukehren. Soeben bekam ich die Meldung, dass auf der Bahnhofstrasse in Küssnacht geschossen wurde. Die Staatsanwaltschaft hat bereits die Ermittlungen eingeleitet. Emilio Zanetti ist dafür zuständig. Er ist unterwegs.»

Valérie dachte an ihre kalten Füsse und konnte sich mit dem Gedanken an einen Einsatz nicht anfreunden. «Ist Louis nicht erreichbar?»

«Bis er vor Ort ist, kann es dauern. Er fährt von Rickenbach an.»

Auf der Höhe der «Calendaria» machte Valérie ein waghalsiges Wendemanöver, was den überraschten Henry ans Seitenfenster presste.

«Sind schon Einzelheiten bekannt?» Valérie balancierte denTT aus. Sie hatte die Eisglätte auf dem Belag unterschätzt.

Henry fragte dazwischen: «Hast du den Pfosten nicht gesehen?»

«Klar doch. Ist ja nichts geschehen», antwortete Valérie.

«Ist Henry jetzt bei dir?», fragte Fischbacher.

«Ja. Er wollte mich mit den Kläusen bekannt machen.» Valérie räusperte sich. «Was weisst du über den Vorfall?»

«Es gibt einen Toten.»

Valérie fühlte einen Stich in ihrer Brust. Eine Schiesserei. Ein Toter. Und das in der Adventszeit. Der Tod vor Weihnachten gehörte zum Schlimmsten. Wie ein Flash zogen die Bilder an ihrem geistigen Auge vorbei. Sie würde die Hinterbliebenen damit konfrontieren müssen. Es war immer wieder eine grosse Herausforderung. «Weiss man, wer?»

«Der Sankt Nikolaus.»

***

Erich Sidler löste die Klopfe vom Bund und stellte sie auf den Stuhl, dass jedermann sie bewundern konnte. Jedes zweite Jahr liess er in der Glockenschmiede Schelbert im Muotathal eine neue herstellen. Seine Sammlung zu Hause war sein ganzer Stolz. Die Männergruppe, der er sich angeschlossen hatte, verteilte sich um den langen Tisch im Gasthaus Adler beim Hauptplatz.

«Kann mir jemand sagen, was los ist?» Sidler zog sein weisses Klaushemd aus. Darunter trug er eine dick wattierte Allwetterjacke. Er entledigte sich auch dieser.

«Ich weiss nur, dass es einen Unfall gegeben hat», beantwortete Sepp Imlig seine Frage. Er schwang sich neben seinen Freund auf den letzten leeren Platz, während er an einem Süssholzstängel kaute. «Es sei kein Durchkommen mehr. Deshalb ist es gut, dass wir nun hier sind. Ich brauche jetzt einen Schnaps.»

«Es werden von Jahr zu Jahr mehr Schaulustige», stellte Sidler fest. «Das musste ja mal so weit kommen. Aus unserer schönen Tradition ist ein Kommerzhaufen geworden. Sieh dir die Stände entlang der Strasse an. Auch hier werden es immer mehr. Jetzt verkauft schon Anandaraj, der Inder, seine Currysuppe. In Küssnacht herrscht Marktatmosphäre, und das an einem Klausabend. Zum Kotzen ist das!»

«Zum Glück halten wir uns mit der Werbung zurück. Sonst hätten wir noch mehr Schaulustige in unserem Dorf. Der Klausabend ist schliesslich unser Fest. Da brauchen wir keine fremden Fötzel.» Imlig zitierte Ursi, die Serviceangestellte, an seine Seite und bestellte Kaffee Träsch. «Diese Runde übernehme ich.» Er zählte nach. «Elf Mal. Will jemand etwas anderes als Träsch, hä?»

Ein Raunen ging durch den Raum. Niemand hatte einen Einwand.

«Also elf Mal Träsch.» Imlig wandte sich wieder an Sidler. «Stell dir vor, wir hätten Hofers Vorschlag angenommen, dann hätten wir noch mehr Stress. Frauen in der Sankt Niklausengesellschaft… dass ich nicht lache.»

«Es ist Gott sei Dank haushoch abgelehnt worden», sagte Sidler.

«Hast du etwas anderes erwartet, hä? Wenn die Weiber hier wären, hätte jeder von uns schmutzige Gedanken.» Imlig schlug sich mit der Hand aufs Knie. «Es reicht, wenn mich Gritli am Morgen nach dem Klausabend empfängt…»

«Mit schmutzigen Gedanken?»

Imlig grölte. Seine Stimme kippte in eine höhere Oktave. «Schön wär’s.» Er hielt inne, wurde auf einmal sehr ernst. Er nahm den Süssholzstängel aus dem Mund. «Du, sag mal. Du gingst nicht, wie üblich, neben mir. Wo warst du die ganze Zeit?»

Sidler druckste herum. «Ich war direkt hinter dir. Hast mich wohl nicht bemerkt.»

«Da warst du auch nicht.» Imlig winkte ab. «Ach, lassen wir das…»

Ursi brachte die Kaffeegläser auf einem Tablett. Sidler versetzte ihr einen Klaps auf den Hintern. «Weisst du, was draussen los ist?»

«Pfoten weg!» Ursi hätte beinahe ein Glas umgestossen. «Keine Frauen bei den Klausjägern, aber das Servicepersonal betatschen. Das würde dir gefallen, was?» Sie stellte die Kaffeegläser unsanft auf den Tisch. «Ich frage jetzt nicht, der wievielte Kaffee Träsch das heute ist.»

«Besser nicht.» Sidler strich mit der Hand über Ursis Po. «Sei froh, ist es draussen kalt. Das steigert den Umsatz.»

Sie boxte auf ihn ein. «Auch wenn du besoffen bist, kannst du dich benehmen.»

«Hey, nur nicht so aufmüpfig, du kleines Luder.» Sidler spürte eine Vibration in seiner Hosentasche. Mit zitternden Fingern holte er sein iPhone hervor. Er erhob sich, legte das iPhone an sein Ohr und entfernte sich vom Tisch.

Wieder grölendes Gelächter. Der Geräuschpegel am Tisch nahm zu.

In regelmässigen Abständen ging die Tür auf. Immer mehr Iffelen und Treichler schoben sich in die warme Wirtsstube.

«Kari, komm! Du kannst dich an meinen Platz setzen, hä. Ich wollte sowieso gerade gehen.» Imlig trank den Kaffee in einem Zug aus. Er torkelte an seinen Kollegen vorbei Richtung Tür. «Ich schau mal nach, ob wir schon weitermarschieren können.»

***

«Der Schuss hat ihn in die Brust getroffen», war das Erste, was Valérie zu hören bekam. Der Amtsarzt, Dr.Casutt, hatte die Leiche mit einem Leintuch notdürftig zugedeckt. Die ortsansässige Polizei montierte die Absperrung. Hinter den Flatterbändern drängelte das Volk wie der Mob in einem Weltuntergangsfilm. Chaos total. Die Mixtur aus Klausjägern, Iffelen, Treichlern und Zuschauern ergab eine schauerliche Szenerie. Dazwischen Rufe und ausklingende Hörner. Panikattacken von Müttern, die nach ihren Kindern schrien. «Der Mann muss sofort tot gewesen sein. Ich habe den Todeszeitpunkt schon mal notiert. Zwanzig Uhr vierzig.»

«Wie kommt es, dass Sie so schnell vor Ort waren?» Valérie strengte sich an, um einer wild gewordenen Meute Meister zu werden. Sie musste wegen des ungebremsten Lärms schreien.

«Ein Freund rief mich an. Ich wohne gleich dort drüben.» Casutt zeigte mit dem Ellenbogen Richtung «Trychle-Park».

«Ihr Freund soll sich zu meiner Verfügung halten. Ich brauche den Namen und die Adresse.» Valérie näherte sich dem Leichnam. Sie hob das Leintuch an. Es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen. Dennoch präsentierte sich ihr ein bizarres Bild. Leblos ein Körper auf dem Asphalt, seltsam verdreht. Daneben kauerten drei furchteinflössende Gestalten in dunklen Umhängen wie Wächter des Todes. Drei Schmutzlis– die Begleiter des Sankt Nikolaus. Sie hatten ihre Gesichter mit schwarzer Schminke angemalt. In der Hand hielten sie eine Rute, mit der sie unartige Kinder in ihre Schranken wiesen oder ihnen zumindest gehörig Respekt einflössten. Jetzt hinterliessen sie den Eindruck dreier gebrochener junger Menschen. Ein Polizist hielt die traumatisierten Männer in Schach. Er redete beruhigend auf sie ein.

Valérie schloss die Augen. Wo sollte sie beginnen?

Zuerst mussten Ruhe und Ordnung eintreten. Unter den chaotischen Begebenheiten war es nicht möglich, mit ihrer Arbeit anzufangen. Henry Vischer hatte sie schon mal beauftragt, allfällige Zeugen zur Seite zu nehmen und ihre Namen, Adressen und persönlichen Angaben zu verlangen. Mehr konnte er im Moment nicht tun.

Die Strassenlampen flackerten auf. Was erst noch wie eine Schwarz-Weiss-Fotografie ausgesehen hatte, tauchte in ein fahles Farbenspiel. Ein abstraktes Gemälde, als hätte ein Künstler während einer geistigen Unzulänglichkeit eine makabre Komposition kreiert. Da war sehr viel Blut auf dem Boden, Stoff- und Pelzfetzen. Valérie wandte sich an einen der uniformierten Polizisten. «Besteht eine Möglichkeit, das Blickfeld auf den Tatort zu verdecken oder zumindest Schranken aufzustellen?»

Der Polizist fuhr herum. «Wir tun unser Bestes.»

Valérie griff nach dem iPhone. Sie stellte Fischbachers Nummer ein. «Chef, wann trifft Verstärkung ein? Ich komme hier nicht weiter.»

«Der Gerichtsmediziner ist unterwegs, den Kriminaltechnischen Dienst habe ich ebenfalls aufgeboten.»

«Sie sollen sich beeilen. Je länger wir mit der Spurensicherung zuwarten, umso weniger Material kann sichergestellt werden.»

«Gibt’s schon Neuigkeiten?», fragte Fischbacher.

«Ich kann nicht zaubern. Unsere Kollegen aus Küssnacht haben alle Hände voll zu tun, um die Leute hier zu beruhigen und sie vom Tatort fernzuhalten. Was hier vor Ort geschehen ist, wissen die Zuschauer im Oberdorf noch nicht. Sie drängeln in unsere Richtung. Kann man etwas dagegen unternehmen? Wir brauchen Platz.»

«Unser Sachbearbeiter Kommunikation hat die nötigen Schritte eingeleitet. Ob es die Leute, die sich draussen aufhalten, erreichen wird, können wir allerdings nur hoffen.»

«Ich werde mal mit der Zeugenbefragung beginnen.» Valérie spürte die Anspannung. Seit dem tödlichen Schuss waren zwanzig Minuten vergangen. Zu lange, um den mutmasslichen Täter fassen zu können. Der würde bereits über alle Berge sein. Zudem wusste sie noch nicht einmal, von wo aus geschossen worden war. Es war die Aufgabe der forensischen Ballistik, die Richtung und Entfernung des Schusses zu eruieren. Sie wusste nicht, ob die Ballistiker auch schon unterwegs waren. Sie ahnte nur, dass eine immense Arbeit auf sie zukommen würde. Die leise Hoffnung, dass sie in diesem Fall nicht die Ermittlungen leiten musste, erwies sich als Illusion. Kaum hatte sie daran gedacht, erteilte Fischbacher ihr die Direktiven.

War ja klar. Sie ärgerte sich darüber, dass sie an diesen Klausumzug gefahren war. Wegen Henry Vischer. Wo war er überhaupt? Sie wandte sich an die Schmutzlis. «Können wir uns dort drüben unterhalten?»

Die drei Männer erhoben sich und folgten Valérie wie in Trance bis zum Blumenhaus Gössi. Der Eingang war mit Weihnachtsschmuck und Lämpchen üppig dekoriert.

«Hier können Sie sich wieder hinsetzen.» Valérie deutete auf eine Mauer. «Fühlen Sie sich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?»

Die Männer nickten synchron.

Valérie zückte ihren Notizblock. «Name?»

«Patrick Hofer», sagte der Grösste von ihnen. «Das ist mein Bruder Adrian und unser Cousin Max… auch Hofer.»

Valérie verlangte Adresse und Geburtsdatum und notierte alles. «Ihr kennt den Toten?»

«Selbstverständlich», sagte Patrick. «Er gehört genauso der Sankt Niklausengesellschaft an wie wir.»

«Sein Name ist Konrad Gross», sagte Adrian.

Valérie schrieb. «Adresse?»

«Seemattweg.» Adrian nannte die Nummer.

«Hat er Familie?»

«Ja», sagte Patrick leise. «Er hat eine Frau und drei Kinder.»

«Können Sie mir sagen, was genau geschehen ist?» Valérie hätte jetzt gern Henry an ihrer Seite gehabt.

Patrick und Adrian warfen einander Blicke zu. Max erhob sich plötzlich, rannte zu einem Blumentopf auf der Rückseite der Mauer und übergab sich.

Valérie ging ihm nach. «Alles okay mit Ihnen?»

«Nichts ist okay. Lassen Sie mich in Ruhe!»

Valérie legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. «Kommen Sie.» Sie zog ihn mit sich. «Setzen Sie sich wieder. Ich weiss, es ist kein guter Zeitpunkt, um zu reden. Aber es muss sein. Alles, woran Sie sich erinnern, ist wichtig für die Polizei.» Sie wandte sich an Patrick. «Hatten Sie etwas Verdächtiges festgestellt, bevor der Schuss fiel?»

«Nein, ich erinnere mich nicht», sagte Patrick. «Wir gingen neben Konrad. Adrian links von ihm, ich rechts; Max schräg hinter uns. Wir hielten Ausschau nach flegelhaften Kindern. Denen drohen wir manchmal mit der Rute… zum Spass natürlich.»

«Du hast doch dieser Livia gedroht», unterbrach Adrian seinen Bruder.

«Wer ist Livia?», fragte Valérie.

«Patricks Ex. Sie befand sich unter den Zuschauern.»

«Und ihr habt sie trotz der Dunkelheit gesehen?»

«Sie stand handbreit neben der Parade.»

Valérie notierte. «Ich brauche die Adresse von dieser Dame.» Sie zögerte. «Woran erinnern Sie sich noch?»

«Nur an den Schuss neben meinem Ohr», sagte Patrick. «Es fühlt sich jetzt noch taub an.»

Das allerdings nahm Valérie ihm nicht ab. Einbildung, wusste sie, fabrizierte manchmal die absonderlichsten Überzeugungen.

«Konrad sank neben mir auf den Boden», sagte Adrian. «Er hatte nicht einmal Zeit, etwas zu sagen. Ich wurde mit etwas getroffen… Ich glaube, es war sein Blut. Ich habe noch immer einen Rostgeruch in der Nase.»

Valérie verkniff sich eine Bemerkung. Da musste wohl seine Phantasie mit ihm durchgegangen sein.

«Haben Sie eine Ahnung, woher der Schuss kam?»

Mit dieser Frage stiess sie auf Unverständnis. War abzusehen. Zudem hatten die Männer unmittelbar nach dem tödlichen Angriff ihre eigene Haut gerettet, indem sie sich auf den Boden warfen. Hatte der Schuss etwa einem der Schmutzlis gegolten? Oder sogar einem der Iffelen? «Wer ging hinter Ihnen?»

«Die Fackelträger», sagte Adrian. «Und Max.» Er nahm seinen Cousin in die Arme und drückte ihn an sich. «Dürfen wir jetzt nach Hause?»

«Ja, das ist wohl am besten», sagte Valérie. «Aber bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung. Ihre Aussagen werden in den nächsten Tagen protokolliert. Zu diesem Zweck werden Sie noch eine persönliche Vorladung bekommen.»

Die Polizei hatte es geschafft, den Tatort weiträumig zu sichern. Die Leute blieben zwar hinter den Absperrungen zurück, reckten jedoch ihre Hälse, um sich nichts entgehen zu lassen. Zwischenzeitlich waren die letzten Hörner verklungen, die Geisseln und Treicheln niedergelegt. Ein anderer Ton durchdrang die Nacht. Ein Martinshorn.

Blaulicht fegte über die Fassaden und durch den Nebel, der sich wie eine kochende Suppe ausgebreitet hatte. Vom Bahnhof her fuhren zwei Camions des Kriminaltechnischen Dienstes. Ihnen folgte die Ambulanz. Die Schaulustigen machten nur widerwillig Platz.

Timing, dachte Valérie und beendete das Gespräch mit den drei Männern.

Dr.Res Stieffel persönlich traf ein. Er streifte Valérie mit einem verachtenden Blick. Sie hatte ihn im Sommer nach einem Mittagessen abblitzen lassen und seinen Avancen dadurch keine Chancen gegeben. Zu nahe war er ihr gekommen. Hatte sie wohl bereits in seinem Bett gesehen. Gross war seine Enttäuschung gewesen, als sie ihm bloss ihre Freundschaft anbot. Das allerdings war ihm zu wenig, nachdem er sie in ein teures Gault-Millau-Restaurant eingeladen hatte. Valérie fand ihn sympathisch. Mehr nicht. Sie hatte erfahren, dass Res verheiratet und Vater von zwei Kindern war, es aber mit der Treue nicht so genau nahm. Vielleicht hätte er Valérie als weitere Errungenschaft abgehakt.

Valérie wunderte sich, warum er bereits vor Ort war.

Die Begrüssung fiel distanziert aus. Dr.Stieffels Hand blieb in seinem Sakko verschwunden. Valérie zog ihre wieder zurück. Sie räusperte sich und musste an ein trotziges Kind denken. Selbstverständlich hatte sie ihm damals das Du angeboten. Dass er sie jetzt wieder siezte, liess sie unkommentiert, fand aber, dass sie das Du nicht wieder rückgängig machen wollte. Aus ihrer Sicht gab es keinen Grund. Sie fragte, warum er so schnell in Küssnacht gewesen sei.

Dr.Stieffel liess die Bemerkung fallen, dass er jedes Jahr zum Klausumzug fahre. Valérie nahm es kommentarlos zur Kenntnis. Sie verwies ihn an den Amtsarzt und wandte sich an den Kriminaltechniker Franz Schuler, der mit einer zehnköpfigen Truppe eingetroffen war. «Wie hast du es bloss geschafft, so schnell so viele Leute aufzubieten?»

Schuler, blass wie ein Käse, was eindeutig seinen Genen zuzuschreiben war, näherte sich den Polizisten, die sich um den Leichnam aufgestellt hatten. Sie versuchten so, den Blick auf den Toten zu verhindern.

«Schneller ging es nicht.» Schuler setzte ein gefrorenes Lächeln auf. «Und, was haben wir?»

«Gemäss ersten Zeugenaussagen wurde der Mann von einem Geschoss getroffen.» Valérie blieb stehen und warf den Kopf in den Nacken. Sie liess ihre Augen zu den Fenstern an den dunklen Fassaden wandern. «Der Schuss muss aus einem der Häuser abgefeuert worden sein.»

«Das sind erste Vermutungen, nehme ich an.»

«Eine logische Überlegung», sagte Valérie. «Der Sankt Nikolaus ging nicht zuvorderst, sondern folgte einer Gruppe von Iffelen. Meines Erachtens war es fast nicht möglich, ihn aus der Richtung der Strasse oder des Trottoirs zu erschiessen. Ich gehe davon aus, dass du auch aus diesem Grund eine so umfangreiche Truppe mitgebracht hast.»

«Richtig. Die Häuser werden jetzt inspiziert.» Schuler wies die Polizisten weg, damit die Kriminaltechniker ein Zelt aufstellen konnten. Er sah auf das Opfer am Boden. Die Mitra war von dessen Kopf gerutscht, das Gesicht zur Seite gedreht, die Augen standen fast fragend offen, als hätte er vor seinem Tod noch etwas vom Schmutzli zu seiner Linken wissen wollen. Der weisse Bart hatte sich vom Gesicht gelöst. Die pelzbesetzte Stola war durchtränkt von Blut, wich in der Farbe jedoch kaum ab vom roten Samt. «Täusche ich mich, oder hat man den Toten bewegt?»

«Du kannst dir etwa vorstellen, was hier abging», antwortete Valérie. «Dass Panik ausbrechen würde, damit musste man rechnen. Ich traf zwar erst zwanzig Minuten nach der Tat ein, aber es gibt Leute, die befürchteten einen Amoklauf. Denen war es egal, ob sie dabei Spuren verwischten. Ehrlich gesagt, war selbst mir etwas mulmig zumute, als ich hier ankam. Wer denkt an so etwas, mitten in dieser traditionellen Parade. Andererseits könnte der Terror auch Küssnacht schon erreicht haben.»

«Dann lass uns jetzt unsere Arbeit tun.» Schuler sah sie nachdenklich an. «Wann sehen wir uns?»

Valérie stiess Luft aus. «Morgen auf dem Sicherheitsstützpunkt in Biberbrugg, zum Rapport. Um acht im Sitzungszimmer.»

«Auf dem SSB.» Schuler nickte.

Valérie zog den Ärmel an ihrem Mantel nach hinten, vergewisserte sich auf der Uhr, wie spät es war. «Louis wird bald eintreffen, der Staatsanwalt auch. Ich werde mich mit Henry Vischer auf den Weg zur Familie des Toten machen. Vielleicht sehen wir uns nachher noch einmal.»

Ein Blick auf den Toten. Dr.Stieffel hatte sich an die Arbeit gemacht. Valérie würde ihn nicht stören.

Sie sah zurück. Die Stableuchten der Spurensicherung sahen aus wie kalte Finger, deren Strahlen Lichtbänder in die Dunkelheit zeichneten. Halogenlampen wurden aufgestellt. In einigen Häusern war das Licht angegangen. Fenster standen jetzt offen, und Köpfe wurden sichtbar. Die Menschen dort oben hatten ihr Abendprogramm vor Augen und würden ihm beiwohnen, bis der letzte Polizist den Platz verlassen hatte.

***

Der Seemattweg erstreckte sich vom Seeplatz aus, wo sich die Kirche St.Peter und Paul befand, bis zur Kreuzung Breitenstrasse/Sagenweid dem linken Seeufer entlang. Der Nebel verschluckte auch hier das Licht der Lampen, die wie gebeugte Rücken am Strassenrand standen. Der Ort wirkte verlassen.

Valérie parkte ihren Wagen vor einem Einfamilienhaus, das mit einer Reihe von Lichterketten geschmückt war. Ein lebensgrosser rot leuchtender Weihnachtsmann thronte neben der Tür. Durch zugezogene Vorhänge schimmerte es ockergelb.

«Da scheint jemand zu Hause zu sein.» Valérie verliess den Wagen und näherte sich der Tür.

Henry folgte ihr unwesentlich später. «Redest du, oder soll ich?»

«Ich kann mich nicht davor drücken.» Valérie schniefte. «Das gehört genauso zu meinem Job wie alles andere Unangenehme. Danke, dass du bei mir bist. Vielleicht brauche ich später psychologische Unterstützung, je nachdem, wie die Hinterbliebenen reagieren.»

Tatsächlich wusste sie nie, was sie in so einer Situation erwartete. Zum Glück war das nicht die Regel. Die Nachricht in einem Todesfall zu überbringen, brauchte Überwindung. Wenn es um Mord ging, kam Valérie an ihre Grenzen. In Zürich hatte sie einmal erlebt, wie eine Mutter zusammenbrach, als sie ihr mitteilen musste, dass ihre sechsjährige Tochter tot war. Gefoltert, missbraucht und stranguliert. Sie hatte selbst fast geweint und versucht, den Kloss in ihrem Hals runterzuschlucken. Solche Ereignisse forderten sie.

Valérie drückte die Klingel. «Konrad Gross» stand auf dem Schild. Alsbald wurde die Tür aufgemacht. Eine magere Frau erschien unter dem Türrahmen. Sie hatte sich einen Kimono umgeschlungen. Das Muster darauf stellte einen vielarmigen Drachen dar. Nicht ganz passend zum Klausabend, ging es Valérie durch den Kopf.

«Ach, und ich dachte schon, meine Kinder seien zurück. Grüezi.» Sie schien nicht sonderlich überrascht zu sein.

«Mein Name ist Valérie Lehmann, das ist mein Kollege Henry Vischer. Wir sind von der Kantonspolizei Schwyz.» Valérie zückte ihren Ausweis. «Sind Sie Frau Gross?»

«Ja, Rosita Gross. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?»

«Dürfen wir reinkommen?»

Rosita Gross hielt die Tür auf und liess ihre unangemeldeten Gäste eintreten. «Ist etwas mit meinen Mädchen? Die haben doch nichts angestellt, oder?» Sie kniff fragend die Augen zusammen, während sie rückwärts Richtung Wohnzimmer ging. «Bitte setzen Sie sich.» Sie selbst liess sich auf einem blauen Sofa nieder. Valérie und Henry blieben stehen.

Wohn- und Esszimmer waren durch ein Bücherregal voneinander getrennt. Wenige Bücher, dafür viel mehr verschiedene Nippes in Form von Mitbringseln aus den Ferien standen darauf. Es wirkte überladen. Die blaue Sitzlandschaft harmonierte wenig mit dem schwarzen Salontisch, auf dem Unordnung herrschte. Zeitungen, Hefte, Schreibstifte, ein geöffnetes Taschenmesser, ein gebrauchtes Taschentuch, eine aufgerissene Pillenschachtel. Valérie registrierte dies innerhalb von Sekunden.

Rosita Gross war ihrem Blick gefolgt. «Entschuldigen Sie bitte das Durcheinander. Ich habe nicht mit Besuch gerechnet.» Sie fuhr sich mit der Hand über ihre kurzen grau melierten Haare. Ein dunkles Augenpaar dominierte das helle Gesicht. «Wollen Sie sich nicht setzen?»

«Frau Gross… wir müssen Ihnen leider eine traurige Botschaft überbringen.» Valérie konzentrierte sich auf das Bild hinter Rosita Gross’ Kopf. Küssnacht vom See aus gesehen. Ein Raddampfer, der die Hälfte der Kirche verdeckte. Blauer Himmel. Eine heimatliche Idylle. Ihre Nachricht würde diese Idylle mit einem Mal zerschlagen.

«Aber nicht wegen der Mädchen, oder?» Es war das Einzige, was Rosita Gross herausbrachte. Sie erhob sich schwer schluckend. Ihre Hände griffen wieder und wieder in ihre Haare.

«Ihr Mann wurde heute Opfer einer… Schiesserei.» Das war zwar nicht die ganze Wahrheit. Über Mord zu sprechen, schien Valérie nicht angebracht. «Hat man Sie noch nicht kontaktiert?»

Rosita Gross stiess einen spitzen Schrei aus, erhob sich und eilte in die Küche, die ans Esszimmer grenzte. Sie kam mit ihrem iPhone zurück. «Vier Anrufe in Abwesenheit», stellte sie lapidar fest. «Ich habe das Gerät nie auf laut gestellt.» Sie blieb stehen. «Was sagten Sie?»

«Ihr Mann hat es nicht überlebt.» Valérie streckte ihre Hand nach dem iPhone aus. «Darf ich mal sehen?» Sie wollte in Erfahrung bringen, von welchen Nummern die vier Anrufe gekommen waren. Sie nahm ihren Notizblock aus der Manteltasche und schrieb die Nummern auf.

«W… was?» Rosita Gross’ Gesichtsausdruck versteinerte sich. «Das ist ein Irrtum, oder? Konrad ist der Sankt Nikolaus… er geht gerade durch Küssnachts Strassen. Der Umzug müsste bald fertig sein…»

Valérie und Henry sahen sich schweigend an.

Rosita Gross hielt sich an einer Stuhllehne fest. «Sagen Sie, dass es nicht wahr ist… sagen Sie es!»

Henry griff ein. «Bitte setzen Sie sich, Frau Gross.» Er führte die Frau zurück zum blauen Sofa.

«Wo halten sich Ihre Kinder auf?» Valérie hoffte, dass die Nachricht über den Tod ihres Vaters sie nicht aus zweiter oder dritter Hand erreichte.

«Sie übernachten bei meiner Schwester in Luzern», antwortete Rosita Gross. «Was?… Ach ja… sie sind an einer Geburtstagsparty.»

«Es ist Klausjagen. Ihre Kinder sind nicht in Küssnacht?»

«Das interessiert sie einen alten Hut. Von aufmüpfigen Teenagern kann man nichts anderes erwarten. Was der Vater für gut befindet, muss nicht zwangsläufig auch den Kindern gefallen.» Wie versteinert starrte sie auf die Unordnung. Sie griff nach dem gebrauchten Taschentuch, drückte es sich auf die Augen. «Wann kann ich Konrad sehen?»

Ein kleiner Moment, in dem sie die Fassung hielt. Valérie nutzte ihn für eine Frage aus. «Was macht Ihr Mann beruflich?»

Rosita Gross schniefte. «Er ist Bezirksrichter… war…» Sie schnellte hoch. «Es ist nicht möglich, dass er tot ist. Ich will zu meinem Mann. Er ist noch immer unterwegs, oder? Bitte bringen Sie mich zu ihm… bitte. Man hat ihn… was?»

Henry drückte sie sanft aufs Sofa zurück. «Wer ist Ihr Hausarzt?»

«Fassen Sie mich nicht an!» Sie stiess ihn weg. «Ich will zu meinem Mann. Jetzt!»

«Das ist im Augenblick nicht möglich.» Henry entnahm seiner Jackentasche eine Packung Valium, während Rosita Gross die Tragweite der Botschaft allmählich zu begreifen schien.

Valérie sah ihn stirnrunzelnd an.

Henry hob die Schultern. «Ich trage immer welches mit mir», flüsterte er, dass nur Valérie es hörte. «Als Prophylaxe.»

Kopfschüttelnd ging Valérie in die Küche, holte dort ein Glas aus der Vitrine und füllte es mit Hahnenwasser. Der Geschirrspüler war in Betrieb, zwei gebrauchte Champagnergläser standen neben dem Herd sowie drei kleinere langstielige Kelche. Valérie überlegte, ob sie die Gläser gleich einpacken sollte, fand jedoch, dass sie kein Recht dazu hatte. Andererseits waren sie vielleicht Beweismittel. Sie entschied sich gegen das Einpacken. Sie hatte keinen Asservatenbeutel bei sich.

Als Valérie zurückkehrte, sah sie, wie Rosita Gross auf Henry einboxte.

«Gehen Sie! Hauen Sie ab!» Rosita Gross verlor ihre Kontrolle, schrie jetzt. Tobte.

Henry hatte die grösste Mühe, sie zu besänftigen. «Ich werde Ihnen ein Beruhigungsmittel verabreichen. Danach werden Sie sich besser fühlen.»

«Ich will keine Schlaftabletten. Ich will zu meinem Mann. Er ist nicht tot…» Sie riss sich von Henry los und rannte zur Tür.

Henry folgte ihr. «Machen Sie jetzt keine Dummheiten, Frau Gross.» Mit einem Griff, den Valérie ihm nicht zugetraut hätte, hielt Henry die Frau zurück. Doch dann erinnerte sie sich, dass er den schwarzen Gürtel im Karate hatte –den Shodan–, und verkniff sich eine Bemerkung.

Rosita Gross liess sich widerstandslos zum Sofa führen. Es schien, als wäre ihr Wille gebrochen. Als realisierte sie erst jetzt, was geschehen war. Sie legte den Kopf auf die Knie und begann hemmungslos zu weinen.

«Haben Sie eine Nachbarin, die wir anrufen können? Eine Freundin?» Henry versuchte vergebens, etwas aus Rosita herauszubringen. Der Weinkrampf hatte sie überwältigt.

«Darf ich mich kurz umschauen?», fragte Valérie und erntete von Rosita Gross nur einen traurigen Blick. «Wo ist das Büro Ihres Mannes?»

«Machen Sie, was Sie wollen», sagte sie schluchzend.

Valérie ging eine Treppe hoch, gelangte in einen Flur, von dem fünf Türen weggingen. Hier oben lagen das Elternschlafzimmer mit dem Master Bathroom, die Zimmer der Kinder, vermutete Valérie, von denen ein einziges noch bewohnt zu sein schien. Die eine Wand zierten Plakate von Hollywoodfilmen. Daneben hing das Bild eines Mannes. Ein Musiker oder ein Sänger. Er hielt eine Gitarre in der Hand. Neben seinem Kopf waren drei rote Herzen hingemalt. Im Gästezimmer, das auch so beschriftet war, nahm Valérie einen frischen Duft wahr. Hier war erst noch gereinigt worden. Kein Büro auf dieser Etage. Valérie kehrte ins Parterre zurück. Dort sass Rosita Gross lethargisch auf dem Sofa.

«Gibt es hier ein Büro?» Valérie stiess eine Tür neben der Garderobe auf und wurde fündig. Schwere Eichenmöbel prägten das Zimmer. Ein Rückzugsort. Nebst dem Pult, einem drehbaren Bürostuhl, zwei Stühlen und einem massiven Schrank gab es eine Chaiselongue. Darauf ein Kissen und ein Duvet.

Hing hier der Haussegen schief?

Valérie versuchte, Schubladen zu öffnen, die Schranktüren, einen mit einem Schloss versehenen Kasten. Alles war verschlossen, für Fremde nicht einsehbar, nicht einmal für die Familie. Auf dem Pult lag einzig eine Agenda. Valérie blätterte sie mit spitzen Fingern durch. Kein Eintrag, bis sie merkte, dass die Agenda für das kommende Jahr vorgesehen war.

Valérie kehrte zurück ins Wohnzimmer. Dort lag Rosita Gross nun auf dem Sofa. Henry beobachtete sie.

«Ich sollte wieder zum Tatort», flüsterte Valérie. «Bleibst du hier?»

«Du kannst dich auf mich verlassen», sagte Henry. «Vielleicht wird Frau Gross mir den Namen und die Telefonnummer ihrer Schwester verraten. Ich werde sie dann kontaktieren.»

«Danke.» Valérie sah ein, dass heute der falsche Zeitpunkt war, etwas von Rosita Gross zu erfahren, das für die Ermittlungen relevant war. Sie musste die Befragung auf den nächsten Tag verschieben. «Und wie kommst du zurück?»

«Lass das meine Sorge sein. Schlimmstenfalls bestelle ich mir ein Taxi.»

***

Zwischenzeitlich war Staatsanwalt Emilio Zanetti am Tatort eingetroffen. Nachdem Jole von Reding im Mai gekündigt worden war, hatte Zanetti ihre Nachfolge angetreten. Er war gebürtiger Tessiner und hatte bis im Sommer bei der Bundesanwaltschaft, auf dem Ministero pubblico in Lugano, gearbeitet.

Valérie hatte noch nicht oft mit ihm zu tun gehabt. Dominik Fischbacher hatte ihn ihr im Rahmen einer Besprechung vorgestellt. Sie waren sich gleich sympathisch gewesen. Zanetti war in ihrem Alter, wirkte zurückhaltend und hatte vorzügliche Umgangsformen. Daran erinnerte sich Valérie sehr gut. Es kam selten vor, dass ihr jemand die Tür aufhielt und den Vortritt gab.

«Ah, da sind Sie ja. Guten Abend, Frau Lehmann.» Zanetti reichte ihr die Hand. «Wir hatten schon mal das Vergnügen. Es ist traurig, dass wir uns heute unter diesen Umständen wiedersehen.» Seine Stimme blieb ernst.

Diese Augen! Blau und tiefgründig. Und wie er sie ansah. Valérie schaute weg. Verflixt: Was sollte das? In den letzten Jahren hatte kein Mann sie mehr zum Zittern gebracht. Jetzt pochte ihr Herz bis zum Hals. Das muss die Kälte sein, suggerierte sie sich ein.

Sie räusperte sich. «Wie weit sind Sie informiert?»

«Bin erst eingetroffen. Es hatte so viel Verkehr auf derA4 wie während der Ferienzeit. Ich hatte sage und schreibe fast eine Stunde gebraucht von Schwyz bis hierher. Ich sprach nur kurz mit Fischbacher. Er teilte mir mit, dass Sie die Ermittlungen leiten.»

Dieser Mund, wie gezeichnet. Valéries Blick hing an seinen Lippen.

Sie schüttelte den Kopf und ihre Gedanken weg. «Der Tote heisst Konrad Gross, Bezirksrichter von Küssnacht. Seine Familie lebt hier. Er hat drei Töchter. Ausser der Ehefrau war niemand erreichbar. Unser Psychologe Henry Vischer ist jetzt bei ihr.»

Was rede ich da? Valérie stiess Atem aus. Relevant war einzig, wer der Tote war und dass Zanetti die Herrschaft in diesem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren hatte. Valérie musste ihm den genauen Tatbestand schildern. Im Moment war sie nicht dazu in der Lage.

Zanettis Frage kam postwendend. «Gibt es Zeugen?»

«Leider keine, die man gebrauchen kann. Die drei Begleiter im Schmutzli-Gewand waren ziemlich durch den Wind. Ob der Schuss im Lärm überhaupt gehört wurde, ist zu bezweifeln. Einer der Zeugen behauptet zwar, er habe ihn gehört. Ich glaube, das war nicht möglich.»

«Und warum nicht?»

Was für eine Frage! «Der Schuss muss aus weiter Distanz abgefeuert worden sein.»

«Sie denken an einen Scharfschützen?» Zanetti kniff den Mund zusammen. Valérie fiel sein energisches Kinn auf und wunderte sich über seine Fragen. «Es ist viel zu früh für solche Schlüsse.»

«Na dann», sagte Zanetti. «Das Ermittlungsverfahren ist somit eingeleitet. Ich werde mich mal mit Franz Schuler kurzschliessen. Vielleicht weiss der schon Konkreteres.» Er wandte sich um. Valérie sah ihm nach, bis er zwischen einer Gruppe von Klausjägern verschwunden war.

Sie bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen. Nach wie vor drängten sie sich auf der Bahnhofstrasse dorfauswärts. Obwohl die Temperaturen um die Nullgradgrenze lagen, harrten sie der Kälte. Valérie ärgerte sich darüber, dass sich die Meute noch nicht verzogen hatte. Was hatte die hier noch zu suchen? Um nichts zu verpassen? Valérie gelangte zum Leichentransporter, der in der Zwischenzeit eingetroffen war. Dr.Stieffel und der Fahrer hievten den Toten in einen Alusarg. Valérie sah ihnen einen Moment zu. Seltsam, der tote Sankt Nikolaus. Es war ihr, als würde man eine Tradition zu Grabe tragen.

«Kann ich Sie einen Moment sprechen?» Ein junger Mann mit Vollbart baute sich auf einmal vor ihr auf. «Sie sind doch von der Polizei, nicht wahr? Mein Name ist Cédric Knüsel. Ich komme vom ‹Freier Schweizer›.»

Valérie war es nicht recht. Sie ahnte, was er von ihr wollte. «Ich nehme an, von der Zeitung.»

«Richtig.» Knüsel machte keine Anstalten, sich der Situation angemessen zurückzuhalten. «Schlimme Sache. Weiss man schon, wer Gross das angetan hat?»

«Wie ich höre, sind Sie bereits informiert.» Valérie wandte sich konsterniert ab und machte sich daran, wegzugehen. Dieser aufdringliche Journalist war das Letzte, was sie gebrauchen konnte.

«Bitte, nur eine kleine Information. Ich muss es am Dienstag in der Zeitung bringen.» Knüsel gab sich Mühe, mit der Polizistin Schritt zu halten.

«Am Dienstag in einer Woche?» Valérie blieb stehen. «Dann können Sie genauso gut unsere Medienkonferenz abwarten.»

«Morgen erscheint eine Spezialausgabe. Ich könnte einen kleinen Bericht darüber bringen.»

«Morgen Dienstag?»

«Es ist wichtig. Unsere Tradition ist in Gefahr. Der Sankt Nikolaus ist uns heilig.»

«Sie werden rechtzeitig eine Polizeinotiz erhalten», wich Valérie aus. «Wie, sagten Sie, heisst Ihre Zeitung?»

«Ich recherchiere für den ‹Freier Schweizer›.»

Valérie kramte widerwillig eine Visitenkarte aus ihrer Manteltasche und reichte sie Knüsel. «Wenden Sie sich an den Mediensprecher.» Sie hielt inne. «Und bitte keine voreiligen Schlüsse.»

ZWEI

Den Grittibänz sah Valérie sofort, als sie die Tür öffnete. Er lag neben einem Stück Lebkuchen auf einem der Dutzend Unterteller, die sie, zusammen mit farbigen Kaffeetassen, im «Mythen Center» gekauft hatte. Auch eine Kaffeemaschine hatte sie sich angeschafft. Diese allerdings hatte sie in einem Spezialgeschäft in Zürich erstanden. Es sollte eine typisch italienische mit Kolbenvorrichtung sein. Jetzt glänzte sie in einem Ferrarirot auf der Ablage neben dem Fenster.

Wer hatte Zutritt zu ihrem Büro? Valérie schaltete die Maschine zum Aufheizen ein und schickte sich an, hinaus in den frühen Morgen zu sehen. Es war stockfinster. Ihr eigenes Bild spiegelte sich in den Scheiben. Seit sie von Zürich weggezogen war, hatte sie sich unwesentlich verändert. Noch immer trug sie ihre Haare auf Kinnlänge. Ihr Körper war durchtrainiert und kräftig. Rein äusserlich fühlte sie sich gut. Sie bereitete sich einen Latte macchiato zu, warf zwei Stück Zucker hinein und setzte sich mit der Tasse an ihr Pult. Sie hatte gestern vergessen, die Tür abzuschliessen. Und prompt hatte jemand ihr Heiligtum betreten, als hätte er auf diese Gelegenheit gewartet. Ein Grittibänz! Valérie lächelte vor sich hin. Sie sollte öfter mal die Tür offen lassen.

Sie war früh aufgestanden, nachdem sie in der Nacht kaum geschlafen hatte. Ihre Gedanken waren um ein Dokument gekreist, das sie in der letzten Woche bekommen hatte. Der Kantonsrichter von Schwyz hatte Anzeige gegen unbekannt erstattet. Auf dem Weg ins Gericht war er aus dem Hinterhalt angegriffen und niedergeschlagen worden. Die Anzeige war allerdings zurückgezogen worden. Den Grund kannte Valérie nicht. Aber der Name des Richters war ihr präsent: Niklaus Schwegler. Da war etwas gewesen, das sie nicht mehr in Ruhe liess. Etwas, das sie mit dem gestrigen Mord an Gross in Verbindung brachte. Sie suchte in ihrer Aktenablage nach dem Dossier. Sie fand es auf dem Stapel, der sie daran mahnte, die Pendenzen abzuarbeiten. Vor allem den Fall häuslicher Gewalt in Wollerau. Bereits zweimal waren ihre Kollegen in ein Mehrfamilienhaus gerufen worden, weil die Nachbarn sich ob des Geschreis in einer der Wohnungen Sorgen machten. Beim zweiten Mal hatten sie den Familienvater mitnehmen müssen. Später hatte er es abgestritten, seine Frau geschlagen und die Kinder eingesperrt zu haben. Solange seine Frau keine Anzeige gegen ihren Mann erstattete, war es schwierig, ihm etwas anzuhängen. Valérie hatte sich darüber aufgeregt, dass es Frauen gab, die sich von ihren Ehemännern drangsalieren liessen und, wenn es darauf ankam, ihre Peiniger in Schutz nahmen. Doch dann hatte sie sich daran erinnert, dass ihr genau das selbst widerfahren war.

Sie schlug die Akte Niklaus Schwegler auf. Auf der vordersten Seite besagte ein Stempel, dass die Sache erledigt war. Trotzdem blätterte sie den Inhalt durch. Schwegler war am 24.November frühmorgens auf dem Weg zum Kantonsgericht gewesen, als ein Unbekannter ihn auf der Höhe der Maria-Hilf-Strasse hinterrücks niederschlug. Schwegler hatte sich an zwei Sätze erinnert, die der Täter gesagt hatte. Im Zitat hiess es: «Dich und Gross kann man in den gleichen Topf werfen. Ihr frauenfeindlichen Monster.»

Valérie hatte Schwegler nicht befragt. Ihr Kollege Louis Camenzind war dafür zuständig gewesen. Weshalb der Richter die Anzeige später zurückzog, wollte sie in Erfahrung bringen. Sie griff nach dem Telefon und wählte Louis’ Nummer.

Nach dem zweiten Klingelton nahm er ab. «Guten Morgen, Valérie. Willst du dich für die Klausüberraschung bedanken?»

«Du warst das!» Sie schmunzelte. «Hätte ich mir denken können. Herzlichen Dank. Das ist lieb von dir. Warum bist du schon im Büro? Es ist erst halb sieben.»

«Aus demselben Grund wie du, nehme ich an. Ich bin nicht im Büro. Ich befinde mich im Konferenzraum.»

Sie kam gleich zur Sache. «Erinnerst du dich an Schweglers Anzeige?»

«Niklaus Schwegler?»

«Nachdem man ihn am vorletzten Donnerstag überfallen hatte, erstattete er Anzeige gegen unbekannt.»

«Klar erinnere ich mich. Fischbacher hatte mich gebeten, mich des Falls anzunehmen.»

«Warum hat Schwegler die Anzeige zurückgezogen?»

«Er sagte, dass er überreagiert habe.»

«Warum steht das nicht in den Akten?»

«Doch, steht drin.»

Valérie überflog die letzten beiden Seiten. «Zwei Sätze bloss… aber nichts über den Grund. Wurde er im Vorfeld bedroht?»

«Das ist mir nicht bekannt.»

«Wir müssen mit ihm reden», sagte Valérie mehr zu sich selbst. «Um acht Uhr findet die erste Lagebesprechung statt.» Sie zögerte. «Fischbacher will, dass ich die Ermittlung leite.»

«Das ist mir bereits zu Ohren gekommen.» Valérie hörte Louis durchs Telefon sich räuspern. «Für mich ist das kein Problem.» Und aufgelegt hatte er.

Valérie trank nachdenklich den Latte macchiato. Grittibänz und Lebkuchen rührte sie nicht an. Die würde sie einpacken und mit nach Hause nehmen. Heute Abend erwartete sie ihren Sohn.

Valérie hatte sich, wie ihre Kollegen, mit Kaffee und Gipfeli eingedeckt. Sie setzte sich an den Tisch und schlug ihre Dokumente auf. Dass sie fast nicht geschlafen hatte, sah man ihr nicht an. Es gab durchwegs Zeiten, in denen sie sich stark fühlte und kein Windstoss sie umwerfen konnte. Jetzt standen die Zeichen auf Sturm. Mord in der Adventszeit fühlte sich noch bitterer an als im Rest des Jahres. Ob die Tat einer religiösen Motivation zugrunde lag, schloss Valérie nicht ganz aus. Zu viel war in den letzten Monaten geschehen. Übergriffe auf ein Wohnheim für Asylsuchende in der Nähe von Einsiedeln, die Fahndung nach einem muslimischen Extremisten, den man schliesslich auf dem Bahnhof in Arth-Goldau aufgegriffen hatte, liessen den Schluss schon mal zu, dass man auch in diese Richtung ermitteln musste.

«Vielleicht ist es ein Angriff gegen die abendländische Kultur», war Louis’ Bemerkung gewesen. «Wer den Sankt Nikolaus umbringt, greift das Christentum an.»

Sie hatte ihm verziehen. Anstatt schlafen zu gehen, hatte er sich in Küssnacht unter das Mannsvolk gemischt, zu Recherchezwecken. Dabei war er fast der Versuchung des Alkohols erlegen. Viel hatte er in vergangener Nacht nicht herausgefunden. Allfällige Zeugen waren zu betrunken gewesen, um eine klare Aussage zu machen. Einige unter ihnen hatten nicht einmal gewusst, dass Gross das Opfer war. Erst gegen Morgen sei er nach Hause gefahren.

Louis verzog seinen Mund zu einer Schnute. «Weiss man schon etwas über den Einschusswinkel?»

«Die Berichte aus der Ballistik sind erst dürftig», sagte Valérie. «Es ist noch nicht klar, aus welcher Richtung der Schuss kam. Wir wissen auch nicht, ob der Körper des Toten bewegt wurde.» Sie hielt inne. «Der KTD hat Wohnungen und Häuser an der Bahnhofstrasse inspiziert und nach möglichen Abschussstandorten gesucht. Leider konnten noch nicht alle in Frage kommenden Wohnungen untersucht werden.» Valérie richtete ihren Blick auf die Pinnwand. Es gab ein paar wenige Fotos des Toten. Auch ein Porträt war dabei, das Rosita Gross Henry Vischer ausgehändigt hatte. Es zeigte den Richter als gesetzten Mann von achtundfünfzig Jahren. Ein Lächeln auf seinem Gesicht, in dem die Augen starr, die Mundwinkel leicht nach oben gezogen waren. Gross trug Schnauz und Brille, und die schütteren Haare waren grau. Als Sankt Nikolaus hatte er eine respektvollere Falle gemacht. «Auf welchem Wissensstand befinden wir uns?»

Es war wie ein Hilferuf. Valérie hatte sich die ganze Nacht schon gefragt, ob der Schuss gezielt oder willkürlich abgegeben worden war. An einen Heckenschützen zu glauben, schien ihr doch etwas an den Haaren herbeigezogen. Es war bei einem einzigen Schuss geblieben. Das hiess, dass der Schütze sein Ziel nicht verfehlt hatte. Ein Heckenschütze hätte wild um sich geschossen. Das kannte sie aus Fällen aus den USA. Ein Scharfschütze kam ihrer Überzeugung näher.

Aber weshalb der Sankt Nikolaus?

«Seit acht Jahren amtierte Gross als Sankt Nikolaus», sagte Louis.

Valérie notierte. «Konntest du herausfinden, ob das normal ist? Acht Jahre sind eine lange Amtszeit.»

«Er hätte es bis zu seiner Pensionierung sein können», sagte Louis. «Wann und ob ein Sankt Nikolaus sein Amt abgibt, entscheidet allerdings der Vorstand.»

«Bist du sicher?»

«Nein.»

«Ich möchte alles über die Statuten erfahren. Ob es andere Anwärter gibt, die gern den Sankt Nikolaus verkörpern wollten.»

«In Küssnacht gibt es drei Sankt Nikoläuse», sagte Fabia. «Die müssen die Kindergärten, die Altersheime und abends Familien besuchen. Einer allein schafft das nicht.»

«Wechseln sich die Kläuse ab? Oder marschiert immer derselbe im Umzug mit? Eine Verwechslung können wir nicht ausschliessen. Wir brauchen die Namen der beiden…» Valérie suchte nach dem richtigen Ausdruck. «…der beiden Neben-Kläuse.» Sie stockte. «Für mich ist es fremdes Terrain, die ganze Sankt Niklausengesellschaft überhaupt. Ich nehme an, für einige unter euch auch.»

«Da dürfen nur Männer mitmachen», sagte Fabia. «Vor einem Jahr gab es eine Abstimmung, ob auch Frauen zulässig seien. Die Antwort war klar. Die Abstimmung ging fast einstimmig bachab.»

«Ich finde es auch richtig, dass die Frauen nicht überall dabei sind», sagte Louis und heimste von Fabia einen Boxhieb in die Seite ein.

Valérie schob ihre Unterlippen vor. «Konrad Gross war Bezirksrichter. Auch in dieser Hinsicht dürfte es einige Motive geben. Als Richter ist man nicht immer beliebt. Vor allem, wenn man Entscheidungen fällen muss, die nicht allen passen. Louis, du wirst dem mal nachgehen. Ich will wissen, ob es in der nahen Vergangenheit solche Fälle gab. Und wer betroffen war.»

«Er war ein frauenverachtender Richter.»

Valérie schaute ans Ende des Tisches. Die Stimme gehörte einer jungen Polizistin, die erst kürzlich vereidigt worden war.