Künstlerpech - Silvia Götschi - E-Book

Künstlerpech E-Book

Silvia Götschi

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  • Herausgeber: Cameo
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

«Und? Was tut sich in der Welt?» Sie nahm die Zeitungen auf und suchte nach derjenigen mit dem ältesten Datum. Ihr Blick fiel auf das Titelblatt der Luzerner Zeitung. Dann stöhnte sie. «Haben die keine anderen Themen mehr als den Brand der Kapellbrücke?» «Das ist nicht die Kapellbrücke», korrigierte Melchior. «Die Spreuerbrücke hat gebrannt.» Die Spreuerbrücke in Luzern brennt, und man erinnert sich an den Sommer 1993, als die Kapellbrücke in Vollbrand stand. Doch anders als damals gibt es nun eine Tote. Wurden mit dem Feuer Spuren eines Verbrechens verwischt? Thomas Kramer jedoch ist mit etwas anderem beschäftigt – nämlich dem mysteriösen Verschwinden eines Freundes seines Sohnes – was ihn bald in die Kunstszene führt. Dort trifft der Ermittler diverse Sonderlinge, von denen der eine oder die andere auch nicht vor Mord zurückzuschrecken scheint. Kramer folgt den Spuren, die ihn immer tiefer ins Labyrinth dieses Falls führen, wobei ihn das zunehmend sonderbare Verhalten seiner Ehefrau immer wieder ablenkt. Und schließlich begibt er sich in tödliche Gefahr, weil er – mal wieder – im entscheidenden Moment vergisst, seine Kollegen über seine Pläne zu informieren.

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Weitere Titel der Autorin im Cameo Verlag:

Mord im Parkhotel

Kramer-Reihe

Engelfinger

Rigigeister

England-Reihe

Auf der schwarzen Liste des Himmels

Silvia Götschi, 1958 in Stans (CH) geboren, zählt heute zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen der Schweiz. Ihre preisgekrönten Werke erwecken weit über die Landesgrenzen hinaus Interesse.

Seit ihrer Jugend zählen Schreiben, Fotografieren und Psychologie zu ihren Leidenschaften. Nach der Handelsschule und dem Abschluss der Kaufmännischen Berufsschule arbeitete sie während längerer Zeit in der Hotellerie und Gastronomie. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Götschi hat drei Söhne und zwei Töchter und lebt heute mit ihrem Mann im Kanton Aargau.

www.silvia-goetschi.ch

1. Auflage 2022

Copyright ©2022 Cameo Verlag GmbH, Bern

Alle Rechte vorbehalten.

Der Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur

für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Lektorat: Bärbel Philipp, Jena

Korrektorat: Susanne Schulten, Duisburg

Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Cameo Verlag GmbH, Bern

ISBN: 978-3-03951-014-6

eISBN: 978-3-03951-020-7

Printed in Germany

SILVIAGÖTSCHI

EIN FALL FÜR KRAMER

KÜNSTLERPECH

KRIMINALROMAN

CAMEO

Inhalt

Prolog

Mittwoch, 8. Mai

Donnerstag, 9. Mai

Freitag, 10. Mai

Samstag, 11. Mai

Montag, 13. Mai

Dienstag, 14. Mai

Mittwoch, 15. Mai

Donnerstag, 16. Mai

Freitag, 17. Mai

Samstag, 18. Mai

Sonntag, 19. Mai

Montag, 20. Mai

Epilog

Prolog

Gregorianische Gesänge und der dumpfe Bass der Gitarre – wie sehr ihn das erregt. Doch noch mehr gilt dies für den Körper, der vor ihm aus dem Boden zu wachsen scheint, als wäre er eins mit diesem.

Er beugt sich nach vorn und berührt die Fingerkuppe, die er gerade eben mit einer Feile bearbeitet hat. Der Nagel wirkt wie ziseliert. Sogar die Monde auf der Oberfläche sind zu erkennen, jede noch so kleine Vertiefung, jede Erhebung. Er ist zufrieden. Langsam richtet er sich auf, geht ein paar Schritte zurück zur Raummitte. Über sein Gesicht huscht ein Lächeln. Wahrlich, dies ist sein bestes Werk.

In einigen Tagen wird es in der Galerie stehen. Dafür hat er lange gekämpft. Er sieht Besucher davor verweilen, welche die Dynamik der Figur bestaunen. Vielleicht werden sie sogar niederknien, erfüllt von Hochachtung. Voller Respekt vor ihm, dem Künstler. Journalisten werden sich darum streiten, wer zuerst mit Fragen auf ihn zukommen darf, und anderntags werden in roten Lettern die Schlagzeilen über dem Bericht leuchten, auf den er so lange hat warten müssen. Dann wird er endlich das geworden sein, wofür er geboren wurde – der Begnadete mit den magischen Händen. Er wird sogar im von ihm eigentlich verachteten Boulevardblatt auf der Titelseite stehen, sein Werk den Aufmacher in den Zeitschriften und Ratgebern bilden.

«Halleluja! O Götter, ihr mir wohlgesinnten! Ihr Engel, welche sie begleiten. Und ihr dort unten, im Flammenmeer Ertränkten, ihr Teufel, was habt ihr über mich gelacht. Doch jetzt ist euch das Lachen vergangen, ha! So eine Figur habt ihr noch nie zuvor gesehen. Schöner noch als Michelangelos David. Jede Körperfalte mit Hingabe gemeißelt. Vollendet in ihrer Ausführung. Einen Meter fünfundsiebzig Perfektion vom Scheitel bis zu den Sohlen.»

Mit dem Geschlecht hat er sich besondere Mühe gegeben. Nicht verborgen hinter dem Feigenblatt – nein, strotzende Manneskraft in ihrer naturgegebenen Größe. In die Höhe strebend und potent. So, wie er es immer hat sein wollen. Gesund und stark. Man wird über ihn reden als den, der den Keuschheitsgürtel gesprengt hat. Er will die Leute konfrontieren, sie zum Hinsehen zwingen. Sie werden ihm die Füße lecken wollen. Ihn dafür lieben, dass er den Schleier gehoben hat. Erneut erfasst ihn eine Welle der Erregung – dabei hat er sich so sehr in Körperbeherrschung geübt. Ist darauf trainiert, den irdischen Gelüsten nicht nachzugeben. Denn es ist nicht einfach, sich den Eindrücken zu entziehen, die einen täglich überfluten. Manch einer ertrinkt in ihnen. Es gibt kein Zurück.

Er streicht zärtlich über den bronzenen Penis. Sogar die Eichel ist ihm vollends gelungen. Jede Falte ist perfekt.

Lobgesang aus dem Radio.

«Allmächtiger, der ich bin.» Er umrundet die Skulptur. Wie soll er sie nur nennen? Adonis – Gott der Schönheit? Oder nach Alkibiades, Sokrates’ platonischem Liebhaber? Zitternd streckt er seine Hände aus, umfasst die Schultern der Figur. «Mein bist du, meine Geburt, mein Anfang und meine Ewigkeit. Aus meiner Fantasie geboren.»

Die Haut glänzt, noch ein letzter Schliff. In einer Schale hat er die Haare bereitgelegt – die für den Kopf und alle anderen Stellen. Er wird noch zusätzlich einen halben Tag daran arbeiten müssen, bis alles am richtigen Platz ist. Die Härchen mit Bronze überpinseln, mit der Legierung, die er selbst ausgetüftelt hat. Ja, er ist ein Genie.

Er wird ihn Alkibiades nennen.

Durch das schmale Fenster am Ende des Raumes fällt ein Streifen Licht. Die Sonne wirft ihre letzten Strahlen hindurch und zeichnet warme gelbe Sprenkel auf das Bronzegesicht.

Er arbeitet ohne Gefühl für die Zeit, die verstreicht. Die Kopfhaare sind nun befestigt. Auf den Armen und Beinen klebt ein schwacher Flaum. Und vom Bauchnabel bis zu den Lenden kräuseln sie sich widerspenstig.

Der Mönchschor singt zum wiederholten Mal dasselbe Lied, und die Gitarre brummt dazu den Bass. Er umkreist die Figur, tänzelt gebückt, dann wieder gestreckt. Wie Rumpelstilzchen vor dem Feuer, triumphierend, dass niemand seinen Namen wisse.

Das vergehende Licht streichelt über die Stirn, die wohlgeformte Nase und den schmalen Mund. Er kann sich nicht von diesem Anblick lösen. «Alkibiades, jetzt würde ich dich zum Leben erwecken wollen, dir meinen Atem einhauchen. Du bist so wunderschön und gottgegeben.»

Zärtlich umfasst er den vor ihm stehenden Leib.

Mittwoch, 8. Mai

Das Telefon klingelte. Kramer saß vor dem Laptop und betrachtete die Fotos vom letzten Urlaub. Meer, nichts als Meer. Dazwischen weiße Sandstrände, Palmen und ein Himmel wie auf dem Hochglanzprospekt des Reisebüros. Isabelle hatte nicht zu viel versprochen. Auf dem Foto lehnte sie an der Reling des Riesendampfers, mit dem sie unterwegs gewesen waren, und streckte ihre braun gebrannten Beine dem Betrachter entgegen. Kramer tastete nach dem Telefon, während er die Augen nicht von dem Bild lassen konnte. Unbestritten hatte er noch immer eine attraktive Frau. «Kramer.» Er musste sich ein paarmal räuspern.

«Dad, ich bin’s, Stefan.»

Seit der Rückkehr aus den Ferien hatte Kramer seinen Sohn erst einmal gesehen. Er hatte ihn und Isabelle auf dem Flughafen abgeholt und ihnen auf der Rückfahrt erzählt, welch hektische Zeit ihm bevorstehe. «Ich dachte, du seiest auf einer Fortbildung?», fragte er deshalb.

«Die ist verschoben worden», erwiderte Stefan. «Bist du heute am späten Nachmittag zu Hause? Ich muss dich dringend sprechen.»

«Wann hast du denn Feierabend?»

«Um halb fünf.»

Kramer schmunzelte. «Bankangestellter müsste man sein.»

«Du bist ja auch schon daheim», wunderte sich Stefan. «Wieso eigentlich?»

«Überstundenkompensation.» Kramer klickte ein Bild weiter. Isabelle im neu erstandenen Bikini. Wie wundervoll ihre Figur zur Geltung kam, bemerkte er erst jetzt. Auch ihr Haar trug sie länger. «Warum erzählst du’s mir nicht am Telefon?»

«Weil ich so oder so wieder einmal bei euch vorbeischauen wollte.»

«Deine Mutter ist aber nicht da.» Das nächste Bild: Zwischenstopp in Otrobanda, im Hafen von Curaçao. Der Besuch in Willemstad. Isabelle mit Hut.

«Ich möchte dich unter vier Augen sprechen.» Stefans Stimme klang angespannt.

«Worum geht es denn?» Unterwasseraufnahmen. Isabelle beim Schnorcheln. Dann Kramer seitlich abgelichtet. Wohin hatte Isabelle nur geschaut? Nein, von einem Waschbrettbauch war er noch immer weit entfernt. Nachtessen im Speisesaal des Luxusdampfers. Isabelle im kleinen Schwarzen. So entspannt hatte er sie schon lange nicht mehr erlebt.

«Ich kann am Telefon nicht darüber reden.» Stefan erklärte, dass er in etwa einer Stunde am Sonnenberg sein würde. «Lucille hat Dienst. Ich kann zum Abendessen bleiben.»

«Hast du dich gerade selbst eingeladen?» Kramer lachte. Isabelle sah ihn mit über die Nase geschobener Sonnenbrille an. «Also, mach dich auf den Weg. Ich warte.»

Den Besuch im Fitnesszentrum konnte er verschieben. Er vergrößerte jetzt eine Nahaufnahme von seinem Gesicht und sah es sich genauer an. Die steile Falte zwischen den Augenbrauen war neu. Trotz der Ferien. Plötzlich Tizianas Gesicht, das wie ein Blitz durch seine Gedanken zuckte. Nicht wirklich. Kramer schloss das Dokument. Tief einatmend lehnte er sich zurück. Armando Bartolini war noch nicht dazu gekommen, ihn über den Abschluss des letzten Falls näher zu informieren. Wollte er überhaupt davon hören?

Kramer ging in die Küche, die neben dem Esszimmer lag und durch ein Bogentor damit verbunden war. Im Gefrierschrank fand er eine Portion Lasagne. Er heizte den Backofen auf, sah währenddessen die Zeitungen durch. Die Themen Entlassungen und Arbeitslosigkeit überwogen in den Schlagzeilen. Eine halbe Seite wurde dem Zyklon Nargis gewidmet, der Ende April über dem nördlichen Indischen Ozean gewütet hatte. Die Frage, ob man in Zukunft vermehrt mit solchen Wetterkapriolen rechnen müsse, wurde einem Spezialisten gestellt, dessen Namen Kramer noch nie zuvor gelesen hatte. Er blätterte um und überflog die Sportnachrichten. Wie immer dominierte der Fußball, doch das interessierte ihn nicht.

Später schob er die Lasagne auf dem Blech in den Backofen. Im Esszimmer deckte er den Tisch für drei Personen. Dazu holte er die farbigen Tischsets hervor und arrangierte Teller, Messer und Gabeln zusammen mit den Rotweingläsern. Isabelle würde vielleicht früher als beabsichtigt von ihrer Arbeit zurück sein. Manchmal fing sie bereits um halb sieben an und kam dadurch früher nach Hause. Oftmals ließen sie dann den Abend mit einem Glas Wein ausklingen. Er holte seinen kalifornischen Lieblingswein – den Hess Selection – aus dem Keller, entkorkte ihn und trug die Flasche ins Esszimmer, wo er sie auf den Tisch stellte.

Die Obstbäume standen in ihrer letzten Blüte. Ein leichter Dunst hatte sich über die Landschaft gelegt. Kramer stand beim Fenster und blickte den Hang hinunter. In den letzten Jahren war jedes Fleckchen Grün überbaut und zubetoniert worden. Die Hauseigentümer versuchten dennoch, mit üppigen Bepflanzungen das zurückzuerobern, was sie verloren hatten – ein Stück urchige Natur. Die Grundstücke waren mit mannshohen Mauern oder Holzzäunen gegen die Nachbarn abgeschottet, die Anonymität war mittlerweile wohl allen ein Bedürfnis. Kramer kam es vor, als hätte sich jeder seinen eigenen Schrebergarten angelegt. Er wechselte auf die Rückseite, spähte durchs Fenster, als Stefan auf den Parkplatz fuhr. Seit einem halben Jahr gehörte ihm ein schwarzer Mini Cooper. Kramer ging ihm entgegen und stellte sich unter den Türrahmen. Mit verschränkten Armen beobachtete er seinen schlaksigen Sohn, wie er aus dem Auto stieg, abschloss und mit langen Schritten auf ihn zukam. Mit den ihm vertrauten Bewegungen, demselben Gang, denselben Gesten – Kramers Abbild in der Ausgabe der jüngeren Generation. Sie umarmten einander.

Kramer schob seinen Sohn ins Esszimmer. «Ich habe Lasagne gemacht. Ich hoffe, sie wird dir schmecken.«

Stefan lehnte an das Sideboard. «Danke, das reicht für meine bescheidenen Ansprüche.»

«Im Untertreiben warst du schon immer ein Weltmeister. Wie sieht es mit der Fortbildung aus?»

«Zu viele Anmeldungen.» Stefan griff mit beiden Händen in die braunen Haare, die er sich frisch hatte schneiden lassen – so, wie es aussah, an der Grenze zum Kahlschlag. «Mich haben sie der zweiten Gruppe zugeteilt. Vielleicht fällt der Kurs dann genau in meine Ferien. Auch nicht weiter schlimm, da Lucille arbeiten muss.»

«Nun schieß schon los», forderte Kramer ihn schließlich auf. «Was hast du auf dem Herzen, das du nicht am Telefon hast besprechen wollen?» Er sah seinen Sohn freundlich an.

Stefan schob einen Stuhl unter sein Gesäß und schaute zu seinem Vater hoch. «Erinnerst du dich an Silvano Esposito?»

Kramer setzte sich ebenfalls. «Nein. Wer soll das sein?»

«Der Name sagt dir nichts?» Stefan sah seinen Vater enttäuscht an. «Liest du den Kulturteil in der Luzerner Zeitung denn nie? Esposito fertigt diese wunderschönen Skulpturen, vorwiegend Frauenakte.»

«Kann sein, dass ich die Frauenakte mal betrachtet habe.» Kramer schmunzelte ein wenig. «Und manchmal lese ich auch den Kulturteil», ergänzte er. «Doch der Name sagt mir nichts.»

«Mit Silvano bin ich in die Sekundarschule gegangen. Als ich mit der kaufmännischen Lehre begann, besuchte er die Kunstgewerbeschule. Wir haben uns dann eine Weile aus den Augen verloren. Bis etwa vor einem halben Jahr.»

«Ach der, dein Jugendfreund! Nanntet ihr ihn nicht Sily? Er war doch ab und zu bei uns. Dass ich das vergessen konnte.» Kramer ging in die Küche, öffnete den Backofen, griff nach zwei Topflappen und holte das Blech mit der Lasagne heraus. «Jetzt erinnere ich mich wieder. Hat er nicht diese Wand vor der Turnhalle verunstaltet?» Er stellte das Blech auf die Ablage und entnahm ihm die Glasschale mit der Lasagne. Diese trug er ins Esszimmer.

Stefan schnupperte. «Heute hätte dieses Bild einen enormen Wert. Aber diese Kunstbanausen mussten es ja unbedingt überpinseln.»

Kramer stellte die Schale auf den Esstisch. «Kunst ist Geschmacksache!» Warum musste er plötzlich an Tiziana denken?

«Ist etwas?» Stefan sah seinen Vater stirnrunzelnd an. «Erinnerst du dich doch an ihn?»

«Gerade erinnere ich mich an den Mann, den man am Schmutzigen Donnerstag erschossen hat.» Kramer schöpfte ein Stück Lasagne auf Stefans Teller. Seine Hand zitterte unmerklich. «Der war auch Künstler. Nur war er beim Malen geblieben. Was also ist mit diesem Silvano Esposito?»

Stefan nahm seinen Teller entgegen. «Er will heiraten. Am Freitag war Polterabend im Hotel Schweizerhof. Aber er ist nicht erschienen.»

«Er wird es sich anders überlegt haben.» Kramer setzte sich und breitete eine Serviette auf den Knien aus. Er griff zur Flasche und goss Rotwein zuerst in Stefans, dann in sein Glas.

«Aber nicht Silvano!»

«Wann will er denn heiraten?»

«Am nächsten Samstag. Zuerst auf dem Standesamt und anschließend in der Kirche. Übermorgen hätte er zudem die Vernissage zu seiner Ausstellung, darum war der Junggesellenabend vorverlegt worden.»

«Hast du seine Verlobte angerufen?»

«Nein. Sie hat mich kontaktiert. Sie ist völlig aus dem Häuschen.» Stefan angelte nach seiner Serviette. «Sie macht sich große Sorgen. Silvano ist wie vom Erdboden verschluckt, und das seit fünf Tagen. Irgendetwas muss geschehen sein.»

«Und seine Eltern? Vielleicht wissen die, wo sich ihr Sohn aufhält.» Kramer griff nach dem Glas. «Prost dann!»

Stefan zögerte. «Auch sein Vater hat keine Ahnung, wo er sich befindet. Er war auch schon bei der Polizei deswegen.» Er hob das Glas und erwiderte den Toast.

Beide tranken und stellten ihre Gläser gleichzeitig wieder hin.

«Jetzt mach mal halblang … er hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben? Verstehe ich dich da richtig?» Kramer ließ die Gabel, die er zum Mund hatte führen wollen, in der Luft stehen.

«Ja, das hat er. Doch die Polizeibeamten wollten vorerst mit einer Fahndungsmeldung warten.»

«Ist nachvollziehbar. Wer weiß, was im Kopf eines jungen Mannes vorgeht, der kurz vor der Heirat steht. Vielleicht hat er ja Panik bekommen. Der wird schon wieder auftauchen.»

«Du kennst Silvano nicht. Es ist ihm ernst. Da haben sich zwei Menschen gefunden, die füreinander bestimmt sind …»

«Im Gegensatz zu dir und Lucille?» Kramer merkte zu spät, wie sehr er seinen Sohn damit verletzte. «Tut mir leid, das ist mir jetzt so rausgerutscht.»

Stefan hingegen versuchte, die Frage zu ignorieren. «Hey, Dad, was ist los? Können wir bitte beim Thema bleiben? Apropos Lucille: Ich würde genauso reagieren, wenn sie von einer auf die andere Stunde verschwinden würde. Ich würde keine Minute zögern, sie zu suchen.»

Darin bestand wohl der Unterschied. Kramer erinnerte sich an Isabelles Verschwinden vor bald fünfundzwanzig Jahren. Da war sie nach einem heftigen Streit Hals über Kopf aufgebrochen. Er hatte eine Woche lang auf sie gewartet, ohne ein Lebenszeichen von ihr zu erhalten. Am achten Tag hatte sie wieder vor seiner Tür gestanden und ihm mit aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben, dass sie zumindest einen Anruf von ihm erwartet hatte. Dabei hatte er nicht einmal gewusst, wo sie sich aufhielt. Es war nicht das einzige Mal gewesen, dass sie ihre Dickschädel gegeneinander ausspielten. «Ich kann dir leider nicht helfen. Das gehört nicht in meinen Aufgabenbereich.»

«Und warum nicht? Es geht hier um Leib und Leben. Du bist Chef des Ermittlungsdienstes. Du könntest doch …»

«Nein, kann ich nicht!» Kramer beugte sich über seinen Teller. «Iss jetzt, sonst wird’s kalt.»

Stefan verzog schweigend den Mund. Trotzdem ließ er sich nicht einschüchtern. «Es muss irgendetwas geschehen sein. Ich habe Silvano noch nie so zufrieden erlebt wie in den letzten Tagen vor seinem Verschwinden. Er war sich dieser Sache sehr sicher. Er wollte heiraten und Kinder haben, eine richtige Familie eben …» Er seufzte. «Bei dir muss es immer zuerst eine Leiche geben.» Er schob den halb leeren Teller von sich. «Sage mir wenigstens, an wen ich mich sonst wenden könnte.»

Kramer legte das Besteck nieder. «Wenn wir jedem Verschwinden nachgehen würden, hätten wir bald noch mehr Überstunden zu bewältigen als bis anhin. Der wird schon wieder auftauchen. Glaub mir. Eine Heirat ist ein wichtiger Entscheid im Leben. Vielleicht denkt er im Stillen darüber nach und möchte einfach allein sein.»

«Dann hätte er seiner Verlobten zumindest Bescheid gegeben.» Stefan warf die Serviette auf den Tisch. «Danke, Dad, du bist mir wirklich eine außerordentlich große Hilfe.» Ohne ein weiteres Wort verließ er das Esszimmer und schritt zügig durch den Korridor. Bald darauf hörte Kramer die Tür ins Schloss fallen. Auch ihm war jetzt der Appetit vergangen.

Als er draußen das Motorengeräusch vernahm, stand er auf und begann nachdenklich, das Geschirr abzuräumen.

* * *

Pünktlich, wie verabredet, saß Dunja Neumann im Bistro. Sergio Esposito hatte in keinem Satz erwähnt, weshalb er sie so dringend sprechen wollte. Alles, was mit dem Konzern zu tun hatte, erledigte Dunja wie üblich mit Sergios Vater, einem dieser Hierarchen, die sogar – lägen sie bereits im Sterben – noch vom Bett aus ihre Direktiven erteilen würden. Sergio dagegen genoss sein Leben als verwöhnter Sohn, der das Arbeiten nicht erfunden hatte. Maßgeschneidert in jeder Beziehung. Nicht nur seine extravaganten Anzüge kosteten ein Vermögen, auch seine Leidenschaft für schnelle Autos und teure Lokale, das wusste Dunja, denn Vater Esposito hatte sich erst kürzlich wieder über den Lebenswandel dieses Sohnes beklagt und gesagt, dass er ihn nicht länger dulden werde.

Dass Sergios Gesicht ein blutunterlaufenes Auge zierte, sah Dunja erst in dem Moment, als er neben ihren Stuhl trat und sich für seine Verspätung entschuldigte. «Cara mia, che bellezza siete, sempre lastessa meravigliosa donna …»

Dunja hob das Kinn. Sie wusste, dass sie attraktiv war. Ihr Gesicht hatte trotz des Alters seine runde, schöne Form behalten. Ihre Wangenknochen standen hoch. Sie betrachtete ihr Gegenüber. Er trug einen saloppen Weston, am Handgelenk baumelte ein schweres Goldarmband, und das Pendant dazu lag auf der behaarten Brust, welche durch das aufgeknöpfte Hemd gut zu sehen war. Seine schwarzen Haare hatte er pomadisiert, den Schnurrbart fein gestutzt. Er schien sich seiner Wirkung bewusst zu sein und unterstrich dies mit einem schelmischen Lächeln, das ein schneeweißes Gebiss aufblitzen ließ.

Aufheller, dachte Dunja. Sie sagte knapp: «Das können Sie sich sparen.» Dann griff sie nach ihrer Handtasche, beförderte sie unter den Tisch und bat Esposito, sich zu setzen. «Nun, was führt Sie zu mir?», fragte sie unterkühlt, vielleicht eine Spur zu kalt, aber das lag an dem plumpen Versuch des Mannes, sich charmant zu geben.

Esposito schnippte mit dem Finger und beorderte den Kellner an ihren Tisch. «Ich bin da in eine heikle Situation geraten», begann er, ohne konkret zu werden.

«Aha …» war das Einzige, was Dunja herausbrachte. Sie überlegte, wie heikel die Situation sein musste, dass man sie zurate zog.

«Ich möchte, dass Sie mich vertreten.»

«Sie müssten mir erst einmal sagen, worum es geht.»

Er schüttelte den Kopf. «Ich bestehe darauf, dass Sie das Mandat übernehmen.»

Sie ignorierte Espositos Grinsen. «Es gibt Hunderte von Anwälten, die sich die Finger lecken würden, könnten sie Sie vertreten. Wobei auch immer. Warum ich?»

«Sie sind unsere Familienanwältin …» Seine sonore Stimme nahm ein geradezu unverschämtes Timbre an.

Dunja schwieg, weil der Kellner zwei Latte macchiato und ein Glas Wasser brachte. Krampfhaft versuchte sie zu lächeln. Als ihr Esposito eine Zigarette anbot, griff sie danach, obwohl sie sich das Rauchen schon vor Jahren abgewöhnt hatte.

«Vergessen Sie es», sagte sie nach einer Weile und ließ sich von ihm Feuer geben. Indem sie seine Hand hielt, bemerkt sie den vergoldeten Anzünder und die beiden eingravierten Initialen. Espositos Zittern entging ihr nicht.

«Taolyn betrügt mich …»

«Und hat Ihnen wohl auch dieses Veilchen verpasst?» Dunja musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. «Und jetzt wollen Sie sich scheiden lassen? Ist es das? Warum sagen Sie das nicht gleich?»

«Ja, das würde dann wahrscheinlich alles vereinfachen.» Nun grinste auch er. «Jedenfalls wegen des Veilchens.» Dann huschte ein dunkler Schatten über sein Gesicht. «Aber die Scheidung hat noch Zeit. Ich brauche Sie aus einem anderen Grund.»

«Und deshalb haben Sie mich hierher bestellt? Kommen Sie gefälligst in mein Büro», flüsterte sie, nicht gewillt, in diesem Bistro über Berufliches zu sprechen, zumal sich am Tisch nebenan zwei mit ihr befreundete Frauen hingesetzt hatten. «Wir unterhalten uns dort weiter …»

«Damit Sie mich wieder abservieren? Nein, meine Liebe. Ich will jetzt Ihre Zusage!»

«Ich verabscheue undurchsichtige Angelegenheiten.» Dunja hatte Espositos Mandat nicht nötig, auch wenn er, wie sie annehmen musste, bereit sein würde, ein ungewohnt hohes Honorar zu bezahlen. Aber mit Esposito junior hätte sie sich mehr Ärger aufgebürdet als mit jedem anderen Mandanten.

«Questo vediamo …!» Esposito stieß einige vulgäre Ausdrücke hervor, bei denen Dunja nur hoffen konnte, dass niemand sonst in ihrer Nähe sie verstand.

Er langte in die Innentasche seines gestreiften Jacketts und holte einen Ledereinband hervor. «Ich werde Ihnen einen Vorschuss zahlen, den Sie sicher gebrauchen können …»

«Ich bin die falsche Person.»

Er ignorierte ihren Einwand und kritzelte mit einem Stift, der genauso vergoldet aussah wie der Anzünder, eine vierstellige Zahl ins obere Feld des Schecks. «Sie werden es bestimmt nicht bereuen.» Dann lehnte er sich über den Tisch und fixierte Dunja mit starrem Blick. «Hören Sie, das ist noch nicht alles.»

«Wir sollten in mein Büro fahren.» Sie schielte zu den beiden Frauen am Nebentisch hinüber. Diese schienen jedoch so in ihr eigenes Gespräch vertieft zu sein, dass sie gar nicht dazu kamen, genauer hinzuhören.

Er beugte sich noch näher zu ihr hin. «Das können wir immer noch. Hören Sie mir einfach nur zu.»

Dunja rührte ungeduldig den Kaffee um. «Wir befinden uns nicht in Hollywood.» Sie lachte dunkel.

«Das heißt, Sie nehmen den Fall an?» Espositos Augen glänzten.

«Ich habe noch gar nichts in dieser Richtung getan», wehrte Dunja ab. «Ich nehme keine Fälle an, solange ich nicht weiß, worum es überhaupt geht. Ich spiele grundsätzlich nicht va banque.»

Esposito richtete sich wieder auf. «Taolyn betrügt mich mit meinem Bruder.»

«Das kann ich mir nicht vorstellen.» Dunja griff nach dem Kaffeeglas. «Wie ich von Ihrem Vater weiß, steht Ihr Bruder kurz vor der Heirat. Ich schätze ihn auch nicht so ein, dass er jedem Rock hinterherrennt. Er ist ein Künstler.»

«Genau. Alle Künstler, die ich kenne, haben eine Schraube locker. Meistens sind sie auch nicht gerade mit großem Selbstvertrauen gesegnet. Wenn dann so ein schönes Frauenzimmer daherkommt, wie Taolyn es ist, drehen die schon mal durch, wenn Sie verstehen, was ich meine.»

«Wollen Sie meine Meinung hören?» Dunja erhob sich plötzlich und blickte Esposito streng an. «Ihre Verdächtigungen sind unterste Schublade. Sie sollten sich wirklich jemand anderen suchen. Sie vergeuden nur meine Zeit.»

«Jetzt setzen Sie sich wieder … bitte!» Er flüsterte jetzt. «Ich kenne meinen Bruder. Seit Jahren hat er vergeblich darum gekämpft, dass seine Skulpturen in einer namhaften Galerie ausgestellt werden. Jetzt hat er kurzfristig die Zusage im KKL bekommen, weil eine Berühmtheit krank geworden ist. Das ist ihm offensichtlich zu Kopf gestiegen. Den Polterabend am Freitag hat er schon mal nicht im Kreise seiner Freunde gefeiert, sondern ist mit meiner Frau durchgebrannt.»

Dunja zog sich den Mantel über, den sie beim Eintreffen über die Stuhllehne geworfen hatte, und legte ein paar Münzen auf den Tisch. «Vergessen Sie es. Ich werde Sie weder bei einer Scheidung noch für sonst etwas vertreten.»

Während sie ausholenden Schrittes auf den Ausgang zusteuerte, sah sie nicht, was hinter ihrem Rücken geschah, aber sie spürte etwas Beunruhigendes.

«Warten Sie, verdammt noch mal!» Esposito wurde jetzt laut, was Dunja zusammenzucken ließ. Als sie bei der Tür angekommen war, hatte er sie schon eingeholt. «Dunja, bitte!» Er steckte ihr eine Notiz zu. «Lesen Sie das zuerst, bevor Sie mich abservieren. Ich brauche eine gute Anwältin, bitte!» Sein Flehen wirkte geradezu theatralisch.

«Gut, Herr Esposito, ich werde es mir überlegen.» Sie öffnete die Tür und schlüpfte schnell hinaus.

Ein Blick zum Himmel ließ sie zögern, als sie die schwarzen Wolken sah, die sich über dem Horizont auftürmten. Verstimmt darüber, dass mit dem Frühlingstag, der so wunderschön und sonnig begonnen hatte, nichts weiter wurde, als die Pendenzen im Büro aufzuarbeiten, suchte Dunja nach dem Autoschlüssel und ärgerte sich darüber, dass sie den Schirm zu Hause hatte liegen lassen. Eilig ging sie auf ihren Wagen zu, einen schnittigen Straßenflitzer, der über Nacht im Parkverbot gestanden hatte. Glücklicherweise war kein Polizist auf die Idee gekommen, einen Strafzettel zu schreiben – Dunja vermutete, dass die städtischen Ordnungshüter wieder einmal ein Auge zugedrückt hatten. Sie setzte sich hinter das Lenkrad und faltete Espositos Notiz auseinander.

* * *

Bereits am Morgen hatte Kramer sich entschieden, den freien Mittwoch dafür zu nutzen, den Teich im Garten von Winterdreck zu säubern. Vielleicht hätte er dann noch Zeit gehabt, ein paar neue Forellen zu kaufen, nachdem die letzten in der Bratpfanne geendet hatten, aber die Fotos und Stefan hatten ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Als Isabelle dann noch angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, dass sie eine alte Freundin wiedergetroffen habe und er nicht auf sie warten müsse, drohte der Mittwoch zum Fiasko zu werden. Kramer entschloss sich, nach den Zwanziguhrnachrichten auf dem deutschen Sender zum Polizeikommando zu fahren. Es konnte nicht schaden, etwas Papierarbeit zu erledigen, die in letzter Zeit liegen geblieben war – trotz seiner Überstunden.

Der Wind hatte aufgefrischt. Als Kramer in die Kasimir-Pfyffer-Strasse einbog, begann es zu stürmen. Nichts Ungewöhnliches für die Jahreszeit. Wer in der Zentralschweiz lebt, muss auf alle Witterungen gefasst sein. Um den Pilatus war die Wolkendecke jedoch bereits wieder aufgerissen. Ein Fetzen dämmriger Himmel schien hindurch.

Unterhalb des Eingangs kreuzte er den Weg mit Marion, deren Ablösung eingetroffen war.

«Hey, Thomas», begrüßte sie ihn. «Sehnsucht nach deinem Brotgeber?»

«Seit ich aus dem Urlaub zurück bin, fällt mir zu Hause die Decke auf den Kopf.»

«Aha, du vermisst wohl den Sternenhimmel oder doch das Meeresrauschen …?»

Kramer zog die Schultern ein.

«Du hast doch nicht etwa vor, dein Nachtlager im Büro aufzuschlagen?» Marion nahm grinsend die Brille von der Nase und schob sie in ihre blonden Wuschelhaare. Ohne dieses furchterregende schwarze Gestell sah sie ohnehin besser aus.

«Mal sehen. Vielleicht spiele ich eine Runde Skat mit mir selbst. Skat in Jackerath, kennst du die Geschichte?» Kramer nahm schmunzelnd die Stufen unter die Füße. «Und grüß Amrein von mir», rief er seiner Kollegin hinterher.

Der Eingangsbereich lag im Dunkeln. Die Tür war bereits geschlossen. Kramer angelte nach dem Schlüssel, als aus dem hinteren Teil des Empfangs eine schmächtige Gestalt auftauchte. Es war Lucille, die Kramer hier nicht erwartet hatte. Sie lächelte ihm durch die Glasfront zu und öffnete die Tür. «Was tust du denn hier?» Ihre Überraschung klang echt. «Ich dachte, heute sei dein freier Tag?»

«Das fragst ausgerechnet du?»

«Ich vertrete nur kurz den Nachtdienst, bevor ich gehe.»

«Hm.» Kramer zögerte. «Hast du Zeit, nachher in mein Büro zu kommen?»

«Eigentlich habe ich mich mit Stefan verabredet», wich Lucille aus. «Wir wollen ins Kino gehen.»

«Der wird nicht gut drauf sein.»

Lucille schloss die Tür hinter sich. «Hast du ihm eine Absage erteilt?»

«Du weißt davon?»

«Ich habe ihm gleich gesagt, dass er damit bei dir nicht durchkommt.» Lucille blieb vor dem Aufzug stehen.

«Moment … reden wir vom selben Thema?» Kramer lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme.

«Stefan macht sich große Sorgen um seinen Freund. Bevor du ihn abgewimmelt hast, war er hier aufgetaucht.»

Der Beamte des Nachtdiensts kam zurück. Lucille verabschiedete sich und ging dann mit Kramer über die Treppe ins Obergeschoss.

«Du wirst den Kinoabend wohl vergessen müssen. Wenn sich Stefan etwas in den Kopf gesetzt hat, wird er nicht aufgeben.»

«Da kommt er ganz nach seinem Vater.» Auf dem obersten Treppenabsatz war Lucille außer Atem. «Ich bin schon neugierig darauf, was du mit mir besprechen möchtest.»

Sie schritten zu Kramers Büro.

Er sah Lucille an. «Ich habe mir natürlich trotzdem Gedanken gemacht. Vielleicht sollten wir diesen Esposito ja mal genauer ansehen. Kennst du ihn näher?»

«Aha, er lässt dir wohl doch keine Ruhe.» Über Lucilles Gesicht huschte ein Lächeln. «Seit wir die neue Wohnung haben, war er einmal zu Besuch bei uns. Jetzt steht eine kleine Bronzefigur in unserem Schlafzimmer. Die hat Silvano uns zur Wohnungseinweihung geschenkt.»

«War seine Freundin auch da?»

«Nein, ich erinnere mich, dass sie einen Frauenabend hatte, wie Silvano durchblicken ließ.»

«Und welchen Eindruck hattest du von Silvano Esposito?»

«Das ist schwierig. Ich habe ihn erst einmal gesehen. Aber auf den ersten Blick schien er mir ein wenig scheu. Anders als sein Bruder. Sergio kennt man schon eher. Er gibt sich als Juniorchef der Esposito AG aus, Typ Lackaffe, wenn du verstehst, was ich meine.» Lucille schüttelte sich und lachte laut.

«Meines Wissens führt Esposito senior die Elektroinstallationsfirma noch selbst.»

«Nun ja, mit irgendetwas müssen die Söhne ja prahlen. Auf jeden Fall ist Sergio sehr spendabel. Ihm gehört nicht nur die Firma – ihm gehört die ganze Welt.»

«Du klingst so, als würdest du ihn näher kennen.»

«Das ist schon lange her. Ich hatte mal, um es dezent auszudrücken, eine kurze Affäre mit ihm. Wirklich nur eine kurze. Im Ernst: Er ist nicht mein Typ.» Lucille zögerte. «Er mag für viele der Märchenprinz sein. Wahrscheinlich, weil er so viel Geld hat. Aber für mich war er ein Frosch … Und bitte, sag das bloß Stefan nicht!»

«Und trotzdem kennst du Silvano nicht näher?»

«Ich sagte doch, es war eine kurze Affäre. Das Familiäre kam nie zur Sprache. Es interessierte mich nicht. Über seinen Vater habe ich allerdings ab und zu in der Zeitung gelesen.»

Kramer bohrte nicht weiter nach. Letztendlich war Silvano und nicht sein Bruder verschwunden. «Gut, das wär’s dann. Ich entlasse dich endgültig in den Feierabend.»

«Bist du sicher, dass du mich nicht mehr brauchst?»

Kramer startete seinen Rechner und lächelte. «Ich werde mal ein wenig googeln, um mir ein Bild von dem Verschwundenen zu machen.»

Lucille verdankte dies mit einem koketten Augenaufschlag und ging zur Tür. «Bis morgen dann!»

Kramer zog den Bürostuhl unter seinem Pult hervor und hievte sich in eine bequeme Sitzposition. In der Suchmaschine gab er den Namen Silvano Esposito ein. Nach einigen Klicks gelangte er auf die Website des Künstlers. Auf der ersten Seite waren nebst kleinen und großen Skulpturen auch einige Collagen und Aquarelle zu bestaunen. Für die Einladung zur Vernissage im Kultur- und Kongresshaus Luzern gab es eine spezielle Seite. Die Dauer der Ausstellung war eingetragen und als PDF ein Pressebericht. Kramer las ihn und erfuhr ein paar unspektakuläre Dinge über Silvano.

Als Zweitgeborener des Fabrikanten Esposito senior habe er einen Weg eingeschlagen, den seine Mutter – eine begnadete Pianistin und früh verstorben – ihm wohl in die Wiege gelegt hatte. Auf derselben Seite stand, dass er mit nur vierundzwanzig Jahren die erste große Ausstellung im KKL präsentieren durfte. Dafür habe er lange gearbeitet. Er bedankte sich in einem etwas hölzernen Deutsch dafür, dass man ihn ernst nahm. Er schien nicht von einem starken Selbstbewusstsein geprägt zu sein. Auf der letzten Seite fand Kramer ein paar Pressestimmen und ein Blog. Die Namen der Berichterstatter waren ihm bis auf einen nicht geläufig. Tanja Pitzer jedoch – die kannte er. Kramer wunderte sich, dass sie sich für Kunst interessierte. Doch nach dem Lesen ihrer Zeilen war ihm klar: Die junge Dame, die man unter dem Kürzel Tapi kannte, verstand weniger von Kunst als vielmehr davon, jemanden in die Pfanne zu hauen. Ihre Kritik stand in keinem Verhältnis zur Arbeit des Künstlers. Sie schrieb so, dass es Herr Müller links und Frau Meier rechts befriedigte, all jene, die in ihrer Trostlosigkeit aufblühten, wenn sie darüber lasen, wie grottenschlecht die Leute waren, denen sie heimlich, aber erfolglos nacheiferten. Die Diskussionen – auch diese waren abgedruckt – offenbarten die Missgunst gegenüber einem Künstler aus ihrer Mitte, der es zu etwas gebracht hatte. Kramer fragte sich, weshalb Silvano Esposito nichts unternommen hatte, um diese Einträge zu löschen.

Kurz vor Mitternacht fuhr Kramer den Computer herunter. Was er wissen wollte, hatte er in Erfahrung gebracht. Viel war es allerdings nicht. Seine Augen schmerzten, als hätte er sie gegen einen Sandsack gepresst. Er schritt zum Fenster, öffnete es und sah in die Nacht hinaus. Die Straße gegenüber schien wie ausgestorben, die Häuser warfen Schatten, die Fassaden waren schwarz, nur hie und da durch blaues Flimmern unterbrochen.

In der Ferne vernahm er ein Martinshorn. Bei genauerem Hinhören entpuppte es sich als das der Feuerwehr. Der Klang war etwas tiefer und melodiöser als jener der Polizei. Nachdem Kramer das Fenster geschlossen hatte, kehrte er zum Pult zurück. Seine Absicht, mit dem Aufräumen seiner Pendenzen zu beginnen, endete damit, dass er diese bloß von einem Stapel auf den anderen schob. Papierkram, nichts als Papierkram von kleinen, lapidaren Fällen, die trotz ihrer Banalität immer einen enormen schriftlichen Aufwand erforderten. Irgendwann würde er mit dem Abarbeiten beginnen. Jedoch nicht heute.

Später ging er über die Treppe ins Erdgeschoss. Der Polizist, der den Nachtdienst übernommen hatte, sprach gerade ins Telefon. Sekunden später summte Kramers Mobiltelefon. Gleichzeitig rannten ein paar uniformierte Polizisten an ihm vorbei. Er wunderte sich, wo die plötzlich alle hergekommen waren, und presste das Telefon ans Ohr.

Toni Beeler meldete sich, ein Kollege, der dem Pikedienst zugeteilt war. «Kannst du zur Spreuerbrücke kommen?»

«Ich bin nicht im Dienst.» Kramer bedauerte es von Minute zu Minute mehr, an diesem Mittwochabend nicht wie vorgesehen zu Hause geblieben zu sein.

«Es ist wirklich dringend, und ich bin heilfroh, dass ich dich erwischt habe.»

«Sag bloß nicht, dass es wieder einmal eine Schlägerei gegeben hat.» Von denen gab es in letzter Zeit viele. Manchmal endeten sie blutig, sodass die Ordnungshüter ausrücken mussten. Oft arteten harmlose Scharmützel gelangweilter Jugendlicher so aus, dass der ganze Polizeiapparat zum Zuge kam: Tatbestände aufnehmen, Protokolle ausfüllen, Zeugen befragen – der Polizei ging die Arbeit nie aus.

«Du wirst es nicht glauben …»

«Also doch eine Schlägerei.» Kramer seufzte, während er sich dem Ausgang näherte. Die Tür stand offen, und er trat in die kühle Nacht hinaus. Vom Pilatus her wehte ein unangenehmer Wind. «Ich bin eigentlich nur zufällig am Arbeitsplatz. Und wegen einer Schlägerei wirst du mich wohl kaum stören …» Er zögerte.

Durchs Telefon vernahm er ein schweres Atmen. «Nein, die Brücke …» Die Verbindung wurde abrupt unterbrochen. Kramer drückte ungeduldig auf die Wiederwahl von Beelers Nummer. Es läutete zweimal.

«Was ist mit der Brücke?»

Beeler räusperte sich. «Sie brennt lichterloh …»

«Was zum Teufel?!» Kramer rang um die richtigen Worte. Doch diese blieben ihm im Hals stecken. Er erinnerte sich an das Drama vom August 1993, als die Kapellbrücke in Flammen gestanden hatte. Luzerns Wahrzeichen hatte wie Zunder gebrannt und daraufhin wochenlang wie ein verkohltes Skelett in der Reuss gestanden. Der Wiederaufbau hatte viel zu reden gegeben und der neuen Brücke den Namen Ikea-Brücke eingebracht – wegen des hellen Holzes, aus dem man sie errichtet hatte.

«Wir sind im Einsatz», sagte Beeler. «Die Streife hat uns alarmiert. Es hat eine Tote gegeben.»

«Hat man Spuren beseitigen wollen?», mutmaßte Kramer laut. «Eine Zigarette kann es ja diesmal nicht gewesen sein.» Aus seiner Stimme hörte man den puren Sarkasmus heraus. «Und Boote sind dort, soviel ich weiß, aufgrund der starken Strömung nicht angebracht. Wo steht ihr denn?»

«Am Mühlenplatz. Die Feuerwehr und die Ambulanz sind bereits hier.»

«Ich werde kommen.» Kramer legte auf. Dann rief er zuerst Marc Linder, den Polizeichef, an und teilte ihm mit, was er von Beeler wusste. Anschließend verständigte er Bartolini und bat ihn, direkt zum Ort des Geschehens zu fahren.

* * *

Ein Drittel der Spreuerbrücke stand in Flammen. Dunkelrote Rauchschwaden stiegen in den Nachthimmel auf. Die Feuerwehr versuchte vergeblich, dem Feuer Herr zu werden. Drei Wasserrohre zielten aus verschiedenen Richtungen mitten ins Inferno.

«Wenn das alles nicht so verdammt morsch wäre …» Toni Beeler, der sich zum Feuerwehrkommandanten gesellt hatte, starrte in die Glut.

«Bis jetzt hat sie Blitz und Donner getrotzt», entgegnete dieser.

«Das war nicht immer so», begann Beeler zu dozieren. «Im Jahr 1566 wurde das Bauwerk durch einen Orkan und Hochwasser fast vollständig zerstört. In den Jahren danach wieder aufgebaut. Zwischen 1626 bis 1635 entstanden dann die Gemälde …»

Der Kommandant sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, irgendwie überrascht darüber, dass ein einfacher Polizist über so viel historisches Wissen verfügte.

«Die Staatsanwaltschaft wird es sicher interessieren», bemerkte Kramer, der die letzten Worte mitbekommen hatte, als er eintraf. «Kramer ist mein Name.» Er reichte dem Kommandanten die Hand.

«Pius Kathriner», stellte sich dieser vor. Er war ein großer, stattlicher Mann mit Stiernacken, vierkantigem Gesicht und borstigen Haaren.

«Wie konnte es passieren, dass die Brücke beinahe in Vollbrand steht?»

«Wenn wir das wüssten. Der Stadtteil muss um diese Zeit wie ausgestorben sein. Meine Männer sind seit zehn Minuten im Einsatz. Als wir ankamen, standen das Dach und die Streben bereits in Flammen. Aber Sie erinnern sich sicher: Bei der Kapellbrücke ging das auch verdammt schnell.»

Ein Krankenwagen und zwei Streifenwagen hatten neben dem Geländer zur Reuss geparkt. Sie alle waren unmittelbar nach dem Alarm hier eingetroffen. Die Männer stellten Holzlatten auf, spannten Kunststoffbänder und riegelten den Platz weiträumig ab. Auf der gegenüberliegenden Flussseite in der Pfistergasse geschah das Gleiche beim Brückenkopf.

Allmählich füllte sich der Mühlenplatz mit Gaffern. Ein paar Besserwisser redeten wild durcheinander. Spekulationen kursierten unter den ganz Gescheiten; jemand behauptete, ein Blitz habe eingeschlagen. Ein anderer vermutete einen Kurzschluss. Eine hochgewachsene Frau löste sich aus der Menge, überstieg die Absperrbänder und schritt auf die drei Männer zu.

«Was suchst du denn hier?» Kramer war überrascht, als er seine Sekretärin erkannte.

«Ich saß in der Pizzeria gegenüber. Traf mich da mit einem alten Bekannten.»

Kramer sah auf seine Armbanduhr. «Um diese Zeit?»

«Wir haben gegessen, geredet und die Zeit vergessen. Du weißt ja, wie das ist.»

«Und hast du etwas Besonderes bemerkt?»

«Nicht mehr als alle anderen, die vor Ort waren.» Sie zögerte. «Zufällig ist mein Bekannter Arzt. Er ist jetzt bei der Toten. Er hat sie mit einem der Feuerwehrmänner von der Brücke heruntergeholt. Sonst wäre sie ein Raub der Flammen geworden.» Sie sah dabei Kathriner an, der dies bestätigte.

Bevor Kramer antworten konnte, fuhr sie fort: «Er lebt nicht auf dem Mond. Er wird sich vorsehen, damit er keine Spuren verwischt, die für uns nützlich sein könnten. Er weiß, dass ich bei der Polizei arbeite.»

«Habe ich etwas gesagt?» Kramer schüttelte den Kopf.

Sie starrten jetzt in Richtung Brücke, aus deren Dachbalken die Flammen schlugen. Im Gebälk ächzte es, als es krachend und funkensprühend auseinanderbrach. «Schade um die schönen Gemälde vom Totentanz», seufzte Elsbeth. «Ich nehme an, das sind die Originale.»

«Ein Skandal ist das», enervierte sich Kathriner. «Irgendjemand hat es auf die Reussbrücken abgesehen. Es kann ja nicht sein, dass innerhalb weniger Jahre gleich zwei Brücken in Luzern brennen.»

Der Mühlenplatz füllte sich weiter mit Schaulustigen. Es schien, als kämen sie aus allen Löchern hervor. In den umliegenden Häusern gingen die Lichter an. Fenster wurden aufgerissen, und Menschen lehnten sich über die Simse.

Wenig später traf auch Bartolini ein. Seit seine Nora Zwillinge erwartete, traf man ihn jetzt öfter zu Hause an. Er hatte auch schon Kurse für Kleinkinderziehung besucht und begleitete Nora zweimal pro Woche zum Schwangerschaftsturnen. Mittlerweile hatte auch er einen ansehnlichen Bauch bekommen – aus Solidarität, behauptete er, wenn man ihn auf seine körperliche Veränderung ansprach. Er wolle schließlich wissen, wie sich das anfühle. Dass er sich um seine schwangere Freundin dermaßen intensiv kümmerte, hätte ihm niemand zugetraut. Zumal er bekannt dafür war, ständig seine Frauen zu wechseln.

«Wisst ihr, wem der Hund dort hinten gehört?» Bartolini zeigte in die Dunkelheit, wo man außer einem undefinierbaren Schatten nichts erkennen konnte. «Er sitzt da und fletscht die Zähne. Ich habe mich nicht getraut, ihn anzufassen. Aber ich glaube, er trägt ein Halsband.»

«Ein herrenloser Hund? Was ist mit ihm?» Kramer winkte seinem Kollegen zu.

«Vielleicht gehört er der Toten», mutmaßte Elsbeth. «Ich erinnere mich, dass er wie ein Verrückter gebellt hat. Leider ist das niemandem richtig aufgefallen. Der Platz war zuerst wie ausgestorben. Kein Wunder, bei dieser Kälte. Die Brücke brannte schon lichterloh, als sich die ersten Leute hier draußen versammelten.»

«Wem ist denn die Tote zuerst aufgefallen?», wollte Kramer wissen.

Elsbeth sah ihn verständnislos an. «Dem Arzt natürlich.»

«Ach ja, du hattest es bereits erwähnt», entgegnete Kramer etwas abwesend. «Hat dein Arzt denn auch einen Namen?»

«Frederik Gantenbein. Ich war mit ihm zum Brückenaufgang gelaufen. Dann sahen wir sie liegen. Frederik reagierte sofort.» Elsbeth nickte mit dem Kopf in Richtung Ambulanzwagen, der im Lichtkegel einer Straßenlaterne stand. «Wie gesagt, er ist jetzt dort drüben.»

«Wie ist sie gestorben? Kann man von einem Verbrechen ausgehen?»

«So weit sind wir noch nicht», sagte Beeler. Auf seinem schweißnassen Gesicht spiegelte sich der Widerschein des Feuers. «Sie weist keinerlei äußere Verletzungen auf.»

Kramer nahm Bartolini zur Seite. «Ich will, dass du eine Bestandsaufnahme machst. Ich nehme an, Amrein wird auch bald eintreffen. Dr. Lohmeyer habe ich auf dem Weg hierher informiert. Er ist unterwegs. Der Amtsstadthalter wird auch bald eintreffen. » Er hauchte in seine kalten Hände. «Weißt du, ob es Zeugen gibt?»

«Ich glaube nicht. Wir alle waren überrascht, alle, die sich im Restaurant befanden. Der Hund muss schon ziemlich lange gebellt haben. Vage erinnere ich mich jetzt daran. Aber du weißt, wie das ist. Heutzutage reagierte niemand mehr. Lärm während der Nacht ist alltagstauglich geworden. Vielleicht gibt es Zeugen aus den Wohnungen.»

«Na, dann klappert mal die Zeugen ab. Notiert die Namen, Adressen und Handynummern.»

Ein mäßiger Wind trieb Rauchschwaden über den Platz. Es roch nach verkohltem Holz. Kramers Blicke durchbohrten die Schwärze auf dem Fluss, der mit roten Sprenkeln übersät war. Plötzlich sah er, wie sich eine Gestalt vom Geländer löste. Sie musste schon geraume Zeit dort gestanden haben. «Wer ist denn das?»

«Wer?» Elsbeth folgte seinem Blick und runzelte die Stirn.

«Na, die Person dort hinter der Feuerwehr. Verdammt!» Kramer eilte zum Brückenaufgang. Die dunkle Gestalt kehrte ihm den Rücken zu. Kramer spürte Wut in sich aufsteigen und den Drang, zuzuschlagen. Es ärgerte ihn maßlos, wenn die Leute bei einem Unfall Maulaffen feilhielten. Katastrophentourismus nannte er das. Mit geballten Fäusten trat er auf die Person zu.

Fliegerjacke und Lederstiefel. Die Gestalt wandte sich zu ihm um. «Ah, Herr Kramer. Unsere Wege kreuzen sich immer wieder.» Tanja Pitzer lächelte spitzbübisch, während sie den Zoom bei der Kamera einstellte, die sie aufgrund des fehlenden Stativs auf dem Geländer abgestützt hatte.

«Wie haben Sie die Nachricht so schnell erhalten?»

«Das ist ein Berufsgeheimnis.» Sie gab sich kokett. Sie schoss provokativ noch ein paar Bilder. «So ein schönes Feuerwerk sieht man ja nicht alle Tage. Hat nicht die Kapellbrücke mal gebrannt?»

«Da dürften Sie noch in den Windeln gelegen haben», bemerkte Kramer schlagfertig.

«Mag sein. Trotzdem könnte es Parallelen geben.»

Kramer entnahm seiner Jackentasche eine Visitenkarte. Nach einer Diskussion war ihm jetzt nicht zumute. «Ich lade Sie vor. Morgen um neun Uhr will ich Sie im Präsidium sehen.»

«Oh, ist das eine offizielle Einladung? Womit habe ich denn das verdient?» Tanja beugte sich vor, ließ den Fotoapparat über ihrer Brust pendeln und faltete die Hände kokett hinter dem Rücken. «Ich hoffe doch, Sie können mir das erklären.»

«Ganz einfach. Ich lade Sie als Zeugin vor.» Wenn Kramer jemanden nicht ausstehen konnte, dann war das Tanja Pitzer, die Lokalredakteurin der Boulevardzeitung. Sie tat immer so, als wüsste sie alles besser und schon lange im Voraus. Sie hatte ein unglaubliches Gespür für Menschen, das sie jedoch skrupellos und nur zu ihrem eigenen Nutzen einsetzte.

«Als Zeugin? Aber Sie irren sich. Ich habe nichts und niemanden gesehen.»

«Morgen um neun.» Kramer überlegte kurz. «Und ich warne Sie: Sollte morgen irgendetwas Erfundenes über den Brand in der Zeitung stehen …»

«Ja, was dann? Wollen Sie mich deswegen etwa anzeigen? In unserem Land herrscht immer noch Meinungsfreiheit, und die Presse, lieber Herr Kramer, genießt diese in besonderem Maße.» Tanja wandte sich um und stolzierte entlang des kleinen Kraftwerks flussaufwärts. Von da aus schoss sie noch ein paar Bilder.

«Aber nicht, wenn die laufenden Ermittlungen gestört werden …»

Doch das hatte Tanja Pitzer schon nicht mehr gehört.

Kramer näherte sich dem Brückeneingang, der durch ein Löschfahrzeug halbwegs versperrt war. Zwei behelmte Feuerwehrmänner standen unter einer Strebe, wo die Brücke einen Dreißiggradwinkel bildete, und zielten mit einem Wasserschlauch in die Flammen. Trotz der Wassermenge schien sich das Feuer ungezügelt durchs Gebälk zu fressen. Der Wind verhinderte ein Vorankommen der Löscharbeiten. Kramer beobachtete, wie die Bilder hinter Ruß und Rauch verschwanden. Allmählich kroch die Hitze in seine Richtung.

Plötzlich ein lauter Knall, dann eine Stichflamme, die in den Nachthimmel schoss, als wäre der Leibhaftige soeben aus der Hölle aufgestiegen.

Kramer schreckte aus seinen Gedanken auf. Bevor er realisieren konnte, was geschah, spürte er eine Druckwelle, die ihn unsanft nach hinten katapultierte, direkt auf das Löschfahrzeug zu. Während er auf die Karosserie prallte, sah er, wie die Männer, die sich vor ihm aufgehalten hatten, in hohem Bogen auf ihn zugeflogen kamen. Der unter Hochdruck stehende Wasserschlauch bog sich wie eine wütende Schlange. Sofort schossen noch mehr Flammen gen Himmel. Schreie wechselten sich ab mit lauten Rufen. Ein Martinshorn setzte ein. Die kleine Kapelle in der Brückenmitte schien es in den Himmel zu jagen. Nur für die Dauer eines Sekundenbruchteils schien Kramer einer riesigen Bilderflut ausgesetzt zu sein. Später konnte er sich jedoch an nichts mehr erinnern. Er spürte einen infernalischen Schmerz, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Es herrschte Chaos. Der gesamte Mühlenplatz war in Aufruhr. Pius Kathriner kam angerannt. «Was war das?», brüllte er. «Herr Kramer! Remo! Sepp!» Er war außer sich. «Holt die Sanitäter. Es gibt Verletzte! Verdammte Scheiße!» Er griff nach seinem Funkgerät, drückte hektisch Knöpfe. «Müller, bleib drüben! Sichert den Zugang für alle!»

Angespannt schaute er zur Brückenmitte, wo der letzte Teil der Konstruktion nun ebenfalls auseinanderbrach. Versengte Hölzer kippten in die Reuss, schlugen mit lautem Getöse auf und trieben dann flussabwärts davon. Das spitze Türmchen der Kapelle tauchte wie ein Mahnmal noch einmal auf, bevor es vom Sog des Wassers nach unten gezogen wurde und in den Fluten verschwand.

Dann herrschte kurz Totenstille.

Einer der Feuerwehrmänner kam über den Brückenstummel gehumpelt. Man sah ihm den Schock schon von Weitem an.

«Bist du verletzt?» Kathriner rannte seinem Kollegen entgegen.

«Alles in Ordnung.» Dank seiner feuerfesten und gepolsterten Montur hatte er nichts abbekommen. Völlig außer Atem wandte er sich an den Feuerwehrkommandanten. «Es sieht ganz so aus, als hätte man zusätzlich einen Sprengsatz montiert. Wir konnten nicht davon ausgehen, dass …» Er zeigte auf seinen Kollegen, den es schlimmer erwischt hatte. Der Mann lag vor dem Löschfahrzeug und blutete aus der Nase. Ihn hatte es auf den leitenden Ermittler geworfen, allerdings schaffte er es, sich ohne fremde Hilfe aufzurappeln. Kramer lag auf dem Boden und rührte sich immer noch nicht.

Kathriner wurde nervös. Er wich den Sanitätern aus, die mit Koffer, Defibrillator und Bahre angerannt kamen. «Ich werde meine Männer zurückrufen. Ich kann kein Risiko eingehen. Vielleicht ist die ganze Brücke vermint.» Er griff erneut zu seinem Funkgerät und ordnete an, die Löscharbeiten aus größerer Entfernung fortzusetzen und vor allem das Übergreifen des Feuers auf die umstehenden Häuser zu verhindern. «Die Brücke muss sofort geräumt werden. Ich wiederhole: Niemand darf sich auf der Brücke aufhalten! Das ist ein Befehl! Ende der Durchsage.»

Der Rest der Brücke loderte erneut auf. Von beiden Seiten zischte Wasser aus den Schläuchen, nun aus weiterer Distanz. Die Männer auf dem Fluss, die mit dem durch Taue gesicherten Löschboot an die Brücke herangefahren waren, zogen sich indes zurück. Es war zu gefährlich.

«So etwas hat es in meiner ganzen Laufbahn noch nie gegeben!» Kathriner schäumte. «Wo sind wir denn? Im Krieg?»

Tanja Pitzer tauchte plötzlich auf, stellte sich neben ihn und beantwortete die Frage. «Es sieht ganz so aus, als hätten wir es hier mit einem Irren zu tun.»

Kathriner wirkte verdattert. «Wer sind Sie denn?»

Sie strahlte ihn an. «Tanja Pitzer von der Boulevardzeitung. Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?» Es schien sie nicht zu stören, dass sich in unmittelbarer Nähe Sanitäter um die Verletzten kümmerten. Der Feuerwehrmann rappelte sich auf und presste sich ein Taschentuch gegen die Nase, während Kramer auf eine Bahre gelegt wurde. Tanja Pitzer fotografierte ungerührt weiter.

«Verdammt, ich hätte ihm einen Helm geben sollen», enervierte sich Kathriner. Dann schnauzte er Tanja an: «Ziehen Sie lieber Leine, bevor ich Sie wegen unbefugten Zutritts verhafte.»

Als Elsbeth und Bartolini bei ihm eintrafen, brüllte er sie ebenfalls gleich an: «Wir tun hier unsere Arbeit und ihr tut gefälligst eure! Brände sind gefährlich, und ich trage die Verantwortung. Es sollte klar sein, dass sich niemand unnötig dem Brandherd nähert, schon gar kein Laie. Und was tut euer Chef? Er missachtet sämtliche Regeln!»

Die beiden starrten den Kommandanten völlig konsterniert an. Dann beugte sich Elsbeth über die Bahre, auf der Kramer lag. «Mensch, Thomas!» Sie musste sich auf Bartolini stützen. Unwillkürlich traten ihr Tränen in die Augen.

«Er ist mit dem Kopf aufgeschlagen. Eine vorübergehende Bewusstlosigkeit. Wir müssen ihn zur Beobachtung ins Krankenhaus bringen.» Lohmeyer kümmerte sich gleich selbst um den Verletzten und sprach beruhigend auf ihn ein.

Allmählich kam Kramer wieder zu sich. Er bemerkte die Manschette an seinem linken Arm und Lohmeyer, der den Blutdruck maß. Er blinzelte.

«Glück gehabt», begrüßte ihn der Arzt. «Das hätte böse ins Auge gehen können. Wissen Sie, wie Sie heißen?»

Kramer griff sich an den Hinterkopf, der höllisch wehtat. Er grübelte, ob ihm sein Name einfallen würde. «Ist das ein Scherz?», brummte er. Aber es fiel ihm tatsächlich schwer, sich an seinen Namen zu erinnern. Er fragte nicht, was geschehen war. Irgendjemand würde es ihm später sagen. Als er die brennende Brücke in der Ferne sah, dämmerte es ihm langsam. Das taube Gefühl in den Ohren erinnerte ihn nur vage an das Geschehen. Da war ein Knall gewesen, dann Schwärze – und jetzt lag er auf dem Schragen. Und – ach ja, er hieß Kramer. Wie lächerlich, dass er danach gefragt worden war.

Die Tote. Natürlich, ihretwegen war er hier. Er schaute Lohmeyer an. «Können Sie mir etwas über die Tote auf der Brücke sagen?»

«Kramer, wie er leibt und lebt.» Lohmeyer seufzte erleichtert und rang sich ein Lächeln ab. «Sie ist noch keine zwei Stunden tot. Die Leichenstarre ist noch nicht eingetreten. Lediglich ihre Augenlider weisen die typischen Merkmale einer beginnenden Starre auf.» Er hatte die Angewohnheit, laut zu denken. «Doch aufgrund der Temperaturen kann ich es noch nicht genau sagen. Wir werden sie in die Gerichtsmedizin bringen und müssen die Obduktion abwarten.»

«Todesursache?» Kramer merkte, wie viel Mühe es ihn kostete, einen geraden Satz zu sprechen.

«Wahrscheinlich Herzstillstand. Doch das ist reine Spekulation.» Lohmeyer streifte die Manschette von Kramers Arm ab. «Sie sind konditionell gut beieinander. Bei diesem Sturz hätte sich ein anderer wohl sämtliche Knochen gebrochen. Wie fühlen Sie sich?»

«Nun ja, ‹gut› wäre übertrieben», gab Kramer zu. «Wurde sie umgebracht?»