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Packend, vielschichtig und mit psychologischem Tiefgang. Anwalt Justus Maibach wird an einem Wintermorgen auf der Rigi Scheidegg tot aus dem Schnee geborgen. Eine nächtliche Schlittenfahrt ist dem hochintelligenten Draufgänger und Lebemann offensichtlich zum Verhängnis geworden. Als wenig später Maibachs Geliebte angefahren und getötet wird, glaubt Valérie Lehmann nicht an einen Zufall. Um weitere Morde zu verhindern, ermittelt sie hinter der glitzernden Fassade der angesehenen Anwaltsfamilie – und stösst dabei auf ein Netz aus Abhängigkeiten, Eifersucht und Rache.
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Seitenzahl: 518
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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Jan Geerk
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-978-5
Originalausgabe
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Raunächte
Denn nur dann kann man Wotans wildes Heer am Himmel entlang rauschen hören,
Sie fiel. Tiefer und tiefer. Der Luftzug streifte ihre Haut, heiss und tödlich. Ein Sturz ins Ungewisse. Schwerelos.
Plötzlich schlug sie auf. Nicht heftig. Etwas federte den Aufprall ab. Zwei starke Hände packten sie.
«Lebt sie?»
«Sie atmet.» Jemand griff an ihren Hals. «Der Puls ist da, wenn auch schwach. Kannst du sie übernehmen?»
Ihr Körper wurde weitergereicht. Es war, als sähe sie auf diesen hinunter, aus der Perspektive eines Vogels. Wie sie dort lag, in den Armen eines Mannes, den sie nicht kannte, bloss spürte. Sie getraute sich nicht, hinzusehen. Die Welt vor ihren Augen liess das Unglaubliche erahnen. Das schreckliche Geräusch berstender Glasscheiben, das Brechen von Holz, dieses permanente laute Grollen und Brodeln – diese Schreie.
Das hier musste die Hölle sein.
«Bring sie in Sicherheit.»
Man wickelte sie in eine kratzige Decke. Sie liess es geschehen, wehrte sich nicht, war erstarrt vor Angst.
Hektische Schritte, Rufe, das Rauschen eines Wasserfalls. Es passte nicht zusammen.
Später schlug sie die Augen auf. Man hatte sie in eine warme Stube gebracht und auf einen Stuhl gesetzt. Alles fremd. Auf dem Tisch stand eine henkellose Tasse.
«Wer ist sie?»
«Sie hat ihren Namen nicht genannt. Hat bislang nicht gesprochen, steht wahrscheinlich unter Schock. Das arme Mädchen.»
«Trink, Kleine. Der heisse Kakao wird dir guttun und dich aufwärmen.»
Die Frau hatte eine angenehme Stimme, liebevoll, fast zärtlich. Doch der Ausdruck ihres Gesichts verriet etwas anderes. Da war Furcht. Panik. Pures Entsetzen.
«Wie heisst du?»
An der Wand neben dem Vitrinenschrank tickte eine Uhr. Der grosse Zeiger stand auf der Zwei, der kleine auf knapp nach der Vier. War Nachmittag oder war es Nacht? Und hätte sie dann um die Zeit nicht im Bett liegen müssen?
Die Welt stand Kopf. Oder sie war untergegangen.
«Camilla.» Sie erinnerte sich. Sie hiess Camilla. Ihr richtiger Name sei Camille, hatte Baba gesagt. Der Pfarrer habe bei der Taufe das «e» mit dem «a» verwechselt und so ins Taufbüchlein eingetragen.
«Camilla. Ist sie die Tochter von Christophe Fournier?» Der Mann sah die Frau an. Er roch nach Rauch.
«Kennst du ihn?»
«Er war nicht dabei.»
«Und die Mutter?»
«Ich glaube, sie suchen noch nach ihr.»
«Camilla Fournier. Sie ist sieben Jahre alt. Steht so im Buch, welches Karl rübergebracht hat. Er meinte, wie wichtig es sei, das Buch in Sicherheit zu wissen. Camilla Fournier. Ja, das muss sie sein.»
Camilla verstand den Sinn der Worte nicht. Alles fühlte sich wie ein Traum an. Was geschehen war, schien wie ausradiert. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Camilla griff nach der Tasse. Hitze strömte durch ihre Handflächen und liess sie kribbeln. Der Kakao schmeckte süss.
«Wir sollten sie ins Hotel nebenan bringen, dorthin, wo die anderen sind. Es wird sie ein wenig ablenken.»
Der Kakao, den Grossmutter jeweils kochte, war immer bitter. Und bei Mami gab es «Forsanose». Sie sagte, das sei gut für Kinder im Wachstum.
Mami! Wo hatte sie sie zuletzt gesehen? Die Erinnerung an sie war weg. Camilla vermochte kaum, sich ihr Gesicht vorzustellen.
«Möchtest du Kekse?»
Sie schüttelte den Kopf und umklammerte die Tasse. Sie gab ihr Halt. Die henkellose Tasse, das Porzellan mit den blauen Blumen darauf. Enziane. Es waren Enziane.
«Möglicherweise ist sie traumatisiert.»
«Das wird ein Arzt entscheiden. Ist er schon eingetroffen?»
«Nein, aber die Krankenschwester ist da, hat sich, soweit ich weiss, retten können. Welch ein Drama. Sie ist selbst schwer angeschlagen. Sie befindet sich im Hotel nebenan, hat Karl mir mitgeteilt.»
«Ich kann nicht aus dem Fenster schauen.»
«Gut, hast du die Läden geschlossen. Man wird uns vertreiben. Unser Haus steht an einer ungünstigen Stelle. Irgendwann müssen wir hier raus.»
«Hörst du das auch?»
«Lieber Gott, beschütze uns.»
EINS
«Die neugeborene Sonne steigt aus dem Schoss der Mutter Erde. Heute feiern wir die Mutternacht.» Die Worte verloren sich im Nirgendwo. Eleonores Worte. «Vor diesen Tagen versank die Natur in ihren innersten Kern und hat jetzt die Kraft für ihre Wiedergeburt.»
«Halleluja!» Emma stupste ihre Schwägerin in die Seite. «Jedes Jahr dasselbe.»
«Grosses Kino, wie immer», erwiderte Graziella und folgte unaufgeregt dem Ritual, das ihre Schwiegermutter vollführte. «Sie ist und bleibt eine Hexe.»
Eleonore stand vor dem Altar, ihre Begleiterinnen bildeten eine Phalanx. Gemeinsam hatten sie den Altar vom Schnee befreit und hergerichtet, mit den Steinen, die seit Jahren hier aufgeschichtet lagen, ein kleiner Berg aus losen Brocken, welche Moos und Wurzeln zusammenhielten. Der Altar war mit magischen Utensilien geschmückt. Der dreibeinige Kessel befand sich auf der feuerfesten Unterlage. Er müsse aus Eisen sein, hatte ihre Schwiegermutter gesagt, nur so könne man eine optimale Räucherung gewährleisten. Sie hatten den Boden des Kessels mit leicht brennbaren Sägespänen, Heu und Papierschnipseln gefüllt, mit allem, was durch die Hitze zu motten begann. Unter dem Kessel brannten die Holzscheite. Der Rauch stieg und löste sich in der Dunkelheit auf. Und daneben stand, wie jedes Jahr, die Urne von Eleonores verstorbenem Schwiegervater – Hubertus Maibach, einst berühmtester Richter in Schwyz.
«Das Dunkel fürchte ich nicht, denn dem Dunkel folgt das Licht. Die Nacht ängstigt mich nicht, denn der Nacht folgt der Tag.» Eleonore hob ihre Arme gegen den Himmel, hielt ihre Hände wie Schalen, als wollte sie damit etwas auffangen. «Das Böse siegt nicht über mich, denn dem Bösen folgt das Gute. Die Kälte lässt mich nicht erfrieren, denn der Kälte folgt die Wärme.»
«Von dem merke ich nichts.» Graziella hielt die Hände vor den Mund und hauchte hinein. Es hatte den ganzen Tag geschneit. Jetzt war es wieder wolkenlos. Entsprechend tief waren die Temperaturen gesunken. Weder die Mohair-Unterwäsche noch die daunengefütterte Windjacke verhinderte die Kälte auf ihrem Körper. Ihre Füsse schmerzten und fühlten sich wie Eiszapfen an.
Emma gebot ihr, still zu sein.
«Die Leere bricht mich nicht, denn der Leere folgt die Fülle», beendete Eleonore das erste Ritual. Dann schraubte sie den Deckel der Urne auf, eine Spezialanfertigung, die sie beim Schlosser hatte machen lassen. Sie entnahm mit einem Löffel etwas von der Asche und streute diese in den Kessel. Graue Dämpfe entwichen.
«Sie hat eine morbide Seite», sagte Graziella, während sie Eleonore belustigt beobachtete. Zugegeben, die alte Lady sah mit ihren achtundsechzig Jahren jugendlich frisch aus, was weniger auf die viel beschworenen Kräutertees, als auf die regelmässigen Besuche bei ihrer Kosmetikerin zurückzuführen war. Wie jede Wintersonnenwende trug sie einen purpurfarbenen Mantel mit Kapuze, was ihr ein verwegenes Aussehen gab und an eine Figur aus dem Mittelalter erinnerte.
«Der Kreislauf des Jahres beginnt von vorn.» Eleonore erhob ihre Stimme zu einem Singsang. Die Nacht verschluckte die Laute. «Das Licht triumphiert über die Dunkelheit. In dieser Nacht nehmen die Hexen von allem Abschied, was im Dunkeln verborgen bleibt, und heissen das Licht willkommen. Es geht wieder aufwärts, meine Lieben.»
«Ich fühle mich nicht als Hexe, du etwa?» Graziella boxte ihrer Schwägerin kichernd in die Seite.
Emma erwiderte ihren Blick. «Na ja, wir sehen nicht gerade danach aus. Aber Eleonore meint bestimmt sich selbst.» Sie flüsterte: «Die spinnt nicht nur ein bisschen.»
Aus dem Kessel zischte es. Rauch stieg auf. Ein intensiver Geruch nach Weihrauch übertünchte das Odeur nach Kräutern. Eleonore gebot den vier Frauen, ihre Plätze einzunehmen. Graziella verschränkte die Arme, zog ihre Beine eng an ihren Körper. Sie sah sich um. Sie sassen jetzt auf einem Fell in einem Kreis um das Feuer, abgesteckt mit vier Fackeln, welche mit einem Bogen aus Teelichtern verbunden waren. In der Mitte befand sich der Kessel. Eleonore kniete davor. Graziella, Emma, Alexa und Malika bildeten zusammen die vier Elemente. Graziellas Element der Erde war im Norden des Kreises platziert. Neben ihr lagen ein Pentagramm aus Metall und ein Teller mit frischer Erde, die Eleonore am Morgen ausgebuddelt hatte. Sie überliess nichts dem Zufall.
«Was sehe ich da?» Eleonore beugte sich über den Kessel und griff in den Kräuterqualm. Ihre Finger bewegten sich, als würde sie den Rauch zerreiben. «Die Form der Rauschwaden hat sich verändert. Trotz des Lichts ist uns der Tod nah.»
«Sie steigert ihre Theatralik», flüsterte Graziella sich selbst zu.
Alexa, die östlich des Kessels sass, war umgeben von Vogelfedern. Wusste der Kuckuck, wo Eleonore die alle herhatte. Die Flammen des Feuers liessen Alexas verängstigtes Gesicht glühen. Sie war heuer zum ersten Mal dabei und wunderte sich wohl über die seltsamen Riten ihrer Gastgeberin.
«Der Tod breitet seinen schwarzen Mantel über uns aus. Das Licht soll stärker sein. Das Licht soll stärker sein.» Eleonore richtete sich von ihrer kauernden Haltung auf. Der Umhang geriet gefährlich nahe an das Feuer und raschelte, als würde sie Papier zerknüllen.
Graziella sah ihre Schwiegermutter bereits in Flammen stehen, eine brennende Säule in diesem schwarzen Wald. Sie blickte hinauf, wo sich ganz schwach die schneebedeckten Tannenspitzen beugten. Es war windstill.
«Das Licht muss alles überwinden, selbst den Tod.» Wenn Eleonore in Trance fiel, drehte sie ihre Pupillen nach oben, ihr Augenweiss lehrte einen das Fürchten. Im flackernden Licht des Feuers wirkte sie gespenstisch. Wie eine Tote, die dem Grab entstieg.
So heftig hat sie noch nie reagiert. Graziella sah zu Emmas Platz, der gegen Süden lag, neben ihr ein Messer. Nach Eleonores Meinung war es ein zeremonielles Messer. Das fehlte wohl in der Küche.
Graziella hoffte, das Messer würde nicht in falsche Hände geraten. Geheuer war ihr nicht. Eleonore wurde älter. Wer so etwas Fragwürdiges durchführte, verfügte über dunkle Energien.
«Der Tod steht vor der Tür. Wir wollen ihn vertreiben. Ich brauche mehr Johanniskraut und Wacholder. Malika, reichen Sie es mir.»
***
Wenn es nach Valérie gegangen wäre, hätte sie keinen Tannenbaum aufgestellt. Das war Verschwendung. Zanetti hatte sie überredet, wie jedes Jahr, seit sie zusammen den Heiligabend feierten. Heute Morgen war er mit einer Zweieinhalb-Meter-Fichte nach Hause gekommen und war jetzt dabei, sie in den Ständer zu stellen. «Steht sie gerade?»
«Etwas nach rechts.» Valérie hatte kein gutes Augenmass. Sie konzentrierte sich auf die Baumspitze, ob sie parallel zur Kante des Buffets dahinter verlief.
«Besser so?»
«Nein, ich glaube, die ganze Tanne ist schräg. Muss wohl am Stamm liegen. Du kannst sie drehen und wenden, wie du willst, sie steht nicht gerade.»
«Bei dem Preis müsste sie aber schnurgerade sein.» Zanetti erwehrte sich der unteren Äste. «Hältst du mal den Stamm fest? Es ist besser, ich schaue.»
«Du hättest das Netz dranlassen sollen, bevor der Baum fixiert ist. Warte, ich helfe dir.» Valérie streckte den Arm aus und griff nach dem rauen Stamm. Mensch, war das kompliziert. Die Nadeln piksten. «Wie lange muss ich so verharren?»
«Wir haben’s gleich.» Zanetti entfernte sich ein paar Schritte vom Baum. «Kannst du ihn um fünfundvierzig Grad nach links drehen?»
Valérie drehte.
«Links ist dort, wo der Daumen rechts ist.»
«Ist das dein Ernst?» Valérie musste lächeln. So pingelig erlebte sie Zanetti selten. Es mochte an seinen Ferien liegen, die er seit vorgestern Montag einzog. Die kleinen Dinge zu Hause bekamen auch für ihn plötzlich einen enormen Stellenwert. Bereits am Vortag hatte er gesaugt, was er ansonsten Valérie oder der Reinigungsfrau überliess. Valérie sah ihn lange an.
«Was?» Süss, wie er sich dabei ertappt fühlte. Er krauste seine Stirn. «Ist etwas nicht in Ordnung?» Er kam wieder näher.
«Doch, doch.»
Er bückte sich, zurrte den Stamm in der Vorrichtung fest, prüfte, ob er sich nicht mehr bewegen liess, und stiess erleichtert den Atem aus. «So, und nun lasse ich dich die Kugeln dranhängen.»
«War das schon alles?» Valérie gähnte. «Zudem würde ich jetzt lieber zu Bett gehen.»
«Den Weihnachtsbaum schmücken ist wie Meditation. Hast du doch selbst gesagt.» Zanetti legte seine Arme von hinten um ihren Körper. «Ich werde mich um das Menü kümmern und morgen einkaufen gehen.»
«Dazu ist es noch zu früh. Morgen ist erst der 22. Dezember. Und so, wie ich dich kenne, möchtest du frische Zutaten.»
«Nun ja, planen kann man ja.»
Valérie wand sich aus seiner Umarmung. Zanetti war ein wunderbarer Koch. Es schien ihm in die Wiege gelegt worden zu sein. Seiner Mutter hatte ein Grotto in Morcote gehört. Sie hatte selbst gekocht und die Gäste bewirtet, während sein Vater als Direktor einer Investmentbank in Lugano gearbeitet hatte. Über seine pensionierten Eltern verlor Zanetti selten Worte. Aber wenn es ums Kochen ging, erwähnte er gern das Talent seiner Mutter.
«Ich werde die Kiste mit den Weihnachtskugeln aus dem Keller holen.» Er sah auf seine Armbanduhr. «Für heute haben wir unsere Arbeit getan. Aber wir sollten endlich reden.»
«Worüber?» Valérie gab sich naiv. Dabei lag es auf der Hand. Keine Woche war es her, als der Täter, der Valéries TT manipuliert hatte, endlich gefasst werden konnte. Louis hatte im Herbst vor einem Jahr den Fall übernommen. Das Ganze war nur schleppend vorangegangen. Für Valérie hatte es an Bedeutung verloren. Ihren Audi TT hatte sie flicken lassen. Ein halbes Vermögen hatte die Reparatur gekostet. Immerhin hatte sie sich keinen neuen Wagen anschaffen müssen. Sie hoffte, zwei, drei weitere Jahre mit ihrem Cabriolet fahren zu können.
Dieser Tage stand ein Immobilienmakler vor Gericht. Valérie wusste bislang nur eines über ihn: Er war ein guter Freund ihres Ex-Mannes. Willy Lehmann, den Valérie aus ihren Gedanken längst gestrichen hatte.
***
Leonardo Lauper wusste nicht, ob er sich amüsieren wollte. Seit seiner Ankunft auf Rigi Scheidegg befand er sich unter einem permanenten Druck. Heuer war er zum ersten Mal in das feudale Berghaus der Anwaltsfamilie Maibach eingeladen worden. Er und seine Frau Alexa, die jetzt irgendwo im Wald mit Eleonore Maibach die erste Nacht der zwölf Raunächte zelebrierte. So jedenfalls hatte er es verstanden. Solche Rituale waren nicht sein Ding. Seine Welt war eine andere. Seit sechs Jahren arbeitete er in der Anwaltskanzlei von Justus Maibach und beriet natürliche und juristische Personen in Bezug auf nationales und internationales Steuerrecht sowie im Bereich Sozialversicherungs- und Vorsorgerecht.
Mit Ausnahme der Ferien, die er jeweils auf den Malediven verbrachte, dachte er stets an seinen Beruf und wie er in kurzer Zeit sein Vermögen verdoppeln konnte. Das war ihm in Aussicht gestellt worden, als er den Job bei Justus Maibach bekommen hatte. Es war ihm wichtig, einen guten Eindruck zu hinterlassen und zu beweisen, dass er die Arbeit nicht scheute.
Doch manchmal brauchte er Erholung. Abschalten und an nichts denken. Ferien am Strand, unter Palmen, mit nackten Füssen über den Sand waten, im badewannenwarmen Wasser schwimmen. Die Umstände hatten eine weite Reise mit dem Flugzeug nicht erlaubt. Alexa war im dritten Monat schwanger. Eine heikle Zeit, nachdem eine Fehlgeburt vor zwei Jahren sie in eine tiefe Depression gestürzt hatte. Da war ihm Justus Maibachs Einladung gerade gelegen gekommen. Lauper hatte Alexa, die wenig von Justus Maibach hielt, überzeugen können. Ein paar Tage auf der Rigi, Erholung im Schnee, feiern und gut essen. Dass Justus Maibach von ihm eine Gegenleistung erwartete, würde er ihm früh genug mitteilen.
«Und du, Leonardo, was hältst du davon?»
Lauper wurde brüsk aus seinen Gedanken gerissen. «Sorry, ich war nicht bei der Sache. Worum geht’s, Justus?»
«Ob wir weiterjassen.» Es entstand eine Pause. «Oder denkst du gerade an den Vertrag wegen der Fusionen unserer zwei Giganten? Darüber sollten wir sowieso zeitnah reden. Ich brauche deine langjährige Erfahrung in der Steuer- und Rechtsberatung von multinationalen Unternehmen. Zudem sollten wir mehr Akquise betreiben.» Seine Stimme wurde leiser. «Oder sind deine Gedanken bei der kleinen Asiatin?» Justus Maibach zwinkerte ihm mit dem linken Auge zu, eine seltsame Angewohnheit von ihm. Selbst vor Gericht zwinkerte er, was ihm stets ein wenig von seiner Ernsthaftigkeit nahm. Er war ein attraktiver Mann, blitzgescheit und den sinnlichen Genüssen zugetan, ein wahrer Hedonist. Den Erfolg sah man ihm an. Eins fünfundachtzig gross, schlank und muskulös. Ein Dreitagebart liess ihn sehr cool wirken. Dagegen waren seine Augen sanft, braun und geheimnisvoll. Selbst Lauper, der seinen Kollegen zu kennen glaubte, rätselte über den Menschen, dem alles zuzufliegen schien. Eine eigene Anwaltskanzlei inmitten von Zürich, verheiratet mit der schönen Graziella. Mit ihr hatte er zwei Kinder im Teenageralter. Er nannte eine Villa am Zürichsee sein Eigen, fuhr einen Bugatti Chiron und leistete sich viermal Ferien im Jahr.
Auch Lauper hatte sich dieses Ziel gesetzt. Und das wusste Maibach. Er hatte ihn deswegen in der Hand. Obwohl Lauper die Problematik sah, immer mehr in den Einflussbereich seines Kollegen zu rutschen, wollte er es sich nicht eingestehen. Alexas entsprechende Bemerkungen liess er aussen vor. Sie würde es ihm verdanken, wenn sie in fünf, sechs Jahren einen ähnlich hohen Lebensstandard erreicht hatten wie sein grosses Vorbild.
«Bringen Sie uns noch eine Runde.» Linus Maibach, Justus’ Vater, rief der Wirtin zu. «Nochmals dasselbe.» Er konzentrierte sich wieder auf die Jasskarten. «Bin ich dran mit Austeilen?»
Lauper intervenierte. Er hatte bereits zu viel von dem «Schümli Pflümli» getrunken. Zudem lag ihm der Schlagrahm auf. «Echte Nidel», hatte die Wirtin gesagt. «Doppelrahm von gesunden Schwyzer Kühen.» Lauper winkte ab. «Ich glaube, für mich reicht es.»
Justus Maibach schob seinen Arm in Laupers Richtung. «Entspann dich. Jetzt hast du Ferien. Ich kenne dich nicht von dieser zurückhaltenden Seite.» Sein Grinsen ging Lauper unter die Haut. Maibach wirkte so, als müsste er sich anstrengen, nicht herablassend mit ihm zu sprechen. «Du hast schon Härteres getrunken. Erinnerst du dich?» Er nahm die Jasskarten auf und fächerte sie mit dem Bild nach unten auseinander.
Und ob er sich erinnerte. Lauper wollte sich seine gute Laune nicht verderben lassen. Im Moment stand viel auf dem Spiel. Maibach hatte ihn als Partner vorgesehen, ihm aber noch ein paar Steine in den Weg gelegt. Schweigen war das Beste, obwohl ihm gerade vieles auf der Zunge lag, was er gern losgeworden wäre. Aber er war Gast hier und nicht der Einzige am Tisch. Ihm gegenüber sass Basil, Justus Maibachs jüngerer Bruder, der sich bereits den dritten Schokoladenstängel einverleibte. Er war in die Fussstapfen seines Vaters getreten und führte in dritter Generation die Anwaltskanzlei «Maibach & Söhne» in Schwyz.
Lauper begutachtete seine Karten und ärgerte sich über sie. Schon wieder fielen ihm die schwachen zu. Mit diesen würde er nichts zum Gewinnen beitragen.
Die Wirtin brachte eine weitere Runde Kaffee mit Pflaumenlikör und Schlagsahne und wies darauf hin, das Gasthaus schliessen zu müssen. Mit Ausnahme zweier Frauen an einem runden Tischchen waren alle anderen Gäste bereits gegangen.
«Wer will noch etwas?», fragte Linus Maibach. «Einen letzten Absacker vielleicht, bevor es mit dem Schlitten Richtung Berghaus geht?»
Lauper verneinte. Basil Maibach schloss sich ihm an. Nur Justus Maibach hatte das Bedürfnis nach einem doppelten Whisky. «Ihr seid Weicheier.» Er wandte sich an seinen Bruder, ohne Lauper aus den Augen zu lassen. «Obenabe.» Dann legte er die erste Karte. Ein Schellen-Ass.
***
Allmählich verzog sich der Rauch. In der Schale blieb die Asche zurück. Das Feuer hatte den letzten Papierschnipsel und die Holzspäne zum Verschwinden gebracht, was an und für sich ein Wunder war. Auch die Fackeln an den vier Ecken der Elemente waren am Erlöschen.
«Morgen werden wir uns dem Druidenstern widmen.» Eleonore schüttelte sich Staub von ihrem Umhang. «Hoffen wir, die Göttin Morrigan ist uns gutgesinnt.»
«Okay, hätten wir das auch überstanden.» Graziella stöhnte, als sie sich erhob. Ihre Beine schmerzten ob der immer gleichen Haltung. Sie knipste die mitgebrachte Taschenlampe an und suchte in deren Lichtkegel den Weg, der sie von diesem gespenstischen Platz wegführte. Sie machte den Spuk bloss ihrer Schwiegermutter zuliebe und zur Belustigung mit. Sie hielt nichts von Ritualen. Aber sie hatte sich köstlich an Alexa amüsiert. Ihr musste dieser Humbug echt eingefahren sein.
«Können wir endlich losgehen?» Malika, sichtlich durchfroren, hängte sich bei Alexa ein.
«Ja, dann vorwärts.» Eleonore übernahm die Taschenlampe und gab das Tempo vor.
Der Weg führte an tief verschneiten Tannen vorbei. Wie stumme Riesen standen sie am Wegesrand, mit hängenden Ästen, vom schweren Schnee bedeckt. Unter den Füssen knirschten Eiskristalle. Die Luft war frisch.
Emma wartete auf Graziella, die das Schlusslicht machte. «So viel freie Zeit für diese absurden Dinge möchte ich auch mal zur Verfügung haben.»
«Hast du die nicht?» Graziella hatte sich schon oft gefragt, wie Emma ihre Zeit totschlug. Sie und Basil hatten keine Kinder. Emma führte lediglich den Haushalt, was Basils Wunsch gewesen war. Emma hatte sich beklagt, weil er sie nicht auswärts arbeiten liess. Alte, patriarchalische Schule, eine Vorgabe des Schwiegervaters, der viel Wert auf Tradition legte. Ihr ging es besser. Zwar hatte auch Justus ihr abgeraten zu arbeiten. Er verdiene gut genug, um ihr und den Kindern ein feudales Leben zu bieten. Damit hatte sich Graziella allerdings nicht zufriedengegeben und Kunstmalen zu ihrem Hobby gemacht. Wenn die Kinder in der Schule weilten, tauchte sie ab in ihr Kelleratelier und lebte ihre Leidenschaft aus. Vor einem Jahr hatte sie ihre erste Ausstellung in einer Galerie in Zürich gehabt und sich Hals über Kopf in den Galeristen verliebt. Ihr kleines Geheimnis.
«Ach, das Haus bürdet mir genug Arbeit auf», sagte Emma.
«Du putzt, dekorierst und kochst, bis dein Göttergatte nach Hause kommt? Präsentierst du dich ihm dann im Negligé?»
«Unsere Ehe ist intakt, im Gegensatz zu deiner.»
Graziella spürte den subtilen Seitenhieb ihrer Schwägerin. «Du schläfst also noch mit ihm? Nach zwölf Ehejahren?»
«Warum nicht?» Emma griff nach ihrem Arm. «Und du?»
«Ich bin froh, wenn er mich in Ruhe lässt.»
«Hast du einen Geliebten?»
«Was du nicht alles wissen willst.» Graziella gab ihr einen Stups.
«Komm, sag schon. Du bist in den besten Jahren, bist attraktiv und charmant … eine Augenweide.»
«Schmeichlerin.»
«Stimmt doch, oder?» Emma erwartete offenbar eine Bestätigung oder zumindest ein «Gleichfalls».
Graziella machte ihr den Gefallen nicht. «Ich bin bereits neununddreissig.»
«Oh, mein Gott, wie alt. Habe ich ganz vergessen.» Emma ging wieder voraus.
Sie erreichten den Waldrand, wo ein kleiner Pfad in den Weg zum Berghaus einmündete. Das Haus war beleuchtet mit zighundert Niedervoltlämpchen, die die Konturen von der Dunkelheit abzeichneten. Drei mit Lichterketten geschmückte Tannen standen vor der Treppe, die zum Eingang führte. Auch vor der Tür hatte Eleonore nicht mit weihnachtlichen Dekorationen gegeizt. Jedes Jahr von Neuem verausgabte sie sich, um ihr Berghaus auf Rigi Scheidegg und die nahe Umgebung in eine Zauberlandschaft zu verwandeln. Sie scheute weder Kosten noch Zeit und kam jeweils vor dem ersten Adventssonntag auf den Berg. Sie mache es wegen ihrer Enkelkinder, sagte sie, wenn man sie auf diesen Aufwand ansprach.
Doch Mario und Leonie waren ihren Kinderschuhen längst entwachsen. Im Moment forderten sie Graziella als nervtötende Teenager, die über Grossmutters Steckenpferd bloss lachten und alles andere im Kopf hatten als kitschige Weihnachtsbeleuchtungen. Ihre Welt waren das neuste Handy, Social-Media-Plattformen wie Instagram und Snapchat und jede Menge Freunde, mit denen sie ihre Begeisterung teilten. Graziella hatte die Übersicht längst verloren, und Justus kümmerte es nicht. Sie hatten das grosse Glück, dass ihre begabten Kinder in der Privatschule zu den Besten zählten. Graziella fragte sich oft, wie lange es dauern würde, bis es kippte. Von den Freunden ihrer Kinder hatte sie keine Ahnung.
Nur im Dachgeschoss brannte Licht. Entweder waren die Männer vom abendlichen Ausflug auf die Scheidegg noch nicht zurück oder bereits im Bett. Graziella vermutete Ersteres. Wenn Justus dabei war, wurde es immer spät. Basil, der jeweils den Übermut seines Bruders zu bremsen versuchte, hatte nicht viel zu sagen. Und der Schwiegervater machte, was Justus für gut hielt. Graziella kannte Leonardo Lauper nicht gut. Vor zwei Tagen waren er und seine Frau Alexa hier angekommen. Sie hatte sich gewundert. Anscheinend war das eine abgesprochene Sache zwischen Linus und Justus.
Nun, das Haus bot genug Platz für alle. Mit sechs Schlafzimmern, verteilt auf die oberen beiden Stockwerke, einem geräumigen Wohnzimmer und einer grossen Küche hatte sich das Berghaus längst als Partyhaus etabliert. Im Keller gab es ein Massenlager für zehn Leute. Wer das Haus unter dem Jahr belegen wollte, kam nicht um Eleonore herum. Sie sagte, wer, wann, wie lange hier wohnen und ihren exquisiten Hausrat benutzen durfte. Eleonore, die Übermutter, unter deren Fuchtel die Familie und deren Freunde standen, gab unbestritten den Ton an. Sie über die Feiertage auszuhalten, war verkraftbar.
Eleonore schloss die Tür auf. Weder Winterstiefel noch Moonboots waren beim Eingang zu sehen. Auch die Schlitten fehlten, die jeweils in Reih und Glied an der linken Fassade lehnten. Die Frauen betraten das Haus. Das Wohnzimmer lag im Dunkeln. Graziella vernahm vom obersten Stock ihre Tochter und die brüchige Stimme ihres Sohnes. Wenigstens waren sie bei ihrer Abwesenheit im Haus geblieben.
Eleonore hatte die Küche betreten und stiess einen Laut des Erstaunens aus. «Ach, wie nett, die Kinder haben aufgeräumt.»
Von dieser Seite kannte Graziella sie nicht. Mario und Leonie wichen solcher Arbeit grundsätzlich aus. Ob ein Anliegen dahintersteckte? Oder die Erwartungshaltung für ein wertvolles Geschenk? Ohne Gegenleistung taten sie nie etwas freiwillig. Graziella entledigte sich der Daunenjacke und der Stiefel und ging nach oben.
Die Kinder lagen in trauter Zweisamkeit in Marios Bett und kicherten. Eine Seltenheit. In der Regel schlugen sie sich die Köpfe ein mit verbalen Angriffen. Etwas führten sie im Schilde.
«Hallo, ihr zwei.»
«Ihr seid schon da?» Leonie rappelte sich auf. Ihr kleines Mädchen, das im letzten Halbjahr weibliche Züge angenommen hatte. Dünn war sie noch immer. Das lag daran, dass sie mit der körperlichen Veränderung nicht umzugehen vermochte. Diäten waren bereits ein Thema, dem Graziella nicht gewachsen war. «Wie spät ist es denn?»
«Nach Mitternacht. Habt ihr etwas von Papa gehört?»
«Nö.» Mario sprang auf die Beine. Er war im Gegensatz zu seiner Schwester sehr von sich überzeugt.
«Von Opa?»
«Nö.»
«Die sind doch gemeinsam weg», sagte Leonie.
«Okay, geht schlafen, damit ihr morgen fit seid. Ihr wollt doch zum Skifahren, nicht wahr?» Graziella drückte zuerst ihrem Sohn, dann ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange.
«Mami, du riechst scheusslich.» Leonie verzog ihren herzförmigen Mund. «Was ist das? Hat Oma wieder einmal die Toten beschworen?» Sie schnitt eine Grimasse. «Mir kann sie nichts vormachen. Das, was heute Morgen noch in der Küche stand, war doch die Urne des Urgrossvaters … Hubertus der Grosse.»
«Klar, er wurde kremiert», insistierte Mario. «Ob sich tatsächlich die Asche des Verstorbenen darin befindet, wissen die Götter. Seien wir ehrlich, niemand kann das kontrollieren. Wie schwer ist so eine Urne? Drei bis dreieinhalb Liter, also rund zwei Kilo, macht allein die Asche aus. Mehr als drei oder vier Kilo insgesamt ist Urgrossvaters Behältnis sicher nicht.»
«Schluss jetzt. Morgen ist ein neuer Tag, und ihr habt genug Zeit, um darüber zu diskutieren.» Graziella ging zur Tür. Immer abends, wenn sie schlafen mussten, waren ihre Kinder in Topform, wogegen man sie am Morgen mit einem Bagger nicht aus dem Bett bekam.
«Fürchtest du dich vor der Wahrheit?» Warum musste Mario sie immer so provozieren? «Hat eine verbrannte Leiche tatsächlich in einem so kleinen Gefäss Platz? Mitsamt den Kleidern und so? Wir werden veralbert.»
«Mario, bitte. Vielleicht sprichst du mal mit einem Priester darüber.» Graziella wünschte Gute Nacht und zog die Tür hinter sich ins Schloss. So abwegig war die Frage nicht.
8.Februar 1961, fünfzehn Minuten vor drei, nachmittags
Die Vitznau-Rigi-Bahn hielt mit einem Ruck an, bevor sie wenige Zentimeter wieder talwärts fuhr und dann ganz stoppte. Ein leises Zittern ging durch den Waggon. Er ächzte in sämtlichen Fugen, durch die es unangenehm zog.
«Mami, Baba, schaut!» Camillas Gesicht klebte an der kalten Fensterscheibe, an deren Rand sich Eissterne gebildet hatten. Wenn sie daraufhauchte, verformten sie sich, und es entstanden sonderbare Fabelwesen. «Werden wir in diesem Hotel unsere Ferien verbringen?» Sie wies mit ihrem rechten Zeigefinger nach draussen und hoffte, Mami sähe es auch.
«Ja, Liebling.» Baba griff nach dem grossen Koffer und den Skiern mit den Stöcken neben der Holzbank. «Wir sollten aussteigen, sonst fährt die Bahn mit uns weiter. Das wollen wir doch nicht, oder?» Er wandte sich liebevoll an Mami. «Ich überlasse dir die Tasche. Kommst du zurecht damit?»
«Geh du nur voraus. Ich kümmere mich um die Kleine.» Mami nahm ihre Hand. Camilla zog sie ungeduldig zum Ausgang. «Nicht so schnell. Wenn du den Tritt verfehlst, landest du kopfvoran im Schnee.»
«So viel Schnee.» Camilla jauchzte vor Freude. Sie wandte sich zu ihrer Mutter um. «Glaubst du, hier bekommt man Schlitten?» Ein heftiger Wind trieb aufgewirbelten Schnee über den Bahnsteig.
«Natürlich kann man Schlitten bekommen. Wir werden in einem Luxushotel wohnen, wo fast keine Wünsche offenbleiben.» Sie flüsterte geheimnisvoll: «Manchmal werden sie dir sogar von den Lippen abgelesen.»
Camilla riss sich von ihrer Mutter los. Und rannte. Babas mahnende Stimme ignorierte sie. Sie hüpfte neben der Station auf den Weg, der schnurgerade zum Hotel Rigi Kaltbad führte. Das, was vor ihr lag, erschien ihr wie ein Märchen. Das Schloss aus dem Buch «Schneewittchen» konnte nicht schöner sein. Ein so grosses Haus auf einem Berg hatte sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen. Und wie es erstrahlte, wie eingezuckert. Auf dem Dach des Mitteltraktes wehte eine Schweizerfahne. Mami und Baba hatten nicht zu viel versprochen. «Wir werden eine Woche lang wie die Könige leben», hatte Mami geschwärmt. Ihr Wunschtraum seit Ewigkeiten. Baba hatte ihren Traum erfüllt, zu ihrem zehnten Hochzeitstag. Von Eis und Schnee überpuderte Bäume säumten einen weitläufigen Platz. Weiter vorn führte eine Treppe abwärts auf ein Feld, auf dem sich viele Menschen tummelten. Ihre fröhlichen Rufe waren bis hier oben zu hören.
«Bist du komisch angezogen.» Plötzlich war diese Stimme neben ihr.
Camilla verlangsamte ihre Schritte und sah sich um. Der Junge, er mochte zwei Jahre älter sein als sie, grinste sie frech an. Er hatte noch nicht alle zweiten Zähne. Die zwei langen Schaufeln neben den Lücken auf der oberen Zahnreihe sahen seltsam aus. Camilla musste an Grossdädis Kaninchen denken und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Sie warf einen Blick an sich hinunter. Es war Anfang Februar und klirrend kalt. Sie hatte über das Wollkleid den Mantel anziehen müssen. Darunter gestrickte Strumpfhosen und an ihren Füssen trug sie warme, mit Ziegenfell gefütterte Stiefel. Die Kappe mochte sie nicht. Sie hasste Mützen mit Pompons.
Der Junge dagegen bluffte mit seiner Skijacke und den edlen Hosen, die man neuerlich im Winter trug. Er musste etwas ganz Besonderes sein.
«Wie heisst du?»
«Camilla. Und du?»
«Camilla? Was ist denn das für ein eigenartiger Name? Camilla klingt wie Kamillentee.» Der Junge rannte zurück in Richtung Station. «Ich hasse Kamillentee», rief er und torkelte wie blöde zu einem Paar, welches augenscheinlich seine Eltern waren. Die Frau fiel auf in ihrem Pelzmantel mit passender Mütze und Muff. Und mit der schwarzen Sonnenbrille, die wie ein verkohlter Schmetterling auf ihrer Nase sass.
Camilla blieb stehen. Sie wartete. Baba hatte alle Hände voll zu tun mit dem schweren Koffer und den sperrigen Skiern. Ein Mann in Uniform kam mit einem Gepäckschlitten daher. Er musste ein Bediensteter des Hotels sein. «Haben Sie im Grandhotel gebucht?», hörte Camilla ihn fragen.
«Ja, haben wir. Christophe Fournier ist mein Name. Für uns ist ein grosses Zimmer reserviert.»
«Dann kommen Sie.» Der Mann wuchtete den Koffer, die Skier und Mamis Reisetasche auf den Schlitten. «Gehen Sie voraus. Ich werde Ihnen das Gepäck aufs Zimmer bringen und die Bretter in unserem Skikeller deponieren. Und bitte schön, den Weg geradeaus bis zum Pavillon. Dort können Sie den Aufzug nehmen. Dann rechts über die grosse Terrasse. Der Eingang ist beschriftet. In der Zwischenzeit dürfen Sie sich am Empfang anmelden. Haben Sie die Reservation und einen Ausweis dabei?»
«Die braunen Identitätskarten.» Baba strich sich mit den Handschuhen über die Stirn, als hätte ihn das Schleppen der Bagage ins Schwitzen gebracht.
«Das ist aber ein netter Mensch.» Mami war ausser Atem. «Habt ihr gesehen? Es gibt sogar eine Eisbahn unterhalb des Hotels.»
«Darf ich da auch drauf?» Camilla wunderte sich über die Bettflaschen, die die Männer über das Eis stiessen.
«Das ist nicht so einfach wie auf den ersten Blick.» Mamis Mund umspielte ein Lächeln. Sie sah glücklich aus in ihrer Pelzmütze und fast wie eine Diva. Baba hatte sie ihr zu Weihnachten geschenkt, sogar einen dazu passenden Nerz. Damit sie nicht aus dem Rahmen falle, hatte er gescherzt. Hier würden vor allem die Schönen und Reichen residieren. «Man muss sich Schlittschuhe anziehen. Die Kufen sind schmal und messerscharf. Ein schwieriges Unterfangen, um auf dem glitschigen Eis die Balance zu halten.»
«Die Männer tragen aber keine Schlittschuhe.» Camilla hatte genau hingesehen.
«Die spielen Curling», sagte Baba. «Dazu braucht man keine Schlittschuhe.»
Gemeinsam erreichten sie den einladenden Hoteleingang. Die Dimensionen dahinter erinnerten an die Interieurs in Palästen aus früheren Zeiten. Mami hatte Bilder aus Zeitschriften ausgeschnitten, sie in ein Album geklebt und gesagt, sie würde sich gern mal in diesem Luxus baden. Camilla riss die Augen auf, während sie ihren Fuss zögernd auf den Klinkerboden setzte. In der grossen Halle kam sie sich klein vor. Der Lüster über ihr jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Wenn der bloss hielt. Im Saal nebenan sass ein Pianist an einem Flügel und liess seine Finger elegant über die Tasten schweifen. Wie wunderbar der spielen konnte. Männer und Frauen bewegten sich langsam durch die Säle, als wäre die Zeit nicht wirklich vorhanden.
«Camilla!» Mami zitierte sie zum Empfang, der in einer verschnörkelten Holzverschalung beinahe verschwand. Ein Bouquet von Stechpalmen zierte den Platz neben der Kasse. Camilla versuchte, die Buchstaben auf dem Schild zu entziffern: «NCR». Von ihr aus gesehen links war ein Drehhebel angebracht. Ob die Kasse einen Motor hatte?
Hinter einem langen Tresen stand ein in einen schwarzen Anzug gekleideter Mann. Camilla musste ob seines Schnurrbarts schmunzeln. Schmal und gerade war er und an den beiden Enden in eine Locke gezwirbelt.
«Na, wen haben wir denn da?» Der Mann lächelte sie freundlich an. «Eine junge Dame aus …», er sah auf das Reservationsbuch, «Luzern. Kenne ich. Vor zwei Jahren habe ich dort im Hotel Palace gearbeitet.» Er sandte Mami und Baba einen raschen Blick zu. «Eine wunderbare Stadt. Wie heisst du denn?»
«Camilla.» Sie musste auf den Zehenspitzen stehen. Es interessierte sie brennend, was sich hinter dem Tresen verbarg, was vielleicht nicht für die Augen kleiner Mädchen bestimmt war. Ja, in so einem vornehmen Hotel würde sie später einmal arbeiten wollen.
Der Mann wandte sich an Baba. «Für Sie ist ein grosses Zimmer reserviert. Mit einem Doppel- und einem Einzelbett, wie bestellt. Es liegt im ersten Stock im Westflügel und verfügt über eine kleine Terrasse, von der aus Sie zum Pilatus und bis zu den Berner Alpen sehen können. Es gibt zwei Sonnenliegen mit Wolldecken. Ich mache Sie zudem darauf aufmerksam, dass morgen Abend die grosse Fasnacht-Gala am Schmutzigen Donnerstag stattfindet. Falls wir für Sie für das Dinner reservieren dürfen, teilen Sie es uns bitte bis am Morgen um zehn Uhr mit. Bis Ihr Gepäck oben ist, dürfen Sie sich in den Salon setzen. Dort wird Ihnen ein Willkommensgetränk serviert. Ich hoffe, Sie mögen unseren Hauswein. Und für dich, junge Dame, gibt es ein Glas Himbeersirup.»
Mami und Baba setzten sich auf eines der pompösen Sofas, aus denen der Duft vergangener Jahrzehnte strömte. Hier roch es wie bei Grossmama. Camilla blieb stehen. Als ihr das Glas mit Sirup serviert wurde, trank sie es schnell aus. Sie liess ihren Blick durch die Hotelhalle schweifen. Der Junge mit den Hasenzähnen war angekommen. Ob er mit Camilla spielen würde? Er alberte vor dem Tresen herum, derweil seine Eltern ein angeregtes Gespräch mit dem Mann mit Schnurrbart führten. Kein nettes, wie es den Anschein machte. Die Frau im Pelzmantel redete auf ihren Mann ein. Dieser teilte dem Schnurrbart unschöne Wörter aus. Sie hatte die Brille abgenommen. Ihre Augen waren geschminkt.
Camilla näherte sich beiläufig dem Empfang. Ach, wie war das spannend. Und all die Leute hier. Eine Person nobler als die andere. Die Damen in schicken Etuikleidern und Handschuhen bis zu den Ellenbogen. Die Männer trugen Flanellhosen und Jacken aus Twill. Das wusste sie von Mami. Sie war Näherin und kannte sich aus mit Stoffen.
«Wir haben unser Zimmer bestellt», hörte Camilla den Mann vor dem Tresen schimpfen. «Hier, diese Reservationsbestätigung bekamen wir mit der Post zugeschickt. Es steht schwarz auf weiss … Überbucht? Wie kann das in einem Luxushotel wie diesem passieren?»
«Sie haben recht. Aber Ihr Zimmer wurde soeben vergeben. Wir hatten Sie ja bereits um elf erwartet. Da lässt sich jetzt nichts mehr ändern.»
«Ich will den Hoteldirektor sprechen.»
«Selbstverständlich. Er wird Ihnen dasselbe sagen.»
«Ich bin hier Stammgast. Einmal im Jahr fahre ich mit meiner Familie nach Kaltbad. Als ich das erste Mal hier war, steckten Sie noch in den Kinderschuhen … oder hinter dem Mond. Ich kenne die Geschichte des Hotels wie niemand sonst. Haben Sie gewusst, dass um 1700 das erste Gasthaus auf Rigi Kaltbad gebaut wurde? Also sehen Sie sich vor. Was ich hier an Geld liegen lasse … Sie haben die Wahl: Entweder bekomme ich mein Zimmer, oder ich werde veranlassen, über das Hotel im ‹Vaterland›, im ‹Tagblatt› oder in der ‹LNN› zu schreiben. Nichts Erfreuliches. Ich habe Beziehungen. Es ist nicht zu glauben, wie man uns behandelt.»
Durch eine Tür hinter dem Empfang trat ein Mann in Anzug und Krawatte. Das musste der Hoteldirektor sein, von dem Baba erzählt hatte. Ein korpulenter Mittfünfziger mit Glatze.
«Endlich, Herr Kupferschmid. Sie kennen mich. Ihr Concierge sagte mir, dass mein Zimmer vergeben sei. Ich hatte all die Jahre dasselbe Zimmer. Jetzt ist es weg wegen Überbuchung. Tun Sie etwas!»
«Kamillentee, Kamillentee.» Der Junge zwickte sie am Arm.
Camilla drehte sich rasch um. «Wie heisst du?» Er sah aus wie Fritz in ihrer Klasse. Sollte sie ihn Fritz nennen? Vielleicht hatte er einen Namen, der ihm nicht gefiel, und schämte sich dafür.
«Sag ich nicht.» Der Junge streckte die Zunge raus.
Camilla blieb nur ein Kopfschütteln. Na ja, die Jungen in diesem Alter waren manchmal grosse Kindsköpfe. Sie kehrte zu ihren Eltern zurück, deren Gesichter hinter vollbauchigen Weingläsern verschwunden waren.
«Da bist du ja.» Mami stellte ihr Glas auf den Salontisch. «Wo warst du?»
«Lass sie doch, Liebling, du kennst doch unsere Tochter. Sie ist neugierig. Das hier ist wie eine Wundertüte für sie.»
Camilla setzte sich auf Babas Schoss und schmiegte sich an ihn. «Wann können wir denn in unser Zimmer gehen?» Sie mochte es kaum erwarten.
ZWEI
Graziella stiess den Fensterladen auf und verharrte eine Weile unter dem Fensterrahmen. Sie liess ihren Blick auf den verschneiten Hang unter ihr schweifen bis zum Gasthaus «Burggeist», dessen Dach unter einer weissen Haube steckte, genauso wie die Dächer der angrenzenden Chalets. Wie mit Diamanten übersäte Pilze glitzerten sie in der aufgehenden Sonne. Über dem Vierwaldstättersee dagegen lag zäher Nebel. Welch ein Anblick. Bald würde sie am richtigen Meer liegen. Unter knatternden Palmen im westlichen Indischen Ozean. Justus hatte ihr zwei Wochen Ferien auf den Seychellen in Aussicht gestellt. Allein. Dass sie es nicht sein würde, dafür hatte sie früh genug gesorgt.
Mal abgesehen von der Schwiegermutter, die ihr einstweilen auf die Nerven ging, kam Graziella gern hierher. Die Stille hier oben war sommers wie winters ein Segen, liess den Alltagsfrust vergessen und regte ihre Phantasie an. Zu Hause würde sie wieder malen und die Eindrücke verarbeiten können. Den inneren Bildern Platz bieten, auch wenn sie zuweilen etwas abstrakt daherkamen. Aktuell arbeitete sie in der weissen Phase, leicht und beschwingt, in Aquarell wie in Acryl. Schnee und helle Sandstrände waren ihre Lieblingsmotive.
Sie wandte sich um. Sie mochte das heimelige Schlafzimmer, welches im krassen Gegensatz zu ihrer Luxusvilla an der Goldküste stand. Die naturbelassenen Steinwände mit den Holzelementen vermittelten Geborgenheit und Wärme. All das, was sie in ihrem Leben an der Seite ihres Mannes vermisst hatte. Das Doppelbett mit den rot-weiss karierten Kissen und Duvets war behaglich. Auf der Kommode befand sich eine Waschschüssel mit Krug und erinnerte an eine Ära, in der sie manchmal gern gelebt hätte. Früher musste alles weniger hektisch gewesen sein als heute.
Die linke Hälfte des Betts war unbenutzt, wie so oft in letzter Zeit. Gut möglich, dass Justus im Keller geschlafen hatte. Ihr war es recht. Die Ausrede, er habe zu viel getrunken und seine Frau nicht stören wollen, würde man ihm abnehmen. Ansonsten hatten sie sich das Versprechen gegeben, vor Justus’ Eltern und vor den Kindern den schönen Schein zu wahren. Seit achtzehn Jahren «glücklich» verheiratet. Dass ihre Ehe seit Langem zerrüttet war, ging niemanden etwas an. Justus war selten zu Hause, und wenn doch, hatte sich Graziella angewöhnt, ihm auszuweichen. Im grossen Haus in Erlenbach konnten sie sich aus dem Weg gehen. Manchmal liess es sich wie Bruder und Schwester gut leben. Der Zweck heiligte die Mittel, auch in diesem Fall.
Nach einer ausgiebigen Dusche ging sie einen Stock tiefer. Am gedeckten Tisch sassen bereits Eleonore und Linus. Eleonore hatte sich wieder alle Mühe gegeben, das Frühstück aufwendig zu arrangieren. Es fehlte an nichts. Sogar frisch gepressten Orangensaft hatte sie hingestellt. Brot und Butterzopf hatte sie selbst gebacken, und die Erdbeerkonfitüre stammte aus der letzten Ernte aus ihrem Garten, den sie mit Hingabe pflegte. Eine Glasschale mit Pralinen für ihren Sohn stand ebenfalls bereit. Basil mochte Schokolade über alles, nahm deswegen jedoch nicht zu. Graziella war ganz neidisch. Kerzen und mit roten Kugeln geschmückte Äste rundeten das Ganze ab und verströmten eine anheimelnde Atmosphäre.
Mittlerweile waren auch Emma, Malika und Alexa heruntergekommen, alle im Trainingsanzug, als hätten sie sich untereinander abgesprochen. Sie setzten sich mit einem Gruss in die Runde. Graziella liess einen Latte macchiato aus der Kaffeemaschine, fragte nicht, ob jemand auch wolle. Der Morgen war noch nie ihre Zeit gewesen. Sie hatte sogar Mühe, das Badezimmer zu finden.
«Schlafen die Männer noch?» Malika warf den Frauen einen fragenden Blick zu, wollte sich wohl wichtigmachen. Malika, die hier nichts zu sagen hatte. Ein achtundzwanzigjähriges Püppchen mit platinblonden Haaren und ebenso hellem Gesicht.
«Basil ist noch oben.» Emma griff nach dem Brotkorb und schnappte sich ein Stück Zopf.
«Leonardo schläft wie ein Bär.» Alexa bediente sich von dem Orangensaft.
«Weisst du denn, wie ein Bär schläft?» Malika gluckste.
Was für eine alberne Bemerkung. Graziella bedachte sie mit einem vernichtenden Blick und hoffte, dieses Frauenzimmer würde sich in Zukunft zurückhalten. Sie hasste Malika. Sie war alles, was Graziella längst verloren hatte: jung, knackig und lässig. Und sie spielte Cello. Ein Glück, hatte sie das Instrument nicht mit auf den Berg genommen.
Malika war Justus’ Sekretärin und hier, ausser von ihrem Chef, nicht erwünscht. Sie passte nicht in die Familie, war allein gekommen. Dabei lebte sie mit ihrem Freund zusammen. Aber Justus hatte darauf bestanden. Selbst in den Ferien konnte er nicht abschalten und war mit einem Bein immer in der Kanzlei. Malika tippte die von ihm diktierten Briefe auf den Laptop, als hätte diese Arbeit nicht bis nach den Festtagen warten können. Justus musste allen zeigen, wie very busy er war. Malika war die Einzige gewesen, die Eleonores Einladung zur ersten der zwölf Raunächte zuerst nicht hatte Folge leisten wollen. Sie suchte, das war sich Graziella seit letzter Weihnacht sicher, Justus’ Nähe. Aber es war ihr egal. Sie lebte ihr Leben, Justus seines.
«Warst du gestern noch einmal weg?» Emma sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, als sich Graziella neben sie an den Tisch setzte.
«Wie kommst du darauf?» Graziella streute Zucker über den Milchschaum.
«Ach, ich war auf der Toilette und habe dich am Ende der Treppe gesehen. Das warst doch du?»
«Du musst dich getäuscht haben.» Sie löffelte den Schaum, der einen klebrigen Rückstand auf ihren Lippen hinterliess.
«Hat hier sonst noch jemand lange schwarze Haare?»
«Ist dir die Thomasnacht eingefahren?», konterte Graziella. Sie verstand nicht, warum ihre Schwägerin so etwas behaupten konnte. «Ich war das nicht.» Lange Erklärungen waren ihr zuwider. In der Nacht war sie auf gewesen, weil sie wie üblich nicht hatte schlafen können. In der Meinung, Justus schliefe neben ihr, hatte sie das Zimmer verlassen. Sie hatte ihrem Liebsten eine SMS geschickt und darauf gewartet, bis er ihr zurückschrieb. Das ging niemanden etwas an, zuletzt Emma. Familie in Ehren, es gab jedoch klare Grenzen.
Alle Augen waren auf sie gerichtet. Graziella erhob sich, den Macchiato liess sie stehen. «Ich gehe mal schauen, ob Justus im Massenlager schläft.» Frauen in der Überzahl ertrug sie nicht, ausser sie sassen um einen brodelnden Kessel und huldigten einer Hexe.
«Dort ist er nicht», warf Linus kauend ein. «Ich war vorher im Keller, um etwas aus der Vorratskammer zu holen. Die Tür stand offen, und ich vergewisserte mich, ob Mario und Leonie gewütet hatten.»
«Warum hätten sie dort wüten sollen?» Graziella verstand die Bemerkung ihres Schwiegervaters nicht. «Ist mir etwas entgangen?»
«Ach, du kennst sie doch», sagte Eleonore, die ihren Mann offensichtlich in Schutz nahm. «Wenn es ihnen langweilig ist, spielen sie Räuber und Poli. Ich habe sie auch schon im Massenlager erwischt, als sie über die Betten hüpften. Mit den Schuhen», schob sie nach.
«Okay.» Graziella hob abwehrend die Hände. Das fehlte noch, ihre Kinder als ungezogene Bälger hinzustellen. «Wenn Justus nicht im Keller geschlafen hat, wo hat er sich dann hingelegt? Bei mir war er auf jeden Fall nicht.» Sie sah zu Malika, die beschämt den Kopf senkte. «Etwa bei dir?»
«Was soll das!», rief Malika.
«Ich frage mich die ganze Zeit, warum Justus dich mit dabeihaben wollte.»
«Es war seine Idee. Wir müssen arbeiten. Ich bin seine Sekretärin.»
«Genau, die, wenn sie nur ein bisschen Verstand hätte, nicht einfach bei uns hereingeplatzt wäre. Weihnachten ist noch immer eine Familienangelegenheit.» Dass ausgerechnet Emma Stellung bezog, hätte Graziella nicht erwartet.
«Was ist mit Alexa und Leonardo?», keifte Malika. «Gehören die zur Familie?»
«Ich verbitte mir diesen Ton», sagte Eleonore aufgebracht. «Was fällt Ihnen ein?»
«Entschuldigung.» Malika senkte abermals den Blick. «Suchen wir Justus.»
«Wecken wir unsere Männer, dann erfahren wir, wo er ist.» Emma war bereits aufgestanden.
Graziella sah ihr nach, wie sie die Treppe hoch in den ersten Stock ging, die zierliche, zerbrechliche Frau, die versuchte, es immer allen recht zu machen. Die Stimmung war dahin. Malika verliess den Tisch, und Eleonore räumte das Geschirr ab. Nur Linus blieb sitzen.
Graziella hätte gern seine Gedanken gelesen. Linus, der von seinem einstigen Glanz verloren hatte, seit Justus ihm den Rang ablief. Linus hätte seinen ältesten Sohn gern als Nachfolger für seine Kanzlei gesehen. Doch Justus hatte gänzlich andere Pläne gehabt und seine Ziele hochgesteckt, die er mit Hartnäckigkeit und Arroganz erreichte. Damit fiel er nicht aus dem familiären Rahmen.
Wenig später kehrte Emma mit Basil und Leonardo zurück. «Niemand hat eine Ahnung, wo Justus steckt», sagte sie.
«Seid ihr gestern nicht gemeinsam von eurem Ausflug zurückgekehrt?» Graziella fröstelte plötzlich. «Basil?»
Dieser wand sich. «Ehrlich gesagt, bin ich nach meiner Ankunft sofort zu Bett gegangen.»
«Leonardo?»
«Ich auch. Ich bin es nicht gewohnt, so viel Alkohol zu trinken.»
Emma wandte sich an ihren Schwiegervater. «Linus?»
«Ich war als Erster unten.»
«Sagt bloss nicht, ihr habt nicht aufeinander gewartet.» Emma warf Graziella einen flehenden Blick zu. «Wir müssen ihn suchen.»
«Warum?», fragte Graziella. «Er hat immer tausend Ideen. Vielleicht ist ihm etwas in den Sinn gekommen, was er erledigen sollte, und da er ein ungeduldiger Mensch ist, wird er losgezogen sein. Wetten, dass er am Mittag wieder auftaucht?»
«Wir sollten trotzdem eine Vermisstmeldung machen», schlug Basil vor.
***
Im Flur schrillte die Glocke. Valérie drehte sich um, strampelte das Duvet von sich und streckte ihren Arm nach Zanetti aus.
Er war schon wach. «Es hat geläutet.» Er machte keine Anstalten, sich zu erheben.
«Zeit zum Aufstehen.» Valérie gähnte.
«Erwartest du jemanden?»
«Nein.»
«Vielleicht ist es Colin.»
«Er wird erst übermorgen eintreffen.» Sie schwang ihre Beine über den Bettrand und sah auf den Wecker auf der Kommode. «Fast zehn. Wir haben verschlafen.»
«Du hast verschlafen.» Zanetti zog sie zurück auf die Matratze, als sie im Begriff war, das Bett zu verlassen. «Wir haben Ferien. Du brauchst dich nicht zu beeilen.» Er suchte ihren Mund mit seinem.
Valérie wand sich aus der Umarmung. «Vielleicht ist es der Pöstler. Ich gehe mal schauen.» Sie zog ihren Frotteemantel an. Ein Geschenk von Zanetti zu Weihnachten vor einem Jahr, zusammen mit einem Gutschein für ein Wellnesswochenende. Was er ihr wohl dieses Jahr zu schenken gedachte?
Sie ging über die Treppe nach unten, als die Türglocke zum zweiten Mal anschlug. Valérie blieb stehen. Der Pöstler konnte es unmöglich sein. Dieser drückte die Klingel zweimal hintereinander, das war wie ein ungeschriebenes Gesetz. Valérie drehte den Schlüssel und öffnete die Tür.
Im ersten Moment glaubte sie, von einem Trugbild genarrt zu werden. Als sie realisierte, wer vor ihr stand, war es zu spät. Er war mit einem Fuss bereits im Entrée.
Sichtbar älter mit ergrauten Haaren. Sein hochmütiges Lächeln war geblieben. Der listige Blick, sein Geruch.
Willy Lehmann – ihr Ex!
Es war, als würde ein Schatten über sie fallen. Valérie spürte, wie ihr die Haare an den Armen zu Berge standen und ein kalter Schauer über ihren Rücken lief.
«Wir müssen reden.» Lehmann drängte an ihr vorbei, von sich überzeugt wie früher.
«Würdest du bitte nach draussen gehen? Ich mag mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben.» Zu wenig vehement, gestand sie sich ein. Sie fühlte sich angegriffen und war nicht fähig, sich entsprechend zur Wehr zu setzen. «Das ist Hausfriedensbruch.»
Sechs Jahre war es her, seit Valérie ihren Ex-Mann zum letzten Mal gesehen hatte. Vor Gericht war es gewesen, als es um das Sorgerecht für Colin ging. Valérie erinnerte sich an die Gratwanderung, wie sie geschwankt hatte zwischen Loslassen und Festhalten und wie sich der Richter, dank ihres kompetenten Anwalts, für sie entschieden hatte. Colins Meinung hatte ebenso gewichtet, die aus unerfindlichen Gründen auf Valéries Seite gekippt war. Später hatte sie erfahren, dass Willy Lehmann wegen Hinterziehung und Veruntreuung von Firmengeldern eine Anklage am Hals hatte, später eine Verurteilung, die ihn möglicherweise hinter Gitter brachte. Valérie hatte diese Geschichte nicht verfolgt. Für sie war ihr einstiger Ehemann gestorben, lange bevor sie von ihm geschieden war. Colin sprach nie über ihn, und sie fragte nicht nach ihm, obwohl sie davon ausging, ihr Sohn könnte über seinen Vater im Bilde sein.
Ein heftiges Zittern lief durch ihren Körper. Sie kam nicht umhin, Lehmann zurückzuziehen und ihn vor die Tür zu stossen. Diese Berührung fühlte sich nicht gut an. «Lass dich hier nie mehr blicken.»
«Sonst was?» Lehmann wich einen Schritt zurück. Er setzte ein diabolisches Grinsen auf. «Uns verbindet etwas.»
«Ich wüsste nicht, was.» Valérie trat gegen ihren Willen ins Freie und zog die Tür hinter sich zu. Draussen war es kalt, aber das war nicht von Belang. Schlimmstenfalls würde sie sich eine Erkältung holen. Zanetti musste nichts von dem hier mitbekommen. Es reichte, wenn sie sich allein mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzte, die mit aller Härte zurückgekehrt war. Demütigungen, Missbrauch, Schläge, Lügen. Die Liste war lang.
«Colin ist unser gemeinsamer Sohn.»
Das Beste, was ihr aus der Verbindung mit Lehmann widerfahren war. Das Einzige. «Was willst du?» Sie merkte zu spät, mit dieser Frage die Tore in ihr Inneres zu öffnen und zugleich den Zugang zur Hölle.
«Gerechtigkeit.»
«Das sagt der Richtige.» Vermaledeit! Jedes weitere Wort katapultierte sie in Lehmanns Fänge. Wie früher, als sie sich von ihm hatte manipulieren und beherrschen lassen.
«Ich war im Knast, und du weisst, warum.»
Valérie schwante Schreckliches. «Seit wann bist du draussen?» Sie hätte diese Frage nicht stellen sollen. Jetzt war es zu spät. Sie signalisierte damit, sich auf ein Gespräch mit ihm einlassen zu wollen.
«Seit September vor einem Jahr. Soll ich beschreiben, wie es ist, wenn jeder Schritt von dir kontrolliert wird? Die Zeiten vorgegeben sind, in denen du arbeitest, isst und in einem Hof Auslauf hast, als wärst du eine miese Kreatur? Dann dieses Schuften in der Wäscherei, echt entwürdigend. Dazu kein Sex, nichts.» Er griff sich an den Schritt. «Dafür ein Klo, bei dem dir jeder zusehen kann.»
Du bist eine miese Kreatur. Lehmann widerte sie an.
«Punkt acht Uhr schliessen sie dich wieder in die Zelle ein und drehen den Schlüssel um. Dieses Geräusch ist mir geblieben. Dieses verdammte Geräusch.»
«Du hättest es dir anders überlegen müssen, bevor du renitent wurdest.»
«Jede Nacht habe ich von dir geträumt.» Er machte eine Kunstpause. «Ich will bloss Gerechtigkeit. Der Aufenthalt hinter schwedischen Gardinen war nicht umsonst, das schwöre ich dir.»
«Hast du mich deswegen in den Tod schicken wollen?» Valérie entsann sich ihres Unfalls mit dem TT und der Verbindung des Immobilienmaklers zu Lehmann. Plötzlich ging die Rechnung auf, und sie konnte eins und eins zusammenzählen. «Oder war das eine Warnung gewesen?»
«Ich sehe, du kapierst schnell.»
«Das Verfahren läuft.»
«Nicht gegen mich.»
«Aber gegen deinen Freund. Und bald auch gegen dich, sollte es zwischen dir und ihm einen Zusammenhang geben.» Valérie bluffte.
Lehmann rieb sich lachend die Hände. «Ich krieg dich, du Luder. Diesmal gehe ich brutaler gegen dich vor.» Er drehte sich um, ging die Strasse entlang, ohne zurückzublicken.
Aus dem Leben. Nicht aus dem Sinn.
Die fünf Minuten seines Auftritts hatten gereicht, Valérie in ein Gefühlschaos zu stürzen. Sie klammerte sich an den Türrahmen, um sich an etwas festzuhalten, bevor sie die Klinke drückte und das Haus betrat. Sie schlotterte, auch der Kälte wegen. Waren die Geister der Vergangenheit zurück? Unwiderruflich und gnadenlos?
Nein! Sie stampfte entschlossen auf den Boden. Die Situation war eine andere. Vor sechs Jahren war sie die verletzliche Frau gewesen, die einem Windhauch nicht hatte trotzen können, wenn es um ihre gescheiterte Ehe ging. Der Kampf um das Sorgerecht für ihren Sohn, der Umzug von Zürich nach Schwyz, der Polizeialltag mit neuen Kollegen und der verzwickte Fall in der Herrengasse hatten sie oft an den Rand eines Zusammenbruchs geführt. Zwischenzeitlich war sie gereift, nahm heute vieles gelassener, was ihr Privatleben betraf.
«Valérie?» Zanetti stand plötzlich im Flur. «Ist etwas passiert?»
Dass Lehmanns Auftritt sie heftig durcheinandergebracht hatte, wollte sie sich nicht anmerken lassen. «Nein, nicht der Rede wert.» Sie ahnte, Zanetti könnte sich mit dieser Antwort nicht zufriedengeben.
Es standen offensichtlich Fragen im Raum. Er reichte ihr das Handy. «Tomaso Cavadini will dich sprechen. Entschuldige, dass ich den Anruf entgegengenommen habe. Aber ich sah seinen Namen auf dem Display, und du warst nicht da.»
Ihre Nervosität entging ihm gewiss nicht. Sie vermied den Augenkontakt und nahm ihr iPhone entgegen. «Tomaso. Was verschafft mir die Ehre?» Es sollte unbekümmert klingen.
Cavadini arbeitete in der Abteilung Fahndung. Fünfundvierzig, Typ Südländer, mit einem italienischen Akzent, den er nie ganz verloren hatte. Ursprünglich kam er aus dem Puschlav. Die Ausbildung hatte er in Zürich gemacht. Er hatte den Posten in Biberbrugg zur gleichen Zeit übernommen wie Valérie bei Leib und Leben. Cavadini war im Gegensatz zu ihr in der Hierarchie aufgestiegen. Anfangs hatten sie oft über die Arbeitsgepflogenheiten der Schwyzer Polizei diskutiert. Beide hatten Mühe bekundet, sich anzupassen. Man begegnete sich in der Kaffeepause, am alljährlichen Weihnachtsessen, das in diesem Jahr in Einsiedeln stattgefunden hatte, oder im Sommer zum verlängerten Bike-Wochenende.
«Sorry, wenn ich störe.» Cavadini zögerte.
Valérie wandte sich von Zanetti ab, ging in die Küche. «Dich schickt der Himmel», flüsterte sie. «Gib mir das Gefühl, dass ich nicht übergeschnappt bin.»
Cavadini liess ein schnelles Lachen vernehmen. Als Valérie nichts erwiderte, wurde er ernst. «Wo drückt der Schuh?»
«Willy war hier.»
«Der Willy? Dein Ex?» Cavadini kannte den Namen. «Was wollte er?»
«Sich bemerkbar machen. Aber es kam so unerwartet. Hast du gewusst, dass er im Knast war?»
«Nein, wusste ich nicht.» Cavadini liess ein paar Sekunden verstreichen, in denen er schwieg.
Valérie wedelte das Thema in Gedanken weg. Es gehörte nicht hierher. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihren inneren Zerwürfnissen eine Sprache geben wollte. Geteiltes Leid war halbes Leid. Aber dazu war Cavadini der Falsche. «Vielleicht sagst du mir, weshalb du mich anrufst.»
Es entstand eine Pause. «Ich dachte, es interessiert dich. Heute gelangte eine Vermisstmeldung an die Fahndung. Sie könnte heikel sein.»
Nichts war so problematisch wie Lehmanns Auftritt. «Inwiefern?»
«Seit letzter Nacht wird auf Rigi Scheidegg der Staranwalt Dr. Justus Maibach vermisst. Er ist der ältere Sohn von Dr. Linus Maibach, dessen Vater lange Zeit Richter in Schwyz war. Die prestigeträchtige Familie hat immer wieder von sich reden lassen. Regelmässig füllten sie die Zeitungen wegen irgendwelcher Eskapaden.»
«Das muss vor unserer Zeit gewesen sein.» Valérie ging zur Kaffeemaschine. «Wie lange sind wir bei der Schwyzer Kantonspolizei? Ach, egal.»
«Du erinnerst dich vielleicht an die Ärztin Svetlana Wille.» Cavadini nahm den Gesprächsfaden wieder auf. «Ihr Fall ging damals bis vors Kantonsgericht.»
«Tut mir leid, ich habe derzeit ein Blackout.» Valérie versuchte, sich den Namen und die damit verbundenen Umstände in Erinnerung zu rufen. «Meinst du den Familiennachzug?» Sie wählte ein kolumbianisches Aroma und füllte den Kolben mit Kaffeepulver. Der Fall lag Jahre zurück.
«Genau. Justus Maibach soll sie sexuell genötigt haben, weil sie mit der Bezahlung der Anwaltskosten in Verzug war. Ging damals durch die Regenbogenpresse. Es galt die Unschuldsvermutung. Maibach wurde vom Verdacht entbunden.»
«Okay, ich erinnere mich nur vage, im Gegensatz zu dir. Und dieser Maibach wird nun vermisst.» Valérie warf einen Blick durchs Küchenfenster. Den Gipfel des Pilatus gegenüber sah man nicht. «Es ist keine vierundzwanzig Stunden her.» Einmal mehr wurde ihr bewusst, wie sensibel berühmte Leute reagierten, wenn ein Ereignis wie dieses eintraf. Wer sich zu den bekannten Persönlichkeiten zählte und obendrein ein Vermögen anhäufte, war möglicherweise einem permanenten Druck unterworfen. Er war Zielscheibe des öffentlichen Interesses, Grund für Missgunst und somit angreifbar. «Der wird bestimmt wieder auftauchen.»
«Mit dieser Vorgeschichte? Zudem hat er bestimmt ein paar Leichen im Keller.»
«Man darf nicht immer schwarzmalen.» Valérie war zuwider, sich zwei Tage vor Heiligabend mit einer Vermisstmeldung zu befassen, auch wenn es um eine bekannte Schwyzer Familie ging. Es konnte nicht sein, dass man ihr immer alles aufbürdete. Zudem hatte sie Ferien und klar zu verstehen gegeben, sie wolle in dieser Zeit nicht gestört werden.
«Ich möchte damit sagen … ich fahre heute mal auf die Scheidegg.»
«Für Befragungen? Und deswegen rufst du mich an? Dann muss es dir sehr langweilig sein, wenn du freiwillig hochfährst.»
«Es ist gerade nicht viel los, und meine Kollegen sitzen sich die Ärsche in den Stuhl. Ich werde erste Abklärungen machen. Ich nehme die Luftseilbahn ab Kräbel und treffe mich mit dem Bruder des Vermissten im Gasthaus ‹Scheidegg›. Die Familie hält sich in ihrem Ferienhaus auf.»
«Die macht dort Ferien?» Valérie sah erneut aus dem Fenster, sie fokussierte ihren Blick auf die Umgebung ihres Mietshauses. Sie versank im Schatten. Schnee lag keiner, und für Eiskristalle an den Bäumen war es zu warm. Kurz kam die Idee auf, mit Cavadini zu tauschen. «Wenn du einen Rat von mir willst, ich kann dir nicht helfen. Dieser Anwalt ist volljährig.» Es sollte belustigt klingen. «Es ist ihm freigestellt, einfach zu verschwinden. Ansonsten wende dich an Caminada.»
«Es war seine Idee.»
«Ich ging davon aus, er sei im Bündnerland.»
«Er ist seit heute Morgen zurück. Seiner miesen Laune nach zu urteilen, muss er mit seiner Frau mächtigen Zoff haben.»
«Hat er etwas erwähnt?» Die Geschichte um seine Frau hatte bereits die Runde und auch vor anderen Abteilungen auf dem Sicherheitsstützpunkt nicht haltgemacht.
«Nein.»
Menga, Caminadas Frau, hatte in letzter Zeit regelmässig für Furore gesorgt. Sie hatte sich bislang nicht in der Innerschweiz einleben können. Caminada hatte sich oft darüber beklagt, wie sie hier leide und es ihn fast wahnsinnig mache. Sie sei depressiv geworden und wolle zurück ins Bündnerland. Valérie ging mit der Kaffeetasse ins Wohnzimmer. Der ungeschmückte Tannenbaum verströmte einen würzigen Geruch nach Nadeln und Harz. Trotz ihres Widerstrebens freute sie sich, dass Zanetti seine Idee umgesetzt hatte. Vielleicht würde er auch die Kugeln und die Lichterketten anbringen. «Gut, halte mich auf dem Laufenden … Ich werde mir die Unterlagen über den Fall Wille, sofern sie digital erfasst sind, ansehen.» Es konnte nichts schaden, sich damit von Lehmann abzulenken. Dass sie eigentlich Ferien hatte, vergass sie. Cavadini hatte bereits aufgelegt.
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Chäsereseppis Noldi hatte sich noch nie von der Rigi entfernt. Das jedenfalls behauptete er, wenn man ihn danach fragte. Auf Kaltbad geboren und aufgewachsen, zählte er sich zu den eingefleischten «Rigianern», die den Berg in- und auswendig kannten. Er war im Haus am Oberen Firstweg zur Schule gegangen, wo ein einziger Lehrer sechs Klassen unterrichtete. Später hatte er den Hof seines Onkels unterhalb von Rigi Kulm übernommen und mit den Jahren eine Gastwirtschaft für Touristen aufgebaut. Schlafen im Stroh und warme Kuhmilch zum Frühstück. Sein Alpkäse war über die Kantonsgrenze hinaus bekannt.