Alpstein - Silvia Götschi - E-Book
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Alpstein E-Book

Silvia Götschi

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Beschreibung

Hochspannung vor der majestätischen Kulisse der Appenzeller Bergwelt. Eigentlich sollte es der schönste Tag im Leben werden. Doch die romantische Hochzeit im Appenzellerland verwandelt sich jäh in einen Alptraum, als der Bräutigam kurz nach der Trauung in den Tod stürzt. Milagros von Wirth, die zu den Gästen gehört, glaubt nicht an einen Unfall, denn das Opfer war ein erfahrener Bergsteiger. Sie bittet ihren Sohn, Privatdetektiv Max von Wirth, und seine Kollegin Federica Hardegger um Hilfe, aber sie können nicht verhindern, dass es weitere Tote gibt – und Fede unter Mordverdacht gerät.

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Westend61/Stefan Schurr

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-125-6

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Der Neid ist die aufrichtigste Form der Anerkennung.

Ein einziger Fehltritt kann dir das Leben kosten. Reagierst du nicht schnell genug, bedarf es nur noch des Gebets. Ich bin oft in brenzlige Situationen geraten. Das Glück ist stets an meiner Seite gewesen. Bis heute.

Ich rutsche ab. Hätte ich mich bloß nicht ablenken lassen. In diesem einen Augenblick, in dem sich meine Konzentration abgeschwächt hat. Dabei weiß ich es seit meinen Kinderjahren. Es braucht wenig. Ein Abschweifen der Gedanken, eine kleine Vernachlässigung. Eine minimale Abweichung, welche sich zum Drama entwickelt. Von einer Sekunde zur anderen.

Der Ruck ist gewaltig, verursacht durch den Fangstoß. Mein Knie schlägt auf. Der Schmerz kommt unmittelbar. Ich kann einen Aufschrei nicht verhindern. Ich sacke ab, einen Meter, zwei. Und hänge an der Wand wie ein Pendel. Ein ganzer Film läuft ab.

»Alles okay?« Mein Freund klingt besorgt. Ich sehe sein Gesicht über mir, seinen erstaunten Blick.

Nichts ist in Ordnung. Ich hätte mir niemals diese Blöße geben dürfen. Nicht jetzt. Vor fünf Minuten haben wir das Couloir traversiert, an exponierten Stellen den Karabiner ins Drahtseil eingehakt. Routine wie immer. Der Aufstieg hier ist glitschig und erfordert uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Noch liegt Schnee.

Über mir brennt der Himmel, eine Weichzeichnung nuancierter Farbtöne. Die Gebirgskette des Alpsteins zeichnet sich gestochen scharf davor ab. In dieser Atmosphäre begründet sich der Entschluss, heute hierhergekommen zu sein. Es ist dunkel gewesen, als wir von der Schwägalp losgegangen sind. Unser Ziel: der Säntis. Nicht zum ersten Mal. Oben sein, wenn der Tag erwacht, wenn alles noch schläft. Der Nervenkitzel, in der Dämmerung zu klettern. Diesmal haben wir es zu weit getrieben. Unüberlegt, im jugendlichen Leichtsinn.

Nachdenken. Und vor allem ruhig bleiben.

Es bringt nichts, sich aufzuregen. Sieh dich an den Dingen satt, welche die Natur hervorbringt. Sei dankbar und demütig, hat mir mein Großvater beigebracht, und schöpfe Kraft, indem du dir bewusst wirst, eins zu sein mit dem Ganzen.

Scheiße, dieser Schmerz.

Im Osten geht die Sonne auf. Der Fels, in dem ich hänge, beginnt von innen zu leuchten. Ich nehme die Wärme auf, die sich in meinem Körper ausbreitet. Ich habe den Tritt verloren, unter meinen Füßen ist nichts als Leere. Und da ist das bange Gefühl, versagt zu haben. Die Klettergurte schneiden meinen Körper entzwei. So fühlt es sich an.

Mein Freund muss sehen, wie ungünstig meine Lage ist. Er ruft mir zu, während er das Seil herumschwenkt. Solange ich frei schwebe, wird er mich nicht hochziehen können. Ich bin zu schwer. Verzweifelt strecke ich meinen rechten Arm aus, suche nach einem Felsvorsprung, den ich greifen kann, berühre Gras, ein Büschel Erika, die hier wie selbstverständlich zwischen den Steinen wachsen. Das zarte rote Pflänzchen krallt sich fest. Weder Sturm noch Regen würden es abreißen können. Es muss auch mir gelingen, Halt zu finden. Endlich greift meine Hand, klammert sich an den Fels. Ich schwinge die Beine, bis der eine Fuß auf Widerstand trifft.

»Ich halte dich! Vertrau mir!«

Natürlich muss ich mich auf meinen Freund verlassen können, sonst wäre ich nicht hier. Nicht an diesem frühen Morgen, an dem mir meine Sorglosigkeit bewusst wird. Ich blicke über meine Schulter in den Abgrund. Das Gestein glüht und die Temperatur steigt.

»Du schaffst das!«

Alles in mir pocht: das Herz, der Puls, mein Knie.

Ich will nicht zugeben, wie sehr der Schmerz an mir reißt. Unwillkürlich kommen die Tränen. Sei keine Memme!

Von Neuem verliere ich den Halt. Geröll löst sich. Steine, die talwärts purzeln, und ich kann nur hoffen, dass sich niemand unter uns befindet.

Die letzte Kraft verlässt mich. Ein Ruck, ein Reißen. Ich falle.

Eine eigentümliche Ruhe kehrt ein. Ich ahne, es ist vorbei. Die Angst ist von mir gewichen. Ich lasse es geschehen, den letzten Blick an die Felswand, der sich drehende Himmel über mir.

Vielleicht würde ich schon bald an seine Pforten klopfen.

EINS

Der Briefumschlag hatte eine rosa Farbe und eine Geruchsnote, die an Veilchen erinnerte. Die Schrift kannte sie nicht. Milagros von Wirth schloss den Briefkasten und ging mit der Post zurück in ihr Appartement: mit der Tageszeitung, einer Reklame für die ultimative Sonnencrème und einem Prospekt für eine Kreuzfahrt im Mittelmeer, was in Milagros ein ambivalentes Gefühl zwischen Wehmut und Ärger auslöste. Wehmut, weil sie vor zwei Jahren eine achttägige Reise nicht hatte richtig beginnen, geschweige denn beenden können, Ärger, weil ihr das Geld dafür bis heute nicht zurückerstattet worden war, trotz Annulationsversicherung. Milagros warf die beiden Flyer in den Abfallkübel, der beim Aufgang zum Spielplatz stand und kaum gebraucht wurde. Der gelbe Kleber mit der Aufschrift »Öffne und benutze mich« wurde selten gelesen. Seit sie hier eingezogen war, war sie mit Ausnahme einer eigensinnigen mittelalten Frau die einzige Bewohnerin in diesem Haus, welches zu einer modernen Überbauung gehörte. In den anderen Häusern sah es unwesentlich besser aus. Die Feriengäste blieben fern, und für Familien, für die man die Häuser errichtet hatte, war der Mietpreis unerschwinglich, außer sie gehörten zu den Superreichen. Aber diese kamen nicht hierher.

Der Sommer war heuer eine einzige Zumutung. Die wenigen Meter zwischen Briefkasten und Wohnung hatten Milagros zum Schwitzen gebracht. Sie war außer Atem, als hätte sie einen Halbmarathon bewältigt. Eigentlich war an dem Resort nichts auszusetzen. Das Appartement im Haus Rosengarten erfüllte alle Ansprüche. Die Küche war mit modernsten Gerätschaften ausgestattet. Nebst dem Backofen gab es einen Steamer, und der Kühlschrank verfügte über eine separate Eismaschine. Beim Induktionsherd war eine Ausbuchtung für den Wok eingelassen, und die Kaffeemaschine war integrierter Bestandteil des Geschirrschranks. Hightech vom Feinsten und farblich perfekt aufeinander abgestimmt. Ganz ihr Geschmack.

Milagros schritt zum Fenster und sah hinab auf den Brienzersee. Seine Farbe erinnerte an das türkise Meer vor der Karibikinsel San Blas, auf der sie den Winter um drei Wochen verkürzt hatte. Gut essen, trinken und baden, in Erinnerungen schwelgen an die Zeit, als sie mit Kaspar rund um die Welt gejettet war. Von einem erfrischenden Bad im Brienzersee sah Milagros hingegen ab, seit sie erfahren hatte, was für Altlasten auf dem Grund lagerten.

Sie holte ein Messer aus der Küchenschublade und schnitt damit den Umschlag auf. Der Veilchenduft intensivierte sich, und das Rosarot setzte sich auf dem Briefbogen fort. Sie faltete das Papier auseinander, neugierig und ungeduldig. Es war lange her, seit sie solche Briefe erhalten hatte, und Melancholie überkam sie. Die letzten Jahre waren dahingeflossen, ohne nennenswerte Höhepunkte. Ein wenig machte es ihr Angst. Die Namen am unteren Rand sprangen ihr ins Auge.

Aurora Antoniazzi und Heinrich Manser.

Heini! Milagros musste sich setzen. Sie hatte ihn unlängst gesehen. Im März war es gewesen, in der Berner Altstadt, unter den Lauben. Er war zügig aus einem Sportgeschäft gekommen, als Milagros hineingehen wollte, und hätte sie beinahe umgerannt. Heinrich Manser, einst ein guter Freund ihres Mannes Kaspar, hatte sie auf Anhieb wiedererkannt. Milagros durfte dies als Kompliment deuten. Er hatte von seinen Plänen gesprochen, von seinen Expeditionen in den Schweizer Alpen, vom Klettern und Bergsteigen – davon, dass er heiraten würde, nicht.

Das Foto in Herzform untermalte das Geschriebene. Ein ungleiches Paar, das in die Kamera lächelte. Sie, die blonde Ausgabe von Liz Taylor, er, der Alte, dem Wind und Wetter Furchen ins Gesicht gezeichnet hatten. Aurora Antoniazzi, der Inbegriff der Perfektion. Eine Schönheit, die ihren Zukünftigen überstrahlte. Wie war er bloß an diese Frau geraten?

Alter Narr!

Der eingefleischte Junggeselle und Lebemann hatte die sechzig längst überschritten. Wenn Milagros sich nicht täuschte, hatte er sogar den gleichen Jahrgang wie sie. Ob er Udo Jürgens’ Lied zum Anlass genommen hatte, seinem Lebensherbst einen neuen Frühling einzuhauchen? »Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an.« Ein Ohrwurm, wie sie ärgerlich feststellte. Sie würde die Melodie in ihrem Kopf nicht mehr losbekommen.

Heini hatte sich eine Jüngere geangelt, als wären die Frauen um die sechzig nicht interessant genug.

Aurora, ein Küken, im Vergleich zu Milagros, das auch mal groß werden und dem Alten den Gnadenstoß geben würde. Milagros öffnete den Kühlschrank und nahm eine angebrochene Flasche Louis Roederer heraus. Sie würde sich volllaufen lassen, hatte endlich einen Grund, ihren Frust zu ertränken. Sie setzte die Flasche an den Mund und nahm einen Schluck daraus, nicht ladylike, aber das sah ja niemand. Augenblicklich schämte sie sich für ihr Sich-gehen-Lassen. Trotzdem: Die alten Männer konnten sich eine junge Frau anlachen, ohne schräg angesehen zu werden, wogegen man eine Sechzigjährige belächelte, sollte sie sich einen Jüngeren geangelt haben.

Milagros besah sich die Frankatur und wann der Brief abgestempelt worden war. Vor einem Tag in Appenzell. Eine so kurzfristige Einladung zu einer Hochzeit übermorgen hatte sie nie zuvor erhalten. Es kam ihr ein wenig suspekt vor. Ob sie eine Lückenbüßerin war für jemanden, der verhindert war, am Fest teilzunehmen? Vielleicht hatte Heini sich spontan an sie erinnert und daran, welch fröhliche Feste sie früher miteinander gefeiert hatten. Damals, als sie in ihrer jugendlichen Sorglosigkeit überbordet und manchmal nicht gewusst hatten, wie ausgelassen sie sich benehmen wollten. Milagros war kaum in die Schweiz gekommen, da führte Kaspar sie in die verruchtesten Spelunken, was sie ihrem korrekten späteren Ehemann nie zugetraut hätte. Sie hatten die Nächte zu Tagen gemacht und umgekehrt. An den Wochenenden hatten sie getanzt bis in die Morgenstunden, nicht nur in Hergiswil, und den Tag darauf in entspanntem Nichtstun verbracht. Kaspar und Heini, der eine distinguierter Bankier, der andere Erbe eines rentablen Familienunternehmens, das er nach dem frühen Tod seiner Eltern verkauft hatte. In den Jahren danach hatte er nicht arbeiten müssen, und wahrscheinlich war es heute noch so. Sein Vermögen hatte er bei Kaspar angelegt, was diesen daraufhin zum Direktor der Nidwaldner Bank erhoben hatte.

In seinem Alter wollte Heinrich Manser also jetzt heiraten. Himmel noch einmal! In zwei Tagen. Milagros legte den Brief auf die Ablage beim Herd und las den Rest. Natürlich gab es einen Dresscode. Das Brautpaar wünschte sich eine folkloristisch-sportliche Garderobe, passend zur Hochzeitsmesse, die in einer der Wildkirchli-Höhlen oberhalb von Wasserauen stattfinden würde. Bergschuhe waren ein Muss. Die Anfahrt war beschrieben. Ab Wasserauen mit der Luftseilbahn bis auf die Ebenalp, dann zu Fuß Richtung Äscher.

Milagros seufzte. Was sollte sie bloß anziehen? Folkloristisch-sportlich. Diesen Ausdruck hatte sie noch nie gehört. Eine Appenzeller Tracht mit Wanderschuhen? Von einem Rucksack stand da nichts.

Heini hatte sie oft besucht, wenn er vom Ausland zurückgekehrt war. Ihn hatte eine alte Freundschaft mit Kaspar verbunden, deren Ursprung Milagros nicht kannte. Zwei Wochen nach Kaspars Tod hatten sie sich aus den Augen verloren. Milagros erinnerte sich an den ergreifenden Nekrolog, den Heini in der Kirche gelesen hatte. Im Anschluss hatte er seine Gitarre zur Hand genommen und die Zeremonie mit Kaspars Lieblingslied untermalt. »Knocking on Heaven’s Door« von Bob Dylan, eine herzbewegende Interpretation. Im Grunde hatte Heini immer wieder seine Kreativität spielen lassen. Musik, Schreiben, Fotografieren – er war der Virtuose auf der Bühne seines selbst gewählten Daseins, der Lebenskünstler, dessen Berufung aber im Klettern und Bergsteigen lag. Das pure Gegenteil von Kaspar. Heinis Leidenschaft waren die Berge. Auf den Gipfeln der Welt fühlte er sich zu Hause, sie waren Gebet und Religion, Schöpfung und Inspiration. Und wie er ihr unter den Lauben erzählt hatte, war das bis heute so. Mit dem einen Unterschied, seit seinem Sechzigsten die Schweizer Berge denen im Ausland vorzuziehen.

Milagros öffnete den Gläserschrank und griff nach einem Glas. Sie ließ Wasser aus dem Hahn und füllte es bis fast zum Rand. Alkohol am Vormittag bekam ihr nicht gut. Sie könnte doch einfach auch absagen. Heini würde es begreifen. Sie hatte noch nicht einmal ein Zimmer. Der Weg mit dem Auto vom Brienzersee ins Appenzellerland betrug mehr als drei Stunden, mit der Bahn waren es über viereinhalb.

Sie suchte vergebens nach einer An- oder Abmeldung. Man erwartete offenbar, sie würde die Einladung annehmen. Eine Fahrt ins Blaue. Aber genau das hatte ihre Existenz bis anhin lebenswert gemacht. Und die Einladung kam zur richtigen Zeit. Sie wollte allen beweisen, eine fidele Rentnerin zu sein.

Der Juli wirkte einschläfernd. Die Tage waren in jene Hitze gehüllt, mit der selbst eine wie Milagros, die seit ihrer Kindheit heiße Sommer gewohnt war, Mühe bekundete. Wenn der Morgen dämmerte, unternahm sie ausgedehnte Spaziergänge, fuhr nach Interlaken oder nach Brienz und spazierte die Aare oder den See entlang. Sie frühstückte in einem Café und kehrte in ihr Appartement zurück, wenn die Sonne hoch am Himmel stand. Den Vormittag verbrachte sie lesend im Schatten. Diese Lebensart war eigentlich nicht Milagros’ Ding. Sie bevorzugte Geselligkeit, Besuche in Museen, Konzerte und Lesungen. Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie ihr Leben umgekrempelt und so gestaltet, damit ihr die Decke nicht auf den Kopf fiel. Eine Zeit lang hatte sie zum Zeitvertreib einen jungen Freund an ihrer Seite gehabt, einen Cellisten aus Luzern. Aber irgendwann war sie ihm zu alt geworden. Nicht einmal ihr Reichtum hatte ihn an sie gebunden. Die Jahre waren vergangen, und Milagros musste einsehen, sie wurde nicht jünger und konnte das Rad nicht zurückdrehen. Ihre Krise, in der sie sich ungebraucht und überflüssig vorgekommen war, hatte sie zum Glück überwunden. Dazu beigetragen hatten auch Maximilian und Federica, die sie in ihrer Detektei als Mitläuferin duldeten. Aber die Fälle, in denen sie tatkräftig mitwirkte, waren rar. Um nicht in Selbstmitleid zu versinken, musste Milagros etwas an ihrem Alltag ändern. Das war jedoch einfacher gesagt als getan. Enkelkinder hatte sie sich abgeschminkt. Federica, Maximilians Langzeitfreundin, hatte die vierzig überschritten. Ob sie in diesem Alter noch Mutter werden wollte, darüber hatte sie nie nur ein Wort verloren. Eine Alternative zu Großkindern wäre ein Hund gewesen. So ein Schoßhündchen, welches man in der Handtasche mitnehmen konnte. Aber diese Bürde wollte Milagros nicht tragen. Ein Hund hätte sie in ihrer Freiheit eingeschränkt.

Sie hätte sich mit ihrer Nachbarin anfreunden können. Doch diese kam ihr seltsam vor. Bei schönem Wetter saß sie von morgens bis abends auf dem Balkon und starrte auf den See hinaus. Wusste der Kuckuck, was sie dort sah. Wenn ihr Milagros trotzdem mal auf der Straße begegnete, blickte sie ostentativ auf die andere Seite. Sich um die Aufmerksamkeit einer solchen Person zu bemühen sah Milagros als Zeitverschwendung an.

Sie ging mit dem Wasserglas und der Champagnerflasche ins Gästezimmer, wo auch der Computer stand, und wog ab, was sie zuerst austrinken wollte. Den Rechner benutzte sie nicht oft. Aber wenn sie wie heute ein Hotelzimmer zu buchen gedachte, war das Internet praktisch. Milagros startete den Rechner. Sie gab ihre Anfrage ein, wartete, bis über verschiedene Anbieter Vorschläge erschienen. Milagros konzentrierte sich auf Appenzell und Umgebung. Wie erwartet waren die meisten Unterkünfte aktuell ausgebucht. Sie fand ein einziges Zimmer in einem einfachen Landgasthof in Weissbad. Milagros klickte die Bilder auf dessen Website an. Nett, dachte sie. Nicht der Luxus, den sie sich gewohnt war. Rot-weiß karierte Bettwäsche, viel Holz. Sie brauchte jedoch ein Dach über dem Kopf und eine Liege. Kurz entschlossen buchte sie.

***

Ein letztes Mal ging er den Text durch. Noch fünf Minuten blieben Klemenz Eugster, um sich für die Rede geistig vorzubereiten und sie zu verinnerlichen. Er war nicht der Mann der großen Worte, wenn es um Kunst und Kultur ging. Dafür waren andere zuständig. Im letzten Moment hatte die Moderatorin abgesagt, weil eine Sommergrippe sie ans Bett fesselte. Vor der Tür des Gemeindesaals in Appenzell warteten bereits die Gäste und ein Rudel von Journalisten, die sich die Buchpräsentation von Heinrich Manser nicht entgehen lassen wollten. Sapperlot, dachte Klemenz, was habe ich mir da eingebrockt?

Auf die Minute genau ging die Tür auf, und die Leute strömten herein. Klemenz sah sich nach Manser um, entdeckte ihn nirgends. Das passte zu ihm. Manser kam immer zu spät, auch an diesem bedeutungsvollen Tag. Wenigstens heute hätte er pünktlich sein können. Klemenz griff nach einem Taschentuch in der Westentasche, faltete es auseinander und fuhr sich damit über die Stirn. Neinsagen war noch nie seine Stärke gewesen. Er bürdete sich stets noch mehr Aufgaben auf. Der Arbeitsberg vor ihm wuchs und wuchs, und er trug die Verantwortung für die Standeskommission, die Regierung. Er hatte auch zur Wahl zum Landammann im April vor einem Jahr an der Landsgemeinde nicht Nein sagen können. Dennoch hoffte er, es würde sich bald ein Nachfolger abzeichnen, der ihn von den Pflichten ab- und erlöste. Vor allem von den Aufträgen, sich stets in der Öffentlichkeit zu zeigen und an jeder Veranstaltung dabei sein zu müssen. Dabei hatte er sich sein Amt hart erkämpft, denn für Politik interessierte er sich seit jeher. Sein Vater selig war schon Landammann gewesen, über die Jahre hatte dieser sich wählen lassen, im Zweijahresturnus zwischen regierendem und stillstehendem Landammann. Für Klemenz war es deshalb nicht bloß eine Verpflichtung, in Vaters Fußstapfen zu treten; er war es ihm schuldig. Noch am Sterbebett hatte er ihm versprochen, mit der Tradition ihrer Familie unter keinen Umständen zu brechen.

Schnell waren alle Stühle besetzt. Klemenz stieg auf das Podest und richtete das Mikrofon. Sein Blick schweifte über achtzig Menschen, die sich heute zu Ehren des Sportkletterers Heinrich Manser eingefunden hatten. Der Sechsundsechzigjährige hatte sein drittes Fotobuch herausgegeben. Ein guter Grund, um ihn zu feiern. Ausgerechnet ihn. Klemenz hatte noch eine private Rechnung offen mit ihm. Nach dessen Rückkehr nach Appenzell vor sechs Jahren hatte Manser seiner Frau Christa offensichtliche Avancen gemacht. Das hatte Klemenz bis heute nicht vergessen.

Heinrich Manser betrat endlich die Bühne. Es war, als umfinge ihn eine Aura aus leuchtenden Farben. Dieser Mann hatte ein Charisma wie kein anderer.

Klemenz winkte ihn nervös an seine Seite, hoffte gleichzeitig, dass nicht dieser das Wort ergriff und seine Vorbereitungen für die Katz gewesen wären. Manser blieb stehen, und Klemenz begann mit der Rede, nachdem er sich zweimal hintereinander geräuspert hatte.

»Wir leben in einer heterogenen und schnelllebigen Zeit. Alles muss noch rasanter, noch effizienter sein und höher hinausgehen.«

Niemand reagierte, und Klemenz dachte schon, er hätte sich in der Wortwahl vergriffen. Ein komischer Gedanke, rügte er sich selbst im Stillen. Wenn ein Volk sich in Muße und Laisser-faire auskannte, dann die Appenzeller.

»Einer, der zeit seines Lebens die Höhe gesucht hat, steht neben mir. Sehr verehrte Damen und Herren, wertes Publikum. Wir begrüßen unseren geschätzten Bergsteiger, Fotografen und …« Er zögerte, weil er Manser noch nie zu den Poeten gezählt hatte. Aber dies entschieden andere. Sein Verleger etwa, der den Lebemann in den höchsten Tönen lobte. »… Schriftsteller Heinrich Manser.«

Die Besucher applaudierten, einige unter ihnen erhoben sich von ihren Plätzen. Man huldigte ihm, dem Appenzeller Urgestein, der nach Jahren im Ausland und außerhalb seines Heimatkantons nun zurückgekehrt war, dem Mann ohne Angst, dem reichen Spross einer Großmetzgerei, dem Eigentümer eines Appenzellerhauses, dem gern gesehenen Gast in den Restaurants und Bars. Solange man von ihm profitierte, stellte man ihn auf das Podest, legte ihm eine Medaille um den Hals und ließ die Korken knallen.

Manser hob die Hände, nickte von links nach rechts und wieder zurück, bevor er sich auf den für ihn bereitgestellten Ohrensessel setzte und lächelnd weiter schwieg. Klemenz hätte sonst ein Problem gehabt. Er wollte vorwärtsmachen, die Ansage hinter sich bringen. Er hatte Hunger und freute sich auf eine Siedwurst.

»Wir sind heute zusammengekommen, um mit unserem geschätzten Freund die Taufe für sein neustes Werk zu vollziehen.« Im Moment, in dem er den Satz aussprach, fiel Klemenz seine geschwollene Wortwahl auf. Er hätte mehr Zeit darauf verwenden sollen, sich besser vorbereiten. Aber die Zeit war zu knapp gewesen. Lange Reden lagen ihm zudem nicht.

»Heinrich Manser wurde 1958 in Weissbad geboren. Schon früh entdeckte er die Liebe zu den Bergen. Bereits mit elf Jahren hangelte er sich an den Felswänden in unserem schönen Alpsteingebiet empor. Er besuchte die Primar- und die Realschule in Appenzell, weil seine Eltern in den Kantonshauptort umzogen. Nach der obligatorischen Schulzeit stieg er im Geschäft seines Vaters ein. Bis zum Tod seiner Eltern arbeitete er in deren Großmetzgerei. In jeder freien Minute übte er sich im Klettern. Er bestieg die Viertausender in der Schweiz, bezwang die Eigernordwand, ging in den Himalaya und kehrte stets gesund zurück.« Klemenz hätte ihm den Leichenwagen gewünscht. Aber nein, der Kerl war zäh. »Bis auf einen Unfall am Säntis.« Klemenz musste husten. Er hatte lange darüber nachgedacht, ob er dieses Drama ausführen wollte, entschied sich jedoch dagegen. Wenn Manser es für wichtig hielt, war es ihm überlassen, darüber zu berichten. »In den letzten fünfzig Jahren sind so manche Geschichten zusammengekommen, die Heinrich Manser in zwei Fotobüchern festgehalten hat. Heute nun präsentiert er uns sein drittes Buch, das ausnahmslos im Alpstein entstanden ist … und ich muss sagen, die Bilder und Texte haben epischen Wert.«

Klemenz machte eine Pause und warf Manser einen schnellen Blick zu. Dieser sah hinunter zum Publikum und sonnte sich eindeutig in dessen Aufmerksamkeit. Zeit, das hier zu beenden. Klemenz hatte solche Sermone noch nie gemocht und fand, diese Ansprache sei zwar nullachtfünfzehn gewesen, habe aber überhaupt nicht zu Manser gepasst. »Der langen Rede kurzer Sinn, ich übergebe somit an Heinrich Manser. Er weiß sicher mehr zu erzählen als meine Wenigkeit.«

Der Saal brach unter tosendem Beifall fast auseinander. Klemenz wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ausgerechnet diesen Lebemann musste er hofieren. Klemenz mochte ihn nicht. Er hätte die Rede gern delegiert. Aber es machte offenbar die bessere Falle, den amtierenden Landammann mit dieser Aufgabe zu betrauen als einen gewöhnlichen Innerrhoder Bürger.

Manser erhob sich. Passend zum Anlass hatte er sich ein Bergsteigertenue angezogen und es sich bestimmt von seinen Sponsoren bezahlen lassen. Bei den Reichen lernte man sparen. Gelbe Funktionshose, rotes Shirt.

»Danke. Danke.« Manser grinste in die Menge, während er seine Hände ineinanderfaltete und sie über seinen Kopf in die Höhe schwang. »Danke, ich bin gerührt.« Er wartete, bis der Applaus verebbt war und alle wieder saßen. Er drehte sich nach Klemenz um und bedankte sich für die Einführung, nannte ihn sogar »Freund«, was Klemenz übertrieben, ja sogar als Provokation empfand. »Es freut mich, seid ihr so zahlreich erschienen. Wie ihr wisst, sind Klettern und Bergsteigen meine Leidenschaft, mein Herzblut von Kindsbeinen an. Der Berg ist mein Zuhause. Ich kenne unsere Alpen und Gipfel, deren Schönheit, aber auch die Launen und Tücken. Ich bin bei klarem Wetter aufgestiegen und ebenso im Nebel, im Winter wie im Sommer. Es ist ein erhabenes Gefühl, dem Himmel und gleichzeitig der Mutter Erde so nahe zu sein.« Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, in denen er ergriffen über seine Augen fuhr. »Fotografieren und Schreiben gehören ebenso dazu. Immer wenn ich mich am Fels aufhalte, denke ich an euch, liebe Freunde.«

Was für ein Bluffsack!

»Dann nehme ich den Fotoapparat zur Hand und halte den Moment fest. Die Weite, die sich immer wieder neu zeigt, ebenso wie das Pflänzchen, das sich in der Felswand anschmiegt. Im neuen Fotoband sind viele solcher Eindrücke enthalten. Ich glaube sogar, dass mir diesmal ein ganz besonders schönes Werk gelungen ist. Ergänzt sind die Aufnahmen mit Gedanken und Gefühlen. Ich habe versucht, diese in Worte zu fassen.« Manser griff nach dem Exemplar, das neben ihm auf einem Beistelltisch lag. Er schlug die Seite mit dem gelben Post-it auf. »Wie zum Beispiel der Abend auf dem Hohen Kasten. Es war ein besonderer Augenblick, als die Sonne über dem Säntis unterging. Dieses Licht, diese Minuten der Ergriffenheit … man kann es eigentlich fast nicht beschreiben, weil es immer wieder anders ist. Jedes Mal ein Gemälde von atemberaubender Sinnlichkeit. Ich habe es dennoch probiert, für euch, die ihr heute hier seid.« Manser wartete. Im Saal herrschte eine angespannte Ruhe. »Mit der Sonne geht der Tag, und die Nacht streichelt mich. Über den Firsten liebkost Wolkenschimmer und ein Zauber dich.«

Der Applaus fiel verhalten aus. Klemenz sah sich fremdschämend um. Wer am lautesten klatschte, war einer des Kulturamtes. Es war, als würde er ein Zeichen geben, als hätte man seine Reaktion abgewartet. Endlich applaudierten auch die anderen. Ziel erreicht. Für Manser ein erquickendes Bad in seiner Selbstverliebtheit.

Gedanken in Reimform. Ha, Klemenz schmunzelte in sich hinein. Ausgerechnet Manser kam auf den poetischen Geschmack und gab sich neuerlich als Schriftsteller aus, als wäre die Schweiz nicht schon überschwemmt von solchen. Nun machte sich auch noch sein Kollege zum Affen, indem er dem Bergsteiger Bewunderung entgegenbrachte für dessen Prosa-Ergüsse. Klemenz war sich sicher, da hatte einer viel Geld investiert.

Manser verneigte sich.

»Das ist phantastisch«, sagte Klemenz und sah zur Tür. Bei der Sache war er nicht. Trotzdem musste er über seinen eigenen Schatten springen, auch mit dieser Floskel. Im Raum nebenan war das Cateringteam daran, ein Buffet aufzustellen. Wenn man sich konzentrierte, hörte man das Klappern von Besteck und Geschirr.

»Und jetzt, meine lieben Freunde«, fuhr Manser fort, »möchte ich euch jemanden vorstellen.« Er sah zur vordersten Sitzreihe, wo sich eine Blondine erhob, nicht überrascht. Es war ein einstudierter Akt.

Klemenz spürte, wie sein Kinn nach unten sackte. Die Frau hatte er noch nie zuvor gesehen. Mit Sicherheit war sie keine Einheimische. Und wie sie sich bewegte. Heidi Klum mit ihrer Vorführung der Topmodels wäre im Boden versunken, hätte sie Mansers Muse gesehen. Blond, wahrscheinlich gefärbt, was man an den dunklen Augenbrauen zu erkennen glaubte. Sie glich einer Schauspielerin, Eugster kam nicht gleich drauf, welcher.

»Darf ich dich bitten, meine Liebe?« Manser wartete, bis sie an seiner Seite stand, in einem eng anliegenden gelben Etuikleid, das farblich zu seiner Hose passte. »Das ist Aurora. Wir haben uns heute Vormittag standesamtlich getraut, und morgen Samstag feiern wir im engsten Freundeskreis.« Die Blondine verneigte sich. Klemenz fand es nur noch peinlich. Was für eine Inszenierung. »Heute aber seid ihr herzlich eingeladen, mit uns auf mein neues Buch und auf unsere Hochzeit anzustoßen. Nebenan erwartet euch ein reichhaltiges Buffet mit Käse, Mostbröckli und Brot und natürlich mit unserem Bier und dem Flauder.«

Klemenz stöhnte auf. Manser hatte ihm die Show gestohlen. Nicht zum ersten Mal. Er überlegte sich, ob er die Veranstaltung sofort verlassen sollte. Er hatte große Lust auf eine Siedwurst, die es im »Hörnli« nebenan gab. Er war im Begriff, nach der Buchvorstellung von der Bühne zu gehen, als Manser ihn zurückhielt.

»Herr Eugster, wie wäre es, wenn wir uns versöhnen?« Von Manser ging ein intensiver Duft aus, dessen Ursprung gewiss bei Aurora lag. Sie musste sich in einem teuren Parfum gebadet haben, bevor sie hierherkam und ihren Angetrauten umarmte.

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Ach, kommen Sie. Ich weiß doch, wie ungern Sie meinen Auftritt eingeleitet haben. Ich hatte heute Morgen mit der verhinderten Moderatorin ein Telefongespräch. Sie sagte, sie habe Sie schwer bearbeiten müssen, damit Sie ihren Part übernehmen. Wir sind beide Personen der Öffentlichkeit, Herr Eugster, und haben unterschiedliche Aufgaben, um unseren Verehrern gerecht zu werden. Wir sollten das Kriegsbeil endlich begraben. Damit Sie spüren, dass ich es ernst meine, lade ich Sie und Ihre Frau Gemahlin morgen zu meinem Hochzeitsfest ein.«

»So spontan?« Klemenz fiel nichts anderes ein. »Ich weiß nicht, ob Christa damit einverstanden ist. Sie kennen ja die Frauen und ihre Probleme mit der Garderobe.« Und er dachte, dass Manser Christa wahrscheinlich näher kannte, als er zugeben wollte. Wenn er sie »Gemahlin« nannte, war das ein klarer Seitenhieb. Klemenz hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht. Gute Miene zum bösen Spiel machen. Er war es sich gewohnt.

Manser holte etwas aus seiner Hosentasche. Es war eine zerknitterte Karte, die er vor Klemenz’ Augen auseinanderfaltete. »Sorry, ist die letzte Einladung. Als wäre sie für Sie bestimmt.«

Klemenz fand nicht heraus, was Manser damit sagen wollte. Eine weitere bissige Bemerkung oder ehrlich gemeinte Gefälligkeit?

»Und nun gehen wir nach nebenan und stoßen auf unsere Freundschaft an. Es wäre lange an der Zeit gewesen, uns gegenseitig das Du anzubieten. Findest du nicht auch, Klemenz? Für meine Freunde bin ich der Heini.«

***

Milagros hatte sich umentschieden: Anstatt erst am Samstagmorgen früh zu reisen, wollte sie es bereits an diesem Freitag tun. Wegen ihrer Bedenken, sie könnte sich in der Garderobe vergreifen, hatte sie alles Mögliche in den Koffer gepackt, unter anderem ein Dirndl, welches sie im Südtirol gekauft hatte, als Kaspar noch lebte. Ob die neuen Wanderschuhe dazu passten, war nicht primär ein Problem.

Nach dem Umsteigen in Luzern, Zürich und Gossau saß Milagros in der Appenzeller Bahn, die gemütlich durch die malerischen Dörfer von Ausser- und Innerrhoden fuhr. Eine hügelige Landschaft zog vorbei, Häuser und Höfe wie hingeworfen, Streusiedlungen, weidende Kühe und Bauern beim Heuen. Eine ländliche Idylle. Milagros hatte in den letzten Jahren gelernt zu entschleunigen. Darum fiel es ihr auch heute nicht schwer, den Blick aus dem Zug zu genießen. Okay, dachte sie, hier leben wäre für sie eine Herausforderung. Die Großstädte wären ihr zu wenig nahe, die mondänen Orte und Luxushotels, in denen sie gern ein und aus ging. Und Sankt Gallen mochte sie nicht.

Sie öffnete ihre Handtasche. Portemonnaie, Taschentücher, Parfumzerstäuber, Lippenstift, Puderdose, Aspirin. Sie checkte das Portemonnaie: Bargeld in Noten und Münzen, Kreditkarte, Ausweis, Bahnbillett, Halbtax-Abo. Alles da. Bislang war kein Zugbegleiter vorbeigekommen. Sie hätte schwarzfahren können. Sie befand sich allein im Abteil, was ihr recht war. So konnte sie in aller Ruhe ihren Gedanken nachhängen. Portemonnaie, Taschentücher, Parfumzerstäuber, Lippenstift, Puderdose, Aspirin. Himmel, warum hatte sie das Gefühl, etwas vergessen zu haben?

Das Hochzeitsgeschenk!

Sie hatte das Hochzeitsgeschenk vergessen. Wie hatte das passieren können? Bevor sie sich vom Taxi, das sie zum Bahnhof führte, hatte abholen lassen, hatte sie einen Briefumschlag mit tausend Schweizer Franken auf dem Küchentisch bereitgelegt. Dazu hatte sie eine Karte geschrieben, mit den besten Glückwünschen für das frisch vermählte Paar. Über die Wortwahl war sie stolz gewesen, bekundete sie doch eher Mühe damit, sich passend auszudrücken. Sie musste sich eine Alternative einfallen lassen, konnte doch nicht mit leeren Händen auf die Ebenalp fahren.

In Appenzell stiegen zwei Passagiere zu und setzten sich ausgerechnet auf die Sitze gegenüber, als wäre der Waggon bis auf den letzten Platz voll gewesen. Milagros musterte sie ungeniert. Siebzig plus, dachte sie, ein Paar, das sich mit den Jahren einander angeglichen hatte. Auf jeden Fall gingen sie zum selben Coiffeur. Graue Haare hatten beide, sie trugen je eine Brille, waren keine Kostverächter. Von Weitem sahen sie wie Geschwister aus. Vielleicht waren sie es auch, was aber die Eheringe an ihren Fingern Lügen straften.

Der Mann hatte einen Koffer im Mittelgang platziert, die Frau den Rucksack. Lächelnd wandte sie sich Milagros zu. »Grüezi, auch unterwegs?« Dem Dialekt nach zu urteilen, mussten sie von hier stammen.

»Ich bin zu einer Hochzeit eingeladen.« Was hätte sie sonst sagen sollen? Milagros wollte nett sein.

»Ach, was für ein Zufall«, sagte der Mann und tauschte mit seiner Frau Blicke. »Aber nicht etwa bei Heinrich Manser?«

Wahrscheinlich war es jetzt vorbei mit der Ruhe. Milagros war darauf und daran, aufzustehen und das Abteil zu wechseln.

Appenzell Innerrhoden hatte etwas über sechzehntausend Einwohner. Dass ausgerechnet die zwei Leute im Abteil gegenüber auch an Mansers Hochzeit fuhren, war dennoch ein Zufall. Oder war Manser hier dermaßen bekannt, dass er die halbe Bevölkerung eingeladen hatte?

Milagros blieb sitzen und rang sich zu einem Lächeln durch. »Ja, Sachen gibt’s. Tatsächlich habe ich im Gasthaus Lehmen in Weissbad ein Zimmer gemietet und werde morgen auf die Ebenalp zur Hochzeit des besten Freundes meines verstorbenen Mannes fahren.« Sie hätte sich die Zunge abbeißen mögen. Wie kam sie dazu, wildfremden Leuten ihre Pläne anzuvertrauen?

»Ach, das trifft sich gut. Wir haben ebenfalls im ›Lehmen‹ ein Zimmer reserviert«, sagte die Frau.

»Kommen Sie von hier?«, war nicht das, was Milagros hatte fragen wollen. Es gab kein Zurück. Sie befand sich inmitten einer Unterhaltung, die sie nicht gesucht hatte.

»Wir kommen aus Sankt Gallen«, sagte der Mann, »haben aber nach unserer Heirat bis vor drei Jahren in Appenzell gewohnt. Einer unserer vier Söhne lebt mit seiner Frau noch da. Den haben wir gerade besucht. Wir werden uns nach der Hochzeit ein paar Tage bei ihm einquartieren. Sein Haus bietet viel Platz.«

Milagros schaute aus dem Fenster. Von der Ansicht hatte sich nichts verändert. Die Bahn fuhr nun der Sitter entlang. Die farbigen Appenzellerhäuser mit angebauten Ställen schmückten die Hänge. Milagros sah zu einem Berggipfel, der linker Hand prominent in den Himmel ragte, aus der Ferne betrachtet wie ein Monolith mit Antenne.

Worauf hatte Milagros sich eingelassen?

»Ich bin Romy, und das ist mein Mann Ronny, wenn Sie gestatten, sind wir per Du … Rohner«, ergänzte sie. Romy grinste unverschämt in Milagros’ Richtung.

»Angenehm, Milagros.« Ronny und Romy Rohner. Nicht melodiös, eher wie ein Zungenbrecher, eine holprige Fahrt mit der Kutsche oder ein Schüttelbecher. Milagros wusste nicht, weshalb sie an den »Besuch der alten Dame« von Friedrich Dürrenmatt denken musste. An Koby und Loby.

»Ach, du bist nicht von hier?« Es schien, als verlängerte Ronny seine Ohren.

»Meine Wurzeln liegen in Spanien«, gab sich Milagros bedeckt. Sie verkniff sich ein paar spanische Sätze, die sie liebend gern melodiös zitiert hätte.

»Hasta la vista, baby.« Ronny klopfte sich mit den Händen auf die Knie. Dabei wippte seine Wampe, die er mit farbigen Hosenträgern gebändigt hatte. »Sorry, ist mir einfach so rausgerutscht.«

»Sind auch die einzigen drei Wörter, die mein Mann auf Spanisch beherrscht.« Romy sah Ronny mit einem Blick an, der weder Wut noch Erstaunen ausschloss.

Die Bahn verlor an Tempo, die Bremsen kreischten, bis die Wagen zum Stehen kamen.

»Weissbad, müsst ihr nicht auch aussteigen?« Milagros griff nach ihrem Gepäck auf der Ablage und hätte beim Herunternehmen beinahe das Gleichgewicht verloren.

»Wir fahren bis Wasserauen, weil wir bei der Talstation Ebenalp etwas abliefern müssen.« Ronny zog seine Hände zurück, die er vorsorglich ausgestreckt hatte, um Milagros aufzufangen, wäre sie gestürzt. Nun, sie wäre weich gefallen. »Von dort nehmen wir das Postauto bis zum Gasthaus Lehmen. Wir haben es im Voraus bestellt, weil es nur sporadisch dort hochfährt. Wenn du möchtest, kannst du mit uns kommen. Der Weg von hier zum ›Lehmen‹ ist lang, und bis du ein Taxi bestellt hast, kann es dauern.«

Milagros setzte sich wieder. »Und wo löse ich das Ticket?« Es war ihr unmöglich, schwarzzufahren.

»Sollte ein Zugbegleiter kommen, kannst du es im Wagen kaufen.«

Die Bahn setzte sich wieder in Bewegung.

ZWEI

Wasserauen. Letzte Station. Das gefühlte Ende der Welt, ein paar Häuser, der Schwendibach, der die Siedlung entzweite. Die Sonne hatte den Talkessel verlassen. Der Talabschluss wie der schmale Teil eines Trichters, der sich zum Berg hin öffnete. Die Schatten malten die Landschaft milchig grau. Der Himmel über den Bergen war wolkenlos. Die Gipfel hoben sich so klar von ihm ab, als hätte ein Schneider sie mit einer Schere ausgeschnitten. Gestochen scharf auch die Tannenspitzen dort, wo sie das Firmament berührten.

Wasserauen. Ausgangspunkt für viele Touren im Alpstein. Auf der Weltkarte ein Fliegenschiss und trotzdem gut besucht. Die Parkplätze waren besetzt, zurückkehrende Wanderer drängelten zur Bahn.

Milagros wusste nicht, ob sie überwältigt sein wollte. Sie zog ihren Rollkoffer über das Perron und wich den Leuten aus. Es kam selten vor, das Gepäck selbst transportieren zu müssen. In der Regel fand sie immer jemanden, der ihr dabei behilflich war. Mit High Heels kam sie längst nicht mehr so zügig voran wie vor zehn Jahren, tollpatschiger war sie geworden, was ihr Maximilian schon unter die Nase gerieben hatte.

Romy und Ronny bewegten sich, trotz ihres Gewichts, wie zwei junge Gämsen Richtung Talstation der Seilbahn. Noch im Gehen wandten sie sich zu Milagros um. »Wir sind gleich zurück. Setz dich schon mal in den Bus.« Im Gegensatz zu Milagros waren sie hier zu Hause und ließen es sie spüren.

Ich mache mich gerade abhängig von denen, ging ihr durch den Kopf. Sie sah sich um und entdeckte den gelben Bus unweit der Bahnstation. Sie zog den Rollkoffer zu dessen Schiebetür. Hinter den getönten Fensterscheiben machte sie ein Gesicht aus. Und noch ehe sie mit der rechten Hand ans Glas klopfen konnte, ertönte über ihr ein fürchterliches Knattern. Milagros starrte zum Himmel, wo ein Helikopter zur Landung ansetzte. Wie im Sturzflug sank er, die Rotoren drehten sich, vor dem Bahnhofplatz wirbelte gelber Staub auf und verwandelte ihn kurz in eine Wüste. Aus Weissbad preschte die Ambulanz mit Blaulicht heran. Milagros ließ den Henkel des Koffers los und hielt sich demonstrativ die Ohren zu. Hubschrauber und Sanitätswagen kamen fast gleichzeitig auf der Wiese gegenüber der Talstation der Ebenalpbahn zum Stillstand. Die Motoren erstarben. Wie auf Knopfdruck breitete sich eine unheimliche Stille aus. Es schien, als würde die Erde stehen bleiben. Einen Augenblick lang, als sich weder etwas bewegte noch etwas ertönte. Wie auf Knopfdruck brach das Chaos aus. Menschen stolperten durcheinander in die Nähe des Landeplatzes, als wollten sie die vordersten Ränge für das Schauspiel belegen, welches sich ihnen bot. Die Sanitäter trugen eine Bahre. Milagros konnte knapp eine Frau sehen, die man aus dem Helikopter hievte, blutüberströmt und schreiend, aber das bildete sie sich wohl nur ein.

Der Buschauffeur, ein Mann mit Glatze und zotteligem Bart, trat neben Milagros. »Bestimmt ist wieder einer runtergestürzt von den Touristen, die meinen, mit Flipflops könnten sie den Alpstein bezwingen. In diesem Sommer gab es bereits jede Menge Bergunfälle, drei davon mit tödlichem Ausgang. Meist sind es Ungeübte, jene ohne Trittsicherheit oder solche, die ihre Kondition überschätzen. Man sollte den Bergen Respekt zollen.«

»Sie machen mir Mut.« Milagros wandte sich ab und Ronny zu, der ratlos und kopfschüttelnd von der Talstation zurückkam.

»Es vergeht fast kein Tag, an dem der Helikopter nicht zum Einsatz kommt. Gestern stürzte jemand am Äscher ab. Er hatte Glück im Unglück.« Ronny drehte sich zum Chauffeur um, den er offensichtlich kannte. »Es hat einfach zu viele Leute hier.« Er hüstelte und strich sich mit der rechten Hand übers Kinn. »Zum Gasthaus Lehmen.« Er sandte Milagros einen Blick zu, während er neben sich im Menschenstrom Romy wortlos signalisierte, sie solle sich beeilen. »Sie ist neugierig wie immer. Hoffentlich renkt sie sich den Hals nicht aus.« Er lachte laut, was den Lärm des wieder startenden Hubschraubers sekundenlang in den Hintergrund rückte. Ronnys Augen folgten den sich bewegenden Rotoren. »So wie es aussieht, ist der Einsatz noch nicht beendet.«

»Warum ist der Helikopter nicht direkt zum Spital geflogen?«, wunderte sich Milagros.

»Wahrscheinlich müssen sie oben noch mehr Personen bergen.« Ronny hob die Schultern. »Willst du meine ehrliche Antwort? Ich habe keine Ahnung.«

Als Milagros den Bus betreten wollte, sah sie flüchtig Romys Schatten über die Straße huschen. Nicht wissend, was sie bei der Talstation gemacht hatte, stieg Milagros ein und setzte sich auf den vordersten Sitz, wo sie Ronny dankbar ansah. Er hatte auch ihren Koffer in die Gepäckablage geschoben und bemühte sich, einen gelassenen Eindruck zu machen. Milagros sah ihm seine Nervosität an. Wäre sie heute nicht ins Appenzellerland gefahren, hätte sie in Brienz oder Thun ein lauschiges Plätzchen gesucht, um den heißen Tag ausklingen zu lassen. Plötzlich waren diese Gedanken da, im Angesicht ihrer Furcht, sich hier im Alpstein auf unwegsamem Gelände bewegen zu müssen. Sie war nicht vorbereitet. Sie war ein spontaner Mensch und verließ sich ganz auf die Veranstalter, in diesem Fall auf Heinrich Manser. Ihm sagte man nach, er sei wie ein Steinbock in den Bergen unterwegs.

Der Chauffeur startete den Motor, als sich auch Romy endlich gesetzt hatte. Als sie vom Parkplatz fuhren, war der Hubschrauber in Richtung Seealpsee verschwunden.

»Seit 2015 ein Artikel im ›National Geographic‹ auf den Äscher aufmerksam gemacht hat und dieser in der Folge auf Instagram viral gegangen ist, pilgern die Unterländer zu Tausenden hierher«, sagte Ronny. »Im Sommer gibt es fast täglich eine Völkerwanderung zum spektakulärsten Gasthaus der Schweiz. Dass Heini die kirchliche Trauung im Wildkirchli abhalten will, passt zu ihm, zeigt aber auch, wie egal ihm die Gäste sind. Er denkt nur an sich. Bereits der Abstieg von der Ebenalp zum Äscher ist mit einigen Tücken verbunden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die ältere Generation das mitmacht.«

»Ich zähle mich auch zur älteren Generation«, erwiderte Milagros unüberlegt und hoffte, Ronny würde ihr, was ihr Aussehen und Alter betraf, ein Kompliment machen.

Dieses blieb aus, derweil Romy sie mit zusammengekniffenen Augen musterte. »Du gehst auch auf die siebzig zu, wenn ich mich nicht täusche. Aber du hast dich gut gehalten.«

Milagros ließ ihr die Freude und erwiderte nichts darauf. Sie fand die Bemerkung dreist. Sie kannte Romy nicht, die halbe Stunde ihrer Bekanntschaft reichte nicht aus, um sich ein Bild von der jeweils anderen zu machen. Vorsicht war geboten. Die Frau erschien ihr suspekt. Mit ihrer Gutgläubigkeit war Milagros schon oft ins Fettnäpfchen getreten. Sie wandte ihr Gesicht der Fensterscheibe zu und widmete sich der Landschaft. Die Strecke von der Abzweigung nach Weissbad und bis zum Gasthaus zog sich in die Länge. Die Straße stieg stetig an, führte an einsamen Höfen vorbei und durch Waldabschnitte.

»Wir werden ab vom Schuss übernachten«, sagte Ronny, als Milagros zu ihm hinübersah. »Aber du wirst das Gasthaus mögen. Nirgends ist es ruhiger.«

»In welchem Verhältnis steht ihr eigentlich zu Heini Manser?«, fragte Milagros, während sie Romy nicht aus den Augen ließ, aber so tat, als schaute sie an ihr vorbei ins Grüne.

An Romys Stelle beantwortete Ronny die Frage. »Ich war Chef in der Fleischerei seines Vaters. Als Manser senior starb, verkaufte Heini den Betrieb an einen deutschen Konzern. Es konnte ihm nicht schnell genug gehen. Über zweihundert Angestellte standen auf der Straße. Ich hatte Glück und wurde von den Deutschen übernommen. Aber den meisten anderen ging es beschissen. Viele hatten Familien, Kinder, ein Haus, das es abzubezahlen galt. Die Stimmung gegenüber Heini war miserabel. Er tat so, als ginge ihn das alles nichts an. Ein Familienvater hat sich sogar das Leben genommen, weil er mit der Situation nicht klarkam. Ich hatte mit Heini das Gespräch gesucht, redete aber gegen eine Wand. Ich war stinkesauer auf ihn …«

»Trotzdem fährst du zu seiner Hochzeit?«

»Er hat uns eingeladen«, sagte Romy. »Vielleicht will er Wiedergutmachung.«

Milagros konnte es nicht nachvollziehen.

»Heini hat die seltene Gabe, seine Fehler unter den Tisch zu kehren, auch wenn er große Schuld an den Tragödien trägt.« Ronny seufzte und wies auf das Haus, das rechter Hand auftauchte. »Wir sind da.« Von welchen Dramen hier die Rede war, ließ er offen.

***

»Werden wir uns weiterhin sehen?«

»An mir soll es nicht liegen.« Filippo grinste vor sich hin. »Mutig von dir, vor deiner kirchlichen Trauung zu mir zu kommen.«

Aurora, seit heute Mittag Manser mit Nachnamen, saß auf dem Barhocker in der Wohnung ihres langjährigen Liebhabers. Sie trug nur einen Slip und ein seidenes Top. Ihre Brüste hoben sich zart unter dem Stoff ab. »Heini merkt nicht einmal, wenn ich nicht da bin. Er ist mit der Buchvernissage beschäftigt, mit seinen Fans und der Presse. Er sonnt sich gern in der Meute. Und ich hole meinen Polterabend nach.«

Filippo hob seine Augenbrauen. »Warum hast du ihn eigentlich geheiratet?«

»Das gehört zu seinem Plan.«

»Wohl eher zu deinem.« Filippo holte zwei Gläser von der Ablage über der Theke und die geöffnete Sektflasche aus dem Kühlfach und schenkte ein. »Manser ist ja nicht blöd. Er wird dir früher oder später auf die Schliche kommen.« Er reichte Aurora ein Glas. »Ich möchte mir einfach nicht die Finger verbrennen. Cheers, auf dich, auf meine Liebe.« Er nahm einen Schluck. »Du solltest endlich sittsam werden.«

»Ich bin sittsam.« Sie ließ ihr dunkelstes Lachen vernehmen. »Ich habe einen Mann, der mich mit Geld beglückt, einen, der mich im Bett befriedigt, einen besten Freund und einen, der mit mir meine kulinarischen Neigungen teilt.« Sie griff an ihre Brüste, wusste, wie sehr sie Filippo damit erregte. »Und diese vier sollten einander nicht kennen.«

»Ich sehe nur zwei.« Er schmunzelte. »Irgendwann wird dein Lebenswandel dir zum Verhängnis werden.«

»Bis anhin hat er Spannung in mein Leben gebracht. Was immer geschieht, ich möchte unsere Schäferstündchen nicht missen. Warum soll man etwas beenden, was so gut funktioniert hat? Heini ist von meiner Treue überzeugt. Vielleicht will er das andere gar nicht wissen. Bei ihm fühle ich mich geborgen.«

»Bei diesem Vermögen wäre mir auch wohl.« Filippo rümpfte die Nase. »Ehrlich gesagt hat mich deine Heirat betroffen gemacht. Wonach strebst du? Nach Reichtum? Du befindest dich in den besten Jahren und verguckst dich in einen Rentner.«

»Es ist Liebe.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Heini ist ein Freigeist. Das schätze ich an ihm. Er ist humorvoll, mit einer Prise Selbstironie, und er lässt mich leben. Er hat seine Hobbys, ich habe meine.« Aurora hob ihre Hände, als sie Filippos wütenden Blick sah. »Nicht das, was du meinst.«

Filippo lebte von der Hand in den Mund. Er hatte den Beruf als Lehrer aufgegeben und widmete sich fortan dem Schreiben, nachdem man sein Talent – seine Worte – bei einem Schreibwettbewerb entdeckt hatte. Er hatte Glück gehabt, als sich ein kleiner Schweizer Verlag für seinen Text interessierte und ihn als zweihundertseitiges Buch herausbrachte. Das war vor acht Jahren gewesen. Filippo Nostrano, sein Pseudonym. In Wirklichkeit hieß er Marcel Gürke und stammte aus dem Emmental, wo er aufgewachsen war, und bemühte sich seit jeher, den Spuren einiger berühmter Dichter zu folgen. Doch sein Fußabdruck glich bislang dem einer Kakerlake. Unscheinbar. Die Muse hatte ihn nicht mehr geküsst. Er schrieb Kolumnen und verdiente sich mit Literatur-Blogs seine Brötchen und, was Aurora längst vermutete, als Begleiter einsamer Frauen.

»Warum bin ich eigentlich nicht eingeladen?«

Aurora lachte. »Ist das dein Ernst? Ich will meinen Mann nicht provozieren. Er könnte auf falsche Gedanken kommen.«

»Er kennt mich ja, ist mir noch etwas schuldig. Aber das scheint er vergessen zu haben.« Filippo schenkte sich den Rest des Sekts ein. »Du könntest mich morgen als Überraschungsgast mitnehmen.«

»Als Pausenclown?«

»Als Hochzeits-Crasher.«

»Diese Rolle würde dir bestimmt stehen.« Aurora schüttelte den Kopf. Ihre lange Mähne streifte Filippos Gesicht. »Es werden nur ausgesuchte Gäste anwesend sein. Heini hat den Rest seiner Bekannten heute zum Apéro eingeladen. Morgen feiern wir im engsten Familien- und Freundeskreis.« Plötzlich hatte sie Bedenken. Es fühlte sich falsch an, was sie hier veranstaltete. Trotz der Niederlage, die ihr widerfahren war. Nachdem Heini sie kurz dem Publikum präsentiert hatte, hatte er sich allen anderen Leuten gewidmet und sie wie eine heiße Kartoffel fallen lassen. Aurora war fortan in seinem Schatten geblieben. Nach einer Stunde vergeblicher Mühe, wenigstens an Heinis Seite sein zu können, hatte sie trotzig wie ein Kleinkind den Saal verlassen und war zu Filippo geflüchtet. »Wir sollten das hier beenden.«

»Unsere Freundschaft?« Filippo kippte den Sekt ex.

»Unsere sexuellen Abenteuer.«

»Abenteuer nennst du es? Wir haben seit zehn Jahren eine innige Beziehung. Vorher hat es noch anders getönt. Uns verbindet zu viel, als dass wir sie mir nichts, dir nichts abbrechen können. Ich habe deine Höhen und Tiefen miterlebt, dich in den Momenten der Trauer getröstet, habe dich beraten und bin dir zur Seite gestanden, als alle anderen sich von dir distanzierten. Ich habe dich verwöhnt und dir die schönsten Orgasmen beschert. Gratis und franko«, schob er nach.

Aurora wandte sich beschämt ab. Sie getraute sich nicht, Filippo in die Augen zu sehen. »Das ist Jahre her.«

»Was?« Filippo packte sie an den Schultern. Wahrscheinlich unbeabsichtigt tat er ihr ein wenig weh. »Sag das noch einmal. Eben hast du es genossen, als ich dich auf den Gipfel trieb.«

»Wir müssen es beenden.« Aurora vermied es noch immer, ihm ihr Gesicht zuzuwenden. »Ich bin in eine neue Lebensphase getreten, in diejenige mit Heini. Von wegen sittsam. Vielleicht sollte ich meinen Lebenswandel tatsächlich ändern.«

»Deshalb bist du hier. Du willst Schluss machen, hast dich nicht getraut, es mir direkt ins Gesicht zu sagen, umschreibst es stattdessen, machst mir erneut Hoffnung, dass zwischen uns alles bliebe wie bis anhin. An deinem Hochzeitstag.« Filippo rümpfte angewidert die Nase. »Ein Abschiedsfick.«

»Nein, du siehst das falsch.« Aurora versuchte ihn zu beschwichtigen. »Wir können doch Freunde bleiben.«

»Freunde, verdammt. Dann kann ich ebenso ein Bild von dir aufstellen.« Filippo fuchtelte herum. »Weißt du, was du bist?«

»Ich kann mir in etwa vorstellen, was du mir an den Kopf werfen möchtest. Du brauchst es nicht zu sagen. Im Übrigen habe ich mich wegen deiner zahlreichen anderen Bettgeschichten auch nie beschwert.«

***

Die rot-weiß karierte Bettdecke sah aus, als hätte das Zimmermädchen sie mit einem Bügeleisen glatt gestrichen. Die Miniaturflasche »Appenzeller« auf dem Kopfkissen kam Milagros ein wenig suspekt vor. Sie wusste nicht, ob sie den Alpenbitter vor oder nach dem Zähneputzen trinken sollte. Vielleicht war es einfach ein Willkommensgeschenk, besser als Schokolade, die in einem heißen Sommer wie diesem schmolz, bevor man sie aus dem Silberpapier geschält hatte.

Das Zimmer war gemütlich und für Milagros eine Herausforderung, was die Ausmaße des Schranks und der Kommode betraf. Es gab nicht genügend Platz für ihre Roben. Sie hatte wieder einmal zu viele Kleider mitgenommen, genug für zwei Wochen, wo sie bestenfalls zwei Nächte zu bleiben gedachte. Und sie hatte die falsche Garderobe eingepackt. Das Abendkleid mit der Stola war hier fehl am Platz. Und für morgen nahm sie sich vor, den Wünschen des Hochzeitspaares zu entsprechen – folkloristisch-sportlich, oder wie war das schon wieder? Großer Gott, sie hätte sich gern mit einem anderen Problem auseinandergesetzt. Sie betrat das Badezimmer. Vom Fenster aus blickte sie über sattgrüne Wiesen und Bäume, die im Wald miteinander verwoben schienen, und vernahm das abendliche Konzert der Vögel. Der dezente Geruch nach Kuhdung lag in der Luft, und Milagros dachte an Federica, die im Drachenried bei Stans einen kleinen Bauernhof betrieb. Na ja, für das Landleben musste man geboren sein. Sie zog sich aus, ging unter die Dusche und ließ kaltes Wasser laufen, um ihren erhitzten Körper zu erfrischen. Die Lebensgeister kehrten mit jedem kühlen Strahl mehr zurück. Eigentlich war es hier ganz passabel. Luxus, ging Milagros durch den Kopf, hatte nichts mit Reichtum zu tun. Luxus war es, hier zu sein, fernab der abgasverschmutzten städtischen Ballungszentren, der Hektik von früh bis spät, die sich bis in die Nächte ausdehnte. Luxus war es, zum Wasserfall zu wandern, der sich unweit des Gasthauses befand, und sich dort von der Gischt benetzen zu lassen. Wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel einfalle, hatte Romy erzählt, sehe man einen Regenbogen.

Milagros stellte das Wasser ab, hangelte nach dem Frotteetuch und rubbelte sich trocken. Nackt stellte sie sich vor den Spiegel und betrachtete sich skeptisch. Die ausufernden Dinner der letzten Jahre hatten Spuren hinterlassen, die sie auch mit der besten Kosmetik nicht mehr wegbrachte. Und sich in einem Fitnesscenter totzurackern und sich von gut trainierten jungen Frauen anstarren zu lassen, hätte sie in ihrem Hochmut gekränkt. Sie war eine Vollblutfrau, den sinnlichen Genüssen nicht abgeneigt. Es gab genug Hungerhaken in ihrem Umfeld, die beim leisesten Windstoß umfielen.

Es klopfte. Milagros schlang sich das Frotteetuch um und öffnete. Vor der Tür standen Romy und Ronny, fein herausgeputzt. Sie in einem sommerlichen ärmellosen Kleid, welches ihre flatternden Oberarme betonte, er trug eine enge Hose, über deren Bund die Wampe schwabbelte. Das Hemd stand ihm bis zur Brust offen. Er präsentierte schamlos seinen angegrauten Pelz. Zum Glück blieb Milagros der Anblick einer Goldkette erspart.

»Ich bin fast so weit. Wollt ihr unten auf mich warten?« Milagros hatte kein Bedürfnis, ihre neue Bekanntschaft ins Zimmer zu lassen. Romy traute sie es durchwegs zu, sich umzusehen und womöglich den Inhalt des Koffers zu begutachten. Noch wartete dieser darauf, ausgepackt zu werden.

»Wir haben draußen auf der Terrasse einen Platz reserviert.« Ronny hinderte seine Frau offensichtlich daran, einen Schritt vorwärtszumachen. »Denkst du, du bist in fünf Minuten fertig?«

Fünf Minuten. Dabei hatte sich Milagros noch nicht einmal geschminkt, geschweige denn etwas Passendes angezogen. Sie schloss zur Zustimmung ihre Augen.

Nachdem sich Rohners verabschiedet hatten, durchsuchte Milagros den Koffer und entschied sich für eine schlichte Hose und einen Kasack, der ihre überschüssigen Pfunde kaschierte. Sie trug etwas Lippenstift auf, wuschelte ihre Haare in Form und griff nach der Louis-Vuitton-Tasche, die ihr etwas von dem Glamour von früher zurückbrachte. Sie nahm das Schnapsfläschchen vom Kopfkissen, schraubte den Deckel auf und trank es in einem Zug aus. »Prost!« Milagros hielt das leere Fläschchen gegen die Decke. »Prost, Kaspar. Auf dich und deinen Freund Heini und auf alles, was kommt.«

Gut gelaunt machte sie sich auf den Weg ins Erdgeschoss und von dort nach draußen.

Ein Holzgeländer trennte die Terrasse von der Straße. Es herrschte eine gemütliche Atmosphäre. Alles döste in warmen Rot- und Grüntönen. Farblich abgestimmte Sets und Servietten machten die Tische frisch und fröhlich.

Blickfang waren gläserne Vasen mit Wiesenblumen, von denen ein dezenter Geruch ausging, der an Kräuter erinnerte und an laue Sommerabende in der Kindheit. Milagros steuerte den hintersten Tisch an, wo Romy und Ronny sich der Speisekarte widmeten.

Kaum hatte sich Milagros gesetzt, brach ein Wortschwall aus Romy heraus. »Hast du es schon gehört? Es gab eine Tote in der Nähe der Meglisalp. Nachdem die eine Frau mit dem Helikopter geborgen werden konnte, kam für ihre Begleitung jede Hilfe zu spät. Sie waren auf dem Weg über den Unterstrich zum Seealpsee, als sie aus unerklärlichen Gründen hinunterstürzten.« Sie legte die Speisekarte nieder. »Sie waren beide Heinis Gäste.«

Milagros griff seufzend nach der Karte. Sie wedelte diese vor ihrem Gesicht wie einen Fächer, bis die aufgetretene Hitze sich milderte. »Dann wird die Hochzeit jetzt wohl abgesagt.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, und sie überlegte sich, was sie in dem Fall morgen Samstag unternehmen könnte. Sie sah sich um. Die Gäste waren gemischt. Eine Familie mit drei Kindern, die amüsiert die Menus für die Kleinen studierte, sechs ältere Frauen im Wandertenue, die vor dampfenden Caquelons saßen und Brot ins Käsefondue tunkten, ein junges Paar, das einer Flasche Prosecco frönte.

Romy ließ nicht lange auf eine Antwort warten. »Dann kennst du Heini nicht. Wegen einer Toten und einer Schwerverletzten darf doch sein Fest nicht scheitern.« Sie wandte sich an ihren Mann. »Du hast doch mit ihm gesprochen. Was hat er gesagt?«

»Es bleibt, wie es ist. Die Party findet statt.« Ronny griff sich an die Stirn, wo eine einsame Falte zum Vorschein kam.

Milagros bekundete mit dieser Bemerkung Mühe. »Ist das nicht pietätlos?«

»Er wird sicher Ersatz finden«, fuhr Ronny ihr ins Wort.

»Na ja, du wirst seinen Charakter bald kennenlernen«, ergänzte Romy. »Aber, widmen wir uns dem Essen. Ich habe einen Mordshunger. Ändern können wir eh nichts. Es ist, wie es ist.« Sie wandte sich an Ronny. »Hast du den Wein schon ausgesucht?«

Eine der Serviceangestellten kam zum Tisch, als hätte sie die Bemerkung gehört. Sie trug Jeans und ein Edelweiß-Hemd, lächelte, als hätte sie es antrainiert. »Haben Sie schon etwas gefunden?« Sie sah in die Runde. »Oder darf ich etwas empfehlen?«

Es entstand eine heftige Diskussion darüber, was man essen würde, ob Fleisch, Fisch oder Fondue. Romy wollte die Kalorien gezählt haben. Sie behauptete, seit einer Woche zu fasten, worauf Ronny sie auslachte. »Das kannst du nach dem Hochzeitsfest tun. Aber so, wie ich dich kenne, versickern deine guten Vorsätze sowieso im Sand.«

Romy schwieg beleidigt, was der harte Zug um ihren Mund ausdrückte.

Schließlich entschieden sie sich als Einstieg für ein Mostbröckli-Carpaccio und zur Hauptspeise ein Rinds-Entrecôte, mit extraviel Kräuterbutter, und eine Flasche Appenzeller Blauburgunder.

»Immer der gleiche.« Romy zog die Stirn kraus und musterte Milagros. »Welche Präferenzen hast du?«

»Ich schließe mich euch an.«

Der Serviceangestellten schien das Lächeln angeboren zu sein. Sie wandte sich um und ging mit trippelnden Schritten zum Eingang zurück. Ronny sah ihr hinterher.

»Renk dich wieder ein.« Romys Mundwinkel bewegten sich nach unten, bevor sie sich wieder Milagros widmete. »Wo sind wir stehen geblieben? Ach ja, bei der Toten am Seealpsee. Nur per Zufall haben wir davon erfahren, dass auch sie ans Fest geladen war.«

»Heini muss die Feier annullieren.« Für Milagros ergab nur diese Option einen Sinn. Andererseits war alles organisiert. Aber sie schätzte ihn pietätvoll ein.

»Mit Sicherheit nicht.« Ronny wiederholte, dass Heini sein Fest mit Bestimmtheit nicht annullieren würde.

Für Milagros war es nicht nachvollziehbar: Weshalb folgten die Rohners der Einladung, obwohl sie von Heini wenig bis gar nichts hielten? War es die Neugier? Möglicherweise hatte Heini keine Ahnung, wie seine Freunde und Bekannten über ihn dachten. Er selbst glaubte wohl nur an das Gute im Menschen, oder er war ganz einfach ein Ignorant.

Die Serviceangestellte brachte die Getränke. Eine Weile vernahm man bloß das Eingießen von Wein und Mineralwasser, welches das dezente Palavern der Gäste übertönte.

Als die Frau verschwunden war, nahm Milagros den Faden wieder auf. »War sie eine Verwandte von ihm?«

»Oh nein.« Ronny reckte den Hals. »Soweit wir wissen, eine ehemalige Freundin. Früher gingen sie oft miteinander auf Bergtouren. Heini hat sich im Gegensatz zu Lydia gut gehalten. Sie war gebrechlich geworden. Ich glaube, das wurde ihr heute zum Verhängnis. Wollte wohl etwas beweisen. Das hat sie jetzt davon.«

»Ich sag’s nicht gern«, insistierte Romy. »Wir sind in Appenzell aufgewachsen, aber die Berge hier sind nichts für unsichere Wanderer. Der Alpstein fordert Gewandtheit. Wer spazieren will, soll das gefälligst in der Rheinebene tun.«

»Ich frage mich, weshalb Heini uns alle zum Wildkirchli eingeladen hat.« Milagros hob ihr Weinglas und prostete Ronny zu. »Weißt du es? Der Abstieg von der Ebenalp hat seine Tücken, deine Worte, oder?«

»Heini mochte schon immer das Extreme.« Ronny setzte das Glas an die Lippen, schlürfte den Wein und tat so, als verstünde er etwas davon. Er schluckte, nickte und rühmte den feinen Tropfen. »Zudem mag er es, wenn die Leute nach seiner Pfeife tanzen.«

***

Heinrich hatte einen Dämpfer bekommen, als er vom Tod seiner Kollegin Lydia Schläpfer erfahren hatte. Warum, zum Teufel, hatte sie heute diese Wanderung machen wollen? Und ausgerechnet diesen gefährlichen Abstieg zum Seealpsee. Sie hätte auch den einfacheren Weg wählen können. Vor einem Jahr war sie schon mal gestürzt und hatte sich dabei den linken Arm gebrochen. Dies hätte eine Warnung sein sollen. Von diesem Unfall hatte sie sich nur langsam erholt. Ihr Mann hätte sie davon abhalten sollen. Keine Ahnung, was er sich dabei gedacht hatte. Die Hiobsbotschaft hatte Heinrich nicht von ihm persönlich erhalten, was ihn etwas irritierte, waren doch Lydia und Kurt als seine engeren Gäste zur Hochzeitsfeier eingeladen.

Das Smartphone auf dem Tisch klingelte. Heinrich griff danach, fuhr über den Touchscreen und meldete sich, ohne sich zu vergewissern, wer anrief.

»Kurt. Ich nehme an, du weißt es schon.«

Heinrich fuhr zusammen. Der Anruf war ihm unangenehm, zumal er nicht wusste, wie er sich Schläpfer gegenüber verhalten wollte. Aber mit seinem Anruf hatte er beim besten Willen nicht gerechnet. Um diese Zeit befand er sich im Stall beim Melken. »Ich hätte mich gleich bei dir gemeldet. Jetzt bist du mir zuvorgekommen. Schrecklich, was passiert ist. Mein herzliches Beileid. Mir fehlen die Worte.«

»Erspar dir diese Floskeln.« Schläpfer schniefte, ließ ein paar Sekunden verstreichen, in denen er nichts sagte, weil ihn wahrscheinlich die Emotionen überwältigten. Seine eins neunzig und die hundert Kilo auf den Rippen, seine grobschlächtige Natur und der nicht zimperliche Umgang mit seinen Mitmenschen versteckten zwar seine sensible Seele, aber Heinrich machte er nichts vor.

Heinrich räusperte sich. »Es tut mir leid.«

Schläpfer schien sich gefasst zu haben. »Sie wollte unbedingt dort runter. Ich hatte sie gewarnt. Ihre Freundin, die sie begleitete, ist nicht sportlich genug. Verdammt noch mal! Sie hat sich beim Sturz einen Halswirbel gebrochen. Man operiert sie gerade, was ich von ihrem Mann erfahren habe … aber das ist nicht der Grund, weshalb ich dich anrufe.«