Biberbrugg - Silvia Götschi - E-Book

Biberbrugg E-Book

Silvia Götschi

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn Phantasien zum tödlichen Spiel werden. Ausgerechnet am Güdelmontag wird auf dem Klosterplatz in Einsiedeln die schlimm zugerichtete Leiche einer jungen Frau gefunden. Valérie Lehmann und ihr Team stehen vor einem Rätsel, denn niemand vermisst das Todesopfer. Als man einen Tag später in unmittelbarer Nähe des Sicherheitsstützpunkts der Schwyzer Polizei eine weitere Leiche aus der Alp birgt, gerät Valéries Leben aus den Fugen. Fast zur selben Zeit schlägt das Schicksal um ihren Sohn Colin erbarmungslos zu. Wird es Valérie gelingen, einen kühlen Kopf zu bewahren, oder gibt sie den Kampf auf?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 516

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Prisma/Gerth Roland

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-211-6

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Gewalt ist die letzte Zuflucht des Unfähigen.

Das große Auge starrte ihn an, er starrte zurück, und dann ging alles sehr schnell. Sein Schrei blieb ihm im Hals stecken. Mit letzter Kraft hob er die Hände, bevor er den Schmerz spürte. Den Schmerz in den Armen, im Rumpf, in den Beinen. Kein Intervallschmerz; er war permanent da, als würde ihm jemand eine Lanze in die Brust stechen und gleichzeitig den Kopf in den Schraubstock klemmen und den Unterkörper entzweien.

Er verlor das Bewusstsein.

Als er erwachte, war das Auge noch immer da, schwarz und rund. Wenn er sich konzentrierte, sah er einen Teil seines Gesichts auf dessen Linse sich spiegeln. Vielleicht war es Einbildung. Er hörte ein Surren, vermochte sich nicht zu erklären, woher der Ton kam. Es gelang ihm nicht, den Kopf zu drehen. Jede Energie schien ihn verlassen zu haben. Und intensiv jagte ein Feuer durch ihn, das ihn betäubte.

In seiner Erinnerung lag er im Bett. Alles um ihn war weiß, steril, und es roch seltsam nach einer chemischen Substanz. Er wusste nicht, wo er diesen Geruch schon wahrgenommen hatte. Leise Stimmen, deren Wortlaut er nicht verstand. Eine gelbe Tür, das seltsame Gestell zu seiner Linken. Er war doch im Spital gewesen.

Alles weg.

Der Schmerz war geblieben. Und die Angst.

Was geschah mit ihm?

Um ihn war es dunkel, und er nahm alles verschwommen wahr. Konturenlos auch der Raum, in dem er lag. Wo befand er sich? Da war dieser Schwindel, das Gefühl zu schweben, wenn bloß der Schmerz nicht gewesen wäre.

Niemand da. Trotzdem meinte er, beobachtet zu werden. Von dem einen Auge, von tausend Augen. Er schnappte nach Luft. Sie ließen ihn im Stich. Wieder versuchte er, den Kopf zu drehen. Es gelang ihm endlich, allein durch seine Gedanken. Plötzlich war auch die Kraft wieder da. Er musste sich wehren, sich aufsetzen, durfte das, was er gerade erlitt, nicht einfach hinnehmen.

»Was macht ihr mit mir?«

Er hörte sich selbst röcheln, und es glückte ihm, die Beine über eine Kante zu heben. Das hatte er bis anhin nicht mehr tun können. Seit Wochen nicht mehr.

Er lag in einem fremden Bett. Das sterile Weiß war verschwunden, die Stimme weg, die gelbe Tür, das Gestell. Der Geruch war ein anderer.

»Ich will raus!«

Er suchte nach einem Griff, touchierte eine Stange, klammerte sich an ihr fest, zog sich auf und wusste nicht, ob es so war.

Die Gedanken produzierten Bilder, die er so nicht kannte. Etwas Helles über ihm, dort in der Zimmerecke. Starrte ihn jemand an? Oder noch immer?

Das schwarze Auge, ein Zyklop?

Er glaubte zu halluzinieren. Hatte man ihm eine berauschende Substanz verabreicht?

Aber da war niemand außer diesem Auge.

Wieder wogte eine Welle des Schmerzes heran. Ein unerträgliches Leiden. Er schlug um sich, schaffte es endlich, sich ganz über die Kante zu bewegen wie eine Echse über ein Stück Baum. Das hatte er einmal in einem Film gesehen. Sie hatte die Farbe gewechselt, er seine Identität. Er spürte etwas Hartes, Glattes. Es musste der Boden sein. Bestimmt würde er es schaffen, aus dem Gefahrenbereich zu kommen.

Einen Meter, zwei. Er rutschte aus, schlug auf, riss etwas mit sich, wusste nicht, was es war.

Er lag da, fühlte sich hilflos wie ein ausgesetztes Kind. Dabei war er einmal stark gewesen, ein richtiger Kerl, eine Respektsperson, der man an den Lippen hing.

Das Auge starrte ihn an.

EINS

Von Osten her schob sich ein blasses Blau über den Himmel. Das Dorf schlüpfte aus einem ruhigen Schlaf. Enthusiastisch begrüßten die Vögel den Morgen mit ihrem Konzert. Die Temperaturen lagen über dem Nullpunkt, und ein feines Lüftchen wehte über das Feld.

Um halb acht holten Livio und Silvano den Wagen aus der Tenne. Es gab noch ein paar Kleinigkeiten zum Anbringen. Bei der Treppe am Wagen fehlten zwei Tannen und an der Tür zum Gartenhaus zwei beschriftete Messingschilder, welche sie erst spät am Abend fertiggestellt hatten. Sie waren stolz auf ihre Arbeit, rechneten sie doch damit, am diesjährigen »Sühudiumzug« aus der Masse zu stechen.

Livio sah skeptisch nach oben, als er das Tor zur Tenne aufschloss. »Was meinst du, wird Petrus heute die Gießkanne drinnen lassen?«

»Siehst du irgendwo Wolken?«, erwiderte Silvano. »Ich denk nicht, dass es regnen wird.«

»Ich bin dafür, den Plastiküberzug mitzunehmen. Für alle Fälle. Wäre doch schade um die tollen Dekorationen.«

»Und wie willst du das bewerkstelligen? Die Leiter am Wagen installieren? Ohne Leiter können wir die Plane nicht anbringen. Aber die Leiter hat definitiv keinen Platz. Nicht einmal im Wageninnern.«

»Wollen wir es ausprobieren?«

»Nein!«

»Erinnerst du dich an letztes Jahr?«, fragte Livio, während er den gebauten und geschmückten Wagen aus der Distanz noch einmal ansah. Den Traktor hatten sie bereits angekoppelt. Nun mussten sie damit nur noch über die schmale Zufahrt balancieren. Die Achse mit den Reifen am Wagen war fast so breit wie die Brücke. Es würde ein kniffliges Unterfangen werden.

»Und ob, es war schön bei frühlingshaften Temperaturen, und das Mitte Februar.«

»Heuer wird das Wetter krasser, du wirst sehen. Da sind wir mit unserem Thema goldrichtig. Sommerliche Gartenidylle wie in den Schweizer Schrebergärten, und das Anfang März. Fährst du und ich schaue, oder fahre ich, und du passt auf den Wagen auf?«

Livio war nicht wohl bei dem Gedanken. Würden sie es schaffen, den Wagen unversehrt auf die Straße zu bringen? »Wir hätten das bereits gestern Abend tun sollen, als wir mehr Zeit hatten. Was, wenn es schiefgeht?«

»Hey, wird es nicht. Es ist unsere Jungfernfahrt, hast du selbst gesagt. Warte mal, ich werde mit dem Handy ein paar Fotos machen.« Silvano holte sein Smartphone hervor und lichtete den Wagen aus verschiedenen Perspektiven ab.

»Na klar, solange der Wagen ganz ist.« Livio ging am Traktor vorbei. Er wusste, wenn beim kleinsten Schwenker eines der Wagenräder über den Rand gelangte, würde das Zurücksetzen schwierig sein, und man durfte sich deshalb von Anfang an keinen Fehler erlauben. »Auf geht’s.«

»Wie du willst.« Silvano murmelte etwas vor sich hin. »Hast du die Tannen?«

Livio ging zum Wagenende. »Ich stecke sie gleich in die Vorrichtung. Die Messingschilder werde ich später anbringen. Wir sollten uns beeilen, sonst werden wir nicht pünktlich auf dem Klosterplatz sein.«

Livio und Silvano mochten es, sich als Frauen zu verkleiden, ganz zum Leidwesen ihrer Mutter, die fand, das sei sexistisch und die Fasnacht keine Ausrede für solcherlei Auftritte. Vater hingegen meinte, es sei ein lustiges Thema. Beide trugen einen fleischfarbenen, weiblich üppig geformten, mit Tüchern ausgestopften Overall. Darauf hatten sie einen Bikini genäht. Eine blonde Perücke umrahmte eine Maske mit Schmollmund und langen Wimpern.

»Ich schwitze schon jetzt wie ein Bär«, beklagte sich Silvano und schwang sich auf den Traktor. Er setzte sich auf den Sitz, schob Maske und Perücke auf und startete den Motor. Er drehte den Kopf nach hinten. »Bist du ready?«

»Ja, alles okay.« Livio hatte die Tannen befestigt und die Messingschilder in seine Siebziger-Jahre-Strandtasche gesteckt, die er auf dem Dachboden gefunden hatte. Ein Überbleibsel aus Mutters Jungmädchenzeit. Für das fasnächtliche Sujet hatte es großer Phantasie und Geduld bedurft, bis alles zusammengetragen war. Mit dem Aufbau des Wagens hatten sie nach den Sommerferien im letzten Jahr bereits begonnen und in jeder freien Minute daran gearbeitet. Sie hatten mit Schaltafeln ein Gartenhaus auf einen flachen Ladeanhänger gebaut und mit einem Schrägdach versehen. Allein die Ziegel hatten ein beachtliches Gewicht. Zwei Fenster, eine Tür, sogar einen Kamin hatten sie angebracht. Um das Haus hatten sie mit Bäumchen, Plastikpflanzen, Gartengeräten und einem Vogelhaus dekoriert. Im Wageninnern gab es zwei Sitzbänke und einen Tisch, auf dem mit Kaffee gefüllte Thermosflaschen in einem Harass bereitstanden. Der Ausschank für die Zuschauer. Dazu würde es Kuchen geben. Es war Silvanos Idee gewesen. Er meinte, mit Speck fange man Mäuse oder die Zeitungsreporter, die an einer Fasnacht wie dieser in Einsiedeln dabei waren. Die würden bestimmt ein Foto von ihnen machen.

»Jetzt ganz langsam auf die Brücke.« Livio sprang über eine Mauer auf ein Podest und von dort auf den Vorplatz unterhalb der Tenne. Von da aus hatte er eine gute Sicht auf das Gefährt.

»Schneller geht sowieso nicht.« Silvano fuhr an. Zentimeter um Zentimeter schob sich der Wagen über die Brücke. Einen halben, einen, zwei Meter nach unten. »Verdammt!« Silvano bremste ab. »Der Wagen mit dem Gartenhaus stößt zu stark. Der Traktor wird der Last nicht mehr lange standhalten.«

»Wir hätten nicht so viel laden sollen.« Livio äugte nach oben. »Die Räder befinden sich in der Mitte der Kante. Perfekter könnte es nicht sein. Hey, du schaffst das.«

»Und wenn der Wagen kippt?« Silvano verkrampfte sich, ließ die Bremse los, fuhr wieder ein Stück.

»Wird er nicht. Komm, mach schon. In einer Stunde müssen wir in Einsiedeln sein.«

***

Es fiel ihm auch an diesem Morgen schwer, die Wohnung zu verlassen. Seit Sophie im Babysitz am Tisch saß, konnte sich Colin Lehmann kaum von seiner acht Monate alten Tochter losreißen. Meistens stellte er den Wecker früher als üblich, um fünf Minuten anzuhängen, bevor er nach Hitzkirch zur Interkantonalen Polizeischule fuhr. Dann stand er im Türrahmen, schaute auf seine kleine Familie, und ein warmes Gefühl der Zuneigung und des Stolzes erfüllte ihn. Seine Freundin Lea und sein Mädchen Sophie, das nach Mamans verstorbener Mutter benannt war. Sophie Bender, seine Großmutter, die Colin nie kennengelernt hatte.

Wider alle Vorhersagen hatten Colin und Lea uneingeschränkte Hilfe ihrer beider Eltern erfahren dürfen. Nie war die Schwangerschaft der damals Achtzehnjährigen und Studienanfängerin hinterfragt worden. Man hatte von Anfang an zu ihnen gestanden, sie unterstützt und sich so arrangiert, dass Lea die Ausbildung zur Architektin nach dem Mutterschaftsurlaub weitermachen konnte. Leas Mutter hatte sich sogar bereit erklärt, sich dem Baby anzunehmen, wenn ihre Tochter außer Haus war.

Die Schwangerschaft war einfach gewesen. Lea hatte bis kurz vor der Geburt das erste Studienjahr an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich komplikationslos überstanden. Seit zwei Wochen studierte sie wieder. Alles war bis anhin reibungslos verlaufen, fast zu schön, um wahr zu sein. Das Einzige, was Colin an der Situation bemängelte, war Mamans seltenes Engagement. Ihr Beruf bei der Kriminalpolizei Schwyz verlangte ihr viel ab. Freizeit war ein Fremdwort für sie. Oft fragte sich Colin, ob der Entscheid, zur Polizei zu gehen, richtig gewesen war. Der Job in der IT hatte ihm ein regelmäßiges Einkommen gesichert. Heute musste er gut einteilen, und wenn Leas Eltern und seine Maman sie nicht finanziell unterstützt hätten, hätte er es sich zweimal überlegen müssen.

»Willst du warten, bis meine Mam eintrifft?« Lea versuchte, Sophie mit Hilfe eines Löffels Brei einzugeben, was ihr nicht gelang. Die Kleine legte schon jetzt ein Temperament an den Tag, das die jungen Eltern manchmal überforderte. Sophie kleckerte, und der Brei landete überall, nur nicht im Mund.

Colin konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »So lange kann ich nicht warten. Richte ihr schöne Grüße von mir aus.«

Er zog sich Schuhe und Jacke an, griff nach dem Autoschlüssel und verließ die Wohnung, nachdem er seinen Liebsten einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte. Im letzten Herbst waren sie von Zug nach Sins umgezogen, nachdem Colin sowie Lea einen den Umständen angepassten Kompromiss eingegangen waren. Wohnen auf dem Land war, nebst den fehlenden Annehmlichkeiten, welche die Stadt bot, überwiegend vorteilhaft. Mit der Kleinen sowieso. Durch Zufall hatten sie eine Bleibe mit einer erschwinglichen Miete im Zweifamilienhaus eines betagten Ehepaars gefunden. Nicht den Luxus, den sie sich vorgestellt hatten, aber die Wohnung war sauber und hell. Sah man aus dem Küchenfenster, fiel der Blick auf einen Bauernhof. Der kommende Frühling versprach viel Schönes: blühende Apfelbäume, saftige Wiesen voll von gelbem Löwenzahn, die erste Pusteblume für Sophie, weidende Kühe, Glockengeläute. Seit Colin Vater war, hatte sich sein Gefühlsleben in eine sensitive Richtung entwickelt. Er sah vor allem die Natur mit anderen Augen an als früher. Fast hätte er behaupten können, ehrfürchtiger geworden zu sein. Mit seinem Vater pflegte er kaum mehr Kontakt. Willy Lehmann hatte ihm zu Sophies Geburt eine Karte geschrieben. Für einen Besuch hatte seine Zeit nicht gereicht. Das Interesse an seinem Sohn war mit Colins Volljährigkeit verschwunden. Colin wusste nicht einmal, wo sein Vater wohnte. Auch gut. In Emilio Zanetti, Mamans Lebenspartner, hatte er eine gute Ansprechperson für Männergespräche gefunden.

Colin ging zum Carport neben dem Haus, wo sein Subaru Impreza stand. Eigentlich hatte er heute einen freien Tag, und er hätte ihn gern zu Hause verbracht. Noch am Morgen hatte er sich überlegt, die ganze Sache abzublasen. Was er vorhatte, könnte ihn die Ausbildung kosten. Falls es auskam, konnte man ihn ans Messer liefern. Dass es nicht an die Öffentlichkeit gelangte, dafür sorgte sein bester Freund, der gleichzeitig auch sein Mentor war. Nicht dass Hubi ihn dazu angestiftet hätte, aber er hatte ihm zu viel über eine kriminelle Bande erzählt, und um sie aufzuspüren, bedingte es eines Undercover-Einsatzes, den Colin sich durchwegs zutraute. Sein Gesicht kannte man nicht. Und er fühlte sich als Hubis Vertrauter gebauchpinselt.

Colin startete den Motor und ließ ihn eine Weile im Leerlauf stehen. Er vergewisserte sich auf seinem Smartphone, wie spät es war: acht Uhr vierzig, der 3. März. Um Viertel nach neun hatte er einen Termin beim Barber Nikita, woher auch immer dieser Name stammte. Nikita hatte auch am Montag geöffnet und dies über das ganze Jahr. Colin würde in einer halben Stunde vor Ort sein und genügend Zeit haben, einen Parkplatz zu finden. Er wollte sich einen neuen Haarschnitt verpassen lassen. Unter anderen Umständen hätte er Lea um Rat gefragt. Angesagt waren Undercut oder der Taper Haircut; Colin war sich nicht sicher, was ihm stand, vielleicht etwas Klassisches.

Er fuhr los, nachdem er Lea zugewinkt hatte. Hatte sie schon lange hinter dem Fenster gestanden und ihn beobachtet? Ein mulmiges Gefühl nahm von ihm Besitz. Sie hatten sich geschworen, niemals Geheimnisse voreinander zu haben. Nun verheimlichte er ihr zum ersten Mal etwas, was er aber damit rechtfertigte, die Wahrheit könnte sie zu sehr aufregen.

Er fuhr auf die Hauptstraße und folgte ihr bis zum Kreisel, wo er den Weg Richtung Autobahn einschlug. Unterwegs rief Hubi ihn an. Colin meldete sich über die Freisprechanlage, während er am Himmel die Wolken betrachtete, die sich im aufkommenden Wind über die Berge türmten. Der Frühling war in greifbarer Nähe. In den Gärten der Wohnblöcke und Einfamilienhäuser blühten die Forsythien. Aus der Erde guckten die ersten Krokusse und Schneeglöckchen. Wie ein Teppich der Hoffnung kam es ihm vor. Für die Jahreszeit war es zu mild. Die letzten Jahre hatten eine klare Tendenz gezeigt: Es wurde allgemein wärmer in den hiesigen Breitengraden. Der Klimawandel war zwar in aller Munde, doch dagegen angehen wollte man nicht wirklich. Die Dreckschleudern rund um den Globus existierten weiterhin. Man reiste mit Luxusdampfern und Flugzeugen in den Urlaub, als gäbe es kein Morgen. Was nur die Kriege an Schmutz produzierten. Colin hatte mit Lea schon endlose Diskussionen darüber geführt. Jetzt hatten sie ein Kind, und die Frage stand an, welche Zukunft es erwartete.

»Alles gut bei dir?« Hubis Stimme klang besorgt.

Colin musste sich räuspern. Er spürte jene Nervosität in sich, die er in der Regel nicht zuließ. Er hatte gelernt, die Dinge gelassen anzugehen. Trotz seines oft hitzigen Temperaments bewahrte er Ruhe, selbst unter den brenzligsten Umständen. Colin ahnte, sein Vorhaben war nicht richtig. Möglicherweise hatte Hubi ihn in etwas hereingezogen, dem er nicht gewachsen war. Natürlich gab Colins Kopf es nicht zu. »Alles im grünen Bereich. Ich hadere gerade, welchen Haarschnitt ich mir machen lasse. Du weißt, mit diesen Nullachtfünfzehn-Frisuren von heute kann ich nichts anfangen. Lea würde mir den Hals umdrehen, wenn ich mit einem Buzz Cut daherkäme.«

Hubi ging nicht darauf ein. »Hör zu, Colin, mir ist etwas dazwischengekommen. Ich kann dich heute nicht treffen.«

»Was, nicht treffen. Nicht dein Ernst, oder?« Colin fuhr ein stechender Schmerz in die Brust. Aus einem Reflex heraus gab er Gas. Sein ganzer Frust entlud sich über seinen rechten Fuß.

»Du musst es allein durchziehen. Ich bin an was anderem dran.«

»Ach ja?« Colin hatte Lindencham erreicht. Er nahm die Zufahrt zur Autobahn. Links und rechts dehnten sich weite einsame Felder aus. »Das wäre?« Sein Unbehagen erhärtete sich.

»Kann ich dir nicht über das Handy mitteilen.«

»Dann schreibe es auf. Schick mir eine Whatsapp-Nachricht.«

»Wenn du mir versprichst, keinen Rückzieher zu machen.«

»Ich stecke schon längst mittendrin, als dass ich jetzt den Schwanz einziehen könnte.« Sein Instinkt sagte ihm etwas anderes. »Nur sind meine Bedenken nicht von ungefähr. Wenn das auskommt …«

»Wird es nicht. Und noch etwas: Das geschieht alles außer Dienst, verstanden?«

Bereits zu Beginn der Ausbildung hatte Hubi ihn unter seine Fittiche genommen. Der Vierzigjährige war ihm von Anfang an sympathisch gewesen, und Colin dachte, bei ihm viel lernen zu können. Er war ledig und ein Vollblutpolizist. So jedenfalls hatte er bis anhin auf ihn gewirkt. Warum kamen jetzt die Zweifel? Colin konnte sich keinen Reim darauf machen. Bei Maman hatte er den Kollegen nie erwähnt, obwohl er für ihn mehr als nur eine Bezugsperson war. Colin hätte einfach mehr Transparenz gegenüber seiner Mutter schaffen sollen. Andererseits hatte sie seine Berufswahl stets abgelehnt, und nachdem Lea schwanger geworden war, erst recht. Seit Sophie auf der Welt war, hatte sie Colins Entscheid still hingenommen, sich kaum mehr dazu geäußert. Wie es hinter ihrer Fassade aussah, darüber schwieg sie. Maman hatte genug eigene Probleme. Colin ahnte, vieles aus ihrer Kindheit musste sie aufarbeiten. Letzthin hatte sie das Tagebuch ihrer Mutter erwähnt. Es zu lesen, dazu fehle ihr jedoch die Zeit. Vielleicht fehlte ihr der Mut.

»Hast du’s kapiert?«, fragte Hubi in einem Ton, der keine Widerrede duldete.

»Hab ich.« Colin wischte ihn weg.

Er preschte mit hundertvierzig Kilometern pro Stunde nach Schwyz. Links lag im trüben Licht der Zugersee, auf dem einzelne Fischerboote dümpelten, rechts erhob sich die Rigi mit ihren bewaldeten Hängen und schroffen Felsen, über die der Nebel waberte wie Rauch nach einem gelöschten Brand. Colin befiel ein seltsames Gefühl. Hatte er sich in Hubi dermaßen getäuscht? Oder wollte er ihn auf die Probe stellen? War die Angelegenheit mit dem Undercover-Einsatz in Schwyz eine Finte? Colin verließ die Autobahn auf der Höhe Goldau und erreichte diverse Firmengelände. Er überquerte die Bernerhöhe, wo das Ausmaß des Bergsturzes noch immer sichtbar war. Die Landschaft war vernarbt von überwucherten Gesteinsbrocken und erinnerte an das tragische Ereignis von 1806, als das losgelöste Nagelfluhgestein des Rossbergs fast ein ganzes Dorf unter sich begraben und über vierhundertfünfzig Menschen das Leben gekostet hatte.

Colin fuhr hinunter zum idyllisch gelegenen Lauerz, in dessen Hintergrund die beiden Mythen lagen. Heute allerdings waren sie unsichtbar hinter dem Gewölk.

Mitten im Dorf traten ihm ein paar Gestalten unter die Augen, vorwiegend Kostümierte und Maskierte, die Konfetti verstreuten. Auch hier war Güdelmontag. Ein Plakat am Straßenrand wies auf einen Tanzabend hin, ein weiteres machte Werbung für den Ball der Guggenmusik »Gätterlifurzer«.

In der Senke breitete sich der Lauerzersee wie eine Pfütze aus Blei aus. Milchig erschienen die Konturen der Inseln Schwanau und weiter südlich der Roggenburg. Colin fuhr auf den Parkplatz vor der Schiffsanlegestelle. Er nahm das Smartphone zur Hand und prüfte, ob Hubi ihm die Nachricht gesendet hatte.

Schmugglerbande aufgegriffen. Ich bin unterwegs zur Autobahnraststätte Fuchsberg. Planänderung: Ich erwarte dich zum Mittagessen. Gutes Gelingen bei Nikita.

Er gab die Koordinaten ihres Treffpunkts durch.

Von einer Schmugglerbande hatte Hubi nie zuvor gesprochen, und das Treffen absagen und wieder zusagen war auch komisch. Colin versuchte, auf seine innere Stimme zu hören. Doch diese hatte ihn verlassen. Hubi hatte ihm das Gehirn vernebelt. Mit Aussagen wie »Ich sehe in dir Potenzial« oder »Noch nie hatte ich einen so begabten Aspiranten« hatte Hubi sich bei ihm eingeschmeichelt. Wohl oder übel musste er seinen Auftrag durchziehen. Colin sah aufs Wasser, das sich im Luftzug kräuselte, auf die Insel mit der Burgruine, die durch das lichte Wäldchen schimmerte, und später auf seine Uhr. Wenn er pünktlich in Schwyz sein wollte, musste er sich beeilen. Er fuhr zurück auf die Seestraße und holte mit überhöhter Geschwindigkeit die versäumte Zeit auf.

Der Coiffeursalon Nikita befand sich in der Nähe des Bahnhofs, etwas zurückversetzt und von der Hauptstraße aus auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Er verzichtete auf übertriebene Werbung und bunte Farben an der Fassade. Den Mittelpunkt bildete die Tür mit Rundbogen und Kastenfenstern, die es schafften, südländisches Flair auszustrahlen.

Colin betrat den Salon. Schwere dunkelbraune Möbel beherrschten den Raum, der für sechs Personen Sitzplätze bot, drei davon waren besetzt. Coiffeurstühle wie vor hundert Jahren, dachte Colin, als er sich an der Theke anmeldete. Hinter der Kasse standen zwei Typen mit Vollbart und dem angesagten Buzz Cut. So wollte Colin definitiv nicht aussehen.

»Guten Tag.« Einer der Männer begrüßte ihn, nachdem er sich von dem andern per Handschlag verabschiedet hatte. Dieser steckte etwas in seine Jackentasche und verschwand durch einen Hintereingang.

»Ich bin angemeldet«, sagte Colin. »Lehmann.«

»Hey, Bro, ich bin Damir.« Fröhlich schlug er Colin mit seiner Pranke ein. »Bist du zum ersten Mal hier?«

Okay, man duzte sich. »Ja.« Colin musterte den Bärtigen mit gemischten Gefühlen. Mit so viel Kollegialität hatte er nicht gerechnet.

»Setz dich bitte auf den Stuhl dort. Tarek wird gleich bei dir sein. In der Zwischenzeit kannst du dir eine Frisur aussuchen.« Damir brachte einen Prospekt zum Platz und wies auf die erste Seite. »Alles, was du dir wünschst, wir realisieren es. Sollen wir dich rasieren?« Nach einem aufmerksamen Blick winkte er ab. »Ffytyrë fëmijëauf. Da sprießt noch nichts.«

Colin verstand nicht, was er meinte, und ließ sich auf das Polster fallen, dem der Geruch von Leder entwich. Wer den Coiffeursalon eingerichtet hatte, musste tief in die Tasche gegriffen haben. Colin schlug die Broschüre auf, welche auf der Spiegelkonsole lag, und blätterte unbeteiligt darin, während er das Geschehen hinter ihm über die reflektierende Glasfläche beobachtete. Links und rechts von ihm saßen zwei grimmige Typen. Der eine ließ sich seinen Ziegenbart in Form schneiden, der andere wartete mit nassen Haaren auf die Bedienung. Er hielt ein Teeglas in der Hand, an dem er ab und zu nippte. Nichts Verdächtiges, wollte man der unterschwelligen Geheimniskrämerei der Angestellten keine Beachtung schenken. Hier wurde hinter vorgehaltener Hand kommuniziert. Es sah mitnichten danach aus, die Kundschaft nicht stören zu wollen, sondern eher danach, sie nicht an dem teilhaben lassen zu wollen, was im Barbershop vor sich ging. Dies war auch der Grund, weshalb Colin heute hier und nicht zu Hause bei seiner Tochter war. Aber würde er in dieser Stunde, in der man ihm die Haare schnitt, Einblick hinter die Kulissen bekommen? Hubi hatte den Verdacht geäußert, im Barbershop würden Drogen verkauft und nebst den Häuptern auch Geld gewaschen. Nur, und da machte Colin ein großes Fragezeichen, wie sollte er in so kurzer Zeit einen Beweis finden? Ihm, der heute zum ersten Mal hier war, war es nicht ganz geheuer. Zu viel Testosteron. Alles hier wirkte männlich und herb. Entsprechend roch es, ein Mix aus Shampoo und Tabak.

»Hey, Bro, ich bin Tarek.«

Einstudierte Floskel, ging es Colin durch den Kopf. Der Junge war wahrscheinlich kaum aus der Lehre. Schwarze, widerspenstige Haare umrahmten ein leicht getöntes Gesicht, auf dem die schwarzen Augen alles zu beherrschen schienen. Rund um die rosa Lippen spross der erste Flaum eines Bartes, ein Versuch, das Kindliche zu kaschieren, was Tarek nicht ganz gelang. Nase, Mund und Stirn wirkten unproportioniert.

Colin stellte sich mit seinem Vornamen vor.

»Möchtest du Tee?«, fragte Tarek. »Wir haben einen aromatischen Çay von unseren Freunden aus Istanbul.«

»Nein danke.«

»Aha, du bist ein echter Schweizer, nicht wahr, ansonsten würdest du mir das Angebot nicht ausschlagen.« Tarek sah ihn ernst an.

»Sorry, es hätte nicht so rüberkommen sollen. Beim Teetrinken werde ich krank.« Colin schenkte Tarek ein Lächeln. »Hättest du etwas Gröberes?« Shit! Colin schürzte die Lippen. So offensichtlich hatte er sich nicht äußern wollen. Doch wer A sagt … Colin flüsterte jetzt: »Ich habe gehört, hier kriegt man auch Stoff.«

»Willst du nähen?« Tarek grinste ihn über den Spiegel an. Doch sein Humor hielt sich in Grenzen. Dann beugte er sich zu Colins linkem Ohr. »Ich habe leider keine Befugnisse. Wenn du etwas kaufen willst, frag Damir. Er ist hier der Boss. Oder Luan Dervishi, dem gehört der Laden.«

»Ist ja nicht dringend«, versuchte Colin sich herauszureden. Er kam sich wie ein Anfänger vor.

Zum Glück widmete sich Tarek seinen Haaren, und das Thema war somit vom Tisch. »Ich empfehle dir einen French Crop. Ich werde den Übergang von der Seiten- und Nackenpartie zum Deckhaar fließen lassen. Da du keinen Bart trägst, sähe ich diese Variante als passend.«

»Geht’s auch nicht so modern? Ich ziehe einen einfachen Kurzhaarschnitt vor.«

»Okay, Bro. Ich bin gleich wieder bei dir.«

Colin riss sich zusammen, Tarek nicht nachzusehen. Mit seinem unmöglichen Verhalten machte er sich selbst verdächtig. Wie hatte er sich nur so dämlich benehmen können? Die Lage im Barbershop einschätzen, hatte Hubi gesagt. Keine unnötigen Bemerkungen oder gar Handlungen. Sollte an dem Gerücht, bei Nikita würden mafiaähnliche Zustände herrschen, etwas Wahres dran sein, durfte Colin kein Risiko eingehen. Himmel, wie konnte er bloß so unprofessionell vorgehen? Er musste niemandem etwas beweisen, zuletzt Hubi.

War abzusehen, dass Tarek den Chef gerufen hatte. Er kam mit Damir zurück. »Gibt’s ein Problem?«

Colin stellte sich dumm. »Nein, warum? Meinst du mit der Frisur? Ich bin bereit. Nicht zu ultramodern, habe ich gesagt. Ich hoffe, das ist machbar.«

»Ich glaube, du verschwindest besser.« Damir schnalzte mit der Zunge. Über sein Gesicht kroch ein dunkler Schatten und ließ ihn noch grimmiger aussehen.

»Wie bitte?« Colin musste leer schlucken. »Ich glaube, du verstehst etwas falsch. Ihr wurdet mir empfohlen.«

»Von wem?« Damirs Falte zwischen den Augen glättete sich ein wenig, und sein ernster Blick wich Verwunderung.

»Von einem Kollegen. Er meinte, ihr macht den besten Haarschnitt.«

Damir lachte auf einmal laut hinaus. »Nein, so was. Klar sind wir die Besten.« Er scheuchte Tarek von seiner Seite. »Zisch ab. Ich werde ihm den gewünschten Schnitt verpassen.«

Colin verstand nicht auf Anhieb, was Damir meinte, hatte aber plötzlich ein beklemmendes Gefühl. Hatte Damir herausgefunden, weshalb er hier war? Sah man es ihm etwa an? Colin war drauf und dran, den Shop zu verlassen. Er legte sich in Gedanken bereits eine Ausrede zurecht. Er war sauer auf Hubi, der ihn in diese missliche Lage katapultiert hatte. »Ich müsste mal telefonieren.«

»Tu dir keinen Zwang an.« Damir wollte gerade den Frisiermantel um Colins Schultern legen, als er den dunkelbraunen Stoff abrupt zurückzog.

Colin erhob sich, schritt zum Eingang, öffnete die Tür und schob sich an einem neuen Kunden vorbei nach draußen. Kostümierte Gestalten kamen ihm entgegen. Einer von ihnen blieb vor ihm stehen, starrte zuerst Colin, dann die Tür an, bevor er sich dazu entschloss, mit den andern weiterzuziehen.

Colin nahm sein Smartphone zur Hand und wählte Hubis Nummer.

***

»Mich bringen keine zehn Pferde an die Fasnacht«, sagte Valérie, während sie in der Küche in der Pfanne rührte.

Zanetti hatte sich Vichy-Karotten gewünscht nebst einem Filet im Teig, das sich im Backofen befand. »Du musst dich nicht verkleiden. Wir könnten einfach hingehen und uns das Treiben auf dem Hauptplatz ansehen. Es ist zu schade, um zu Hause zu bleiben. Die Schwyzer Fasnacht soll sehr populär sein. Nachdem du am Küssnachter Narrentreiben am Donnerstag vor einer Woche gearbeitet hast, denke ich, wir sollten heute nach Schwyz fahren. Ich möchte die Nüssler mal aus der Nähe sehen.«

»Ach, Darling, da hast du nichts verpasst …«

»Sagt die, welche vom Karneval in Martigny schwärmt.«

»Das kann man nicht vergleichen«, konterte Valérie und rührte weiter. Als die Karotten von der heißen Butter ummantelt waren, streute sie einen Teelöffel Zucker darüber. Ein karamellartiger Duft stieg auf. Valérie würzte mit Salz und Pfeffer und goss Mineralwasser in die Pfanne, bis die Karotten zugedeckt waren. Sie wartete, bis das Wasser kochte. Dann setzte sie einen Deckel auf und schaltete die Temperatur tiefer.

Zanetti hatte den Tisch schön aufgedeckt und mit zwei Clowns geschmückt, die er in ihrem Dekorations-Inventar entdeckt hatte. »Jetzt noch etwas Guggenmusik, dann wäre der Güdelmontag perfekt.«

»Um Gottes willen. Willst du mich aus dem Haus jagen?« Valérie ging zum Backofen und kontrollierte die Zeit, die dem Filet blieb, bis es gar war. Sie seufzte. Kochen war noch nie ihre Leidenschaft gewesen, obwohl sie das eine oder andere Menü beherrschte. Seit sie mit Zanetti zusammenlebte, stellte sie sich in der Zubereitung von Mahlzeiten gerne hinten an. Zanetti war ein ausgezeichneter Koch. Der Gerechtigkeit halber übernahm sie hie und da diese Aufgabe. Oft kochten sie am Abend jedoch nichts Großes, weil sie zu müde waren.

Heute war Fasnacht, und Gian Luca Caminada hatte einigen im Team freigegeben. In den letzten Wochen hatten sie immer mal wieder ausrücken müssen wegen Scharmützeln auf der Straße, in Bars und in Wohnungen und Häusern. In zwei Fällen hatte es Schwerverletzte gegeben. Einmal mussten sie ein Kleinkind notfallmäßig ins Spital bringen, nachdem der Vater es wegen Ungehorsams geschüttelt hatte. Eine Kopfverletzung sowie ein Milzriss waren das Resultat gewesen. Das waren dann die Momente, in denen Valérie sich fragte, ob sie mit ihren einundfünfzig Jahren noch die richtige Person an der Front war. Sie ertrug diese Brutalität nicht mehr und steckte sie weniger gut weg als noch vor zwei, drei Jahren.

Seit acht Monaten war sie Mémé. Sie sah die Welt plötzlich mit anderen Augen als vorher. Manchmal fühlte sie sich für Colins Mädchen verantwortlich, obwohl sie dieses Gefühl nicht unbedingt zulassen wollte. Die kleine Sophie hatte Valéries Kern verändert. Sie war verletzlicher geworden. Aber das gab sie nicht zu. Leas Eltern stellten Ansprüche, was das Babysitting betraf. Fast sah es danach aus, als wollten die Tochtereltern Valérie, der geschiedenen Mutter, ihre Rechte streitig machen. Claudia und Rocco Sabatini waren in aller Deutlichkeit in Valéries Leben eingedrungen, was sie nie für möglich gehalten hätte. Plötzlich waren fremde, dennoch persönliche Bande entstanden. Klein-Sophie als das zarte Verbindungsglied zweier gegensätzlicher Familien. Lea stammte aus reichem Haus. Ihr Vater war Unternehmensberater, ihre Mutter bis vor zehn Monaten Juristin bei einer mittelgroßen Firma gewesen. Mit Sophies Geburt hatte sie ihren Beruf an den Nagel gehängt und gab fortan den Ton an, wenn es um die Unterstützung ihrer Tochter und die Erziehung ihrer Enkelin ging. Es war noch krasser: Claudia hatte sich in Colins Familie ihren festen Platz gesichert. Valérie hielt sich diplomatisch raus. Die Art und Weise, wie Claudia ihren Part als Großmutter auslebte, wies zwanghafte Züge auf. Claudias Charakter war zudem gewöhnungsbedürftig, für Valérie zu viel des Guten. Dass Colins Tochter den Namen ihrer Maman trug, wussten die Sabatinis nicht. Es hätte sonst für Unmut gesorgt, für Valérie war es jedoch eine Genugtuung.

»Oder möchtest du lieber Lea und Colin besuchen?« Zanetti unterbrach ihre Gedanken, als hätte er sie lesen können.

»Kann ich es mir überlegen?«, fragte Valérie, obwohl es zu diesem Zeitpunkt nichts zu überlegen gab. Claudia würde gewiss wie eine Glucke in Colins Wohnung hocken, derweil Lea ihrem Studium nachging. Wo sich Colin befand, wusste sie nicht. Sie hatte am Samstag mit ihm telefoniert und er seinen freien Tag an der IPH erwähnt. Zum Coiffeur wolle er gehen, hatte er durchblicken lassen. Wahrscheinlich nahm er Reißaus vor Leas Mutter. Valérie hätte ihn verstanden.

»Wir könnten auch spazieren gehen«, schlug Zanetti vor.

»Willst du mich partout aus dem Haus locken?« Valérie nahm den Deckel von der Pfanne und rührte die Karotten um. »Ich glaube, wir essen erst einmal und sehen dann weiter.« Sie sah auf die Uhr. »Ein frühes Mittagessen. Aber ich habe großen Hunger.«

Ihr iPhone summte auf der Küchenablage. Valérie griff danach und sah auf das Display. »Caminada. Was will denn der?« Sie sah Zanetti an.

Dieser hob die Schultern, während er nach seinem Handy auf dem Küchentisch griff. »Mich hat er auch schon gesucht.«

»Nicht gut.« Valérie meldete sich.

»Gian Luca.« Caminadas Stimme klang belegt. »Wir haben eine Leiche.«

»Ein Tötungsdelikt?« Sie hätte nicht zu fragen brauchen. Wenn Caminada sie an ihrem freien Tag störte, rief er nicht an, weil er einen privaten Ratschlag wünschte. Solche Dinge besprach er in der Regel nach Feierabend. Er lebte jetzt von seiner Frau Menga getrennt, was ihm jedoch mehr zusetzte, als er es sich vorgestellt hatte. Valérie war dann die starke Schulter, an die er sich oft anlehnte. Damit, Caminada könnte sich ihr gegenüber je einmal so öffnen, hatte sie nie gerechnet.

»Wir müssen davon ausgehen. Was bislang bekannt ist, es handelt sich um eine Frau. Sie wurde heute Morgen in einem Fasnachtswagen auf dem Klosterplatz in Einsiedeln gefunden. Ist Emilio bei dir?«

»Er ist da. Willst du ihn sprechen?«

»Ja, bitte, stell auf Lautsprecher. Ich wäre froh, könntet ihr euch auf den Weg nach Einsiedeln machen. Ach, bevor ich es vergesse. Der ›Sühudiumzug‹ findet statt. Fahrt über die Birchlistraße an. Auf der Hauptstraße ist kein Durchkommen. Auch die Alte Etzelstraße ist verstopft. Die Narren sind los. Die lassen sich auch von einem Blaulicht nicht beeindrucken. Ihr findet uns auf der linken Seite des Klosterplatzes, dort, wo die Arkaden beginnen. Louis und Fabia sind bereits vor Ort. Ich habe den Rechtsmediziner informiert, weil es eilt, und der Kriminaltechnische Dienst ist unterwegs.«

Nicht gut, dachte Valérie wiederholt. Gar nicht gut. »Eine gröbere Sache?« Sie erinnerte sich an ihren letzten schweren Fall im November vor einem Jahr. Die Bilder am Tatort hatten sich in ihrem Kopf eingebrannt. Es war jedes Mal eine Herausforderung, dem Tod zu begegnen. Sie wusste nie, welche Fratze er aufgesetzt hatte.

»Ein Arzt, der zufällig vor Ort war, hat den Tod bestätigt und ihn uns wegen der Unklarheit der Todesursache sofort gemeldet.«

»Gibt es Zeugen?«

»Zwei junge Männer, denen der Wagen gehört.«

Valérie zog Luft ein und stieß sie heftig wieder aus. »Okay, wir sind schon unterwegs.«

Schnell das Filet im Teig aus dem Ofen geholt, die Karotten in eine Schüssel gegeben: Zum Essen hatte die Zeit nicht gereicht. Valérie raste über die Autobahn.

»Wenn du in die Radarfalle gerätst, hast du den Führerausweis weg«, beschwerte sich Zanetti auf dem Beifahrersitz und wies auf den Tachometer.

»Nicht, wenn wir im Dienst sind.«

»Das geht nur mit Blaulicht, das weißt du.«

Valérie ignorierte seine Bemerkung. Wieder einmal merkte sie, es war keine so gute Idee, im gleichen Auto zu fahren. Zanetti kritisierte regelmäßig ihren Fahrstil, als bangte er um sein Leben. Dabei war Valérie eine routinierte Lenkerin. Ihr Audi TT, den sie sich vor Jahren aus einer Laune heraus angeschafft hatte, war inzwischen wie ihre verlängerten Beine geworden. Noch heute freute sie sich über das schnurrende Kätzchen, wenn sie den Motor startete. Allen elektrischen Vehikeln zum Trotz. Die Elektromobile überzeugten sie noch zu wenig, als dass sie den schnittigen Audi gegen ein Aufladegerät auf vier Rädern eingetauscht hätte. Solange man für die Gewinnung von sechs Kilogramm Lithium respektive eine Sechzig-Kilowatt-Batterie rund fünftausend Liter Wasser benötigte und man für die Entsorgung noch keine saubere Lösung hatte, blieb Valérie dem Benziner treu. Plagte sie ihr schlechtes Gewissen, dann dachte sie an ihren Kollegen. Louis Camenzinds Combi hatte altershalber den Geist aufgegeben. Seit einem Jahr fuhr er einen Elektrowagen, einen Peugeot 208 GT, was er extra betonte, wenn man ihn darauf ansprach. Valérie hatte ihn aber selten so viel fluchen gehört, wenn es darum ging, die Autobatterie aufzuladen.

Bleifuß. Der Rausch der Geschwindigkeit. Die Landschaft schien an ihr vorbeizuflitzen. Valérie überholte, auch rechts. Erst kurz vor der Ausfahrt Seewen bremste sie ab und sah mit Genugtuung auf Zanettis Gesicht. »Entspann dich wieder.« Sie lächelte. Seit rund acht Jahren waren sie ein Paar. Valérie hatte nie nur eine Minute des Miteinanders bereut. Leidenschaftlich begonnen, hatte sich ihre Beziehung zu inniger Liebe und gegenseitiger Wertschätzung und Toleranz entwickelt. Zanetti war der ruhende Pol, der Fels in der Brandung. Er akzeptierte ihre eigenwillige Art, welche zwischen vom Instinkt getrieben und von ihrem scharfen Verstand gelenkt hin- und herschlingerte. Zanetti räumte ihr Freiheiten ein, denn auch er ließ sich schwer in Ketten legen.

Auf der Strecke von Sattel bis zur Äusseren Altmatt passierten sie mehrere Baustellen. Vor der Abzweigung nach Bennau fuhr Valérie Schritttempo. »Musst du in dein Büro?« Sie wies Richtung Ortsteil Schwyzerbrugg.

»Später. Ich muss mich zuerst vergewissern, ob mein Entscheid, Stieffel den Auftrag für eine Obduktion zu erteilen, richtig war. Aber so wie Caminada mir die Situation beschrieb, handelt es sich um einen außergewöhnlichen Todesfall. Da zählt jede Sekunde.« Zanetti fuhr sich mit den Händen über das volle Haar. »Wusstest du über Lea Sabatinis italienische Wurzeln Bescheid?«

»Themenwechsel oder Ablenkung?« Valérie fuhr geradeaus, weil die Straße nach Bennau gesperrt war. Sie hatte es im letzten Augenblick bemerkt.

»Ist mir heute durch den Kopf gegangen.«

Valérie vermochte Zanettis Gedankensprung nicht ganz nachzuvollziehen. »Sie ist Halbitalienerin. Rocco stammt aus Apulien. Claudia dagegen ist eine waschechte Zürcherin.«

»Du magst sie nicht besonders, oder?«

»Merkt man mir das an?« Valérie verkniff sich eine Grimasse. »Ich bin froh, habe ich nicht allzu viel zu tun mit ihr.« Sie überlegte. »Ganz ehrlich? Ich habe Lea in mein Herz geschlossen. Sie ist wie meine Tochter. Mit Claudia dagegen hatte ich von Anfang an Mühe. Seit Sophie auf der Welt ist, benimmt sie sich unmöglich.«

»Möchtest du, es wäre umgekehrt?« Sie passierten den Kreisel in der Nähe des Sicherheitsstützpunktes.

»Wie meinst du das? Ah … ich verstehe, dass ich so einnehmend wäre wie sie?« Valérie sah in den Rückspiegel und kontrollierte, was hinter ihr ablief. »Nein, niemals. Ich hoffe nur, Colin mag ihr das Wasser reichen. Ich möchte nicht, dass er sich von Claudia unterjochen lässt. Aber sie hat eindeutig den Hang dazu, ihre Mitmenschen nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.« Valérie schlug mit der rechten Hand aufs Lenkrad. »So, fertig mit Tratschen. Gehe ich richtig in der Annahme, dass du das Ermittlungsverfahren eingeleitet hast?«

Zanetti nickte.

Bis zur Abzweigung Einsiedler-, Zürichstraße sprachen sie kein Wort mehr. Valérie konzentrierte sich auf die Straße, welche am Nüboden und an der Hüendermatt vorbeiführte. Vor einer Tankstelle bog sie rechts ab in die Birchlistraße und folgte ihr über ein weites Feld, welches noch braun vom vergehenden Winter verlassen dalag. Valérie passierte den Friedhof mit der Kapelle Sankt Benedikt, und plötzlich waren diese Bilder da. Das verschandelte Grab mit dem grausigen Fund. Einsiedeln war schon einmal in den Fokus der Kriminalpolizei geraten. Nicht schön und in Anbetracht des Klosterdorfes, wo man Gottes Ehrfurcht vermutete, ein riesengroßer Schock für die Bevölkerung.

»Woran denkst du?«, fragte Zanetti, der Valéries Blick gefolgt war.

»An Pater Ferdinand.«

ZWEI

Die Zufahrt von der Birchli- auf die Hauptstraße war mit zwei Polizeiautos blockiert. Das Blaulicht kreiste auf den glänzenden Dächern und verlor sich im grellen Sonnenlicht. Im Gegensatz zu Küssnacht herrschte hier das schönste Wetter. Über den blauen Himmel verteilten sich einzig ein paar Schleierwolken und das eigensinnige Muster zerfledderter Kondensstreifen. Valérie ließ das Fenster auf ihrer Seite runter und wies sich mit ihrer Marke aus. Man ließ sie passieren. Vor ihr erhoben sich die Turmhauben der barocken Klosterkirche, die eindrückliche Vorderansicht mit den Steinfiguren auf dem Dach, zuoberst auf dem Giebel die heilige Maria mit dem Jesuskind, umgeben von einem goldenen Strahlenkranz.

Die Temperaturen waren für die Jahreszeit in einem bedenklich hohen Bereich. Kein Wunder, gebärdeten sich die Narren eher wie am Karneval in Rio als am »Sühudiumzug« der Einsiedler. Halb nackte Gestalten tänzelten um die Absperrbänder der Polizei und hielten die Maulaffen feil. Immer wieder die gleiche Situation. Mit Handys bewaffnet, ätzend, penetrant und für Valéries Verhältnisse dreist und dumm, als müssten sich die Leute am Leid der andern ergötzen. Aus Boxen ertönte Musik, ein Mix aus Techno und Schlager. Der Bass dröhnte.

Beim unteren Teil der Arkadenbögen stand das gelbe Fahrzeug der Ambulanz, daneben der Wagen des KTD, Stieffels sowie Louis’ Auto. Sie bildeten einen Kreis. Valérie parkte, stellte den Motor ab und wandte sich an Zanetti. »Ich gehe davon aus, du sprichst zuerst mit Gian Luca. Ich werde mich nach Louis und Fabia umsehen und mir ein erstes Bild machen.« Sie stieg aus und entdeckte den Fasnachtswagen inmitten der Polizeifahrzeuge. Sie nahm an, er war derjenige, von dem Caminada gesprochen hatte. Sie versuchte, das Sujet zu erraten. Sie kam auf keinen Nenner. Welches gesellschaftliche Problem man mit dem originell geschmückten Gartenhaus auf die Schippe zu nehmen gedachte, war für sie genauso ein Rätsel wie die in fleischfarbene Overalls gepackten Männer auf den zwei Campingstühlen neben Louis’ Peugeot. In den Händen hielten sie je eine Frauenmaske mit dicken Lippen und langen Wimpern. Wäre Valérie die Ernsthaftigkeit der Lage nicht bewusst gewesen, sie hätte laut gelacht. What’s in a man’s mind. Sie begrüßte Fabia, die etwas verloren beim Ambulanzwagen stand.

»Ist unser Team komplett?«

»Louis schwirrt irgendwo umher, keine Ahnung, wo, und Stieffel befindet sich im Gartenhaus, falls du mich das auch noch hast fragen wollen«, antwortete sie schnippisch.

Hoppla! Da war jemand mit dem falschen Bein aus dem Bett gestiegen. »Alles gut bei dir?«

»Na ja, wenn man davon absieht, dass ich heute mit meinen Mädchen nach Luzern fahren wollte, ist alles im grünen Bereich. Nun ist Michael allein mit ihnen in die Leuchtenstadt gegangen. Livi wollte unbedingt den Fasnachtsumzug miterleben. Meine Mutter hat vier Kostüme genäht. Michael geht als Gärtner und schiebt die Schubkarre, welche einen grünen Salat darstellt. Darauf hocken Schnecke und Wurm. Du kannst dreimal raten, wer der Wurm ist.«

»Olivia?« Valérie führte es sich plastisch vor Augen.

»Nein, Charlotte. Ich bin nicht unglücklich. Das kleine Biest ist nur so zu bändigen, indem man es in ein Wurmkostüm steckt, Beine fix im Anzug, die Arme frei, aber unter ständiger Beobachtung. Meine Mutter hatte diesmal einen guten Riecher.«

»Und was ist das vierte Kostüm, welches, so vermute ich, du angezogen hättest?«

»Eine wandelnde Gießkanne.«

Valérie schmunzelte. In ihrer Freizeit ließ Fabia nichts aus, mit ihren Mädchen etwas zu unternehmen oder mit ihnen zu basteln, backen oder singen.

»Habt ihr die Zeugen schon befragt?«, lenkte Valérie vom Thema ab. Insgeheim freute sie sich über Fabias Qualitäten als Mutter. Obwohl Michael der Hausmann war, kümmerte sich Fabia rührend um ihre Kinder.

»Wir hatten alle Hände voll zu tun, um den Mob vom Tatort fernzuhalten.«

»Tatort?«

»Frag Stieffel. Der weiß sicher mehr. Er ist wie gesagt im Wagen.«

Valérie ließ Fabia stehen und kletterte über zwei Stufen zum Gartenhaus. Sie erwehrte sich zweier Zwergtannen, die in eine Art Vase gesteckt waren, welche wiederum auf dem Holz angeschraubt war. Sie öffnete eine Tür und wunderte sich über die Konstruktion, die wahrscheinlich einiges aushielt. Im Innern befanden sich Stieffel und die Tote. Ein bizarres Bild, welches sich ihr bot, beinahe ein Stillleben. Stieffel steckte in einem sterilen hellblauen Vliesanzug, Kopf und Gesicht waren bis auf die Augen vermummt. Die Tote lag auf dem Tisch, ausgestreckt und trotzdem wie drapiert. Sie trug ein einem Nachthemd ähnelndes Kleid, das Stieffel in der vorderen Mitte aufgeschnitten hatte. Die beiden Hälften bedeckten die linke und rechte Seite ihres Körpers. Ihre Hände ruhten auf dem Bauch, und die Finger waren wie beim Beten ineinandergelegt.

Stieffel hob den Kopf. »Hi, Valérie. Sieht man sich auch wieder einmal.«

»Unsere Begegnungen finden immer unter denkwürdigen Umständen statt.« Valérie schnüffelte. Ein leicht süßlicher Geruch wehte ihr entgegen, vage und dennoch unverkennbar der Leichengeruch. »Mit Ausnahme der Weihnachtsfeier sind es immer die Toten, welche unsere Wege kreuzen lassen. Aber darauf könnte ich verzichten.«

»Auf mich?«

»Du weißt schon, was ich meine.« Valérie blieb im Türrahmen stehen. »Darf ich eintreten?«

»Nur, wenn du einen sterilen Anzug anziehst. Sorry, ich habe gerade keinen.« Er schniefte. »Schuler war schon da. Die wichtigsten Spuren sind gesichert.«

»So schnell?« Valérie rührte sich nicht vom Fleck.

»Franz und sein Team haben den Turbo gezündet.«

»Okay, lass mich raten. Die Frau ist nicht hier gestorben.« Valérie wunderte sich über die leichte Bekleidung.

»Nicht in Einsiedeln, aber vielleicht in diesem Wagen. Der Rigor Mortis hat vor Stunden eingesetzt. Die Livores sind partiell fixiert. Sie lassen sich nur noch teilweise wegdrücken.«

»Die Totenflecke, die nach der Leichenstarre auftreten.«

»Ja, die Leichenflecken entstehen, weil nach dem Tod der Blutkreislauf stoppt und das Blut entsprechend der Schwerkraft sinkt. Ach, Valérie, warum erzähle ich dir das?« Als sie nichts erwiderte, fuhr er fort: »Ich habe die Rektal-, also die Körpertemperatur, gemessen. Sie beträgt einunddreißig Grad. Das heißt, die Frau ist zwischen Mitternacht und heute Morgen, vor sechs bis acht Stunden, gestorben.«

»Todesursache?«

»Kann ich auf den ersten Blick nicht sagen. Keine äußeren Verletzungen, die zum Tod hätten führen können. Sie hat Blutergüsse älteren Datums sowie Narben aus der Vergangenheit. Sie sieht kränklich und abgemagert aus und ist dehydriert, muss schon länger nicht mehr getrunken und gegessen haben.«

Valérie sah sich um. Die Wände des Wagens hatte man mit einer braunen Tapete überklebt. In den vier Ecken hingen Gartenutensilien, von der Harke bis zum Handrechen. Eine brennende Lampe, wahrscheinlich von einer Powerbank gespiesen, hing von der Decke, die mit Styropor bedeckt war. Auf den zwei Bänken lagen Kissen, womöglich aus dem Brockenhaus. Ihnen sah man den Stil der siebziger Jahre an, mit braunem, orangefarbenem und hellblauem Paisleymuster. Die Tote lag friedlich da, auf den ersten Blick. Nichts wies auf eine Brutalität hin. Manchmal trog der Schein. Um den Kopf trug sie einen violetten Turban.

»Sie ist eins sechzig groß, zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt und für mich ein Mysterium«, sagte Stieffel. »Entweder ist sie in diesem Wagen auf diesem Tisch gestorben, oder jemand hat sie nach ihrem Tod so hingelegt. Ich tendiere auf Zweites.« Stieffel nahm den Turban weg. Wenn er sich wunderte, ließ er es sich nicht anmerken. »Sie ist haarlos.«

»Was bedeutet das?« Valérie streckte den Hals, versuchte, die Tote näher anzusehen, was ihr aus der Distanz nicht gelang. »Keine Stoppeln. Blank rasiert? Ist sie Anhängerin einer Sekte?«, was sie eher nur sich selbst fragte. »Oder eine Rechtsradikale?«

»Zuerst dachte ich, sie habe an Anorexie, Magersucht, gelitten. Dabei kann man die Haare verlieren, wobei die Sekundärbehaarung zunimmt, stärkerer Haarwuchs an den Brauen, im Gesicht, an Armen und Beinen. Das stimmt hier nicht überein. Entweder hatte die Tote eine Chemotherapie hinter sich, was ich als am wahrscheinlichsten erachte, oder sie litt an einem Gendefekt, was ich eher ausgrenze, oder was auch in Frage käme: Sie litt unter einer schweren Form der Alopecia areata.«

Valérie erinnerte sich nicht daran, diesen Ausdruck je zuvor gehört zu haben. »Woran könnte sie gelitten haben?«

»Die Alopecia areata ist ein entzündlich bedingter und akut einsetzender Haarausfall. Doch mit dieser Diagnose möchte ich mich zurückhalten.«

»Also war sie krank.« Valérie schaute das blasse, wächserne Gesicht aus der Ferne an. Der Mund war geöffnet. Eine perfekte Zahnstellung konnte sie erahnen, während die eingefallenen Wangen seltsam unwirklich aussahen.

»Wie gesagt, um das herauszufinden, muss sie in die Rechtsmedizin. Ihre Extremitäten sind versteift. Was sich zum Beispiel auf den Handinnenflächen befindet, kann ich nicht sagen. Ich müsste die Totenstarre brechen. Es gibt einige untypische Blessuren, die Fingernägel sind auf den ersten Blick nicht alle intakt. Nach ihrer Beschaffenheit zu urteilen, muss sie etwas damit aufgekratzt haben. Aber noch einmal: Der erste Augenschein allein reicht nicht. Ich brauche Zeit für die äußere und innere Leichenschau.«

»Vielleicht ist sie einfach gestorben«, ließ Valérie die Bemerkung fallen.

»Da spricht wohl alles dagegen.«

»Begründung?«

»Ihre Lage. Wenn jemand einfach stirbt, legt er sich nicht so hin. Zudem muss sie während des Fahrens hin und her gerutscht sein, was die Spuren auf dem Tisch erkennen lassen.«

»Drogen?«

»Wird mir das Labor sagen können.«

»Was vermutest du?«

»Da wird noch einiges an den Tag kommen.«

»Gibt es Ausweispapiere, ein Portemonnaie?«

»Du musst Schuler …«, er hielt kurz inne, »… fragen.«

Valérie sah über ihre Schulter, Zanetti kam.

»Dr. Stieffel, guten Tag.« Er hob andeutungsweise die rechte Hand zum Gruß.

»Guten Morgen, Herr Staatsanwalt.« Stieffel zeigte auf die Leiche. »Ein Fall für Sie.«

Zanetti überging die Bemerkung geflissentlich und nickte Valérie zu. »Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Man hat ihn heute um halb zehn hierherzitiert. Per Zufall befand er sich nur hundert Meter vom Wagen entfernt, als man die Tote fand. Er stellte den Tod fest und informierte umgehend die Polizei. Ich nehme an, Dr. Stieffel hat es bereits bestätigt.«

»Ja, hat er. Woran die Frau gestorben ist, weiß er noch nicht.« Valérie wandte sich an Stieffel. »Sag du es.«

»Ich rechne damit, Ihnen bis heute Abend Genaueres mitteilen zu können. Bis dato kann ich nur sagen, dass die Todesursache unklar ist, auch, weshalb sie in dieser Lage auf dem Tisch platziert wurde.«

»Danke. Dann erwarte ich gern Ihren Bericht.« Zanetti nahm Valérie sanft am Arm, nachdem er sich von Stieffel verabschiedet hatte. »Auf dem Platz vor dem Wagen warten die beiden Zeugen. Sie sind völlig durch den Wind.«

»Okay, ich übernehme das.«

»Caminada ist auch der Meinung, du solltest sie befragen.«

Valérie stieg über die Stufen vom Wagen. Die frische Luft streifte ihre Nase. Sie atmete mehrmals tief ein und aus und sah hinüber zum Paracelsus-Denkmal von 1942, welches eine Figurengruppe darstellte. Dahinter dehnte sich der gleichnamige Park aus, in dem sich eine Guggenmusik vor den Fassaden des alten Schulhauses formierte. Blecherne Töne schepperten aus deren Richtung. Valérie zögerte. »Hast du Gian Luca also schon gesehen?«

»Gesehen nicht, nur gehört. Er ist in Biberbrugg und wird das Administrative erledigen. Er möchte, dass du die Leitung der Ermittlungen übernimmst.«

»Und du?«

»Ich erwarte deine Resultate.« Er lächelte. »Minutiös, wie ich es von dir gewohnt bin.« Er drückte sie kurz an sich. Ein zärtlicher Liebesbeweis. Valérie machte es noch immer etwas aus, wenn dies an der Öffentlichkeit geschah. Resultate! Seine Erwartungshaltung war hoch.

Sie sah sich nach Fabia um. Sie befand sich bei den zwei jungen Männern. Mittlerweile hatten diese sich den Kostümen entledigt und saßen innerhalb der Abschrankung.

Valérie trat auf sie zu, nachdem sie Fabia gebeten hatte, in der Nähe zu bleiben.

»Mein Name ist Lehmann, ich bin Oberleutnant der Kantonspolizei Schwyz und die leitende Ermittlerin. Und Sie sind?« Sie sah den Älteren der beiden an.

Zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt, mittelgroß, schlaksig, schmale Nase, markantes Kinn. Die hellbraunen Haare verdeckten nur knapp ein blaues Augenpaar.

»Ich bin Silvano Mächler.«

»Fühlen Sie sich in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?«

»Mein Bruder steht noch immer unter Schock«, sagte der andere.

Valérie nahm ihn ins Visier. »Es tut mir leid, es muss sehr unangenehm für Sie sein. Verraten Sie mir trotzdem Ihren Namen?«

»Livio Mächler, wohnhaft in Bennau.« Er nannte ungefragt den Straßennamen und die Hausnummer. Unwesentlich kleiner als sein Bruder, war er genauso schlank. Seine Haare trug er kurz. Ansonsten konnte er die Verschwisterung nicht leugnen.

»Und Sie beide sind also heute Morgen mit dem Wagen von Bennau hierhergefahren?«

»Ja, das erste Mal haben wir etwas richtig Großes gebaut«, antwortete Silvano stolz und schien einen Moment die tragische Situation auszublenden.

Valérie nahm ihr iPhone zur Hand und tippte auf ein Icon. »Ich werde unser Gespräch aufnehmen.«

Sie wartete die Zusage beider Zeugen ab. Diese nickten einvernehmlich.

»Wann haben Sie die Tote entdeckt?«

»Ungefähr um Viertel nach neun«, antwortete Livio. »Wir stellten uns für den ›Sühudiumzug‹ auf. Ich wollte bei der Tür am Gartenhaus noch zwei Messingschilder anbringen. Nägel und Hammer lagen im Wagen. Da sah ich sie. Ich rief meinen Bruder. Es sah aus, als schlafe sie ihren Rausch aus. Allerdings war ich mir nicht sicher, wann und wie sie in die Hütte gekommen ist.«

»Haben Sie den Wagen seit Verlassen Ihres Wohnorts je aus den Augen gelassen?«, fragte Valérie.

»Nein«, antwortete Livio.

»Warum hatten Sie die Schilder nicht schon zu Hause angebracht?«

»Ist das wichtig?«, wollte Silvano wissen.

Valérie sah ihn erwartungsvoll an, ohne etwas zu sagen. Die Jungs standen eindeutig unter Schock. Ob diese Befragung Sinn ergab, wusste sie nicht. Doch je früher sie erfuhr, wie es sich zugetragen hatte, umso schneller hatte sie Anhaltspunkte. Und je mehr Distanz die Brüder zu dem Ereignis hatten, umso mehr würden sie dazudichten.

»Wann haben Sie das Gartenhaus zum letzten Mal betreten?«

»Gestern Abend«, antwortete Livio. »Wir brachten die vollen Thermoskrüge sowie die Pappbecher und eine Box mit Kuchen hinein. Wir haben den Wagen bei uns auf der Tenne über dem Stall gebaut, wo er die ganze Zeit stand.«

»Hätten Sie das nicht heute Morgen erledigen können?«

»Was denn?« Livio warf Silvano einen verzweifelten Blick zu.

»Essen und Getränke in den Wagen bringen«, sagte Valérie.

»Wir wollten möglichst lang schlafen«, sagte Silvano beschämt. »Darum bereiteten wir gestern alles vor, mit Ausnahme der Schilder.«

»Wann waren Sie gestern fertig und gingen schlafen?«

»Um zwanzig vor zehn«, antwortete Livio. »Unsere Eltern saßen in der Stube und hatten gerade den ›Tatort‹ fertig geschaut.«

Valérie kam diese Antwort verdächtig vor. Zu präzise, zu schnell. »Um neun Uhr vierzig also?« Ihr Blick schweifte zwischen den Brüdern hin und her.

»So ist es«, erwiderte Silvano. »Können wir jetzt gehen?«

Eine normale Reaktion, ging Valérie durch den Kopf. Eine Art Verdrängungsmechanismus. Valérie gab sich nicht zufrieden. Es schien ihr, als hätten Silvano und Livio ihre Antworten miteinander abgesprochen. Dumm waren sie nicht, und sie hätten in etwa wissen müssen, was Valérie fragen würde. »Kannten Sie die Frau?«

»Nein«, sagte Silvano.

»Ich habe sie noch nie gesehen«, erwiderte Livio.

»Haben Sie im Wagen noch etwas verändert, berührt oder rausgenommen, nachdem Sie die Frau gefunden haben?«

Die Brüder schauten sich stirnrunzelnd an. »Nein, wir haben sie nicht angerührt«, presste Livio heraus. »Ehrenwort. Wir haben auch nichts mitgenommen. Nachdem ich meinem Bruder die Frau gezeigt hatte, verließen wir den Wagen fluchtartig.«

»Wem haben Sie es zuerst gemeldet?«

»Nina Mettler«, sagte Livio. »Sie kam gerade bei uns vorbei … als Einzelmaske. Sie sagte uns, wir sollten niemandem etwas davon erzählen. Sie würde den Arzt holen, der mit seiner Frau und den Kindern in der Nähe stand.«

»Können Sie uns sagen, wo wir diese Nina Mettler finden?«

»Ich nehme an, auf der Bahnhofstraße. Der ›Sühudiumzug‹ findet ja statt.«

»Haben Sie ihre Handynummer?«

»Ja.« Livio holte sein Smartphone hervor. »Nina ist eine Freundin von uns.« Er gab ihren Namen ein und reichte Valérie das Gerät.

Valérie beauftragte Fabia damit, die Frau zu kontaktieren. Dann hielt sie Ausschau nach Schuler und seinen Leuten. Er befand sich wahrscheinlich beim Camion des KTD, den sie von hier aus nicht sah. Valérie holte ihr iPhone aus der Tasche, wählte Schulers Nummer und musste fünfmal läuten lassen, bis er den Anruf entgegennahm.

»Valérie, was gibt’s?« Seine Stimme zeugte von einer schlechten Laune. »Wir fahren jetzt zurück.«

»Auf keinen Fall. Ich möchte, dass ihr den Stall, in dem der Fasnachtswagen über Nacht gestanden hat, auf Spuren untersucht.«

»Einen Stall?«

»Also genauer eine Tenne, wo Heu getrocknet wird, nehme ich mal an.«

»Dann werden wir vielleicht die Nadel im Heuhaufen suchen.«

War da nicht ein leises Lachen, oder hatte Valérie sich getäuscht? Wäre ganz was anders gewesen, sollte Schuler plötzlich eine ironische Seite von sich zeigen.

»Ich werde mit den beiden jungen Männern zu ihrem Wohnort fahren. Somit können wir vor Ort eine erste Bestandsaufnahme machen. Gemäß Dr. Stieffel muss die Tote zwischen Mitternacht und heute früh gestorben sein.«

Louis kam auf Valérie zu. Am linken Lippenrand wippte eine brennende Zigarette. »Falls du mich brauchst, ich bin zur Stelle.«

»Das trifft sich gut. Schuler und seine Leute sehen sich den Ort näher an, von wo aus der Fasnachtswagen gestartet ist. Wir gehen mit und schauen uns dort mal um.«

»Ich fahre«, sagte Louis und schwang einen Froschanhänger mit dem Autoschlüssel hin und her.

***

Zufrieden über seinen Haarschnitt hatte Colin den Barbershop verlassen und war dann in Richtung Autobahnraststätte Fuchsberg bei Freienbach am Zürichsee gefahren, wo er mit Hubi das Treffen vereinbart hatte. Der Besuch beim Barber war nach einigen Irrungen und Wirrungen glimpflich abgelaufen. Er war in den Salon zurückgekehrt und hatte sich die Haare schneiden lassen. Weder Damir noch Tarek hatten Verdacht geschöpft, Colin könnte aufgrund anderer Interessen bei ihnen gewesen sein. Man hatte ihn zwar auf die eingangs gestellte Frage, ob man auch Stoff haben könne, noch mal angesprochen. Aber Colin hatte sich elegant aus der Situation retten können und sich doch noch zu einem Tee überreden lassen. Fast hätte er sich mit dem Ladenbesitzer Luan Dervishi, der später dazugekommen war, angefreundet. Unter dem schwarzen Vollbart hatte sich ein sympathisches Lächeln versteckt, wenn Luan von seiner Familie im kleinen Balkanland erzählte. Er hatte von den unberührten Stränden entlang des Ionischen und Adriatischen Meeres geschwärmt, von einem selten schönen Blau des Wassers, was es nur dort gab, von atemberaubenden Berglandschaften und den Städten mit archäologischen Ausgrabungsstätten. Albanien, hatte er betont, zähle zu den hoch entwickelten Staaten und sei eine demokratisch verfasste parlamentarische Republik.

Colin verließ die Autobahn, vorbei an der Tankstelle mit dem Shop, als er sich erinnerte, sich mit Hubi auf dem nach Osten ausgerichteten Parkplatz zu treffen. Colin machte eine Hundertachtziggradwende und fuhr im Schritttempo die geparkten Wagen entlang bis zu einer alten Doppelgarage. Er suchte vergebens nach einem Motorrad. Ein silbergraues Auto stand neben dem Pfad, der zu einer Baumgruppe führte. Er parkte, stellte den Motor ab und stieg aus. Was zum Teufel hatte Hubi vor, und weshalb hatte er diese seltsame Nachricht geschrieben? Weshalb wollte er ihn nicht direkt im Restaurant sehen, wo sie sich zum Mittagessen verabredet hatten? Im Auto saß niemand. Auch Hubi nicht. Hubi galt als ungeduldig, rastlos in jeder Hinsicht. Wenn er sich in etwas verbohrt hatte, blieb er dran und scheute Rückschläge nicht. Er war der Mann, der umfiel, wieder aufstand, die Krone richtete und weiterging. »Lass dich nie von jemandem abbringen, hast du dir mal etwas in den Kopf gesetzt« war sein Standardratschlag, wenn er sich mit Colin traf. »Bleib dran, auch wenn die andern dagegen sind. Nur Ausdauer und Hartnäckigkeit führen zum Ziel.« Weshalb Hubis Ziele hochgesteckt waren, hatte mit seinem Charakter zu tun. Mit Gewöhnlichem gab er sich nicht ab. Er brauchte die Herausforderung. Hätte Colin vor ihm nicht so viel Ehrfurcht gehabt, er hätte ihn als Fanatiker bezeichnet.

Hubi kam über den Pfad gelaufen. Auf den ersten Blick sah er etwas komisch aus mit seinen O-Beinen. Fußballer sei er früher gewesen, das präge. Colin kam er eher wie ein Cowboy vor. Er hatte kein Pferd, aber mindestens zweihundertzehn PS unter dem Hintern, wenn er mit seinem Motorrad, einer Honda CBR 1000 RR-R Fireblade, im Einsatz war.

»Hast du deine Maschine zu Hause gelassen?« Colin wies auf den silbergrauen Opel, der nicht mal ein Schatten seines motorisierten Zweirades war und den Colin nie zuvor gesehen hatte.

»Sie ist in Revision.« Hubi schlug ihm ein. »Und, wie lief es bei Nikita?«

»Nichts Verdächtiges. Coole Typen.« Colin wollte nicht zugeben, wie mulmig ihm zwischendurch dort zumute gewesen war. Dass er versucht hatte, Hubi anzurufen, erzählte er ihm nicht.

»Das sind sie meistens.« Hubi legte ihm den Arm um die Schultern. »Regel Nummer eins: Lass dich nicht von ihrem Auftreten blenden.« Er sah ihn nachdenklich an. »Hat sich mein Verdacht nicht erhärtet?«

Colin überlegte, ließ noch einmal sämtliche Bilder an seinem inneren Auge vorbeiziehen. »Als ich ins Geschäft trat, verschwand der Besitzer schnurstracks. Ich dachte zuerst, er hätte etwas zu verbergen.«

»Du hast dich sicher zum Tee einladen lassen«, sinnierte Hubi, worauf Colin nickte. »Regel Nummer zwei: Dein erstes Gefühl ist entscheidend. Und was war dein erstes Gefühl?«

Colin wusste genau, worauf Hubi hinauswollte. »Dass man dort etwas zu verbergen hat, überhaupt vor der Kundschaft, die man nicht kennt.«

»Richtig. Trotzdem hast du dich auf sie eingelassen.«

»Ein taktischer Zug«, rechtfertigte sich Colin. »Ja, ich sprach mit dem Ladenbesitzer. Einer seiner Mitarbeiter war mir gegenüber misstrauisch.«

»Misstrauisch? Weshalb?«

»Keine Ahnung.« Colin hob die Schultern. Er konnte nicht zugeben, wie ungeschickt er sich anfänglich benommen hatte. Wegen der Frage nach Stoff hatte er sich buchstäblich herausreden müssen. Zum Glück hatte man ihm geglaubt oder ihn für nicht ganz dicht gehalten. »Ich war Neukunde. Denen begegnet man dort offenbar kritisch.«

»Was sagte dein Bauchgefühl?«

»Ich habe kein Bauchgefühl.«

»Regel Nummer drei: Handle rational, ohne den Instinkt zu vernachlässigen.« Hubi lachte ihn an. »Komm, wir haben uns das Mittagessen verdient.«

Colin blieb stehen. »Nun kläre mich darüber auf, was es mit der Schmugglerbande auf sich hat.«

»Die Autobahnraststätte Fuchsberg …« Hubi sprach in Rätseln.

»Wir befinden uns vor Ort. Was ist mit der?«