Einsiedler Welttheater - Lukas Bärfuss - E-Book

Einsiedler Welttheater E-Book

Lukas Bärfuss

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Beschreibung

Lukas Bärfuss transportiert ein jahrhundertealtes Stück in die Gegenwart: das Theater als Welt. Welches ist deine Rolle? Seit hundert Jahren wird vor dem Kloster Einsiedeln das «Welttheater» des spanischen Barockdichters Pedro Calderón de la Barca aufgeführt. In diesem Stück gibt es keine Handlung, keinen Ort und keine Zeit, es spielt immer und überall, und deshalb spielt es nie und nirgendwo. Anstelle von Figuren treten Allegorien auf. Seine fast vierhundert Jahre alte Botschaft hat uns heute noch viel zu sagen. Die Fragen bleiben aktuell: Welche Rolle ist deine Rolle? Wofür bist du zu sterben bereit? Lukas Bärfuss schält aus dem Stück den utopischen Kern. Denn die Apokalypse am Ende dieses Stückes bedeutet nicht Untergang, sie bedeutet Enthüllung.  Dieser Band enthält den Originaltext der Einsiedler Aufführung auf Mundart, dazu eine Übertragung ins Schriftdeutsche und ein Essay des Autors

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Lukas Bärfuss

Einsiedler Welttheater

Nach dem Schauspiel von Don Pedro Calderón de la Barca

 

 

 

Mit einer Übertragung ins Schriftdeutsche und einem Essay des Autors

Über dieses Buch

Lukas Bärfuss transportiert ein Jahrhunderte altes Stück in die Gegenwart: Das Theater als Welt. Welches ist deine Rolle?

 

Seit hundert Jahren wird vor dem Kloster Einsiedeln das «Welttheater» des spanischen Barockdichters Calderón de la Barca aufgeführt. In diesem Stück gibt es keine Handlung, keinen Ort und keine Zeit, es spielt immer und überall, und deshalb spielt es nie und nirgendwo. Anstelle von Figuren treten Allegorien auf.

Seine fast vierhundert Jahre alte Botschaft hat uns heute noch viel zu sagen. Die Fragen bleiben aktuell: Welche Rolle ist deine Rolle? Wofür bist du zu sterben bereit? Lukas Bärfuss schält aus dem Stück den utopischen Kern. Denn die Apokalypse am Ende dieses Stückes bedeutet nicht Untergang, sie bedeutet Enthüllung. 

 

Dieser Band enthält den Originaltext der Einsiedler Aufführung auf Mundart, dazu eine Übertragung ins Schriftdeutsche und ein Essay des Autors

 

 

 

«Bärfuss besitzt (…) einen kämpferischen Geist, wie er nur wenige Dichter seit Georg Büchner auszeichnete, unter den Schweizer Schriftstellern vielleicht nur Max Frisch.» Wolfgang Höbel, Der Spiegel

«Die radikale Selbstbefragung, die Erschütterung von beruhigenden bürgerlichen Gewissheiten kennzeichnet alle Werke Bärfuss’ …» Richard Kämmerlings, Die Welt

Vita

Lukas Bärfuss, geb. 1971 in Thun, ist Dramatiker, Romancier und streitbarer Publizist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, die Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. Für seine Werke wurde er u.a. mit dem Berliner Literaturpreis, dem Schweizer Buchpreis und dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm «Vaters Kiste» und «Die Krume Brot».

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

ISBN 978-3-644-02200-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Vorbemerkung: Dieses Stück wurde geschrieben für das Spielvolk in Einsiedeln.

Dort spricht man ursprünglich eine Form des Innerschweizer Dialekts. Der Text folgt keiner lokalen Systematik und etabliert eine Variante des Schweizerdeutschen, die keine geografische Heimat kennt.

Bruno Amstad

1964–2024

in memoriam

Figuren

Mondheber Gabriel

Mondheber Michael

Der Autor

Emanuela

als Kind

als junge Frau

als reife Frau

als Greisin

Pablo

als Kind

als junger Mann

Der Bauer

Der König

Der Arme

Die Vernunft

Der Reiche

Die Schönheit

Eine Stimme

 

Die Welt auf einem Lama

Ihre Wunder:

das Lama

der Stille Ozean

der Südwind

der Nordwind

der Tagwind

der Jetstream

die Morgenröte

der Morgentau

der Frost

der Permafrost

die Wüste

der Donner

der Blitz

der Sturm

die Dürre auf Stelzen

die neun Kontinente

die Plattentektonik

die Zellteilung

die Sturzflut

die Überschwemmung

die schöne Pandemie

der Downburst

El Niño

ein Hurricane der Stufe neun

ein Waldbrand

Die Bäuerinnen und Bauern mit den Rechen

Die Bäuerinnen und Bauern mit den Hacken

Das Schäfchen

Das Kälbchen

Das Ferkel

Die kleinen Viecher

Das große Viech

 

Das Staatsvolk

Eine Sängerin mit Gitarre

Die Rebellen

Rot, eine Beraterin

Schwarz, eine Strategin

Braun, ein Bürokrat

 

Sechs Sargträger

Sechs Klageweiber

Der Tod

Die verdammten Seelen

Die ewigen Schatten

 

Die Elenden

Die Frauen am Pranger

Ein lahmer Priester

Jesus

Sein Jünger

Walli

Rolo, ihr Kind

Polli

Bolo, ihr Kind

Die in den Wolldecken

Die Straßenkinder

Die Obdachlose mit dem Vogelkäfig

Die verlotterte Braut

Claude, der Mann mit dem Pflock im Kopf

Sein Vater, auch er mit einem Pflock im Kopf

Claudette, Claudes Tochter, auch sie mit einem Pflock im Kopf

Hiob

Der Pestdoktor

Die Gefesselten

Die Gefolterten

Die Schönen

Vorspiel

Ein Sommerabend. Auf dem Klosterplatz in Einsiedeln, vor der Barockkirche. Alles ist angerichtet für das große Spiel, das Welttheater. Gleich soll es losgehen. Das Publikum hat sich seine Plätze gesucht. Auf der Bühne, genauer, auf der bogenförmigen Estrade, stehen in Kostüm und Maske die Figuren aus dem Welttheater: der Bauer, der König, der Arme, der Reiche, die Vernunft und die Schönheit. Sie wirken unbeteiligt, als säßen sie in der Garderobe und nicht auf der Bühne. Einer raucht, einer liest ein Buch, einer macht sich die Nägel. Die Vernunft scheint zu schlafen.

Links, vom Paracelsus-Park her, nähert sich mit Lärm und Geknatter ein Lieferwagen. Auf der offenen Ladefläche, festgezurrt mit Spanngurten, eine große Kiste. Wirklich groß, sie überragt das Fahrerhaus um das Doppelte.

Der Wagen hält vor der Kirchentür. Michael und Gabriel steigen aus, zwei Gesellen in Latzhosen. Michael streckt sich die Beine. Gabriel schaut sich um, scheint unzufrieden und kratzt sich am Kopf.

GABRIEL

Faltsch.

MICHAEL

Was?

GABRIEL

Mir.

MICHAEL

Warum?

GABRIEL

Nid hie.

MICHAEL

Wo de?

Bevor Gabriel antworten kann, klingelt sein Telefon. Er nimmt den Anruf entgegen. Im selben Augenblick ertönt eine Stimme.

STIMME

Herzlich willkommen in Einsiedeln, herzlich willkommen im Welttheater. Wir freuen uns, Sie heute Abend als unsere Gäste begrüssen zu dürfen. Die Vorstellung dauert 100 Minuten. Es gibt keine Pause.

MICHAEL

zündet sich eine Zigarette an.

STIMME

Rauchen ist auf dem Gelände verboten.

MICHAEL

drückt eilig die Zigarette aus.

GABRIEL

Während er telefoniert, schüttelt er den Kopf über seinen Kollegen.

STIMME

Telefone schalten Sie jetzt bitte in den Flugmodus.

GABRIEL

telefoniert weiter.

STIMME

Das gilt auch für das Personal auf der Bühne.

GABRIEL

hängt auf.

MICHAEL

lacht ihn aus.

GABRIEL

gibt ihm einen Tritt.

MICHAEL

fällt hin.

GABRIEL

lacht.

In seinem Rücken rollt der Lieferwagen abwärts in Richtung Kirchentreppe.

MICHAEL

macht Gabriel auf die Gefahr aufmerksam.

He!

GABRIEL

springt in den fahrenden Wagen und zieht die Handbremse. Vor dem Treppenabsatz kommt der Lieferwagen abrupt zum Stehen. Mit einem Knall lösen sich die Gurte, die Kiste kippt über das Fahrerhaus auf den Platz.

MICHAEL

schaut entsetzt die Kiste an.

GABRIEL

eilt zur Kiste, überprüft ihren Zustand und wendet sich an Michael.

Das da.

Er zeigt auf die Kiste.

Dert abe.

Er zeigt die Treppe hinunter in Richtung Marienbrunnen.

MICHAEL

Dert abe?

GABRIEL

Abe.

MICHAEL

Ganz?

GABRIEL

Bis zungerscht.

Hü!

Ein Tritt. Michael steht auf und macht sich an die Arbeit. Die Kiste ist schwer. Mit ihrer ganzen Kraft können Gabriel und Michael sie nur eine Handbreit heben.

GABRIEL

ist unzufrieden und zeigt Michael, wie er die Kiste greifen soll.

So!

Klar?

MICHAEL

Was?

GABRIEL

Häbe!

MICHAEL

Wo?

GABRIEL

Hie!

MICHAEL

Da?

GABRIEL

Obe!

MICHAEL

Obe?

GABRIEL

Obe!

MICHAEL

Und när?

GABRIEL

Äbe.

MICHAEL

Äbe?

GABRIEL

Häbe!

Und när abe!

Itz hü!

Ein neuer Versuch.

GABRIEL

Parat?

MICHAEL

Parat!

Sie heben die Kiste an.

Momänt!

GABRIEL

Was?

MICHAEL

Aua!

Nid guet.

GABRIEL

Chischte?

MICHAEL

Finger!

GABRIEL

Wele?

MICHAEL

Mine!

Igchlemmt!

GABRIEL

Wo?

MICHAEL

Äbe.

GABRIEL

Äbe?

MICHAEL

Obe!

Leise.

Himuherrgottdonnerwätter!

GABRIEL

Was?

MICHAEL

laut.

Himuherrgottdonnerwätter!

GABRIEL

Pschscht!

Nid!

MICHAEL

Nid?

GABRIEL

Nid flueche!

Nid hie.

Er deutet auf das Kloster.

Verbote!

Lüpfe.

Lüpfe!

Ein neuer Versuch.

MICHAEL

Ds schwär!

GABRIEL

Ds schwach!

Er verscheucht Michael, hebt die Kiste hoch und stemmt sie über seinen Kopf. Dort findet die Kiste ein labiles Gleichgewicht. Gabriel hat seine Kräfte überschätzt.

Hilf!

MICHAEL

lacht und hilft nicht.

GABRIEL

Itz hilf!

MICHAEL

lacht nur weiter.

GABRIEL

Mah nümm!

MICHAEL

kitzelt seinen Kollegen.

GABRIEL

Hör uf!

MICHAEL

kitzelt weiter.

GABRIEL

Nid –

Die Kiste fällt zu Boden.

– luschtig.

Die Kiste purzelt die Klostertreppe hinunter und kommt auf der ersten Zwischenstufe zum Stehen.

Leise.

Himuherrgottdonnerwätter!

MICHAEL

Was?

GABRIEL

laut.

Himuherrgottdonnerwätter!

Es gaht los.

Hü.

Nun Lärm aus der Kirche. Die Glocken setzen ein. Die beiden Mondheber verstehen, dass sie verschwinden müssen. Sie lassen die Kiste zurück und machen sich mit dem Lieferwagen aus dem Staub.

Erster Akt

Szene 1.1