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Lukas Bärfuss transportiert ein jahrhundertealtes Stück in die Gegenwart: das Theater als Welt. Welches ist deine Rolle? Seit hundert Jahren wird vor dem Kloster Einsiedeln das «Welttheater» des spanischen Barockdichters Pedro Calderón de la Barca aufgeführt. In diesem Stück gibt es keine Handlung, keinen Ort und keine Zeit, es spielt immer und überall, und deshalb spielt es nie und nirgendwo. Anstelle von Figuren treten Allegorien auf. Seine fast vierhundert Jahre alte Botschaft hat uns heute noch viel zu sagen. Die Fragen bleiben aktuell: Welche Rolle ist deine Rolle? Wofür bist du zu sterben bereit? Lukas Bärfuss schält aus dem Stück den utopischen Kern. Denn die Apokalypse am Ende dieses Stückes bedeutet nicht Untergang, sie bedeutet Enthüllung. Dieser Band enthält den Originaltext der Einsiedler Aufführung auf Mundart, dazu eine Übertragung ins Schriftdeutsche und ein Essay des Autors
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Seitenzahl: 72
Lukas Bärfuss
Nach dem Schauspiel von Don Pedro Calderón de la Barca
Mit einer Übertragung ins Schriftdeutsche und einem Essay des Autors
Lukas Bärfuss transportiert ein Jahrhunderte altes Stück in die Gegenwart: Das Theater als Welt. Welches ist deine Rolle?
Seit hundert Jahren wird vor dem Kloster Einsiedeln das «Welttheater» des spanischen Barockdichters Calderón de la Barca aufgeführt. In diesem Stück gibt es keine Handlung, keinen Ort und keine Zeit, es spielt immer und überall, und deshalb spielt es nie und nirgendwo. Anstelle von Figuren treten Allegorien auf.
Seine fast vierhundert Jahre alte Botschaft hat uns heute noch viel zu sagen. Die Fragen bleiben aktuell: Welche Rolle ist deine Rolle? Wofür bist du zu sterben bereit? Lukas Bärfuss schält aus dem Stück den utopischen Kern. Denn die Apokalypse am Ende dieses Stückes bedeutet nicht Untergang, sie bedeutet Enthüllung.
Dieser Band enthält den Originaltext der Einsiedler Aufführung auf Mundart, dazu eine Übertragung ins Schriftdeutsche und ein Essay des Autors
«Bärfuss besitzt (…) einen kämpferischen Geist, wie er nur wenige Dichter seit Georg Büchner auszeichnete, unter den Schweizer Schriftstellern vielleicht nur Max Frisch.» Wolfgang Höbel, Der Spiegel
«Die radikale Selbstbefragung, die Erschütterung von beruhigenden bürgerlichen Gewissheiten kennzeichnet alle Werke Bärfuss’ …» Richard Kämmerlings, Die Welt
Lukas Bärfuss, geb. 1971 in Thun, ist Dramatiker, Romancier und streitbarer Publizist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, die Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. Für seine Werke wurde er u.a. mit dem Berliner Literaturpreis, dem Schweizer Buchpreis und dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm «Vaters Kiste» und «Die Krume Brot».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
ISBN 978-3-644-02200-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Vorbemerkung: Dieses Stück wurde geschrieben für das Spielvolk in Einsiedeln.
Dort spricht man ursprünglich eine Form des Innerschweizer Dialekts. Der Text folgt keiner lokalen Systematik und etabliert eine Variante des Schweizerdeutschen, die keine geografische Heimat kennt.
Bruno Amstad
1964–2024
in memoriam
Mondheber Gabriel
Mondheber Michael
Der Autor
Emanuela
als Kind
als junge Frau
als reife Frau
als Greisin
Pablo
als Kind
als junger Mann
Der Bauer
Der König
Der Arme
Die Vernunft
Der Reiche
Die Schönheit
Eine Stimme
Die Welt auf einem Lama
Ihre Wunder:
das Lama
der Stille Ozean
der Südwind
der Nordwind
der Tagwind
der Jetstream
die Morgenröte
der Morgentau
der Frost
der Permafrost
die Wüste
der Donner
der Blitz
der Sturm
die Dürre auf Stelzen
die neun Kontinente
die Plattentektonik
die Zellteilung
die Sturzflut
die Überschwemmung
die schöne Pandemie
der Downburst
El Niño
ein Hurricane der Stufe neun
ein Waldbrand
Die Bäuerinnen und Bauern mit den Rechen
Die Bäuerinnen und Bauern mit den Hacken
Das Schäfchen
Das Kälbchen
Das Ferkel
Die kleinen Viecher
Das große Viech
Das Staatsvolk
Eine Sängerin mit Gitarre
Die Rebellen
Rot, eine Beraterin
Schwarz, eine Strategin
Braun, ein Bürokrat
Sechs Sargträger
Sechs Klageweiber
Der Tod
Die verdammten Seelen
Die ewigen Schatten
Die Elenden
Die Frauen am Pranger
Ein lahmer Priester
Jesus
Sein Jünger
Walli
Rolo, ihr Kind
Polli
Bolo, ihr Kind
Die in den Wolldecken
Die Straßenkinder
Die Obdachlose mit dem Vogelkäfig
Die verlotterte Braut
Claude, der Mann mit dem Pflock im Kopf
Sein Vater, auch er mit einem Pflock im Kopf
Claudette, Claudes Tochter, auch sie mit einem Pflock im Kopf
Hiob
Der Pestdoktor
Die Gefesselten
Die Gefolterten
Die Schönen
Ein Sommerabend. Auf dem Klosterplatz in Einsiedeln, vor der Barockkirche. Alles ist angerichtet für das große Spiel, das Welttheater. Gleich soll es losgehen. Das Publikum hat sich seine Plätze gesucht. Auf der Bühne, genauer, auf der bogenförmigen Estrade, stehen in Kostüm und Maske die Figuren aus dem Welttheater: der Bauer, der König, der Arme, der Reiche, die Vernunft und die Schönheit. Sie wirken unbeteiligt, als säßen sie in der Garderobe und nicht auf der Bühne. Einer raucht, einer liest ein Buch, einer macht sich die Nägel. Die Vernunft scheint zu schlafen.
Links, vom Paracelsus-Park her, nähert sich mit Lärm und Geknatter ein Lieferwagen. Auf der offenen Ladefläche, festgezurrt mit Spanngurten, eine große Kiste. Wirklich groß, sie überragt das Fahrerhaus um das Doppelte.
Der Wagen hält vor der Kirchentür. Michael und Gabriel steigen aus, zwei Gesellen in Latzhosen. Michael streckt sich die Beine. Gabriel schaut sich um, scheint unzufrieden und kratzt sich am Kopf.
GABRIEL
Faltsch.
MICHAEL
Was?
GABRIEL
Mir.
MICHAEL
Warum?
GABRIEL
Nid hie.
MICHAEL
Wo de?
Bevor Gabriel antworten kann, klingelt sein Telefon. Er nimmt den Anruf entgegen. Im selben Augenblick ertönt eine Stimme.
STIMME
Herzlich willkommen in Einsiedeln, herzlich willkommen im Welttheater. Wir freuen uns, Sie heute Abend als unsere Gäste begrüssen zu dürfen. Die Vorstellung dauert 100 Minuten. Es gibt keine Pause.
MICHAEL
zündet sich eine Zigarette an.
STIMME
Rauchen ist auf dem Gelände verboten.
MICHAEL
drückt eilig die Zigarette aus.
GABRIEL
Während er telefoniert, schüttelt er den Kopf über seinen Kollegen.
STIMME
Telefone schalten Sie jetzt bitte in den Flugmodus.
GABRIEL
telefoniert weiter.
STIMME
Das gilt auch für das Personal auf der Bühne.
GABRIEL
hängt auf.
MICHAEL
lacht ihn aus.
GABRIEL
gibt ihm einen Tritt.
MICHAEL
fällt hin.
GABRIEL
lacht.
In seinem Rücken rollt der Lieferwagen abwärts in Richtung Kirchentreppe.
MICHAEL
macht Gabriel auf die Gefahr aufmerksam.
He!
GABRIEL
springt in den fahrenden Wagen und zieht die Handbremse. Vor dem Treppenabsatz kommt der Lieferwagen abrupt zum Stehen. Mit einem Knall lösen sich die Gurte, die Kiste kippt über das Fahrerhaus auf den Platz.
MICHAEL
schaut entsetzt die Kiste an.
GABRIEL
eilt zur Kiste, überprüft ihren Zustand und wendet sich an Michael.
Das da.
Er zeigt auf die Kiste.
Dert abe.
Er zeigt die Treppe hinunter in Richtung Marienbrunnen.
MICHAEL
Dert abe?
GABRIEL
Abe.
MICHAEL
Ganz?
GABRIEL
Bis zungerscht.
Hü!
Ein Tritt. Michael steht auf und macht sich an die Arbeit. Die Kiste ist schwer. Mit ihrer ganzen Kraft können Gabriel und Michael sie nur eine Handbreit heben.
GABRIEL
ist unzufrieden und zeigt Michael, wie er die Kiste greifen soll.
So!
Klar?
MICHAEL
Was?
GABRIEL
Häbe!
MICHAEL
Wo?
GABRIEL
Hie!
MICHAEL
Da?
GABRIEL
Obe!
MICHAEL
Obe?
GABRIEL
Obe!
MICHAEL
Und när?
GABRIEL
Äbe.
MICHAEL
Äbe?
GABRIEL
Häbe!
Und när abe!
Itz hü!
Ein neuer Versuch.
GABRIEL
Parat?
MICHAEL
Parat!
Sie heben die Kiste an.
Momänt!
GABRIEL
Was?
MICHAEL
Aua!
Nid guet.
GABRIEL
Chischte?
MICHAEL
Finger!
GABRIEL
Wele?
MICHAEL
Mine!
Igchlemmt!
GABRIEL
Wo?
MICHAEL
Äbe.
GABRIEL
Äbe?
MICHAEL
Obe!
Leise.
Himuherrgottdonnerwätter!
GABRIEL
Was?
MICHAEL
laut.
Himuherrgottdonnerwätter!
GABRIEL
Pschscht!
Nid!
MICHAEL
Nid?
GABRIEL
Nid flueche!
Nid hie.
Er deutet auf das Kloster.
Verbote!
Lüpfe.
Lüpfe!
Ein neuer Versuch.
MICHAEL
Ds schwär!
GABRIEL
Ds schwach!
Er verscheucht Michael, hebt die Kiste hoch und stemmt sie über seinen Kopf. Dort findet die Kiste ein labiles Gleichgewicht. Gabriel hat seine Kräfte überschätzt.
Hilf!
MICHAEL
lacht und hilft nicht.
GABRIEL
Itz hilf!
MICHAEL
lacht nur weiter.
GABRIEL
Mah nümm!
MICHAEL
kitzelt seinen Kollegen.
GABRIEL
Hör uf!
MICHAEL
kitzelt weiter.
GABRIEL
Nid –
Die Kiste fällt zu Boden.
– luschtig.
Die Kiste purzelt die Klostertreppe hinunter und kommt auf der ersten Zwischenstufe zum Stehen.
Leise.
Himuherrgottdonnerwätter!
MICHAEL
Was?
GABRIEL
laut.
Himuherrgottdonnerwätter!
Es gaht los.
Hü.
Nun Lärm aus der Kirche. Die Glocken setzen ein. Die beiden Mondheber verstehen, dass sie verschwinden müssen. Sie lassen die Kiste zurück und machen sich mit dem Lieferwagen aus dem Staub.