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Dieser Band präsentiert die drei bislang wichtigsten Stücke des jungen Dramatikers. »Mit »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" stürmt Lukas Bärfuss die deutschen Bühnen", schrieb »Die Welt"; und das Schweizer Radio feierte das Stück als »Sternstunde des Theaters". 2015 kam der Film »Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern" (Regie: Stina Werenfels) in die Kinos. Der Autor, der seit 1998 Theaterstücke schreibt und mit der freien Gruppe »400asa", die sich in der Tradition der dänischen Dogma-Filmemacher sieht, für Furore sorgte, nahm das gelassen und bekannte, ihn interessiere das Theater gerade »als eine besonders unvollkommene Kunst. Alles knirscht. Ich selber knirsche, die Schauspieler knirschen, sogar die alten Sessel." In gewissem Sinne ist in »Die sexuellen Neurosen ..." die geistig zurückgebliebene Dora solch ein Sand im Getriebe der guten, der liberalen Gesellschaft - nicht, solange sie die Rolle der nur Bemitleidenswerten ausfüllt, aber sofort, wenn sie eigene Ansprüche stellt und nicht länger als Projektionsfläche allen Toleranzgeschwafels dient. Hinter dem Gerede zu den wirklichen Dingen zu kommen und nicht zuletzt aus der schelmischen Infragestellung von Autoritäten komische Wirkungen zu schlagen, das interessierte den jungen Schweizer Autor auch schon in seinem 2001 uraufgeführten Stück »Meienbergs Tod". Komplettiert wird der Band durch Bärfuss' neuestes Stück »Der Bus", über eine äußerst merkwürdige Pilgerreise nach Tschenstochau. 2005 wurde es am Thalia Theater Hamburg uraufgeführt.
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Seitenzahl: 251
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Lukas Bärfuss
Stücke
Meienbergs Tod
Die sexuellen Neurosen unserer Eltern
Der Bus(Das Zeug einer Heiligen)
Impressum
Meienbergs Tod
Eine Groteske
Hans
Daniel
Karl
Thomas
Schauspieler
Ruth
Eva
Schauspielerinnen
Hella
Verschiedene episodische Rollen: der General, der Stallbesitzer, der Journalist, der chilenische Dichter, der schweizer Dichter, die beiden Germanisten, das Pferd, die Mutter.
Ort: Die Bühne eines Theaters
Zeit: Gegenwart
Mitarbeit: Samuel Schwarz
dreht Hansdas Licht an. Man erkennt die leere Bühne, in deren Mitte eine Uhr hängt, die sofort von 115 gegen Null zu laufen beginnt. Die Schauspielerinnen haben sich zu einem Chor aufgestellt. Hans reiht sich eilig ein.
CHOR
Hochverehrtes Publikum!
Sie sind gekommen um
heute abend den Tod des Journalisten
Meienberg zu sehen anhand
einiger Szenen von denen man annimmt
sie seien gegriffen aus seinem Leben. So
nämlich fehlt unsere Kunst, den Tod
vermögen wir nur zu zeigen durch das Leben
das ihm voranging. Wer blicken will
in das Feuer der Sonne braucht das
kleinere Feuer der Kerze um
den Spiegel zu schwärzen. So
schwach sind unsere Augen, das Bild
ertragen sie nur rußig und in den Seiten verkehrt.
Ein Leben aus so alter Zeit zeigen wir
daß wir nicht mehr wissen
ist die Geschichte auch wahr oder etwa erfunden
von einem aus Langeweile oder Absicht.
Früher war das Leben eine Mühsal,
so zeigen wir ein Leben aus Mühsal.
Er wurde geboren in einem Jahr
da alle glaubten der Krieg
der in der Welt war komme auch in die Heimat
denn Teil dieser Welt war doch die Heimat.
Doch der Krieg kam nicht und als er
dann aus der Welt war warteten sie noch immer.
Was nie begonnen hat kann auch nicht enden.
Der Krieg endete nicht für den Menschen.
Meienberg aber saß in den Kirchen, liebte
das Herz Jesulein und haßte
wer die Heimat nicht liebte.
In all seinen Zimmern
fehlte der Vater und die Mutter erschien.
Früh lehrte sie ihn, die Gerechtigkeit
herrsche im Himmel. Der Dummkopf
suchte nach ihr auf Erden.
So war er im Krieg.
Und hatte keinen Vater. Die Mutter
gab ihren Sohn den Mönchen zur
Schule. Wie strebsam er war, fern
von der Heimat, wie fleißig im
Unterricht und wie folgsam er
den Kopf senkte unter die Dogmen der
alleinseligmachenden Kirche. Er
fühlte sich als Krieger, geboren zu
kämpfen wider die Sünder
vor dem Herrn. Er wußte was
recht war. Er denunzierte Homo-
sexuelle und Kommunisten in
Artikeln und Briefen mit einem
Eifer, der auffiel den Kriegern.
Das war sein Leben bis zwanzig.
Was tat er sonst noch bis zwanzig?
Die neueste Geschichte studierte er
an der Universität. Was
tat er sonst noch bis zwanzig?
Er lernte reiten. Sonst
tat er nichts.
Eine grüne Wiese zur Zeit der Kirschblüte. Meienberg reitet auf einem Pferd. Das Pferd will nicht. Meienberg traktiert es mit der Reitgerte. Dem Boden entsteigen ein General und ein Stallbesitzer, beide halb verwest.
GENERAL Der Junge reitet wie ein Gardeoffizier. Er ist die größte Hoffnung seit dreiundvierzig. Die größte Hoffnung seit dem jungen de Diessbach.
STALLBESITZER Ihr Gardeoffizier reitet mir das Pferd kaputt, Herr General. Er hat mir schon ein Pferd kaputtgeritten. Ich mußte es zum Metzger bringen.
GENERAL Darüber hat er sich beklagt.
STALLBESITZER Hat er das. Es verwundert mich nicht. Das ist die Bürolistenbrut. Die kann nicht anders als sich beklagen.
GENERAL Das mit den Hufen hätten Sie ihm ersparen können.
STALLBESITZER Das ist die Tradition, Herr General. Wissen Sie, ich habe in meinem Leben an die dreißig Stuten besessen. Alle habe ich zum Metzger gebracht, als der Tag gekommen war, und von allen habe ich die vier Hufe behalten und zurück in den Stall gestellt als Andenken.
GENERAL Er wird trübsinnig, wenn er nicht reiten kann. Es ist nicht gut, wenn die Hoffnung vergrämt.
STALLBESITZER Ich werde die Tradition nicht ändern wegen der Bürolistenbrut.
Meienberg ist abgestiegen. Er traktiert das Pferd weiter.
GENERAL Er ist ein guter Katholik.
STALLBESITZER Ich scheiß Ihnen was auf die Konfession. Er macht mir das Gestüt kaputt.
Schweigen.
Ich werde ihm ein Schwein zu reiten geben. Er wird es nicht merken.
GENERALbeachtet ihn nicht: Er reitet durch in seinen guten Stiefeln.
Ein schwacher Rücken! Der Regimentsarzt, der ihn untauglich schrieb, gehört erschossen.
STALLBESITZER Ich kenne nur den Rücken meiner Stute. Er ist blutig, wenn er sie nach Hause bringt.
GENERAL Er ist eine Kriegernatur. Wie der junge de Diessbach. Der hatte ebensolche Stiefel.
STALLBESITZER Der junge de Diessbach fuhr vierzig auf einen Ausflug in die SS, soviel ich weiß.
GENERAL Davon verstehen Sie nichts.
STALLBESITZER Das ist Landesverrat, soviel ich weiß.
GENERAL Sie haben etwas an Ihrem Zahn. Er reißt dem Stallbesitzer einen Zahn aus.
STALLBESITZER Das ist, weil mir die Vitamine fehlen. Das ist, weil ich mir nichts leisten kann. Ihr Gardeoffizier (zeigt auf Meienberg) hat mir seit drei Wochen den Hafer nicht bezahlt.
Er habe selbst nichts zu fressen. Interessiert es mich, was der Bürolist frißt?
GENERALschweigt. Jetzt geben wir ihn drei Wochen den Dominikanern, in die Exerzitien. Dann darf er zu den Negern nach Angola. Gegen die Volksfront. Wenn der Krieg nicht zu uns kommt, dann müssen wir eben zu dem Krieg hingehen.
CHOR
Er fährt nicht nach Angola, der Krieger
erobert Paris. Das brennt zu jener Zeit. Es ist
der Sommer achtundsechzig. Viel Krieg
findet er da. Er schreibt darüber. Den
Zeitungen in der Heimat berichtet er vom Zorn
der Studenten, von den Huren
in seiner Straße und den Sorgen der Juden, die
Aschkenasim mögen keine Sephardim, keiner
mag die Araber, und zu Jom Kippur gibts Krieg.
Der Redaktor zu Zürich denkt:
Gut schreibt der Junge. Soviel Atmosphäre.
Er geht hin. Er ist dabei, doch steckt er
nicht drin. Er hat Distanz. Aus ihm kann
etwas werden, denn er hört zu.
Er hört vom Unrecht. Er hört den Pfarrer:
Ich habe die Pflicht, Leute zu begraben. Ich habe Christian
begraben, er war Arbeiter, fiel vom dritten Stock des
Neubaus. Jean-Pierre, dreißig, sieben
Meter haben bei ihm gereicht. Maurice fiel
vom Gerüst. Courchinoux, von einem Karren
erdrückt in der Fabrik. Ein Algerier durch Strom
getötet auf dem Bauplatz. Mit achtundfünfzig
Jahren starb Martin nach fünfundzwanzig Jahren
Staublunge. Das waren fünfundzwanzig Jahre
Hundeleben. Ich besuche die Spitäler. Lariboisière
Laënnec. Da liegen die aus den Gießereien. Sie
haben alle kaputte Füße von den Buntmetallen.
In jener Gegend kommen auf einen Mann
über sechzig fünfundzwanzig Frauen. Man stirbt hier
zwischen vierzig und fünfzig. Wenn die Bidonville einem
Supermarkt im Weg steht, kommt die Polizei
Sonntagnachmittag, wenn’s keiner sieht. Und abends
steht kein Bidonville mehr. Wer kann etwas dagegen haben. Wer liebt die Bidonville, wer haßt den Supermarkt?
Diesen Menschen gibt es nicht.
Zu Zürich denkt der Redaktor:
Gut schreibt der Junge. Er geht hin. Er ist
dabei, doch manchmal steckt er zu sehr drin.
Etwas mehr Distanz. Ich werde kürzen, damit er sauber bleibt und aus dem Jungen, der so gut hört,
auch wirklich etwas wird.
Er will es hören. Er hört den Maler:
Ich bekenne: Ich gehörte zur Kulturbourgeoisie. Ich verkaufte der Industrie meine Leinwände. Es brauchte
Mai achtundsechzig, um aus mir einen Revolutionär zu machen. Die Bürger schreien mich nun Betrüger. Es schmerzt sie der Klassenverrat. Da ich in meiner Revolte nicht nach Katmandu fuhr in das Kloster
und nicht in die Klinik im Grünen, stellen sie mich vor die verschimmelten Schranken ihrer Gerichte.
Die blinde Marianne dulden sie nur aus Gips. Mich
dulden sie nur tot. Der politische Kampf, mon ami,
ist eben kein Galadiner.
Er begreift die Kategorien. Gerechtigkeit
ist eine Kategorie und Solidarität
ist eine Kategorie. Er schult sein Bewußtsein
für die eigene Klasse und schenkt sein Herz
der Tochter spanischer Antifaschisten im Exil.
Die Haltbarkeit der Barrikaden studiert er.
Die in der Rue Rivoli von achtzehnhundert-
einundsiebzig war errichtet in drei Viertelstunden.
Er sieht sich als Kommunarde, wie ihm
unter den Kartätschen rot die Brust erblüht.
Topographisch untersucht er das Pflaster. Es liegt
in feinem Sand aus der Normandie. Den Lehrsatz:
Den Bürger soll man mit dem Kopfe
auf das Pflaster schlagen, entwickelt er
nach dialektischer Methode:
Wenn der Bürger nicht zum Pflaster komme, so lasset
das Pflaster zum Bürger gehen. Er fühlt sich gut.
Endlich ist Krieg.
Zu Zürich denkt der Redaktor.
Wo ist der Junge, der so gut schreibt? Nur noch
Polemik. Keine Distanz. Über die Revolte
sollte er berichten und nicht selbst revoltieren.
Ich werde dies nicht bringen. Jetzt steckt er drin.
Soll er doch stecken. Aus dem Jungen wird
ohnehin nichts werden.
verläßt Daniel plötzlich das Spiel.
DANIEL Schluß! Aus! Genug Didaktik!
Soll ein anderer diesen Meienberg spielen. Oft genug bin ich in dieser Rolle verschwunden. Es ist unergiebig. Frustierend. Zermürbend. Und zudem schlecht bezahlt.
RUTH Jetzt ist es also passiert.
HANS Ich habe es erwartet.
KARL Man hat es kommen sehen.
HELLA Es wird gespielt, nicht diskutiert!
DANIEL Unser Spiel ist wirkungslos.
THOMASzu Daniel, vorwurfsvoll: Unsere Arbeit zeigt sehr wohl Wirkung.
DANIEL Vor allem an uns.
Wir werden immer dünner.
EVA Immerhin spielten wir letzte Woche in Deutschland!
DANIELspöttisch: In Deutschland!
In Paderborn.
HELLA Jetzt fang nicht wieder damit an.
DANIEL Es ist ein Scheißkaff.
HANS Sag das nicht. Im Stadtpark blühen wundervolle Rosen.
DANIELHans ins Gesicht: Paderborn ist ein gottloses Scheißkaff.
EVA Das ist illoyal.
Die Stadt hat uns eingeladen.
DANIEL Sie haben uns abgezogen.
Und keiner von euch Duckmäusern hat etwas zu sagen gewagt. Das heißt, in der Garderobe habt ihr das Maul verrissen, von Ausbeutung und Vetternwirtschaft auf dem Buckel der Schauspieler gesprochen, aber im Fahrstuhl in die sechste Etage stand ich dann alleine, und auf der Petition in meiner Hand war genau eine Unterschrift, und zwar meine eigene. Feine Kollegen!
KARL Petitionen! So etwas Unzeitgemäßes!
THOMAS Mit solchen Aktionen schadet man am Ende nur sich selbst.
HELLA Also, diese Diskussion führen wir jetzt nicht.
DANIEL Doch, diese Diskussion führen wir jetzt.
HELLA Wir haben Vorstellung.
Schweigen.
Und überdies wurden wir sehr wohl bezahlt.
DANIEL So etwas nennst du Bezahlung.
THOMAS Das Essen war gut.
DANIEL Zwiebelsuppe mit Brot.
KARL Immer geht’s dir ums Fressen.
DANIEL Um was sonst?
KARL Um die Kunst.
DANIEL Um die Kunst!
Sobald ich wieder etwas zu scheißen habe, putze ich mir den Arsch ab mit deiner Kunst.
KARL Laß das!
DANIELbedrohlich: So?
KARL Ich bin friedliebend.
DANIELschlägt Karl die Faust ins Gesicht. Tumult. Die anderen feuern die beiden eine Weile an, dann wird Thomas plötzlich wieder des Publikums gewahr.
HELLA Was wird man nur von uns denken!
Und zudem läuft die Zeit ab.
Daniel und Karl lassen voneinander ab. Die Schauspieler stehen eine Weile ratlos.
Meldet sich jemand freiwillig?
Es geht immerhin um die Hauptrolle.
RUTH Ich würde es tun.
Das wißt ihr.
Aber ich bin nicht in Stimmung.
HANS Mir geht es genauso.
RUTH Da geht ihr doch mit mir einig, daß man in Stimmung sein muß, nicht wahr, damit man hineinkommt in den Meienberg.
HANS Absolut.
RUTH Sonst bleibt dieser Tod irgendwie blaß, nicht wahr, kriegt kein Profil, ein solcher Tod, so ohne Stimmung. Rein künstlerisch, meine ich.
THOMAS Ganz meine Meinung.
RUTH Wir sind schließlich professionell.
Schweigen.
Dann blicken alle Hans an.
HANS Ich kann nicht. Ich kann diesen Meienberg nicht spielen.
Ich dachte, dies sei klar.
Schweigen.
Ich habe Angst.
HELLA Was hat er gesagt?
EVA Er hat Angst.
HELLA Angst ist gut. Das Publikum mag Angst.
HANS Ich versteife mich, wenn ich Angst habe.
HELLA Was hat er gesagt?
EVA Er versteift sich.
HANS Ich werde starr. Wie eine Dörrbohne.
HELLA Wie?
EVA Er wird starr.
HELLA Ah ja, starr, starr ist fantastisch!
Starr paßt!
Starr nehmen wir!
HANSweinerlich: Ich bitte euch.
Wir hatten es ausgemacht.
Zu Daniel: Hilf mir, ich bitte dich!
Ich will nicht sterben.
DANIEL Niemand will sterben.
HANS Ich habe der Welt noch soviel zu geben.
DANIEL Nur keine Selbstüberschätzung.
HELLAungeduldig: Wenn wir vielleicht könnten.
Das Publikum wartet und die Zeit rennt uns davon.
HANS Jetzt muß ich sterben.
Verzweifelt: Dabei hatte ich Ideale.
HELLA Es ist immer erhebend, Ideale sterben zu sehen.
DANIELhorcht auf. Du hattest Ideale?
HANS Natürlich!
Große Ideale!
HELLA Was hat er gesagt?
DANIELzu Hella: Wir sollten es uns noch einmal überlegen.
HELLA Wozu?
DANIEL Dient doch keinem, wenn er starr ist.
HELLA Ein bißchen starr wäre aber gut.
DANIEL Ein bißchen starr vielleicht schon.
Aber nicht bocksstarr.
HELLA Glaubst du?
DANIEL Das ist offensichtlich.
HELLA Wer bleibt?
EVA Ich bin zu sehr vom Fleisch.
RUTH Will heißen?
HANS Möchte ich auch einmal wissen, was das heißen soll!
EVA Es sieht nicht gut aus, wenn ich krepiere.
THOMAS Nur nicht zu bescheiden.
EVA Ich beweise es euch.
Sie läßt sich zu Boden fallen und spielt ein großes Sterben.
HELLA Ein bißchen klapperig.
KARL Nicht sanguin genug.
RUTH Mager ist irgendwie untheatral.
HANS Total untheatral.
EVAindem sie aufsteht: Sage ich es doch.
HELLA Und jetzt?
Das endet böse, wenn das so weitergeht.
Alle gucken Daniel an.
Könntest du nicht vielleicht trotzdem, ein letztes Mal nur noch?
THOMAS Wie in Paderborn, weißt du noch?
Groß.
Das war ein großes Sterben.
Eine Weile noch strich er
um die deutschen Städte, scheu vor sich selbst.
Sein Geist hauste in Hecken,
in Dornen ruhte das Herz.
Dann fiel er.
Blieb liegen und lag,
lag lange im Feld
unbemerkt. Nur eine Füchsin
brachte ihre Welpen und brach
ihn auf unter der Lunge.
Aus seiner Zunge sproß Gras.
So schwieg er durch Jahre.
Durch die offenen Ohren
blies ihm der Wind, brachte den Lärm
aus Frankreich und Polen.
Fern das Grollen im Orient.
RUTH Toller Text!
DANIEL Bockssänger!
Wirst mich nicht einwickeln mit deiner huldvollen Romantik!
Schweigen.
Ihr seid nur zu feige! Ihr wart schon in Paderborn zu feige!
HELLA Was hat er gesagt?
EVA Daß wir zu feige sind.
THOMAS Was hat das mit Feigheit zu tun?
HANS Möchte ich auch gerne wissen.
RUTH Lächerlich.
DANIEL Ihr habt Angst, eure Schminke könnte verschmieren, eure Rüschchen könnten zerknittern.
Schöngeister!
KARL Deine revolutionäre Attitüde ist einfach nur peinlich!
DANIEL Mal schauen, ob dir meine Faust auch peinlich ist!
Er geht auf Karl los.
EVAhält ihn zurück. Schrei hier nicht herum. Wir haben Publikum.
DANIEL Weißt du, was mich dieses Publikum kann?
Schweigen.
Ich werde für diese Feiglinge meinen Kopf nicht mehr hinhalten.
Ich mache es nicht.
Ich starb schon in Deutschland.
KARL Dann wird dir das Krepieren in der Provinz ja nicht schwerfallen.
EVAzu Daniel: Denk bitte nicht nur an dich.
DANIEL Was meinst du damit?
EVA Damit will ich sagen –
DANIEL Ich höre.
EVA Es gibt noch andere als wie nur dich.
DANIEL Ach ja?
EVAunsicher: Ja, wir sind auch noch da.
DANIEL Ich erkenne dich gar nicht wieder.
EVA Ich habe dazugelernt.
DANIEL Wie konnte ich dich nur je lieben.
EVA Sag so etwas nicht.
Du hast mich geliebt.
DANIEL Ich sage nicht, daß ich es nicht tat. Ich sage nur, daß ich mich frage, wie ich es konnte.
EVAwendet sich geschmerzt von ihm ab.
DANIELsteht sehr alleine. Nur Hans steht in der Nähe. Zu ihm: So hilf mir doch!
HANS Weshalb?
DANIEL Ich half dir auch.
HANS Das ist lange her.
DANIEL Feiner Kamerad!
HELLAnimmt Daniel zur Seite: Es gehört sich nicht für einen Entertainer, einen Berufskollegen öffentlich zu schelten.
DANIEL Ich bin kein Entertainer.
HELLA Wir alle sind Entertainer. Sie legt ihm den Arm um die Schulter. Ich will dir etwas sagen. Ich wollte es dir schon lange sagen. Ich habe es dir bis jetzt nicht gesagt, weil sich keine Gelegenheit dazu bot.
Schweigen.
Ich mag dich.
Du bist ein patenter Kerl.
Du bist von einem anderen Kaliber als die da.
Das sind Proleten im Gegensatz zu dir.
DANIEL Verhöhne nicht das Proletariat.
HELLA Natürlich nicht. Ich bin seit dreißig Jahren in diesem Geschäft. Ich habe viele kommen und gehen sehen. Solche wie dich findet man selten. Du bist gebildet und hast ein Bewußtsein. Und das gibt dir die Tiefe. Das mag das Publikum.
Schweigen.
Wir brauchen dich.
DANIEL Ich biedere mich keinem an. Auch nicht dem Publikum.
HELLA Das verlangt auch niemand von dir. Listig: Übrigens, dein Sterben in Paderborn war wirklich beeindruckend.
DANIELgeschmeichelt: Findest du?
HELLA Unbedingt. Ich war innerlich so bewegt, das kann ich dir gar nicht sagen. Wie du da auf diesem Feld lagst, mit dieser Füchsin, weißt du, um dich verstreut die Ideale.
Und wie dein Gesicht geleuchtet hat, wie mit Kalk bestäubt, und an den Schläfen das Blau der Adern!
Und über allem der Lärm aus Frankreich und Polen!
DANIELvergißt einen Moment lang seine Rolle: Und das Grollen im Orient!
HELLA Und das Grollen im Orient!
Schweigen.
Wir brauchen dich.
DANIELdeutet mit dem Arm in den Raum und auf das Publikum: Ehrlich gesagt, ist dies nicht mein Niveau, das da.
Das habe ich hinter mir. Zeigt auf Hans. Nenn mir einen Grund, weshalb ich für einen wie den da sterben sollte.
HELLA Was kümmert dich dieser Statist? Dieser Kleingeist ist zu nichts Großem fähig. Der denkt doch nur an sein Häuschen und an das Rosenspalier.
DANIEL Welches Rosenspalier?
HELLA Hat er dir noch nicht davon erzählt?
Dann wird er noch.
EVA Die Zeit!
HANS Sie läuft und läuft!
THOMAS Es wird nicht mehr für alles reichen.
KARL Wir wollten doch alles erzählen, vom Anfang bis zum Schluß!
HELLAzu Daniel: Ich verspreche dir, es wird ganz leicht gehen.
Schweigen.
Und es soll das letzte Mal sein, ja, heute abend stirbst du das letzte Mal, das verspreche ich. Sie reicht ihm die Hand.
DANIELzögert und nimmt sie schließlich.
HANStritt zu Daniel. Kleinlaut: Verzeih mir.
DANIEL Warum sollte ich?
HANS Dir und mir zuliebe.
Wir sehen uns täglich.
Wir essen zusammen in der Kantine.
Wir reisen zusammen.
Wir arbeiten zusammen.
Wir müssen miteinander auskommen.
Er reicht Daniel die Hand.
DANIELspuckt auf den Boden: Ich habe nicht im Sinn, mich auf deine Gutmütigkeit einzulassen.
EVAschaut auf die Uhr: Es ist schon spät.
Wir haben viel Zeit verloren.
KARL Den Selbstmordversuch könnten wir streichen.
THOMAS Und gleich zu meinem Monolog gehen.
DANIEL Der Selbstmordversuch wird natürlich nicht gestrichen.
EVA Wir haben nur noch x Minuten.
DANIEL Entweder spielen wir jetzt den Selbstmordversuch, oder ihr müßt euch einen anderen Meienberg suchen.
KARLboshaft: Es ist eine schlechte Szene. Schlechter Text, schlecht inszeniert.
DANIEL Sag das noch einmal.
KARL Du willst bloß brillieren.
DANIELschlägt Karl die Faust ins Gesicht, so daß es blutet. Gerangel.
HELLA Nun kommt, Gewalt ist wirklich keine Lösung.
KARL Er hat angefangen.
HELLA Ein Vorschlag zur Güte.
Wir streichen den Text und spielen nur, wie der Freund ins Zimmer stürzt und Meienberg regungslos auf dem Boden liegen sieht. Wie er die Medikamentenpackung sieht und ihm die Milch einflößt.
RUTH Schöner Kompromiß.
HANS Gefällt mir auch. Rein künstlerisch.
DANIEL Ich scheiß was auf eure Kompromisse. Ich spiele jetzt den Selbstmordversuch.
Er will an die Rampe gehen, da stellt ihm Karl ein Bein. Daniel fällt zu Boden und bewegt sich nicht mehr.
HELLAindem sie sich über Daniel beugt:
Er hat das Bewußtsein verloren.
Schnell, etwas zu trinken!
EVAbringt eine Flasche Milch.
HELLA Weshalb denn Milch?
EVA Das ist doch das Requisit.
HELLAflößt Daniel die Milch ein.
RUTH Was jetzt?
HANS Ja, was jetzt?
THOMAS Ich könnte meinen Monolog sprechen.
Der chilenische Dichter Pablo Neruda, Botschafter seines Landes, empfängt den Journalisten Meienberg in der Botschaft in Paris. Er studiert die Fragen, welche Meienberg ihm schriftlich gestellt hat. Nach einer Weile des kontemplativen Lesens faltet der Dichter das Blatt mit den Fragen zusammen und antwortet.
DER DICHTER Ich stand in diesem Saal, es war gestern, und ich empfing die sechzig Matrosen eines chilenischen Schulschiffes. Ein weißes Schiff, ein Dreimaster, mit weißen Segeln, verstehen Sie, sein Heimathafen war Santiago. Sie hatten in Port Saïd angelegt, in Fez und in Lisboa, nun lagen sie vor La Rochelle.
Hier, sehen Sie, dies ist die Maquette.
E-S-M-E-R-A-L-D-A.
Das ist der Name einer Frau.
Er lächelt.
Sie standen im Halbkreis um mich. Die Täfelung dieser konsularischen Vertretung roch die Haare der Matrosen, roch das Salz und die Gischt, roch das Meer.
Von der Galerie blickten die Porträts meiner Vorgänger. Die schwarze Angst saß in ihren Augen, doch über ihren Wangen brach die Ölfarbe, da sich ihre Lippen in einem Lächeln ergingen.
Es waren immer die Seeleute, die uns die Hoffnung brachten, die Hoffnung und die Revolution.
DANIELam Boden, röchelt.
DER DICHTERneigt seinen Kopf, als horche er einer Frage, die er nur mühsam versteht.
Sie sind Binnenländer, wenn ich Sie richtig verstehe?
Schweigen.
Für morgen erwarte ich einhundert chilenische Studenten, oder für übermorgen. Fragen Sie meinen Sekretär, wenn Sie es wissen möchten. Wir glauben an die Jugend, und von den Christen haben wir gelernt, daß sich der Glaube nur jenem eröffnet, der sich an ihm reibt.
Ja, wir sind schon alt, und es kann bald geschehen, daß es uns wie Louis Aragon ergeht und die Jungen in ihrem Zorn uns alte Bärte nennen, die man aus dem Gesicht der Geschichte zu rasieren hat. Aber wir glauben an unsere Jugend und deshalb glauben wir auch an ihren Zorn. Wir glauben an die Pullover der Jungen und ihre Hosenschöße, wir glauben an die zum ersten Mal zerknitterten Hemden der jungen Männer, denen die Mutter verlorenging. Wie hatte sie das Alte noch vom Stuhl genommen und das Frische hingelegt! An die Rosenfrische in den Gesichtern unserer Mädchen glauben wir, denn es ist die Frische unserer Heimat. Wir glauben an den dunklen Ernst in ihren Augen, denn es ist der dunkle Ernst unseres Landes.
Schweigen.
Sehen Sie, die Kinder meines Landes gingen durch dreihundert Jahre Krieg. Sie stritten den längsten patriotischen Freiheitskampf der Geschichte.
Er neigt seinen Kopf erneut.
Wissen Sie, was Patriotismus bedeutet?
Kennen Sie den Krieg?
DANIELröchelt und spuckt rote Milch. Die anderen halten ihn nieder.
DER DICHTERneigt seinen Kopf: Sie machen einen großen Fehler mit Ihrem politischen Ansatz. Ich habe in meinem Leben nicht eine einzige politische Kategorie angetroffen, hören Sie, nicht eine einzige. Und ich war doch immerhin in Rangun, Colombo, Djakarta, Buenos Aires, Madrid. Nicht einmal im Spanien des Jahres 1939 habe ich eine politische Kategorie angetroffen, nicht einmal dort. Ich traf Menschen, manchmal lebend und leider viel zu häufig tot, ich traf die Dichter in den Schützengräben, Malraux, und García Lorca sah ich jeden Tag. Wir waren unzertrennlich, aber politische Kategorien trafen wir nicht.
DANIELrichtet sich im Sitzen auf:
Lüge, Lüge!
"Menschen Stalins! Wir tragen mit Stolz diesen Namen!
Menschen Stalins! Das ist die Rangordnung unserer Zeit!
Arbeiter, Fischer, Musiker Stalins!"
Die andern geben ihm wieder Milch.
DER DICHTERneigt seinen Kopf, dann leise und mit feuchten Lippen: Mein Werk umfaßt schon jetzt sechstausend Druckseiten, davon sind nicht mehr als vierzig politische Gedichte.
Es ist lebensfeindlich, jemanden in seinen Widersprüchen zu fangen. Es ist gegen die Natur. In jeder Minute widersprechen wir uns. Nur die Ideologie behauptet das Gegenteil, und Ideologie ist falsches Bewußtsein.
Schweigen.
Ich stand in einem Stadion und sprach zu zweihundertfünfzigtausend Menschen. Das ist eine Wirklichkeit, die eine andere Dichtung erfordert. Sagen Sie das Ihrem jungen Dichter in Deutschland. Die Arbeiter in den Kupferminen singen meine Gedichte zu ihrer Arbeit. Sagen Sie das Ihrem Enzensberger.
DANIELröchelt.
DER DICHTER Er ist mein Freund. Alle Dichter sind meine Freunde. Abschätzig: Sie sind kein Dichter, lieber Mann, Journalist, aus der Schweiz. Die Poesie, sagt Valéry, ist eine Schwingung zwischen Sinn und Ton. Verstehen Sie, sie ist nicht Sinn, sie ist nicht Ton, sie ist lediglich eine Schwingung.
Üben Sie sich darin.
CHOR
Wo findet einer der getanzt hat
im Kristall der Lichterstadt
nach der Rückkehr in die Heimat
in seinem Leben wohl das Schöne?
Statt Boulevards gibt’s hier Straßen
statt weiten Plätzen enge Gassen
statt Gläser höchstens Tassen
wie soll einer das nicht hassen
bei der Rückkehr in die Heimat?
Nichts scheint ihm hier bedeutsam
Die Leute findet er nur strebsam
In allem hat’s einen Löffel Rahm
Er weiß nicht, weshalb er zurückkam.
Er sucht sich also, da er ein junger Mann ist
und lebendig etwas Schönes, ein Abenteuer, dreht
einen Film über irgendeinen Toten, Ernst S.
mit Namen, ein gescheiterter Schauspieler
Trompeter und Spion, ordentlich erschossen, aber schlecht
verscharrt. Er liegt dort seit November zweiundvierzig.
Da standen die Deutschen schon tief in der Taiga.
In Auschwitz schürften sie in jüdischen Mündern
nach Gold. Noch längst war nicht klar daß die
Heimat durch Gottes Willen oder Teufels Geschick
verschont bleiben würde vom Krieg.
Ernst verriet den Deutschen was sie schon wußten. Er
stahl für sie eine Kiste Stahlgranaten Momentanzünder.
Hatten sie schon. Er versuchte es mit einer Kiste
Panzergranaten Bodenzünder. Hatten sie schon. Er
zeichnete die Lage einer Bunkerstellung im Gelände, er
zeichnete fehlerhaft und in phantastischer Art.
Als Spion zu brillieren ermöglichte ihm erst die Eidgenossenschaft
mit einem Exekutionsdetachement. Er starb
aufrecht und aus prinzipiellen Gründen.
Spion bleibt Spion, auch wenn das
verratene Geheimnis allseits bekannt ist.
Der Widerstandswille stand auf dem Spiel.
Nichts ist der Moral
so förderlich wie eine standrechtliche Erschießung.
Man verstehe die Lage:
Zwischen neununddreißig und fünfundvierzig töteten
Europas Armeen achtundzwanzig Millionen
Menschen. Die schweizerische Armee begnügte sich
mit siebzehn, keiner von ihnen unschuldig. Der Tod
von zehnmal mehr noch wäre der Frieden wert gewesen und nicht
einmal schuldig hätten sie zu sein brauchen. Selbst mit
einhundertsiebzig unschuldigen aufgeschlitzten Kindern
auf dem Gewissen und einem intakten Frieden wäre der Herr General
noch ein Held gewesen.
Sie aber wollen Reinheit.
Sie schreien: Lüge! Lüge! Lüge!
Dabei geht’s Meienberg nur um die Schönheit
einer Novembernacht, um Fackelzüge
um den Regen, der in Flammen zischt
um ein junges Leben, das erlischt.
Sie schießen nun aus allen Rohren
und es pfeift ihm um die Ohren
und bald fühlt er sich dazu erkoren
zu retten was lange schien verloren.
Jetzt findet er einiges bedeutsam
Jetzt weiß er, weshalb er zurückkam.
kommt Daniel langsam zu sich, jedoch ohne zu wissen, wer und wo er ist.
DANIEL Wo bin ich?
Was ist geschehen?
RUTHkümmert sich um Daniel.
Du liegst in meinen Armen.
Du bist vom Pferd gefallen.
DANIEL Ist denn noch Krieg?
RUTH Ich weiß es nicht.
DANIEL Laß mich gehen. Ich muß zurück in den Kampf.
RUTH In deinem Zustand wirst du nicht lange kämpfen können.
DANIEL Manchmal muß man in den Kampf ziehen, auch wenn man weiß, daß dieser Kampf aussichtslos ist und man vernichtet werden wird.
RUTH Und wozu soll das gut sein.
DANIEL Ich könnte es dir erklären, aber es würde nichts nützen.
RUTH Weshalb nicht.
DANIEL Das versteht ihr Weiber nicht.
RUTH Dreckskerl!
DANIEL Das hat nichts mit dir persönlich zu tun.
So ist die Situation nun einmal!
Schweigen.
Gib mir lieber einen Kuß.
RUTH Laß mich!
Du denkst nur an deinen Kampf.
Du kümmerst dich nicht um mich.
DANIEL Natürlich kümmere ich mich um dich!
RUTH Du stehst nicht zu mir!
DANIEL Natürlich stehe ich zu dir.
RUTH Du machst mir nie Geschenke.
DANIEL Was soll ich dir denn schenken?
RUTH Irgend etwas.
Was man einer Frau halt so schenkt.
DANIEL Was schenkt man einer Frau denn so?
RUTH Blumen, zum Beispiel.
DANIEL Ach, komm, das haben wir doch hinter uns. Blumen kannst du dir selbst kaufen. In welchem Jahrhundert leben wir denn?
RUTH Das hat nichts mit dem Jahrhundert zu tun.
DANIEL Natürlich. Früher war die finanzielle Situation der Frauen viel prekärer. Sie konnten sich keine Blumen leisten, und deshalb mußten sie sich die Blumen schenken lassen.
Bist du von mir abhängig?
RUTH Selbstverständlich nicht.
DANIEL Dann kannst du dir die Blumen auch selbst kaufen.
RUTH Du siehst alles durch deine Abhängigkeitsbrille.
DANIEL Nun, so ist die Welt geordnet. Es regieren die Abhängigkeiten.
RUTH Und zum Essen führst du mich auch nie aus.
DANIEL Komm mir nicht mit diesen Spießbürgerträumen!
RUTH Nenn es, wie du willst.
Du willst dich nur nicht mit mir sehen lassen.
DANIEL Zwischen dir und mir gibt es einen Klassenunterschied. Du kommst aus dem Kleinbürgertum, ich aber aus dem Proletariat.
RUTH Dein Vater war Klempner.
DANIEL Eben.
RUTH Und meiner war Frisör.
DANIEL Strukturell gehört ein Frisör zum Kleinbürgertum.
RUTH Lächerlich.
DANIEL Ich habe noch so etwas wie ein Klassenbewußtsein. Ich bin keines dieser Windfähnchen, die früher mitmarschiert sind und die Parolen skandiert haben und die nun plötzlich auf sämtliche Grundsätze pfeifen, nur weil allenthalben behauptet wird, die Zeiten hätten sich geändert.
Überhaupt nichts hat sich geändert!
Das ist die Journaille, die so etwas behauptet, und welche Interessen die vertritt, ist ja nun allgemein bekannt.
Ich werde nicht darauf hereinfallen und mir von diesen Modernitätsaposteln meinen Schneid bestimmt nicht abkaufen lassen.
Der Kampf geht weiter!
RUTH Jedenfalls hat dich das Klassenbewußtsein nie daran gehindert, in mein Bett zu steigen.
DANIEL Jetzt bringst du etwas durcheinander.
RUTHgespielt naiv:
Kannst du es mir erklären?
DANIEL Könnte ich, könnte ich.
Hilf mir lieber mit den Stiefeln.
RUTH Dreckskerl!
Sie versucht, Daniel die Stiefel auszuziehen. Als es ihr nicht gelingt, holt sie heißes Wasser und gießt es in die Stiefel.
DANIELdeutet auf Eva: Sie hat mir die Stiefel zum Geburtstag geschenkt, ich habe sie seither nicht ausgezogen.
RUTH Dein Geburtstag war vor acht Wochen.
DANIEL Ich mag die Stiefel eben.
RUTH Wie kann ein Mensch sich nur so etwas antun.
DANIEL Hast du gesehen? Unten sitzt das übliche Pack von Freiberuflern, mit ihren beschissenen Hornbrillen und den verdammten Haarschnitten. Ist dir das noch nie aufgefallen, daß die alle einen Haarschnitt haben? Fürchterlich! Und Hemden oder Pullover tragen sie auch immer. Immer tragen sie etwas über ihren schrecklich schlanken Oberkörpern.
RUTH Aber etwas muß man doch tragen.
DANIELäfft Ruth nach: Aber etwas muß man doch tragen!
Ach, leck mich doch! Ich kann diese Idioten einfach nicht mehr sehen. Mir waren die fetten Schweine mit den dunkelblauen Zweireihern, den Goldknöpfen und den Verwaltungsratsmandaten lieber. Das war noch ein Publikum. Da war das Bürgertum noch kriminell, verkaufte sich automatisch an den Meistbietenden. Die haben sich noch provozieren lassen. Man konnte übers Vögeln monologisieren oder übers Scheißen, und dann gab’s Briefe. Diese beschissenen Freiberufler finden alles klasse. Kotzen finden sie klasse, scheißen finden sie klasse, wichsen finden sie klasse, vögeln finden sie klasse. Sie haben für alles Verständnis.
RUTH Die Zeiten haben sich eben geändert.
DANIELlauernd: So? Wie denn?
RUTH