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Die Geschichte eines moralischen Irrtums, der in Ruanda eines der größten Verbrechen des Jahrhunderts ermöglichte. Der Roman zweier Menschen, die im Chaos ihrer Zeit um ihre Unschuld kämpfen. Ruanda, April 1994, in Kigali wütet der Mob. David, Mitarbeiter der Schweizer Entwicklungshilfe, hat das Flugzeug, mit dem die letzten Ausländer evakuiert wurden, abfliegen lassen. Er versteckt sich hundert Tage in seinem Haus, vom Gärtner mit Nahrung versorgt - und mit Informationen über Agathe, Tochter eines Ministerialbeamten, die der Grund für sein Bleiben ist. Die vergangenen vier Jahre ihrer Liebe ziehen ihm durch den Kopf, die Zeit, die er als Entwicklungshelfer in Kigali verbrachte. Millionen wurden in ein totalitäres Regime gepumpt, das schließlich, als es die Macht an eine Rebellenarmee zu verlieren drohte, einen Genozid organisierte. Auch David wurde zum Komplizen der Schlächter, und als die Aufständischen Kigali einnehmen, flieht er mit den Völkermördern über die Grenze. Dort findet er in einem Flüchtlingslager Agathe wieder, aber es ist nicht die Frau, die er einmal liebte. Lukas Bärfuss' minutiös recherchierter Roman berichtet von Menschen, die das Gute beabsichtigten und das Böse bewirkten. "Hundert Tage" erzählt ein dunkles Kapitel aus Afrikas Geschichte, in das wir tiefer verstrickt sind, als wir glauben wollen. Nicht zuletzt ist es die bewegende Geschichte einer Liebe in Zeiten des Krieges und die Geschichte von den Verheerungen, die der Hass anrichtet.
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Seitenzahl: 291
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Lukas Bärfuss
Hundert Tage
Lukas Bärfuss
Roman
Für Kaa, immer
Die historischen Tatsachen in diesem Buch sind verbürgt, die handelnden Personen erfunden.
Sieht so ein gebrochener Mann aus, frage ich mich, als ich ihm gegenübersitze und draußen der Schnee einsetzt, der seit Tagen erwartet wird und nun in feinen Flocken auf die grünbraunen Felder und in den Nachmittag fällt. Was genau gebrochen sein könnte, ist schwierig zu sagen – das Rückgrat jedenfalls nicht. Er sitzt aufrecht, wählt seine Worte mit Bedacht und ohne Hast, wirkt beinahe entspannt. Nur wie er die Tasse zum Mund führt, gemächlich, ein wenig zu gemächlich, zu geführt, könnte ein Hinweis auf seine innere Zerrüttung sein. Vielleicht fürchtet er, ein verschütteter Tropfen könnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Ich weiß, ich müsste nicht mutmaßen, denn er ist ein gebrochener Mann, muss einer sein, nach allem, was er erzählt und – was noch wichtiger ist – nach allem, was er mir verschweigt.
Manchmal hält er in seiner Rede inne, oft mitten im Satz. Ich sehe in seinen Augen, wie er sich erinnert, nur erinnert und nicht spricht, vielleicht, weil er keine Worte dafür hat, sie noch nicht gefunden hat und wohl auch nicht finden will. Es scheint, als würden seine Augen den Ereignissen folgen, den Ereignissen in Haus Amsar, wo er die hundert Tage verbracht hat. Das Erstaunlichste an dieser Geschichte ist, dass gerade er sie erlebt hat, einer, der nicht dazu bestimmt schien, irgendetwas zu erfahren, das über das gewöhnliche Maß menschlicher Katastrophen hinausgeht: eine üble Scheidung, eine schwere Krankheit, ein Wohnungsbrand als Äußerstes. Aber ganz gewiss nicht, in die Wirren eines Jahrhundertverbrechens zu geraten. Nicht dieser Mann, nicht David Hohl, der mit mir zur Schule gegangen war und in dem ich noch den hoch aufgeschossenen Knaben erkenne, mit seiner leicht hängenden Unterlippe, von der sich, wenn ihn etwas zum Staunen bringt, ein Speichelfaden zu lösen scheint, obwohl das natürlich nie eintritt. Bloß ein wenig feucht ist diese Lippe, der man deutlicher als anderen ansieht, was Lippen tatsächlich sind, nach außen gestülpter Mundinnenraum nämlich.
Als Kind war er kein Draufgänger, hat niemals größeren Ärger riskiert, nicht aus Feigheit – die meisten Abenteuer und Mutproben schienen ihm einfach nicht lohnenswert. Ein durch und durch besonnener Bursche – abgesehen von seinen drei, vier Anfällen, aber die liefen außer Konkurrenz, einfach weil sie so selten vorkamen und man sich erst an den letzten erinnerte, als David schon erblasste, verdächtig still wurde, um gleich darauf rot anzulaufen und seine Flüche hervorzupressen und eine Schandrede auf die Ungerechtigkeit der Welt anzustimmen, in Worten, die man einem Jungen von zehn, zwölf Jahren nicht zugetraut hätte. Er besaß ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, um es vorsichtig auszudrücken, und es schien losgelöst von jener Vernunft zu funktionieren, die ihn sonst auszeichnete, keine Folge einer durchdachten Weltsicht zu sein, sondern reine Empfindung, ein Affekt. Ich erinnere mich, wie er sich von ein paar Kerlen aus den oberen Klassen windelweich prügeln ließ, bloß weil er zufällig gehört hatte, wie sie sich abfällig über einen Mitschüler ausließen, und er der Ansicht war, so etwas gehöre sich nicht. Nach der Pause setzte er sich mit der blutigen Nase an sein Pult, und als ihn der Lehrer zum Waschbecken schickte, weigerte er sich aufzustehen und meinte, er schäme sich nicht für seine Verletzung.
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