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Eine Liebeserklärung an das Reisen mit dem Zug Für Bestsellerautor Titus Müller ist das Bahnreisen immer noch die schönste Art zu reisen. In Einsteigen erzählt er von eigenen Erlebnissen rund um das Zugfahren, nimmt uns mit in einen Nachtzug nach Venedig, begegnet Eisenbahn-Enthusiast:innen und erkundet, wie das Bahnfahren unser Lebensgefühl, unser Miteinander und übrigens auch unsere Zeitmessung beeinflusst hat. Mit feinem Humor, entwaffnender Menschenkenntnis und erzählerischer Raffinesse ermuntert er uns, sich auf die unwägbaren Begegnungen und Erfahrungen beim Bahnfahren einzulassen, denn im Zug sitzen wir selten allein. So kann jede Bahnreise zum Genuss werden – und unsere ewige Sehnsucht sowohl nach Verbundenheit als auch nach der Ferne stillen.
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Seitenzahl: 161
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titus Müller
Warum das Bahnfahren immer noch die schönste Art zu reisen ist
Originalausgabe
© 2025 Arche Literatur Verlag, ein Imprint der Atrium VerlagAG, Zürich
Covergestaltung: DIEK Design/Sarah M. Hensmann, Jemgum, unter Verwendung eines Motivs von © Mario Dobelmann/Unsplash
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ISBN978-3-03790-159-5
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Die Bahn und ich, das war nicht von Anfang an harmonisch.
Als Kind fürchtete ich den Moment, wenn der Zug im Bahnhof bremste. Es quietschte so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten musste.
Oft waren die Züge voll besetzt und es blieb uns nichts anderes übrig, als im Raucherabteil Platz zu nehmen. Beim Bremsen und Anfahren rollte am Boden eine Bierflasche umher.
Winterlich kalt war es auf der Toilette. Das Loch, dessen Klappe man mit einem Tretpedal öffnete, war hypnotisch, ich schaute hinunter auf die Schwellen, die vorüberrasten. Die Kernseife wurde von einer Mühle, die man drehen musste, in feinen Staub zermahlen.
Die Bahn kam mir roh und laut vor.
So ist es in guten Liebesgeschichten. Anfangs können sich die künftigen Liebespartner nicht leiden.
Inzwischen liebe ich das Bahnfahren so sehr, dass meine Frau sagt, wenn es mir schlecht geht: Du solltest Bahn fahren. (Sie sagt das fürsorglich – nicht, weil sie mich loswerden will.) Auch unsere Geschichte ist mit dem Zugfahren verknüpft. Unser erstes Date hatten Lena und ich im Nürnberger Hauptbahnhof. Von dort liefen wir zum Literaturhaus, ich trank einen Cappuccino, sie ein Glas Orangensaft, wir redeten eine Stunde, und als wir zum Bahnhof zurückkehren wollten, fand ich vor lauter Liebestaumel den Weg nicht, obwohl es bis dorthin bloß dreihundert Meter waren.
Wir begannen eine Fernbeziehung: München–Göttingen. Wenn ich Lena vom Zug abholte, waren die ersten Minuten im Bahnhof noch recht unbeholfen, wir hatten uns zwei, drei Wochen nicht gesehen und nur telefoniert und waren von der Anwesenheit des geliebten Partners überwältigt.
Heute sehen wir uns täglich: Wir leben glücklich verheiratet in Landshut mit unseren zwei Jungs.
Für Besuche bei meinen Eltern brauche ich ebenfalls die Bahn. Sie leben nahe der Nordseeküste. Auf dem Weg dorthin mag ich vor allem das letzte kleine Stück: die Fahrt über den Nord-Ostsee-Kanal. Aus der Vogelperspektive sehe ich die Schiffe den Kanal entlangziehen und staune, wie klug ihre Container geschichtet sind. Bei Nacht leuchten orangefarbene Positionslichter rechts und links des Kanals wie Straßenlaternen. Ihr Licht spiegelt sich im Wasser.
Komme ich bei Tag an, dann bewundere ich die friedliche Landschaft und die Kühe, die sich in der Sommerhitze zum Ruhen hinlegen. Wenn sie aufstehen, strecken sie erst die Hinterbeine, bevor sie sich mit Schwung auch auf die Vorderbeine stellen. Mit dem Zug über den Nord-Ostsee-Kanal zu fahren, hebt mich empor, ich lasse die Baumwipfel unter mir und kann die Landschaft in ihrer ganzen Weite betrachten.
Ich habe meist zwei Bücher dabei, für den Fall, dass eines ausgelesen ist oder sich als Enttäuschung herausstellt. Nie fahre ich ohne Buch. Ich reise von einer Stadt zur anderen, mein Kopf ist leicht auf dem Weg und will gefüttert werden.
Aber Bücher verschönern nicht nur eine gelungene Bahnreise, sie retten auch eine missglückte. Heute bin ich unterwegs von einer Lesung nach Hause. Eine Oberleitung zwischen Regensburg und Obertraubling ist defekt, der ICE nach Wien kann nicht weiter, auch die Regionalbahnen enden alle in Regensburg, Richtung Süden geht nichts mehr.
Wir werden zum Bahnhofsvorplatz geschickt und warten auf Ersatzbusse. Mir tut der Rücken weh. Wie machen das Lehrer eigentlich, die den Unterricht im Stehen bewältigen müssen? Und Buchhändler, die im Laden stehen?
Ich habe die Bücher, langweilig wird mir nicht. Allerdings stehe ich inmitten einer Meute, in der viele aufgeregt telefonieren. Das Telefonieren der Leute stört mich mehr als das Stehen und Warten.
Ich lese die Memoiren von Michael Krüger, sie beamen mich in eine andere Realität, ich spüre die Rückenschmerzen nicht mehr. Jetzt gelingt es mir auch, die telefonierenden Leute auszublenden. Ich habe Geduld.
Dann der Ruf: »Ein Bus kommt!« Die Meute schwirrt auf wie ein Bienenschwarm.
Ich sehe die helle, giftgrüne Lackierung: ein Flixbus. Nicht das, was wir uns wünschen, denke ich.
Der Bus biegt auf den Bahnhofsvorplatz ein. Er fährt nach Florenz, es steht groß über der Front. Ich verspüre den Impuls, die Meute stehen zu lassen und einfach in diesen Bus einzusteigen, vielleicht haben sie noch einen Platz. Zwischenstopp in Prag und dann nach Italien. Dieses Fernweh! Heute Abend hat der Bus die Nase vorn, dem Zug ist der Saft ausgegangen.
Dabei ist Fernweh einer der Gründe, weshalb ich Züge liebe. Schon der Anblick von Anzeigetafeln weckt es in mir. Ich lese am Bahnsteig: Amsterdam. Prag. Budapest. Und würde am liebsten spontan einsteigen – es wäre so einfach! – und in Budapest, Prag, Amsterdam wieder aussteigen.
Einmal hielt der Orient-Express in Landshut. Ich brach gerade auf zu einer kleinen Lesetour durch drei Städte und wartete auf meine Regionalbahn auf Gleis 6. Da hielt an Gleis 5, dunkelblau mit goldenen Verzierungen, der Orient-Express auf seiner Reise Venedig–Florenz–Paris. Weinrot livrierte Zugbegleiter und zwei Köche in weiß gestärkten Hemden stiegen aus, standen an den Ausgängen und plauderten. Die Versuchung war groß, statt an Gleis 6 einfach an Gleis 5 einzusteigen.
An all das denke ich, während ich auf dem Bahnhofsvorplatz in Regensburg auf den Ersatzbus warte. Endlich trifft er ein. Ich habe Lesezeit, erst im Ersatzbus, dann in der Bahn, in die ich umsteige. Die Oberleitungsstörung ist bald vergessen. Morgen ist ein neuer Tag. Züge bringen mich – zuverlässiger, als die meisten denken – an weit entfernte Orte, und ich komme ausgeruht und unternehmungslustig dort an. Den Orient-Express kann ich mir nicht leisten. Aber ich nehme mir vor, bei nächster Gelegenheit Paris und London mit dem Zug zu bereisen.
Als nach der Pandemie die Leipziger Buchmesse zumersten Mal wieder ihre Tore öffnete, stand ich mit meinem Bruder, der Literaturübersetzer ist, am Leipziger Hauptbahnhof. Wir warteten auf die Straßenbahn Linie 10, die zum Messegelände fährt. Als sie endlich kam, war sie so voll, dass wir sie fahren lassen mussten, die nächste auch, die dritte erneut. Ich war zornig auf mich selbst, weil wir zwar vorn am Bahnsteig standen, aber nicht verhinderten, dass andere sich mit Vehemenz vorbeidrängten, sodass wir am Ende jedes Mal draußen übrig blieben. Es verrät einiges über meinen Bruder und mich. Wir haben von klein auf gelernt, nicht zu stören. Deshalb rufen wir ungern jemanden an, wir können ja nicht wissen, was der Angerufene gerade tut und ob wir ihn womöglich aus einer wichtigen Tätigkeit herausreißen. Werden wir angerempelt, dann entschuldigen wir uns.
Schließlich kam eine Tatra. Was für eine Kindheitserinnerung! In Berlin-Marzahn, wo wir aufgewachsen sind, fuhren damals diese neuen tschechischen Straßenbahnen, und wir liebten sie. Im Inneren gab es eine Zahlbox aus Blech, die aussah, als wäre sie von Hand zusammengelötet worden. Hier konnte man lange vor der Einführung von Fahrkartenautomaten seinen Fahrschein kaufen.
Das Fahrgeld wurde in einen Schlitz eingeworfen und landete in einer Art »Mühle«, die sich jedes Mal weiterdrehte, wenn man mit einem mechanischen Hebel rechts am Gerät die Fahrscheinrolle einen Abschnitt weiterdrehte, um am Ausgabeschlitz einen Fahrschein abzureißen. Die Fahrt kostete zwanzig Pfennige, ermäßigt zehn Pfennige.
Ein Sichtfenster ermöglichte anderen Fahrgästen dabei den Blick in die »Mühle« und die Kontrolle, ob das Fahrgeld ordnungsgemäß eingeworfen wurde. In Wirklichkeit scherte sich niemand darum. Manche warfen statt der Münzen einen Knopf hinein, auch der klimperte und klang so, als hätten sie bezahlt. Andere verwendeten Kronkorken. Wir Kinder zogen aus Tollerei nicht nur einen Fahrschein, sondern kurbelten immer weiter, bis wir eine lange Kette von Scheinen abreißen konnten.
Im Bus wurde mir damals oft schlecht, zumal die Ikarus-Busse in Ostberlin stark vibrierten, das Fahrtanzeiger-Schild klapperte dabei fürchterlich. Aber Straßenbahn fuhr ich gerne. Die Ringbahn in Naumburg bei meiner Großmutter. Die Straßenbahn zur Musikschule, als wir fünf Jahre in Magdeburg lebten. Und dann in Marzahn die neue Tatra-Bahn, die beim Anfahren so knallte. Nachdem ich das Knallen in meinem Roman Der letzte Auftrag erwähnt hatte, geriet ich darüber in einen Streit mit einer Leserin, die fürchtete, ich wolle die DDR madig machen.
Dabei war die moderne Tatra-Gelenkbahn mit ihren orangeroten Schalensitzen eine Freude! Der elektrische Motor trieb sie so kraftvoll vorwärts, dass man beim Anfahren herrlich in den Sitz gedrückt wurde. Nur wenn die Beschleunigung nachließ, knallte es jedes Mal – was aber kein Defekt war, alle neuen Bahnen taten das, ein Schütz knallte, ein elektromechanischer Schalter, der nach dem Beschleunigen die Fahrspannung unterbrach.
Jetzt also stand ich mit meinem Bruder in Leipzig an der überfüllten Haltestelle, eine Tatra fuhr vor, und ein Mann mit umgehängtem Fotoapparat fragte das Sicherheitspersonal, ob diese noch woanders führe? Er wolle nicht zur Messe, sondern nur mit einer Tatra fahren. Der Sicherheitsmann, der mit dem Megafon Ansagen machte und die Menge dirigierte, verneinte. Also zwängte sich der Tatra-Fan mit in die übervolle Messebahn. Einfach, weil er Tatra fahren wollte.
Solchen Einsatz zeige ich nicht. Ich bin kein Eisenbahnfan. Aber ich sehe die Fans. Sie stehen mit ihren Kameras ganz am Ende des Bahnsteigs und warten geduldig auf den Moment, wenn der Zug einfährt.
Ich finde es wunderbar, dass wir Menschen uns für eine Sache interessieren können, auch wenn sie uns nichts nützt. Das ist eines der Dinge auf der Welt, die bei mir Gänsehaut hervorrufen und unendliche Freude: mitreißende Begeisterung zu sehen, egal für was.
Aurelius und Thaddaeus, meine achtzehn- und vierzehnjährigen Neffen, sind Fans von Snarky Puppy, einer Jazz-Fusion-Band, die Jazz mit Rock, Weltmusik und Funk verbindet und fünf Grammys gewonnen hat. Ich höre zum ersten Mal von ihr (was mir vor meinen Neffen etwas peinlich ist), und gleich legen sie eine Schallplatte auf, um mich zu überzeugen. Das Können der Musiker ist beeindruckend, man hört sofort, dass sie zu den Größen unserer Zeit gehören, auch wenn ich mich in die Stilrichtung erst einhören muss.
Meine Neffen überreden mich dazu, »Snarky Puppy Keyboardist Hears Dua Lipa For The First Time« bei YouTube einzugeben. Dem Keyboarder der Band wird ein Lied der Popsängerin Dua Lipa vorgespielt, das er noch nicht kennt – allerdings nur die Melodie und die Beats, sonst nichts. Im Video kann man zusehen, wie er dazu eine eigene Musik erfindet, Harmonien, fetzige Riffs. Ich hätte heulen können vor Entzücken. Es war nicht meine Musikrichtung, aber die Schaffensfreude dieses Musikers zu sehen, diese Begeisterung für die Musik, war herrlich.
Es gibt viele schöne Sachen auf der Welt, von Schallplatten über Fotografie oder Mode bis hin zur Schreibmaschine. Warum gibt es da noch Menschen, die sich für nichts begeistern können?
Auch Züge haben ihre leidenschaftlichen Fans. Im Englischen nennt man die extremen Bahnliebhaber »Foamer«, also Schäumer, weil sie so enthusiastisch auf den Anblick eines Zugs reagieren, dass sie angeblich Schaum vorm Mund entwickeln. Sie verbringen ganze Wochenenden mit der Jagd nach Zügen, sie fotografieren und filmen vorbeifahrende Loks. Das tun auch die gemäßigten Bahnliebhaber, die Railfans, aber sie sind stolz darauf, nicht auszuflippen wie die Foamer, wenn der Zug vorüberfährt.
Zug-Nerds gibt es in allen möglichen Variationen: Es gibt Nerds, die sich für Brücken interessieren. Nerds, die Tunnel lieben und alles darüber wissen und auf einer Bahnfahrt besonders entzückt sind, wenn ein Tunnel durchfahren wird. Andere sind Kenner, was die Schranken angeht, oder die Signale, oder Bahnhofsuhren. Wieder andere sammeln alte Kursbücher. Und sie alle haben den LOK Report abonniert, ein monatliches Magazin für Eisenbahnfreunde, oder den Modelleisenbahner, den Eisenbahnkurier, das Lok-Magazin.
Der Tatra-Fan in Leipzig hat mich neugierig gemacht. Ich will die Begeisterung selbst erleben und verabrede mich mit zwei Trainspottern in Dresden für das Dampfloktreffen. Vereine, die sich zusammengefunden haben, um alte Dampflokomotiven zu restaurieren, unternehmen heute Sonderfahrten mit Dampfzügen. Es gibt Rundfahrten, kleinere und größere Touren, von Dresden nach Dürröhrsdorf beispielsweise oder nach Altenberg. Aber nicht alle Eisenbahnfans bevorzugen es, mitzufahren. Samu und Michael wollen die Züge von außen sehen und sie fotografieren. Ich begleite sie auf der Jagd nach guten Aussichtsplätzen entlang der Bahnstrecken. Ich will wissen, was sie fesselt an der Eisenbahn.
Als ich sie frage, wie oft sie das schon gemacht haben – loszuziehen, um Züge zu erspähen –, sagen beide »Äh« und sehen sich vielsagend an, dann lachen sie.
Die erste deutsche Ferneisenbahn fuhr von Leipzig nach Dresden. Auch Saxonia, die erste in Deutschland gebaute, funktionstüchtige Dampflokomotive stammt aus dieser Gegend. »Sie ist hier hergestellt worden«, sagt Michael, »dort drüben in der Maschinenfabrik Dresden-Übigau.«
Die Saxonia war nach heutigen Maßstäben ein Winzling. Konstruiert hat sie Johann Andreas Schubert, ein Professor für Mathematik und Maschinenbau in Dresden, den eine Englandreise inspiriert hatte. Aber so recht vertrauen wollte man seiner deutschen Konstruktion nicht, was ihn sehr enttäuscht haben muss. Bei der Eröffnung der Bahnstrecke zwischen Leipzig und Dresden am 7. April 1839 wurde der Zug von zwei aus Großbritannien importierten Lokomotiven gezogen, und Schubert durfte mit seiner Saxonia bloß hinterherfahren.
Dabei war er kein Hinterherfahrer, sondern ein Vordenker. Nach seinen Entwürfen baute man aus sechsundzwanzig Millionen Steinen die Göltzschtalbrücke im sächsischen Vogtland, bis heute die größte Ziegelmauerwerk-Brücke der Welt. Seine Lok Saxonia wurde schließlich doch in der Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie eingesetzt.
Michael und Samu interessieren sich für Antriebsarten, Lok-Baureihen, Wagentypen, Nummerierungssysteme. Heute wollen sie die Lokomotiven und Züge nicht einfach so fotografieren, sondern außerdem einen schönen Hintergrund für ihre Motive finden.
Wir stehen in einem kleinen Ort und warten auf die 01 und die 23 aus Staßfurt. Ein paar andere Züge kommen vorbei. Jeder wird gewürdigt. Eine Taurus zieht einen Güterzug, und der IC-Triebwagen ist interessant, weil dieses Fahrzeug eigentlich in Österreich fuhr, von Salzburg nach Wien, und jetzt von der DB übernommen wurde, aber weiterhin ein internationales Kennzeichen hat, was zu spannenden Kennzeichen-Mischungen führt.
Ein Anwohner tritt aus seinem Haus und lächelt sofort, weil er weiß, was wir hier tun. Er fragt, was heute noch vorbeikommen wird. Er sei auch »so ein bissel Dampflokfan«. Die drei fachsimpeln, ich verstehe nicht viel. Samu sagt, außer der 01 und der 23 komme heute aus Würzburg die 23 West und die 50 aus Meiningen, die würden beide nach Dresden fahren. »West bedeutet Bundesbahn«, erklärt mir Michael, »also nicht Reichsbahn.« Das sei wichtig zu unterscheiden, denn beide benutzten weitgehend dasselbe Nummerierungssystem, bezeichneten damit aber unterschiedliche Lokomotiven.
Jetzt reden sie von der schweren Diesellok Ludmilla, die man schon von Weitem hört, weil es hier bergauf geht. Sie stammt aus einer Lokomotivfabrik im ukrainischen Luhansk, dort wurde sie für die Sowjetunion und die Länder des Ostblocks produziert, unter anderem in großen Stückzahlen für die DDR. Was wird jetzt aus der größten Lokomotivfabrik der Welt werden? Das Werk wurde nach der Ausrufung der »Volksrepublik Lugansk« unter russischer Okkupation weitgehend geplündert, heute wird in einem kleinen Restteil der Fabrik angeblich noch Haustechnik hergestellt.
Die Ludmilla jedenfalls fährt weiter im Güterverkehr und leuchtet mit ihrem großen Fernlicht in der Mitte, sowohl im Osten als auch im Westen der Bundesrepublik.
Als sich ein Schnaufen nähert, wird das Gespräch abrupt beendet. Die Trainspotter hasten zu den Gleisen, reißen ihre Kameras hoch. Auch mich beeindruckt der vorbeidonnernde Dampfzug. Sie fotografieren ihm noch hinterher. Dann senken sie die Apparate und lächeln. Sie atmen bewundernd den Duft ein, den die Dampflok hinterlassen hat. Es riecht nach verbrannter Kohle und Schmieröl und Wasserdampf, nach Rauch und Geschichte und weiter Welt. So muss es damals in allen Bahnhöfen gerochen haben.
Wir kehren zum Auto zurück, fahren ein paar Minuten. In Niederau, wo die Berliner und die Leipziger Strecke ein Stück parallel verlaufen, parken wir am Feldrand und wandern entlang der Bahnstrecke. Um einen besseren Blick zu haben, klettern wir den Hang hinauf.
Heute Abend werden die Dampfloks im Dunkeln »schaulaufen« mit eingeschalteten Lichtern, darauf freuen sich die beiden, sie werden fotografieren. Die Loks sollen im Bahnbetriebswerk einzeln auf die Drehscheibe fahren und langsam gedreht werden, bevor sie wieder herunterfahren, wie bei einer Modenschau, erklären sie mir. Manchmal gebe es auch eine Lokparade, da führen die Loks hintereinander.
Jetzt aber ist es noch Tag. Eine gute Stunde verbringen wir hier und fotografieren. Wir haben Glück: Da gerade die Leipziger Strecke gesperrt ist, fahren alle Züge über die Berliner Strecke.
Später lauern wir an einem Bahnübergang. Eine V60 soll kommen. Spitzname: Goldbroiler, wegen der orangefarbenen Lackierung, der kompakten Form und der Ost-Herkunft.
Als sie sich nähert, sagt Michael: »Die Rangierbühne ist aber neu.«
»Die ist erneuert worden«, gibt Samu ihm recht.
Sie erklären mir, dass die 60 für die PS-Zahl steht, 600 PS, und das V für Lokomotiven mit Verbrennungsmotor. Es gebe auch eine V320 mit 3200PS, das sei die Ludmilla.
Samu blickt auf sein Handy. »Später kommt noch eine Euro-Dual«, sagt er.
Michael freut sich. »Die kann beides, mit Diesel fahren und elektrisch. Bei Bedarf schaltet sie einfach um.«
Woher er wisse, wann welche Lok komme, frage ich Samu.
Er erklärt mir, dass es eine WhatsApp-Gruppe gebe mit Leuten wie ihnen, und jemand stehe ein Stück weiter die Strecke rauf und gebe immer durch, was aktuell bei ihm vorbeifahre.
Das Warnsignal ertönt. Die Schranken schließen.
Ein Auto muss anhalten, der Fahrer sieht uns mit den Kameras stehen. Er lässt die Scheibe herunter und fragt mit leicht spöttischem Unterton: »Kommt eine seltene russische Diesellok?«
»Eine V60«, sagt Samu.
Der Mann im Auto schüttelt den Kopf. »Wie man sich für so etwas begeistern kann!«
Er sei jahrelang zweimal im Monat von hier aus nach München gefahren. »Ich habe alles erlebt«, sagt er, »alles!« Er beginnt eine Tirade über die erste Klasse und Reservierungen und Pannen, aber da kommt der ersehnte Zug, die Fotografen reißen ihre Kameras hoch, und der Lärm der Lok macht eine Verständigung schwer. Irgendwann lässt der Mann von uns ab.
Als der Zug durch ist und die Schranken sich öffnen, sagt der Fahrer nur noch, er wünsche gute Motive, und braust davon, sein weißer Pudel guckt mit hängender Zunge aus dem Autofenster.
Zwei weitere Fotografen erscheinen. Kommt ein Zug vorbei, heben sie die Hand, sie grüßen die Lokführer. Sind sie Lokführer in Rente? Sie gehören dazu, sagt ihre Geste. Es steckt Stolz darin.
Ich frage nach. Der eine ist Bahner. Der andere sagt, nein, er sei kein Lokführer. Aber damit die Lokführer nicht erschrecken, weil sie hier so dicht am Gleis stehen, grüßen sie, um zu zeigen, dass sie nicht springen wollen. »Und die meisten freuen sich einfach, wenn man grüßt«, sagt der Erfahrene. Manche reagierten mit Hornsignalen oder Lichthupe.
Er stellt sich mit seinem Namen vor. Samu sagt: »Ach, du bist das!«
Er ist einer von denen, die über WhatsApp immer wieder durchgeben, welche Züge an ihm vorbeikommen, und damit den anderen hilft, sich zu orientieren.
Ich frage ihn, wie lange er schon Züge fotografiert.
»Intensiv seit 1997«, sagt er. Damals habe er Pläne ergattert, wann die 156er nach Zwickau rausfahre, und habe endlich nicht mehr auf gut Glück ausharren müssen.
Er springt auf. Eine einzelne weiße Lok kommt, eine Vectron von Siemens. »Das ist ein Highlight«, ruft er begeistert und hebt seinen Fotoapparat. »Die ist fabrikneu. Hat aber ein Gewichtsproblem.«
Ich frage nach.
»Eine vierachsige kleine Lok, zweitausend Kilowatt, das ist schon was, also ein starker Dieselmotor und dazu der Elektromotor. Aber sie ist zu schwer.« Er lächelt nachsichtig wie über ein Kind mit Lese-Rechtschreib-Schwäche.
Was für ihn der Reiz an seinem Hobby sei, frage ich.