Alltagsglück - Titus Müller - E-Book

Alltagsglück E-Book

Titus Müller

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Beschreibung

Bleiben Sie neugierig auf das Leben! Für diese Neuausgabe seines Buchs »Das kleine Buch vom Alltagsglück« hat Titus Müller sieben neue Texte verfasst und die bestehenden behutsam überarbeitet. »Hintergründig und federleicht kommen diese Geschichten daher, von einem Autor, der bezaubernd die Schönheit der Hummel beschreibt, aber Schweißausbrüche bekommt, wenn er ins Gästebuch schreiben soll. Die wunderbare Selbstironie des Autors bringt mich mehr als einmal zum Schmunzeln.« Luitgardis Parasie

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Seitenzahl: 139

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Titus Müller

Alltagsglück

Julius Verlag

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Titus Müller/Brunnen Verlag

Copyright © der überarbeiteten Ausgabe 2024 by Julius Verlag T. Müller, Ina-Seidel-Str. 10, 84032 Landshut

Umschlaggestaltung: Debbie Bright/The Cover Collection

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 978-3-911436-00-7

Inhaltsübersicht

StilleFreiheitVertrauenWir sind hier, um uns zu wundernLenas HandtascheErdbeeren vom FriedhofMit Schnee kochenWarum ich schreibePapierDas Geheimnis guter BücherEin Kuss nach sechzehn JahrenErfolgsdenkenWo die Sonne scheint Die HummelEine künstliche Nahrung, die nicht satt machtIch verstehe das Leben nichtSpatzenschwärme und tanzende Blätter Eine Welt ohne Tiere? Kluge ReheWitzige NamenWir lieben ein schweres LebenEisenkästen im WeltallProbleme einweichenPerfektionismusDie Schönheit der SchneeflockenVertrauenBin ich Außenseiter?Es ist nie zu spätMitten im SturmDie Reise einer PostkarteEntdecken Sie Ihr AustralienKnarrende KiefernFlimmerbilderNicht gut genug? Irgendwann kommt ein schöner AugenblickEinfach mal machenWir haben zu viele SachenKleine WunderHeiß duschenJugendliche TräumeDie Ewigkeit im HerzenFröhliche MenschenUnmusikalische ComputerKinderspieleArroganz oder NeugierKonkurrenzkampfGott und die SpinnenDas persönliche BiotopNeugierig auf das Leben bleibenBitte leise gehenStaunenAnmerkungenWeitere Bücher des Autors

Stille

Ich mag Stille. Nicht die Stille, in der man nichts hört. Mir gefällt es, wenn der Wind in den Baumwipfeln rauscht. Ich höre gern die Brandung am Meeresufer. Wenn die Wellen tosen, wird es weit in meiner Brust, und ich stehe einfach da und höre zu und sehe in die Ferne.

Mir gefällt die Stille unter einem Sternenhimmel. Das Leuchten zahlloser Sonnen am schwarzen Himmel lässt mich vergessen, dass da eine Atmosphäre ist, es wirkt, als stünde ich auf der Planetenoberfläche im Weltraum.

Die Stille von Wind und Meer und Sternen macht mich klein. Das gefällt mir, denn meine Selbstwahrnehmung ist die meiste Zeit des Tages angeschwollen wie ein Prellwunde, sie schmerzt und lässt mich daran denken, wie es mir gerade geht und ob alles in Ordnung ist oder ob mich etwas stört und was die nächsten Aufgaben sind und wem ich es recht machen will. Stehe ich am Meeresufer oder unter einem großen Baum oder unterm Sternenhimmel, dann weiß ich, dass ich klein bin auf einem riesigen Planeten, und dass ich nicht wichtig bin, außer für meinen ewigen Gefährten, den Erschaffer von allem, den Weltenschmied. Und wenn ich ihm wichtig bin, muss ich mir selbst nicht wichtig sein, er kümmert sich dann schon, ich kann loslassen und einfach da sein. Es ist gut, einfach da zu sein.

Mit den vertrautesten Menschen kann ich auch schweigen. Ohne, dass es unangenehm ist. Ich muss nicht Konversation machen und ständig mit Blicken und Worten abprüfen, ob es meinem Gegenüber gut geht und ob es zufrieden ist mit mir.

Ich schweige gern in Buchhandlungen. Niemand redet laut in einer Buchhandlung, die Regale mit tausenden Büchern machen ehrfürchtig. Vor dieser Menge an Wissen und Erfahrungen und starken Geschichten werden wir still.

Ich liebe Kinosäle, deren Polstersessel mich weich empfangen wie ein Nest, und mich klein machen vor einer gigantischen Leinwand. Ich kann gut mit den anderen Filmliebhabern still genießen.

Ich liebe Bibliotheken, Konzertsäle, Wälder, und beim Schwimmen tauche ich gern, dann schweige ich unter Wasser mit dem See, und ab und an sehe ich einen Fisch, der mit mir schweigt.

In der Stille bin ich nicht abwesend. Ich beame mich nicht weg. Ich bin bloß endlich einmal nicht abgelenkt von meinen sorgenvollen Gedanken und darf anwesend sein, einfach so.

Freiheit

Matt Ridley hat ein Buch geschrieben, das ich in weiten Teilen für schlichtweg falsch halte (es heißt »Wenn Ideen Sex haben«). Aber es hat seine erhellenden Seiten. Er vergleicht unser luxuriöses Leben heute mit dem Leben früher, indem er ausrechnet, wie viel künstliches Licht man sich mit dem Lohn für eine Arbeitsstunde kaufen konnte: Heute arbeiten wir eine Stunde und bekommen dafür für 300 Tage Lesevergnügen, im Jahr 1800 hätten wir für dieselbe Arbeit nur zehn Minuten Talglicht bekommen. Um 1750 vor Christus erzeugte man das Licht in Babylon mit Sesamöllampen. Damals musste man fünfzig Stunden arbeiten, um eine Stunde künstliches Licht zu bezahlen. Wie viel besser haben wir es als unsere Vorfahren! Und wir haben keinen Ruß an der Decke, es flackert nicht, stinkt nicht und ist nicht brandgefährlich.

Die für mich kostbarste Ware aber, die wir heute in größerem Maße haben als früher, ist die Freiheit. Meine Vorfahren waren Schmiede. In einem früheren Jahrhundert hätte ich keine Wahl gehabt, wenn Großvater und Vater Schmied waren, wäre auch ich an der Esse gelandet. Ich bin lang und dünn und trage eine Brille. Mit Hammer und Amboss wäre ich nie glücklich geworden.

Ich bin der DDR aufgewachsen, als Pastorensohn. Eine Mitgliedschaft bei den Thälmannpionieren kam für meine beiden Brüder und mich nicht infrage, zu weit lagen die Ansichten unserer Familie und die des Staates auseinander. In den Gesetzen der Thälmannpioniere hieß es unter anderem:

Wir Thälmannpioniere lieben unser sozialistisches Vaterland, die Deutsche Demokratische Republik. In Wort und Tat ergreifen wir immer und überall Partei für unseren Arbeiter- und Bauern-Staat, der ein fester Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft ist.

Wir Thälmannpioniere tragen mit Stolz unser rotes Halstuch und halten es in Ehren. Unser rotes Halstuch ist Teil der Fahne der Arbeiterklasse. Für uns Thälmannpioniere ist es eine große Ehre, das rote Halstuch als äußeres Zeichen unserer engen Verbundenheit zur Sache der Arbeiterklasse und ihrer Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, zu tragen.

Wir Thälmannpioniere lieben und schützen den Frieden und hassen die Kriegstreiber. Durch fleißiges Lernen und durch gute Taten stärken wir den Sozialismus und helfen den Friedenskräften der ganzen Welt. Wir treten immer und überall gegen die Hetze und die Lügen der Imperialisten auf.

Die »Kriegstreiber« und »Imperialisten« lebten in der Bundesrepublik Deutschland und in Amerika. Die sollten wir hassen.

Das erinnert mich an die Spruchbänder der paramilitärischen Kampfgruppen der Arbeiterklasse, die in der DDR zum 1. Mai in der großen Parade mit dem Spruchband »Wir hassen die Kriegstreiber!« marschierten. Dabei war jeder Schütze mit einem Karabiner 98k ausgerüstet, und drei Mann jeder Gruppe trugen eine Maschinenpistole oder das Sturmgewehr MPi 44. Außerdem waren sie mit Handgranaten und Nebelgranaten ausgerüstet. Sie übten vier Stunden in der Woche Dreißig-Kilometer-Märsche, Schießen auf ein bewegliches Ziel, Schießen auf Mannscheiben. Ihre Zugführer trainierten Taktik des Straßen- und Häuserkampfes. Ziel der Einheiten war es, einen Volksaufstand gegen das Regime wie am 17. Juni 1953 zu verhindern, sollte er sich wiederholen.

Ich weiß, was Unfreiheit ist. Als Kind stand ich mit meiner Familie an den Grenzbefestigungen vor dem Brandenburger Tor, und ich fragte mich, wie es möglich wäre, über den Todesstreifen zu gelangen. Die Waffen der Grenzsoldaten waren keine Attrappe. Sie hätten auf mich geschossen, wenn ich losgelaufen wäre. Auf andere haben sie geschossen, es gab 327 Todesopfer an der Mauer.

Da ich kein Thälmannpionier war und später auch nicht in der Freien Deutschen Jugend, war es ausgeschlossen, dass ich nach der zehnten Klasse das Abitur machte. Ein Studium kam nicht infrage, und auch bei der Wahl des Ausbildungsplatzes hätten die Parteileute mich eingeschränkt. Ich plante, Bäcker zu werden. Vielleicht hätte man es mir erlaubt. Dann würden Sie heute kein Buch von mir lesen, sondern vielleicht ein Brötchen kauen, das ich gebacken hätte.

In der DDR musste jedes Druckwerk genehmigt werden. Einem, dem sie das Abitur verbieten, hätten sie kaum gestattet, Bücher zu veröffentlichen.

Obwohl ich immer ein guter Schüler war, war ich als Pastorensohn unserer Klassenlehrerin suspekt. Morgens war oft eine Diskussion über Politisches angesetzt. Meldete ich mich, sah sie durch mich hindurch, als wäre ich nicht da. Sie war kleingewachsen, hielt den Kopf aber hoch aufgereckt, machte einen spitzen Mund und fragte: »Hat noch jemand einen Beitrag?« Mein erhobener Arm war Luft für sie. Meldete sich niemand außer mir, erklärte sie die Diskussion für beendet.

Dann kam die Wende. Ich durfte Abitur machen. Zu Beginn dieser Zeit gingen wir mit der Schulklasse ins Berufsinformationszentrum, und da waren plötzlich all diese Berufe, die uns offenstanden, all diese Möglichkeiten! Es war ein überwältigendes Gefühl.

Aber auch für die in Westdeutschland Aufgewachsenen gilt: Kein Zeitalter vor uns hatte eine solche Freiheit. Schon die freie Wahl des Wohnorts war in früheren Jahrhunderten für große Teile der Bevölkerung nicht gegeben. Und für eine Eheschließung musste man bei den Herrschaften um Erlaubnis bitten.

Die strengen Standesregeln führten mitunter zu absurden Situationen. König Friedrich Wilhelm III. war seit 1810 Witwer. 1824 heiratete er Auguste von Harrach. Allerdings stellte Auguste keine standesgemäße Verbindung dar, deshalb heiratete er sie »morganatisch«. Damit wurde sie offiziell seine Ehefrau, aber ohne in die üblichen Rechte eingesetzt zu werden. Sie blieb in der Rangfolge bei Hof weit unter ihm, sie stand noch unter den jüngsten Prinzen. Der König und sie waren bis 1840 glücklich verheiratet, und sie pflegte ihn in den letzten Monaten aufopferungsvoll. An seiner offiziellen Trauerfeier im Berliner Dom durfte sie aber nicht teilnehmen, weil sie zu niedrigen Standes war. Die Witwe des Königs! Nach 16 Jahren Ehe!

Heute dürfen wir unsere Lebensumstände frei wählen. Wir dürfen heiraten, wen wir wollen. Oder uns entscheiden, nicht zu heiraten. Wir können Kinder aufziehen, eins, drei, fünf. Wir können unseren Beruf aussuchen.

Und wie viel Freizeit wir haben! Wir haben die Muße, zu lesen, zu schreiben, zu singen, im Internet zu surfen, wir gehen zum Baden an den Strand und zum Spazieren in den Wald, wir fliegen in den Urlaub, pflegen Hobbys, bilden uns weiter, besuchen uns gegenseitig.

Unsere Wahlmöglichkeiten wachsen beständig. 1965 hatte ein Lebensmittelgeschäft in Deutschland im Durchschnitt 3200 verschiedene Artikel im Angebot. Heute sind es 11600. In größeren Supermärkten können sogar aus über fünfzigtausend Produkten auswählen.

Eine kluge Logistik ist dafür nötig. Und Bäckereien, Müslifabriken, Apfelplantagen und Süßigkeitenerfinder lassen sich viel einfallen, damit wir ihre Ware in unseren Einkaufskorb legen.

Weltweit läuft ein unglaubliches Projekt der Zusammenarbeit. Damit ich mit einem Bleistift schreiben kann, schuften Arbeiter in den Graphitminen Sri Lankas, Holzfäller in den USA fällen das Wachholderholz – man verwendet es, weil es wenig Astlöcher hat und weich genug ist, um das Anspitzen zu ermöglichen –, und in einer Bleistiftfabrik in Deutschland wird das Graphitpulver mit Tonerde gemischt und die Mine bei mehr als 1000 Grad Celsius im Ofen hart gebrannt. Anschließend behandelt man sie mit Wachs, damit sie geschmeidiger wird und man besser mit ihr schreiben kann, und fügt sie in ihre hölzerne Hülle.

Aber damit tasten wir ja gerade mal über die Oberfläche des Ganzen. Die Holzfäller trinken Kaffee von Kaffeebauern in Brasilien. Die Fabrikmitarbeiter bringen ihre Kinder in den Kindergarten. Sie lesen abends ein Buch oder sehen sich einen Film an. Jemand hat ihr Haus gebaut, jemand holt ihren Müll ab.

Was steuere ich bei zu diesem Projekt?

Ein Buch. Und es genügt. Ich darf, indem ich Bücher schreibe, meine Kinder in die Schule schicken, die Straßen benutzen, mich unter dem Schutz der Polizei bewegen, und auch für mich fahren die Schiffe über die Weltmeere und bringen Obst und Fleisch und Getreide und elektronische Geräte in die Häfen, von wo aus all das via Güterzug und LKW in meine Stadt gebracht wird. Kaffee, Orangen, ein Smartphone. Ich suche nach europäischen Produkten, kaufe Möhren und Gurken aus meiner Region, aber es wäre Augenwischerei, würde ich mich aus dem weltweiten Warenkreislauf ausnehmen. Und genauso muss ich einsehen, dass ich zu den reicheren Konsumenten auf diesem Planeten gehöre.

Nehmen wir mal an, ich habe heute keine Lust, einzukaufen und zu kochen. (Lena lacht sich schlapp, wenn sie das liest – sie wird fragen: Wann hast du das letzte Mal gekocht?) Dann habe ich die Wahl zwischen Entenbrustfilet mit frischen Mangostücken in Mango-Safran-Cashew-Sauce im indischen Restaurant, einer knusprigen Thunfischpizza beim Italiener, mexikanischen Quesadillas, einer großen Platte Tapas beim Spanier, Sushi, Kroatischen oder Vietnamesischen Speisen oder gehobener deutscher Küche.

Oder denken wir an die Kleidung: Für jeden Geschmack gibt es die passenden Schuhe. Sneaker in allen Farben. Mokassins. Elegante Oxfords, Budapester, Derbies. Bootsschuhe aus Veloursleder. Weiche Loafers. Und das war nur die Männerabteilung, ganz ohne Ballerinas, Boots, Kitten Heels, Pumps und Riemchen-Sandaletten.

Und es gibt keine Kleiderordnung, die bestimmte Schuhe nur gewissen Gesellschaftsschichten erlaubt. Das war in Europa lange Zeit gang und gäbe. Der Gebrauch teurer Seidenstoffe wie Atlas, Damast oder Brokat war den höheren Ständen vorbehalten, Handwerker und Bauern durften nur Wolle oder Leder tragen. Auch die Farben waren klar geregelt: Fürs niedere Volk schwarz oder graublau, für die Adligen die bunten Gewänder in Rot, Weiß, Braun oder Blaugrün, gestreifte Stoffe oder solche, in die Gold- und Silberfäden eingewebt waren.

Im 14. Jahrhundert existierten nach Vermögen gestaffelte Kleiderordnungen. Damals kamen Schuhe mit langen spitzen Schnäbeln in Mode, und es wurde rasch gesetzlich geklärt, dass keiner außer den Adligen diese Schnabelschuhe tragen durfte. Bei Zuwiderhandlungen drohten Strafen.

Solche Regeln waren kein ausschließlich europäisches Phänomen. Auch im China der Ming-Dynastie gab es eine Kleiderordnung mit genauen Angaben zu den Farben der Kleider, die man tragen durfte. Dazu existierten Vorschriften zur Musik, die zu hören erlaubt war, und zu den Festen, die man feiern durfte. Jegliche Reisen waren verboten, Ausnahmegenehmigungen erteilte auf Anfrage die Regierungsbehörde.

Die Freiheit, die wir heute haben, genossen in der Weltgeschichte nur wenige. Hinzu kommt der Wohlstand, der unseren Spielraum noch erweitert. In den vergangenen Jahrhunderten konnten es sich nur die Reichen und Mächtigen leisten zu reisen. Schnelle Fortbewegung war ein Luxus. Und wir sind empört, wenn mal in einem Jahr der Urlaub ins Wasser fällt.

Schon bloß in ferne Länder zu telefonieren, war vor nicht allzu langer Zeit sündhaft teuer. In meiner Kindheit lebten wir für ein Jahr in den USA. Damals fassten wir uns kurz, wenn wir nach Deutschland telefonierten, weil sonst eine happige Telefonrechnung gedroht hätte.

Heute schicken wir nicht nur E-Mails in alle Welt, wir telefonieren auch, ohne nachzudenken (oft zur Flatrate), reisen, lesen, bilden uns – lauter Privilegien der Reichen, zu denen wir inzwischen Zugang haben.

Zudem haben wir mehr Zeit als unsere Vorfahren, unser Leben zu genießen. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland ist in den vergangenen siebzig Jahren für Männer um rund 20 Jahre und für Frauen um rund 15 Jahre gestiegen. So viel mehr Zeit haben wir. Nicht Minuten, nicht Stunden, sondern etliche Jahre mehr als die Menschen vor uns.

Das liegt am medizinischen Fortschritt, am Zurückdrängen von Infektionskrankheiten, an der Bildung und der Hygiene, die wir heute haben, und nicht zuletzt daran, dass wir uns weniger bei der Arbeit verausgaben müssen. (Ich weiß, das empfinden wir nicht so.)

Die Wahrheit ist: Wir sind reicher geworden. Auch in anderen Weltgegenden, wobei dort der Weg noch etwas weiter ist.

Unsere Generation genießt mehr Frieden, Freiheit, Freizeit, Bildung und kulinarische Genüsse als jede Generation davor.

Und wir?

Nörgeln.

Vertrauen

Lena und ich sprechen über die Apartheid in Südafrika, ohne dass mir bewusst ist, dass unser fünfjähriger Sohn Jona zuhört. Einen Tag später sagt er plötzlich, er wolle mit mir nach Südafrika fahren, wegen der Schwarzen und Weißen und was ich da mit Mama geredet hätte.

Ich versuche ihm die Apartheid zu erklären.

Da meldete sich sein Bruder Felix (4) zu Wort: »Wir sind die Schwarzen, ge?« Er strahlt mich an.

»Nein, Felix. Wir sind die Weißen.«

Er verstummt. Es arbeitet in ihm. Dann fragt er leise, mit Entsetzen: »Also sind wir die Bösen?«

Ich glaube, ich muss in Zukunft besser aufpassen, was ich mit Lena in Hörweite der Kinder so rede. Heute habe ich gerade noch die Kurve gekriegt und Felix weisgemacht, dass das vorbei und länger her ist … Andererseits, es sind Realitäten auf unserem Planeten, und selbst wo sie angeblich »überwunden« sind, haben sie noch Folgen bis heute. Ich will die Jungs nicht überfordern, aber ihnen auch keine Welt vorgaukeln, die nicht existiert.

Eine Gratwanderung. Es sind dieselben Kinder, die heute früh auf dem Weg zum Kindergarten darüber diskutiert haben, ob es den Nikolaus gibt oder nicht. Felix: »Ist der unsichtbar oder was?« Jona: »Doch, den gibt es, den haben wir doch einmal im Kindergarten gesehen, weißt du nicht mehr?«

Wie können Kinder im einen Moment schon so groß sein und im anderen noch so klein? Ich gönne es ihnen, und ich wünsche mir, dass sie hundert gute Erfahrungen sammeln für jede schlechte, und sich ein großes Vertrauen aufbauen, das sie durchs Leben trägt.

Die Welt kommt uns verlogen vor, aber tatsächlich arbeiten wir mit einem immensen Vertrauensvorschuss. Wir alle. Wir lächeln Fremde an. Wir kaufen Lebensmittel, ohne die Packung zu öffnen und nachzusehen, ob auch wirklich das Versprochene darin enthalten ist und ob es die erwartete gute Qualität hat. Wir engagieren Handwerker und gehen davon aus, dass sie ihre Arbeit gut erledigen werden. Wir geben unsere Kinder in die Hände von Lehrern und Erziehern, die wir kaum kennen, jeden Tag etliche Stunden.

Wir steigen in ein Flugzeug, ohne uns zuvor einen Nachweis über die Flugausbildung des Piloten zeigen zu lassen. Neulich stieg ich in München aus dem ICE aus und lief am Zug nach vorn Richtung Ausgang. An der Spitze des Zuges sah ich, wie sich der Triebfahrzeugführer aus dem Fenster lehnte, um mit einem Kollegen zu sprechen, und war baff: Er sah aus wie achtzehn! Blutjung. Dieser junge Kerl war gerade mit uns bei Tempo 300 durch das Land gerast. Mein Leben hing von ihm ab. Er hat es gut gemacht.

Wir vertrauen also. Und Gott? Vertraut er uns?